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III.
Bohême

Als Turgenjew im Jahre 1840 zurückkehrte, um in der russischen Gesellschaft wieder heimisch zu werden, stand der Zar Nicolaus I. auf seiner Mittagshöhe. Seit er einst über die Leichen des Dekabristenaufstandes zum Thron geschritten war, bildete sein ganzes Leben einen ruhelosen Kampf gegen jenen Geist, der aus einer absterbenden Form sich zu einem neuen Dasein rang. Das unerbittlich Herrische seines Wesens tat sich unverkennbar schon in seiner Erscheinung kund, wenn er starr aufrecht in dem festanliegenden, steifen Uniformrock, in engen Lederhosen und hohen Stulpenstiefeln einherschritt, den federbuschgeschmückten Hut auf dem Kopf. Am Sockel seiner Reiterstatue in Petersburg zeigt ihn ein Basrelief, wie er 1831, dem hohen Olympier gleich, mit einem Zauberschlage die Wogen der Revolution glättet. Damals, als Tausende, von der Cholera gehetzt, auf dem Isaaksplatze sich zusammenrotteten und schrieen, die Regierung habe die Brunnen vergiftet, war er ganz allein unter die fanatisierte Masse getreten, hatte den Mantel fallen lassen und mit einer imperatorischen Handbewegung dem Volke zugedonnert, sich auf die Kniee zu werfen. Keiner war stehen geblieben. – Vor den Fragen der äußeren Politik waren die sozialen Forderungen erblaßt. Er wandte sich wohl mit aufflackernder Teilnahme bauernfreundlichen Bestrebungen zu, aber dann verleugnete er sie bald. Der Agamemnon der Könige wähnte sich zum Heiland der Reaktion und der dynastischen Solidarität gesalbt. Beim Ausbruch der französischen Julirevolution und des polnischen Aufstandes versiegte die Hoffnung auf eine Bauernreformation, und die rigoroseste Censur legte sich wie ein Rieseneisblock auf jede warmblütige Aufwallung liberaler Herzen. Und doch erstarben die jungen Keime neuen Lebens nicht.

Wer die russische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts mit der des Nikolaus-Zeitalters vergleicht, dem erscheint das Wachstum staunenswert. Es ist, als ob der Geist mit Siebenmeilenstiefeln über das Land geschritten wäre. In Ketten ist dies neue russische Schrifttum geboren.

Im achtzehnten Jahrhundert urteilte der gebildete Russe über seine nationale Literatur nicht günstiger als Friedrich der Große von den deutschen Dichtern seiner Zeit dachte. Nur ein sehr intimer Kreis hegte sie, daß Madame de Staël sagen durfte: »In Rußland beschäftigen sich nur einige Edelleute mit Literatur.«

Fürst Kantemir, ein Nachahmer Horaz', Juvenals und Boileaus, hatte die ersten russischen Verse gebaut. Eine pseudo-klassische Dichtung setzte mit ihm ein. Auf seiner Spur wandelten Dershawin, Lomonossow und Sumarokow in der Augustischen Ära der großen Kaiserinnen Elisabeth und Katharina. Ihre Werke teilten das Los der Klopstockschen Gesänge. Das Wetter der französischen Revolution reinigte dann mit frischem Lufthauch die literarische Atmosphäre von dem Parfüm der Perückenzeit. Als der sentimentale Roman Richardsons und Rousseaus und Sternes überall in Europa Tränen der Rührung in die schönen Augen der empfindsamen Leser lockte, als Natur und Gefühl die steife Grandezza und das falsche Pathos ablösten, erklang auch auf den russischen Sängerharfen das Lied der schmerzensreichen Liebe und des Selbstmords. Karamsins schwülstige Novelle »Die arme Lisa« (1792) übte gleich den Leiden des jungen Werther eine bestrickende Wirkung auf Tausende. Es gelang den Romantikern, die russische Gesellschaft für die russische Literatur zu interessieren, und Shukowskys »Sänger im Lager russischer Krieger« (1812) war schon ein Gedicht, das jeder Gebildete las. Als dann im großen Befreiungskriege der Volksgeist erstand, schien die vaterländische Poesie eine Macht werden zu sollen. Auf dem Lyceum zu Carskoje-Selo las 1815 dem greisen Derschawin ein Schüler ein eigenes Gedicht vor, und der Patriarch eines längst erstorbenen Geschlechts sprach mit Tränen in den Augen: »Meine Zeit ist vorüber; bald wird der Welt ein zweiter Derschawin erstehen, der schon im Lyceum alle Schriftsteller überflügelt hat.« Der junge Träger dieser Prophezeiung war Alexander Puschkin.

Puschkin (1799-1837) ward der Dichter der Russen, eine über allen literarischen Hader erhabene nationale Größe. Er eroberte die Poesie, die nicht viel mehr als gereimte Prosa gewesen war, als Kunst. »Er schaute,« sagt Belinsky, »auf die Natur und auf die reale Welt unter einem besonderen Gesichtswinkel, und dieser Winkel war der poetische; der ganze akustische Reichtum, die ganze Kraft der russischen Sprache erscheinen in seinem Verse in wunderbarer Fülle.« Turgenjew schätzte ihn als den Meister und Vater aller russischen Dichtung, und er berief sich gern auf Mérimées Urteil, dem er Puschkins Werke zu lesen gegeben hatte. »Ich kann,« hatte dieser ihm gesagt, »Puschkin nur mit den Dichtern des Altertums vergleichen; er hat dieselbe klassische Anschaulichkeit, dieselbe Größe, dieselbe Einfachheit wie Homer, Vergil und Ovid.«

Im Byronismus kam der Geist des nationalen Aufschwungs zum Ausdruck, aber die Reaktion brach seine Schwingen. Die Literatur ward eine Schule der Märtyrer. Auch Puschkin mußte durch sie hindurchgehen.

Die oberflächliche Gesellschaft der Zeit, die banale, müßige Welt der Theater, Bälle und Konzerte, über deren zahllose Gebrechen schon Gribojedows Drama zu Gericht gesessen hatte, kann niemand eindringlicher schildern, als es Puschkins »Eugen Onegin« tat. Und unwilliger und immer hoffnungsloser wandten sich von dieser Stagnation die edleren Geister ab. So wurde Michael Lermontows Pessimismus geboren (1814-1841). Und bald gellte dem trägen, selbstgefälligen Geschlecht das Lachen grimmigen Spottes in die Ohren: Gogols »Revisor« (1836) lehrte die Russen, sich ihres Lebens schämen.

Dem heimkehrenden Turgenjew blickte die Physiognomie seiner Zeit aus dem Spiegel der besten Dichter erschreckend entgegen. Mit einer Fülle westeuropäischer Anregungen im Herzen trat er in eine Atmosphäre, die jeden Atemzug eines jungkräftigen Lebens beengte. Er hat später in der Erzählung »Das adlige Nest« die unendliche Schwermut geschildert, die sich über den Russen legt, wenn er aus der Welt des Westens an den verödeten Herd seiner Väter zurückkommt und all die reizvollen Eindrücke und Erinnerungen einer besseren Kultur hier verdämmern lassen will.

Eine Hamletsnatur hatte der Aufenthalt in der Fremde aus dem jungen Turgenjew nicht gemacht. Er war, als er aus der deutschen Flut auftauchte, aller Hegelschen Philosophie zum Trotz ein gesundes Menschenkind geblieben mit taufrischer Ursprünglichkeit, weder angekränkelt noch wurmstichig. In der Petersburger Gesellschaft fielen sein keckes Auftreten und ein gewisses jünglingshaftes Selbstbewußtsein auf, das gern mit studentischen Burschenmanieren renommierte und um jeden Preis originell sein wollte. Er prahlte wohl mit Leidenschaften und Untugenden, die er garnicht besaß und die auch zu seinem zärtlichen, gutmütigen, rosigen Gesicht nicht passen wollten. Sein tüchtiges und tiefes Wissen überraschte dabei diejenigen, die ihm näher traten und die gewohnt waren, in der ausländischen Bildung nur einen äußerlichen Schliff des Geistes zu sehen. Ohne Zwang lassen sich auf ihn damals die Verse anwenden, mit denen Puschkin in »Eugen Onegin« den romantischen, leicht entzündlichen Wladimir Lensky schildert:

Göttinger Bursch, der in der Blüte
Der Hoffnung und des Lebens steht,
Verehrer Kants ist und Poet!
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Früchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen seiner Zeit.
Sein Haar hing bis zum Nacken nieder;
Schön war er, wunderlich, voll Schwung
Der Rede und Begeisterung.
An seinem Herzen und Gemüte
War von der Welt noch nichts verdorrt,
Beim Kuß der jungen Maid erglühte
Er, wie beim herzigen Freundeswort …
Den Zweifel, der ihm wohl erwachte,
Verscheuchte seiner Träume Spiel
Ihm, der sich unsres Lebens Ziel
Als wundervolles Rätsel dachte …

Turgenjew ging nach Petersburg. Er zeigt uns gelegentlich (in den »Visionen«) dies nordische Palmyra, die sieche Stadt. Eine halbhelle Nacht liegt wie ein öder, matter, trüber Tag über der grauen Masse. Grau sind die Häuser, von denen der Putzkalk abbröckelt, grau die Straßen mit dem aufgerissenen Holzpflaster. Wir sehen die grellfarbigen Firmenschilder, die eisernen Schutzdächer der Torwege, die kleinen Wächterhäuschen, die elenden Kram- und Gemüsebuden, die vergoldete Kuppel der Isaakskirche, den Schloßplatz, die Börse, die Granitwälle der Festung. Die Abendröte, gleich der Wangenfarbe des Schwindsüchtigen, harrt bis zum anbrechenden Morgen am bleichen, sternenlosen Himmel; sie spiegelt sich in dem bewegungslosen, blauen, kalten Wasser der Newa, auf der die Kähne mit Heu und Brennholz liegen. Ein Geruch von Staub und Kohlköpfen, von Bast und Stall dringt durch die Luft. Verschlafen und versteinert sitzen die Wächter im dicken Schafpelz vor den Haustoren, und die Mietskutscher schnarchen in tiefstem Schlummer zusammengedrückt auf dem Bock ihrer durchgesessenen Droschken.

Den Plan, sein philosophisches Magisterexamen zu machen und Pädagoge und Professor zu werden, gab Turgenjew bald auf. Auf seiner heimischen Scholle zu verbauern, widerstrebte ihm. Da fand er eine Anstellung im Ministerium des Innern. Sein Chef, der durch seine Dichtungen unter dem Namen Kosak Lugansky bekannte Wladimir Dahl, machte ihm durch seine Grobheit die eintönige Arbeit nicht leichter. Aber es war schließlich doch nicht die Prosa des Bureaudienstes, die ihn drückte; die Quellen seiner Unlust lagen tiefer. Es widerstrebte seiner fein organisierten Natur, ein Regierungssystem zu unterstützen, das mit seinem ertötenden Despotismus alle Schichten des Volkes zermalmte und jedem materiellen und politischen, jedem literarischen und künstlerischen Aufschwung durch die Sehnen schnitt. Wem ein Funke gesunden Geistes geblieben war, sah sich wie von einer Naturnotwendigkeit zur Opposition gedrängt und von jeder ersprießlichen Tätigkeit im Staatswesen ausgeschlossen. Turgenjew wollte unter Menschen leben. So wählte er einen Weg, der seiner freien, humanen Natur angemessen war, und verließ den Staatsdienst. Seine Mutter war empört, daß ihr Sohn auf die Ehren Verzicht tat, die ihr Stolz ihm erträumt hatte. Das ohnehin sehr wenig herzliche Verhältnis erlitt den unheilbaren Bruch. Die Not zwang ihn, zu schriftstellern. Er arbeitete damals für die von Krajewsky herausgegebenen Sapisski, das Blatt des liberalen Jungrußlands. Jahre des Bohèmelebens. Einer russischen Schriftstellerin, die ihn später einmal in Paris wegen seiner unabhängigen, wohlhabenden Lebensführung glücklich pries, erwiderte Turgenjew: »Ich bin ja garnicht reich gewesen, als ich anfing zu schreiben. Ich hatte mich mit meiner Mutter überworfen, und diese gab mir keinen Pfennig. Ich mußte deshalb Auszüge und Inhaltsangaben für einige Zeitschriften machen, die mir 40 Francs für den Bogen bezahlten, – und davon sollte ich leben! Meine Freunde waren ebenso arm; sie lebten sehr dürftig. Aber wir gehörten zur Schule Puschkins; wir liebten die Poesie. An unsern Werken zu feilen, um ihnen den letzten Schliff zu geben, das war unser Vergnügen.«

Der aufgewandten Mühe entsprach freilich das Resultat nicht. Zwei Gedichte, die Turgenjew 1841 in den dickleibigen Sapisski veröffentlichte, »Der alte Gutsherr« und »Ballade«, gehen nicht über den Grad hinaus, den jeder Dichterling in einer guten Stunde lyrischer Anempfindelei zu erreichen pflegt. Zwei Jahre später, 1843, erschien das kleine Epos »Parascha«. Turgenjew hat es, als er ein Vierteljahrhundert später in seinen »Erinnerungen« darauf zu sprechen kam, als ein an sich völlig unbedeutendes und seit lange von der Vergessenheit verschlungenes Werk bezeichnet, und doch muß es, von den ersten Reimtändeleien abgesehen, als des Dichters Debüt gelten. Eine süßliche Sentimentalität überzieht die Verse mit einer geschmacklosen Glasur – das ist nicht Geist von seinem Geist. Unvergessen wird es um eines äußeren Umstandes willen bleiben: es vermittelte die Freundschaft Turgenjews mit Belinsky, die auf seine weitere Entwicklung einen bestimmenden Einfluß übte. Wissarion Grigorjewitsch Belinsky war acht Jahre älter als Turgenjew. Nach einer Jugendzeit voll bitteren Elendes, da er für 25 Rubel den ersten besten Roman von Paul de Kock übersetzen mußte, war er in Petersburg der Leiter der Sapisski geworden und übernahm später die Zeitschrift Sowremennik. Sein Talent, mit lebendigem Verständnis und warmer Empfängnis in die Literaturerscheinungen einzudringen, sie zu analysieren und in ihnen das ewig Wahre und wahrhaft Große vom falschen Schein und aufgebauschter Mittelmäßigkeit zu scheiden, machte ihn zum berufenen Führer der öffentlichen Meinung – soweit von dieser in Rußland überhaupt die Rede sein konnte. Niemals vermochte eine starre Theorie, auch wenn er sie selbst einmal früher aufgestellt hatte, sein Urteil zu trüben; denn nur derjenige, – pflegte er zu sagen – der die Wahrheit nicht schätzt, hat niemals seine Ansichten geändert. Belinsky war der erste, der Gogols Bedeutung erkannte, der den unbekannten Kolzow in die Literatur einführte und der sich durch die vollkommene Würdigung Puschkins und Lermontows ein unvergängliches Andenken im russischen Herzen schuf. Aus den Aufsätzen, die diesen Größen der neueren Dichtkunst gewidmet waren, hat die folgende Generation, die junge naturalistische Schule, ihre ästhetische Bildung geschöpft, und sie hat dann, von einer energischen Parteinahme gefördert, den Ruhm der neusten russischen Literatur über die ganze Welt getragen. Der Quietismus der alten Pseudoklassiker, der Subjektivismus der romantischen Puschkinianer waren das Ziel seiner Pfeile, und der Haß gegen das engherzige orthodoxe Slawophilentum wurde dem feingebildeten Anhänger des Westens zum Lebensnerv. Sein Idealismus mußte unter der Trostlosigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung leiden. Bestechlichkeit und Willkür – so heißt es in Turgenjews Erinnerungen – standen in voller Blüte, und die Leibeigenschaft ragte wie ein Fels empor. Im Mittelpunkte des öffentlichen Lebens stand die Kaserne. Eine Justiz gab es nicht. Man trug sich mit Gerüchten von der bevorstehenden Auflösung der Universitäten, und wenn dies auch unterblieb, so beschränkte man doch ihren Bestand auf je 300 Studierende. Ins Ausland zu reisen, ward zur Unmöglichkeit, vernünftige Bücher waren kaum zu haben, und über den armen Schriftstellern schwebten die Chikanen der Zensur, Denunziationen und Verdächtigungen wie eine unheilverkündende Wolke. – Dieser ganzen Epoche am Ende der dreißiger und am Anfang der vierziger Jahre, die die junge russische Literatur erblühen ließ, hat Belinsky die Färbung seiner Persönlichkeit gegeben; man könnte sie treffend mit seinem Namen benennen. »Der unvergängliche Einfluß der Artikel Belinskys« – so faßt der russische Literaturhistoriker Wengerow seine Bedeutung zusammen – »gründet sich darauf, daß in ihnen der Schlag eines Herzens, unstreitig des edelsten, das je in einer russischen Brust geschlagen hat, zu hören ist, daß sich in ihnen eine sonst von niemand erreichte Höhe der Stimmung, der Kraft und der Tiefe des Gefühls ausgesprochen hat. Der große Heilige der russischen Literatur, der Ritter ohne Furcht und Tadel, dessen lichtem Andenken nicht der geringste Makel anhaftet, war zugleich der Märtyrer des neuen russischen Gedankens. Er hat seine Überzeugungen tief durchlitten und in vollem Sinne des Wortes mit seinem besten Herzblut geschrieben.«

Belinskys freundliche Rezension des Turgenjewschen Epos »Parascha« im Maiheft der Sapisski führte beide Männer persönlich zusammen, und sie haben dann von 1843 bis 1847 in regem Austausch der Gedanken miteinander gestanden. Der Kritiker wohnte unweit der Annitschkowbrücke in einer düsteren, feuchten Etage. Kam Turgenjew zu ihm, dann stand er rasch vom Sofa auf, und blaß, krank, ohne Unterlaß hustend, mit den Spuren nervöser Erhitzung auf den Wangen nahm er ein am Abend vorher abgebrochenes Gespräch wieder auf. Aus seinem kleinen, unschönen, plattgedrückten, blonden Gesicht strahlten die blauen, herrlichen Augen und wurden immer größer. Dabei ging er in seinem grauen, wattierten Rock auf und ab und trommelte mit den Fingern auf die Tabaksdose. Sein Eifer riß dann auch Turgenjew fort. Aber der erlahmte früher, und seine jugendliche Natur verlangte, wenn sie stundenlang disputiert hatten, nach einer Mahlzeit. »Wir sind mit der Frage nach dem Dasein Gottes beschäftigt,« rief dann Belinsky vorwurfsvoll, »und Sie wollen essen gehen!« Oft erweiterte sich der Kreis, der sich um Belinskys Theetisch zusammenfand, und manche politisch und literarisch bekannte Persönlichkeit, auf der das Mißtrauensvotum der Regierung lag, wie Alexander Herzen, Panajew, Botkin, hat hier als Gast gesessen. Man beobachtete im Salon unter dem Spioniersystem der Reaktion eine vorsichtige Taktik. Dem Anschein nach war die Disputation harmlos und ästhetisch-literarisch, ein Streiten über das Verhältnis der russischen Dichtkunst und Kultur zum europäischen Westen und zur altrussischen Tradition, aber der Eingeweihte wußte, daß der Meinungsaustausch in Wirklichkeit um die vitalsten Fragen brandete, daß hier die liberalen Ideen gegen die ungeheuerlichen Sünden des ancien régime vom Leder zogen. Turgenjew war der Lernende; er gewöhnte sich, die Augen offen zu halten und Wahres vom Schein zu gliedern, und es klärte sich seine Meinung über die Zustände und Gebrechen des Vaterlandes. Aber, von des Freundes froher Zuversicht befruchtet, wuchs ihm hier auch der schöne Idealismus, der ihn in trüben Tagen an Rußlands Sonne nicht verzagen ließ. Zu einem Parteimann ist Turgenjew weder damals noch später geworden. Er hat der Opposition nur mit seiner künstlerischen Kraft gedient, und nur mit seinem Herzen voll edler Menschlichkeit hat er sich für sein leidendes Vaterland in den Sattel gesetzt.

Von Turgenjews literarischen Arbeiten in jenen Jahren ist die beste sein Aufsatz über Goethes Faust. Seine dichterische Kraft schuf damals nichts Unvergängliches; ein paar epische Versuche, durch deren Reflexion ein kalter Lufthauch der Verdrossenheit weht, eine Anzahl hitziger Epigramme, die dem Witz zuliebe mit einer gesuchten Schonungslosigkeit prunken, und einige lyrische Gedichte nach alter Weltschmerzmelodie. Er trägt sein krankes Herz zur gütigen Natur, daß sie es heile:

»Was einstens war, o großer Gott,
Ist dunkel jetzt und stumm;
Worüber ich geweinet hab',
Erscheint mir fad' und dumm.
Ein Spötter in der Spötter Kreis
Hab' ich der Hoffnung Traum,
Der einst mein ganzes Herz erfüllt,
Erklärt für leeren Schaum.

… Ich fühl' es, daß mein Herz wird jung,
Ich geb' den Tränen Raum,
Tief atmend lauf' ich abends hin
Zum dunklen Waldessaum,
Als liebte ich und wär' geliebt,
Als bräch' die Nacht herein,
Als grüßte mich die Pappel leis
Vor Liebchens Fensterlein.«

(Übers. v. Alex. Wald.)

Belinskys Teilnahme für solche poetischen Versuche kühlte sich zusehends ab: er nahm mit gutem Grunde Abstand, dem Dichter fürderhin seinen Wandersegen zu geben. Das entsprach ganz seiner Art, die mit liebenswürdiger Wärme die ersten Schritte hoffnungsfroher Poeten lenkte, dann aber über die weiteren Versuche mit unparteiischem Ernst Lob und Tadel verteilte. Turgenjew unterwarf sich der gereiften Einsicht des Freundes und beschloß, der Dichtkunst Valet zu sagen.

Auf seine Petersburger Poesieen hat er später in ruhiger Selbsterkenntnis wie auf Verirrungen törichter Jünglingszeit herabgesehen. Ohne Zaudern schloß er sie von der Gesamtausgabe seiner Werke aus und betonte es mehr als einmal im Gespräch, daß er »eine entschiedene, beinahe physische Abneigung gegen seine gereimten Dichtungen« besaß. Er selbst hatte kein Exemplar davon in seinem Besitz und hätte, wer weiß was, darum gegeben, wenn überhaupt auf der Welt keins mehr davon existiert hätte. Sein Verdammungsurteil dehnte er bisweilen auf den ganzen Umfang der gereimten Literatur aus, die ihm wie ein Archaismus erschien. »Es existieren bei uns,« sagte er 1867 mit trockener Ironie zu einem Journalisten, »nur noch drei oder vier Menschen, alte Leute von fünfzig Jahren und mehr, die sich damit abgeben, Verse zu schreiben; ist es der Mühe wert, sich gegen diese zu erhitzen?«

Turgenjew sah den Dichterwald vor lauter Bäumen nicht. Panajew, der die Redaktion des Journals Sowremennik übernommen hatte, bat ihn im Jahre 1847 dringend um einen Beitrag, da es ihm an Stoff zur Ausfüllung des ersten Heftes fehlte. Turgenjew brachte ihm eine Prosaskizze. Der ganz unerwartete Beifall, den sie fand, ließ ihn das Geheimnis seiner Begabung entdecken. Er hatte, sagt Eugen Zabel, einer seiner besten deutschen Beurteiler, sich eingebildet, Tenor singen zu können, während ihm doch eine Baritonstimme beschieden war; nun fand er die Stimmlage, die seiner eigensten Natur entsprach.

Die Skizze hieß »Chor und Kalinitsch«; mit anderen zusammen findet sie sich heute im »Tagebuch eines Jägers«. Als die ersten vierzehn Skizzen erschienen waren, war Belinsky von ihnen zwar viel mehr befriedigt als von des Dichters Reimereien, aber ein volles Maß der Anerkennung schüttete er auch jetzt nicht aus. An den Verfasser selbst schrieb er: »Ihr »Karatajew« ist gut, wenn er auch hinter »Chor und Kalinitsch« weit zurückbleibt … Täusche ich mich nicht, so besteht Ihr Beruf darin, die Erscheinungen des wirklichen Lebens zu beobachten und dieselben durch Ihre Phantasie gehen zu lassen und dann wiederzugeben – aber nicht sich auf die Phantasie allein zu stützen … Den richtigen Weg zu finden, den Platz, an welchen man gehört, einzunehmen, darauf kommt für den Menschen alles an; dadurch macht man sich zu dem, was man eigentlich ist … Lassen Sie um Allahs willen nichts drucken, was weder dies noch das, d. h. was weder schlecht noch sehr gut ist; der Totalität des Rufs geschieht damit entsetzlicher Abbruch … Ihr »Chor und Kalinitsch« verspricht einen bedeutenden Schriftsteller – für die Zukunft

Das sehr vorsichtige Urteil hätte Belinsky schon auf Grund einiger anderen prosaischen Erzählungen fällen können, die 1846 und 1847 erschienen waren und Turgenjews eigentümliche Begabung wohl hervortreten lassen. In deutscher Übersetzung sind davon »Der Jude«, »Drei Bilder«, »Petuschkow« und »Der Raufbold« zugänglich. Der Dunst unklarer Seelenstimmung, der Turgenjews epische Dichtungen wertlos machte, ist hier verflogen; eine scharfe, objektive Beobachtung schafft festumrissene Gestalten, die ohne erborgtes Leben auf sicherem Grunde stehen. Den Dichter reizen noch brutale Lösungen, und gewalttätige Charaktere ziehen ihn ebenso sehr an, wie gallertartige Weichlinge. Im ganzen erscheinen die Menschen zu sehr ins Wilde verzerrt und zu wenig in den warmen Sonnenschein überlegener Menschlichkeit gerückt. Ein pfiffiger Jude, der wegen Verrates am Galgen baumeln soll und von entsetzlichster Todesangst durchschauert wird, – ein gemeiner Verführer, der in niederträchtigster Art den Verlobten des betrogenen Mädchens durchbohrt, – ein seltsamer, blöder Offizier, der in unwürdiger Liebe zu einem Bäckermädchen sein Leben hindämmern läßt, – ein wilder Händelsucher: das sind die Stoffe, die er wählt. Am meisten von Turgenjewscher Art liegt auf der Erzählung »Der Raufbold«. Da schließt der Teufel mit einem Kinde Freundschaft – der cynische, rohe Rittmeister Lutschkow mit dem Fähnrich Küster, einem guten Jungen, so blond und lauter und wohlerzogen. Ein junges Mädchen sieht auf einem Ball den überall gefürchteten und gehaßten Lutschkow, und der Reiz des Unnahbaren und Unbeholfenen regt sie an; sie glaubt, unter der rauhen Maske einen Byron verborgen. Der arme, ehrliche Küster opfert seine eigene Neigung zu Marja und führt als ehrlicher Vermittler den Rittmeister zu dem erwartungsvollen Mädchen. Allein die täppische Unzartheit des selbstgefälligen Kraftmenschen reißt diese schnell aus ihrem romantischen Wahn; sie wendet sich sehr ernüchtert von ihm und findet nun das Herz des Jünglings, das ihr ganz gehört. Der Glückselige verläßt am Abend das Haus der Geliebten. Als er sich auf seinem Pferde noch einmal umsieht, blicken ihm die finsteren Fenster zu wie das schwarze Grab. Der Rittmeister sucht in der verletzten jämmerlichen Eitelkeit seiner kleinen Seele Rache, und die Natur, die ihren süßen Frieden über Wald und Felder spinnt, entheiligt am nächsten Tage der düstere Menschenmord.

Als das Jahr 1843 den Dichter zu einem innigen Bunde mit Belinsky führte, hatte es seine Gunst noch nicht erschöpft; es bescherte ihm auch die Freundschaft einer Frau, die Wärme und Licht über das ganze Leben des Einsamen breitete. Diese Frau war Pauline Viardot. Sie war die Tochter des spanischen Komponisten und Tenorsängers Manuel Garcia, eine Schwester der frühverstorbenen berühmten Sängerin Maria Malibran. Als Kind hatte sie ihren Vater nach England, Nordamerika und Mejico begleitet; dann wurde sie in Paris zur Pianistin und Sängerin ausgebildet und wurde eine Schülerin Liszts. Sie heiratete 1840 den französischen Schriftsteller Louis Viardot, der mit George Sand zusammen die Revue Indépendante begründete. Mit ihrem Manne befand sie sich auf einer an Ruhmeskränzen ergiebigen Tournee, als sie, eben erst zweiundzwanzigjährig, die Bekanntschaft Turgenjews in Petersburg machte. Ihr Mann hatte auf der Jagd den belesenen jungen Literaten kennen gelernt, und da er selbst sich als Übersetzer damals an den Meisterwerken der russischen Dichtkunst versuchte, spannen sich die Beziehungen von den Pfaden des Waldes in den Salon hinein. Pauline Viardot besaß eine der schönsten Mezzosopranstimmen, weich und umfangreich, und ihr Vortrag, der aus tiefem Gefühl quoll, war durch die trefflichste Methode zur Vollendung geschult. Der Reiz ihrer Erscheinung, die den Adel der Seele widerspiegelte, ihr Genie, ihr junger Ruhm – alles das mußte Turgenjew, dessen Herz dem Schönen schwärmerisch zugewandt war, mit einem Zauberbanne umstricken.

Gerade als die Skizze »Chor und Kalinitsch« seinen Namen in Petersburg bekannt machte, trat er (1847) seine zweite Reise nach Westeuropa an. In dem Kreise Belinskys, Herzens, Panajews war er unter der politischen Depression rußlandmüde geworden. Auch Belinsky verließ damals die Heimat. Hätte diesen nicht sein tuberkulöses Leiden nach dem Bade Salzbrunn getrieben, er hätte nie das Ausland aufgesucht, wo er wie ein Fisch zappelte, den man aus seinem Wasser zog. Was für ein russischer Russe er war! Als er seinen Freund Turgenjew in Paris wieder traf und dieser ihm den Place de la Concorde zeigte mit der Versicherung, daß der Platz zu den schönsten der Welt gehöre, sagte er: »Nun gut, ich weiß das jetzt, basta« – und begann ein Gespräch über Gogol. Als er weiter aus dem Munde seines Cicerone vernahm, daß zur Zeit der ersten Revolution hier die Guillotine stand, daß Ludwigs XVI. Kopf hier fiel, da sah er sich rings um, stieß ein kurzes ah aus und spielte das Gespräch auf die Hinrichtungsscene in Gogols »Taraß Bulba« hinüber.

Turgenjew sah dann den Kranken nicht wieder. Belinsky war kaum von Paris nach Petersburg zurückgekehrt, als ihn ein qualvoller Tod von seinem irdischen Märtyrertum abrief. (28. Mai 1848.) Ein reaktionärer Ruck zerzauste gerade die Illusionen, die hoffnungsselige Herzen sich von der Aufhebung der Leibeigenschaft gemacht hatten. Die Züge des armen Freundes sind in Turgenjews Seele nie erblaßt; noch auf seinem Sterbebette sprach er den Wunsch aus, neben ihm sein Grab zu finden.

Turgenjews Mutter erboste sich darüber, daß ihr Sohn abermals die Heimat verlassen hatte und, ein Edelmann von altem Schlage, sich in ein literarisches Zigeunerleben warf. Resolut, wie sie war, verschloß sie ihre Kasse. Da fand er bei seinen Pariser Freunden eine zarte Gastlichkeit, die ihm die Wolkenschatten kleinlicher Sorgen verscheuchte. Er lebte auf dem Viardotschen Landgute Courtavenel als Einsiedler in der Welt, die ihn umbrandete. Eine alte Dienerin, die ihm tagtäglich seine Hühnersuppe und Omelettes bereitete, war seine ganze Gesellschaft. Da schrieb er, von der Prosa des Lebens gestachelt, im Poetenwinkel die meisten von den Skizzen aus dem »Tagebuch eines Jägers«. Das kleine Landgut mit dem Wald von Blondüreau hat er später die Wiege seiner Dichtkunst genannt. Und doch, von Zeit zu Zeit, wenn ein paar Louis in seiner Tasche klangen, entschlüpfte er seiner klösterlichen Abgeschiedenheit und flog hinüber nach Paris. Im Jahre 1848 wohnte er an der Ecke der Rue de la Paix und des Boulevard des Italiens und saß hier in der Prosceniumsloge der Revolution. Drüben im Café de la Rotonde beim Palais Royal las er seine Zeitung. Dort traf er im Januar jenen Monsieur François, den er zum Mittelpunkt der gleichnamigen kleinen Erzählung gemacht hat. Ein langer, hagerer Mann mit runzeligen Wangen und zahnlosem Mund und ergrautem Haar, in abgetragener Kleidung, eine vom Sturm zerrüttelte Existenz; mit bitterem, boshaftem Spott folgt sein Gespräch in eigenartigen Zickzacksprüngen den Interessen der erregten Zeit, und mit einer widerspruchslosen Sicherheit sagt er alle politischen Katastrophen voraus, die die nächste Zeit dem überraschten Volke bringt. – Am 26. Februar befand sich Turgenjew auf einem Ausfluge in Brüssel. Er lag morgens noch im Gasthofsbett, als plötzlich die Türe aufgerissen wurde und der Kellner aus allen Kräften schrie: »In Frankreich ist die Republik!« Turgenjew eilte nach Paris zurück. Hier rauschte noch der Taumel der Revolution; überall trotzten die dreifarbigen Kokarden an Hüten und Mützen; von den Dächern wehten die Fahnen der Republik; Blusenmänner, die Gewehre am Riemen, trugen unter dem Gesange der Marseillaise die Barrikaden ab. Auf dem Platze des Palais Royal trockneten noch die Blutspuren des 24. Februar. Turgenjew erlebte die Kämpfe der roten Republik gegen die république honnête und den Sieg der Nationalversammlung über den Sozialismus, den in der Junischlacht General Cavaignac mit Strömen von Blut gewann. Diese Junivorgänge schilderte er in einer Skizze »Die Unsrigen haben mich gesendet«. Auch die Erzählung »Rudin« findet ihr Finale in dem Arbeiteraufstand vom 24. Juni: »In einer der engen Gassen des Faubourg St. Antoine wechselten einige hinter einer Barrikade verschanzte Arbeiter von Zeit zu Zeit noch einige Schüsse mit den Soldaten. Schon hatten sie erkannt, daß jeder Widerstand vergeblich sei, als ein hochgewachsener Mann mit langen, weißen Haaren aus dem höchsten Punkte der Barrikade auftauchte. Er trug einen alten Rock und war mit einer roten Schärpe umgürtet. Mit übermäßig angestrengter Stimme schrie er den Arbeitern zu, ihm zu folgen, und schwang dabei in der einen Hand eine rote Fahne und in der andern einen krummen Säbel. Sofort legten fünf oder sechs Soldaten auf ihn an, die Schüsse krachten, und der Mann stürzte nach vorn über, als wollte er den Boden küssen, auf dem er stand. Er war gerade ins Herz getroffen.«

Man fühlt, daß es für einen Russen von freier Geistesbildung in den Tagen Nicolaus' I. kaum etwas Anregenderes geben konnte, als dem Wildwasser eines politischen Umsturzes zuzuschauen und sich unter dem Schutze eines liberalen Staates, unbehelligt von polizeilicher Spionage, in all den Gesprächsstoffen zu tummeln, die daheim im Vaterlande verpönt waren. Turgenjew benutzte die Bekanntschaft Herzens, um in jenem Sturmjahre den führenden Geistern der Revolution näher zu kommen, aber der Wogendrang riß den Besonnenen nicht fort, der den Zuruf seines alten preußischen Schwimmeisters » la bouche hors de l'eau! schwere Not!« im Sinne behielt. So interessant dem Künstler stets Revolutionäre und Nihilisten blieben, auf einer Bank mochte er doch nicht mit ihnen sitzen. Dem Gedanken, ein politischer Emigrant zu werden, der ihn ernstlich genug beschäftigt hatte, widerstand er zum Heile seiner Dichtkunst. Ehe er im Mai 1850 seinen Koffer zur Heimreise packte, ging er noch einmal nach Courtavenel hinaus und freute sich wie ein Kind, die alten vertrauten Plätze wieder zu sehen, die ihn an die Zeit rührender Genügsamkeit gemahnten. Er fand hier den Komponisten Gounod, dem die Liebenswürdigkeit der Familie Viardot auch ein Sanssouci auf dem Landgute bereitet hatte. Der schuf gerade seine »Sappho« und machte den russischen Schriftsteller zum Genossen seiner intimen Gedanken. Turgenjew sandte seinen Abschiedsgruß an Madame Viardot, die damals in Deutschland weilte: »Rußland erwartet mich, diese ungeheure, düstere Rätselgestalt, regungslos und verschleiert gleich der Sphinx des Ödipus. Sie wird mich später verschlingen. Ich sehe schon, wie sie ihren starren, unbeweglichen Blick auf mich richtet mit jenem leblosen Ausdruck, den die Augen der Steinbilder haben. Sei ruhig, Sphinx, ich kehre zu dir zurück, und du kannst mich dann nach Belieben verschlingen, wenn ich dein Rätsel nicht löse!« In der leichten Kauserie des Briefstiles braucht die tragische Wendung nicht allzuschwer bewertet zu werden.

Der Anlaß, der ihn nach Petersburg führte, war der Tod seiner Mutter. Sie war gestorben, ohne jemals eine Zeile von den Dichtungen ihres Sohnes gelesen zu haben. Das große Vermögen, das Turgenjew mit seinem Bruder teilte, machte ihn mit einem Schlage reich und unabhängig. Die Fesseln kleiner Tagessorgen fielen ab; er konnte seine Lebensführung formen, wie er wollte. So reckte er die Glieder in wonnigem Behagen uneingeschränkter Bewegungsfreiheit. Die Wintermonate sahen ihn in der Residenz, wo das alte Vermögen und sein junger Ruhm ihn interessant machten. Der Sommer lockte ihn nach Spaßkoje-Selo; da ließ er sich von der Kraft verjüngender Waldluft umwehen, und das russische Landjunkerleben ging ihm gar lustig ein. Die Augen eines kleinen Töchterchens erinnerten ihn noch später daran, daß eine tolle Liaison mehr als ein Traum gewesen war.

Im Oktober des Jahres 1851 trat Turgenjew dem großen Gogol in Petersburg näher. Von dem Namen des genialen Mannes ging noch immer ein zauberhafter Klang, obgleich er, krank an Leib und Seele, zum verbissenen Slawophilen geworden war und in asketischen und mystischen Ideen sein Gehirn erweichte. Turgenjew fand ihn mit der Feder in der Hand an seinem Pulte stehend, in einen dunklen Paletot, eine grüne Sammetweste und zimmetfarbene Pantalons gekleidet. Ein heimlicher Schmerz und eine düstere Ruhelosigkeit zuckten in seinem Gesicht, das Funkeln der alten Spottlust war erloschen. Noch verstand er es, fein und treffend von dem Berufe eines Schriftstellers und von der Physiologie geistiger Produktion zu reden; als aber das Gespräch auf die staatliche Bevormundung gelenkt wurde, verfocht er starrköpfig die Zensur. Da fühlte Turgenjew, welche Kluft ihn von dem bewunderten Dichter trennte, der in seinem Alter alle die verrotteten Symbole eines despotischen Regiments anbetete, die er in der Jugend verbrannt hatte. Gogols künstlerischer Größe tat dies Gefühl keinen Eintrag. Als man am 21. Februar 1852 den Dichter verhungert vor seinen Heiligenbildern liegend gefunden hatte, schrieb Turgenjew unter dem unmittelbaren Eindruck der erschütternden Kunde an Madame Viardot: »Es ist unmöglich, Ihnen die ganze Größe dieses so grausamen und gewaltigen Verlustes zu schildern. Es gibt keinen Russen, dem nicht in diesem Augenblicke das Herz blutet. Er war mehr für uns als ein einfacher Schriftsteller. Er hat uns unser eigenstes Wesen erst offenbart. Er hat in mehr als einem Sinne für uns das Werk Peters des Großen fortgesetzt … Man muß Russe sein, um zu fühlen, was er uns war, und was wir an ihm verloren haben.« So sprach er zu der Fremdlingin; aber seinem ganzen Volke legte er die Finger auf die Wunde und rief mit Donnerworten in die Seele hinein: »Er ist tot! Wir haben ihn verloren!« Seinem Nachruf versagte die Petersburger Zensurbehörde die Druckerlaubnis, wie denn kein einziges Journal der Residenz von Gogols Tode Notiz nehmen durfte. Ein Moskauer Blatt aber druckte am 18. März Turgenjews Artikel ab. Der Verfasser ahnte kein Ungemach, als er plötzlich am 16. April wegen Ungehorsams und Verletzung der Zensurvorschriften zu Polizeiarrest verurteilt wurde. Der kleine Aufsatz enthielt nichts Zensurwidriges, wenn es nicht als eine Sünde galt, den Dichter Gogol einen großen Mann zu nennen. So war es der Polizei wohl mehr darum zu tun, ihre Krallen einmal den kühnen Mann fühlen zu lassen, der in seinem »Tagebuch eines Jägers« die wundeste Stelle des Zarenreiches ungestraft bloßgelegt hatte.

Es traf sich, daß die beiden Töchter des Polizeiinspektors die Muse des Schriftstellers verehrten und ihren Vater überredeten, ihm sein Privatzimmer zur Haft anzuweisen. Turgenjew grämte sich auch nicht allzusehr. Er wußte dem Geschick die gute Seite abzugewinnen und klagte höchstens, daß ihm draußen der schöne Frühling entschwand. In späterer Zeit (1879) riet er gelegentlich seinem Freunde Flaubert, sich mehr körperliche Bewegung zu machen; er knüpfte dabei an seine Arrestantenzeit an und sagte: »Ich trug damals zweimal am Tage 104 Spielkarten, Stück für Stück, von einem Ende des Zimmers zum anderen und dann wieder zurück; das machte 416 Touren, jede von 8 Schritten, also im ganzen fast 2 Kilometer; an den Tagen, da ich diese Promenade unterließ, fühlte ich einen Blutandrang nach dem Kopfe.« Melancholischer wurde sein Gemüt nur, wenn in seine Haft die Erinnerung an die schönen Tage von Paris und Courtavenel hineinschien oder ein Brief aus Frankreich geflogen kam. In solcher Stimmung schrieb er an Monsieur und Madame Viardot eines Tages, als er eine Strähne weißen Haares auf seinem Kopfe entdeckte: »Als ich Sie verließ, war ich mir bewußt, daß es für lange Zeit sei, wenn nicht für immer … Mein Leben ist zu Ende, es hat keinen Reiz mehr für mich. Ich habe mein ganzes Weißbrot verzehrt; nun muß ich den Rest Schwarzbrot essen und den Himmel bitten, daß er es gut mit mir meint.« Die Tage des Polizeiarrestes waren für den Dichter nicht verloren; er schrieb in der aufgezwungenen Muße die kleine Erzählung »Mumu«. Turgenjew wandte sich brieflich an den Großfürsten-Thronfolger, und da bei diesem auch der Dichter Graf Alexis Tolstoi und die schöngeistige Frau Swirnow, »die Notredame der russischen Literatur,« eine Fürbitte zu seinen Gunsten einlegten, so durfte er nach einem Monat seine Haft verlassen unter der Bedingung, daß er sich auf sein Landgut in die Verbannung begab. Diese Internierung »wegen Preßvergehens« dauerte noch bis zum Jahre 1854. Die Handhabung der Aufsicht zeugte von russischer Eigenart. Beim Beginn eines jeden Monats erschien in Spaßkoje ein Mann, der nach einem allgemeinen Gespräch ein Schreiben vorlegte, das jedesmal fettiger ward und das den Auftrag zur Überwachung enthielt. Dann fragte er ganz verlegen: »Was soll ich damit machen?« Und ebenso regelmäßig versetzte Turgenjew, indem er ihm eine Fünfrubelnote über den Tisch hinschob: »Erfüllen Sie Ihre Pflicht!«

Als Turgenjew Petersburg verließ, schrieb er seinen Pariser Freunden: »Ich gehe aufs Land und werde meine Studien über das russische Volk fortsetzen, dies Volk le plus étrange et le plus étonnant, qu'il y aît au monde.« Man sieht, der Dichter in ihm will zu seinem Recht kommen. Und in einem Rückblick auf seine Festungstid durfte er später ohne Groll sagen: »Das alles hat nur zu meinem Besten gereicht; der Aufenthalt sowohl im Arrest als auch auf dem Lande hat mir Seiten des russischen Wesens erschlossen, die bei dem gewöhnlichen Lauf der Dinge wahrscheinlich meiner Aufmerksamkeit entgangen wären.«


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