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IV.
»Das Tagebuch eines Jägers«

Turgenjews Jägerskizzen erschienen im Jahre 1852 zu einem Bande vereinigt. Es war mehr als ein Buch, es war eine Tat. Dem Verfasser wies der nicht geahnte Erfolg den Kurs für sein ganzes Leben an. Die imitierte Poesie empfindelnder Reimereien, mit denen er sich herumgequält hatte, warf er beiseite, und sein ganzes Schaffen konzentrierte er da, wo die starken Wurzeln seiner Kraft lagen, in der Realität des Lebens. Für die gesamte gebildete Welt bedeutete das Buch eine Entdeckung, und in Rußland selbst weckten die Skizzen mit ihrem Verzweiflungsruf gegen die Gewaltmittel eines lähmenden Despotismus einen Widerhall in aller Herzen, einen Schrei des Schmerzes, der von centrifugaler Wirkung war.

Als Turgenjew das Tagebuch schrieb, war die Leibeigenschaft allen Erscheinungsformen des russischen sozialen Lebens wie das starre Gesetz eines archaistischen Stils aufgezwängt. Die nichtfreie Bevölkerung zählte damals 46 Millionen Köpfe, von denen die eine Hälfte aus Kronbauern, die andere Hälfte aus Bauern der Grundbesitzer und Hofdienstleuten bestand. Jene waren nur vom Staate abhängig, dem sie einen Jahreszins zahlten, – diese befanden sich in dem armseligen Lose, das wir Leibeigenschaft zu nennen gewohnt sind. Die Emancipation dieser Leibeigenen mußte eine gesellschaftliche Umwälzung herbeiführen, wie sie nur in der französischen Revolution eine Parallele hat. Denn es konnte nicht genügen, die Person der Bauern für frei zu erklären; man mußte ihnen auch ein Besitzrecht auf einen Teil des Bodens einräumen, den sie zu bebauen gewohnt waren; und die Gerechtigkeit gebot dann auch, die Herren zu entschädigen, denen die Aufhebung der Leibeigenschaft ein gewaltiges Stück ihres Rechtes und ihres Vermögens raubte. Die russische Hörigkeit ist nicht völkergeschichtlich entstanden dadurch, daß eine Rasse die andere unterwarf und die stärkere der schwächeren das Helotentum aufdrängte, sondern sie ist ein diktatorisch entwickeltes Verhältnis, das sich am reinsten in dem altmoskowitischen Stamm findet. In den Freiheitskämpfen gegen die Mongolen hatten die Edelleute für ihre Waffendienste Krongüter als Sold erhalten; aber, an diesen haftete die Verpflichtung, dem Zaren auch fernerhin mit einer festbestimmten Anzahl von bewaffneten Bauern zur Heeresfolge bereit zu sein. Solange nun diese Bauern noch das Recht der Freizügigkeit besaßen, wählten sie begreiflicherweise diejenigen Herren, die am besten bezahlten. Da blieben denn die ärmeren Gutsbesitzer oft genug ohne Bauern und konnten im Kriege ihr Aufgebot nicht zur Stelle bringen. Der Vorteil des Edelmannes verlangte also ebenso wie der Vorteil des Zaren, daß man die Bewegungsfreiheit der Bauern einengte und daß man den Herrn mit einer intensiveren Gewalt gegenüber dem Bauern ausstattete. Aus militärisch-ökonomischen Rücksichten geschah es also, daß zuerst Feodor Iwanowitsch 1592, später Boris Godunow 1601 einen Ukas erließ, der die Bauern an ihre Scholle fesselte. Wenn nun auch in der Folgezeit an die Stelle des Lehnsheeres eine stehende Armee trat und die Wehrpflicht auf ganz andere Grundlagen gestellt wurde, die Lage der Bauern änderte sich doch nicht wieder; sie fielen vielmehr mit ihrer Person ganz dem Grundbesitzer zu und wurden sein bewegliches Eigentum. Peter der Große und Katharina II. haben, so begeistert sie beide für die Zivilisation des Westens schwärmten, doch die alten Leibeigenschaftsdekrete ergänzt und ausgedehnt. Es fehlte keiner Zeit an erleuchteten Geistern, die in der Befreiung der Bauern die unerläßliche Bedingung für die Entwicklung eines gesunden und starken Volkstums sahen, aber die Masse war sich der sozialen Anomalie, in der ihr Leben dumpf dahinging, kaum mehr bewußt. Fast unglaublich klingt es, daß der Dichter Gogol zu einem Apologeten der Leibeigenschaft werden konnte.

Zar Nikolaus I. sagte sich, als 1848 das Schreckensgespenst der Revolution in Europa umging, von allen Plänen der Bauernbefreiung los, und die Lage ward verzweifelter denn je. Erst der Krimkrieg mußte mit grellster, erschreckender Deutlichkeit offenbaren, wie sehr die Sklaverei die sittlichen und natürlichen Kräfte des Landes brach gelegt hatte, wie sehr das Knechtsvolk in seinen wissenschaftlichen und gewerblichen Leistungen hinter den freien Nationen zurückgeblieben war.

Turgenjew hat selbst von dem Hannibalsschwur gesprochen, den er leistete, als er zum ersten Male ins Ausland ging, und er hat betont, daß in dem Namen Leibeigenschaft sich für ihn alles konzentrierte, was er zu bekämpfen bis an sein Lebensende beschlossen hatte. Eine unendlich fein ausgeprägte Humanität war dem Dichter eigen – aber ein Kämpfer oder gar ein Parteimann war er nicht! Die trübseligen Verhältnisse des Bauernstandes bilden in dem »Tagebuch eines Jägers« ein Motiv, das überall wiedertönt und nie ganz verklingt, aber ein poetischer Protest gegen die Leibeigenschaft sind diese Skizzen dennoch nicht. Auch eine Satire dürfen sie nicht genannt werden; das würde sie im Range erniedrigen. Der Vergleich mit Beecher-Stowes pathetischer Erzählung »Onkel Toms Hütte« liegt wohl nahe, aber er wäre nicht durchführbar; denn Turgenjew ist kein lauter Moralprediger und Didaktiker. Der Wert seiner kleinen Erzählungen offenbart sich – wenn wir ihre soziale und politische Seite überhaupt nach oben legen wollen – nicht in den Theorieen, die sie durchzuführen scheinen, sondern in der geistigen Anregung, die von ihnen unwillkürlich und ungewollt auf den Leser überströmt.

Wenn er Bauern und Herren zeichnet, so verteilt er mit ruhiger Künstlerhand Licht und Schatten auf beide Seiten, und wenn der Bauer in seiner Darstellung unsere Sympathie stärker gewinnt, so bleibt das Bild doch immer eine echte Wiedergabe der Wirklichkeit.

Ein leiser Hauch wehmütiger Klage über die Verwahrlosung eines tüchtigen Volkes schwebt über den Geschichten und Gestalten, aber nirgends tönt ein leidenschaftlicher Kampfruf in tyrannos, und nirgends blitzt ein spitzer Dolchstoß.

Je objektiver sie sich hielt, desto fester packte die Darstellungskunst. Der Thronfolger Alexander fühlte eine Träne ins Auge treten, als er die Skizzen las, und die Schilderung der armen Bauern bestärkte ihn später in seinem Entschlusse, das nationale Übel auszurotten mit Stumpf und Stiel.

Der Dichter ist stärker als der Denker. Das Geheimnis seiner Größe liegt darin. Mag der Pulsschlag der Zeit ein anderer werden, Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« bewahrt seine Jugend allezeit, denn keine Tendenz stört mit harten Zügen den Eindruck seiner Schönheit. Und diese Schönheit war es, die dem Dichter die Anerkennung der Liberalen und Konservativen, der Russen und Ausländer erwarb. Selbst die Zensur mit ihren Argusaugen fand – so unglaublich das klingt – hier keinen Anlaß zum Einschreiten.

 

Mit dem unbefangenen Auge des Jägers, mit frischem Sinn und gesundem Herzen hat Turgenjew die Skizzen gezeichnet. Hier ist es keine Phrase, wenn man sagt, daß der frische Odem der Waldluft darüber liegt. Hat er doch oft genug die Feder in die Hand genommen, die eben die Flinte zur Seite gestellt hatte. Der Schauplatz seiner Streifereien ist das Gouvernement Orel und die benachbarten Jagdgründe von Tula, Kagula, Kursk und Woronesch. Sein Genosse ist zumeist ein Leibeigener Athanasius, der seiner Mutter schon gedient hat, ein rechter Waldläufer, erfahren in allen Schlichen der Jägerei – und dabei ein guter Plauderer. Der Dichter nennt ihn Jermolay. Er ist ein hagerer, struppiger Kerl, der Winter und Sommer in einem gelben deutschen Nankingrock und blauen Beinkleidern geht, einen Gürtel und einen Hut mit Troddeln hat und seine alte Feuersteinbüchse mit unbegreiflicher Gewandtheit handhabt. Wo er sein Lager aufschlägt, womit er sein Leben fristet, das weiß niemand. Mit diesem Gefährten oder auch ganz allein, nur von seinem Hunde begleitet, streift nun Turgenjew, dem kein Staatsdienst mehr die angeborene Jagdleidenschaft trübt, tagelang, wochenlang kreuz und quer; und wir folgen ihm in das Dickicht, in den Sumpf und über die Steppe, begleiten ihn zu den Landsitzen seiner adligen Nachbarn und Gevattern und in die Hütte des Bauern, des Müllers, des Freisassen, auf den Markt, in die Poststation, in die Schenke.

Die russischen Herren lernen wir auf dem Pferdemarkt zu Lebedjan kennen oder bei der Mittagstafel des Alexander Michailitsch – Militärs mit vornehmen, leicht verlebten Gesichtern, – Staatsbeamte in engen, steifen Kravatten und mit herabhängenden Bärten, wie sie nur Leute von Grundsätzen und tüchtiger Gesinnung tragen, – beleibte Gutsbesitzer in rundgeschnittenem Frack und gewürfeltem Beinkleid nach Moskauer Art, mit dicken, goldenen, petschaftgeschmückten Uhrketten. Die gute, alte Zeit liegt auch für diese Edelleute rückwärts, aber noch innerhalb der Grenzen des Gedächtnisses. Die Ruinen zerfallener Paläste rufen die vergangenen Tage üppiger Grandseigneurwirtschaft wach, und mancher versteht es noch, von den prunkenden Jagden des Grafen Orlow zu erzählen, von seinen rauschenden Festen und übermütigen Maitressen. Seitdem sind die Leidenschaften weniger exzentrisch geworden und beschränken sich auf Essen und Trinken und Jagen, auf Karten- und Billardspiel, auf einen Ball in der Kreisstadt, auf Papierfabriken, Zuckersiedereien und andere derartige kostspielige Mißgriffe.

Den echten, rechten Gutsbesitzer, der mit hausbackener Vernunft wirtschaftet und seine Menschen menschlich behandelt, stellt nur eine Frau dar, Tatjana Borysowna, deren schlichter Sinn und tüchtige Art eine Sphäre gediegener Behaglichkeit schaffen. Aus der übrigen Menge greift der Dichter am liebsten zwei Typen heraus: den Despoten, der, ob er nun nach alter Moskowiterweise haust oder seine Lebensführung mit europäischem Firnis überzogen hat, im Bauern nur den willenlosen Hörigen sieht, und den humanen, aber zerfahrenen und unpraktischen Charakter der verlorenen Existenz.

Unter den Nachbarn des Jägers ist ein junger Edelmann, der ehemalige Gardeoffizier Pjenotschkin. Sein Haus hat er nach französischer Art erbaut, seine Leute nach englischer Mode gekleidet; er selbst ist korrekt und liebenswürdig gegen seine Gäste, erbarmungslos gegen die zitternden Leibeigenen. Auf seinem Dorfe läßt er einen Starosten regieren, einen rohen, spitzbübischen Gesellen, der vor seinem Herrn kriecht, aber die Bauern mit teuflischer Bosheit schindet. Wo die beiden erscheinen, greift Angst und Zittern Platz. Die Bauern, die singend von den Tennen kommen, verstummen; die Weiber in ihren karierten Röcken werfen Holzstücke nach den kläffenden Hunden; die Kinder stürzen mit Geschrei in die Hütten; selbst die Hühner streben in den dunklen Hausflur; nur ein stolzer Hahn bleibt auf dem Wege stehen und kräht; plötzlich verliert auch er den Mut und läuft davon.

Auch ein Stück aus seiner eigenen Familienchronik bekommt eines Tages Turgenjew zu hören. Ein Freisasse erzählt ihm da: »Ihr Oheim, das war ein mächtiger Herr. Sie werden wohl das Stück Land kennen, welches von Tschaplygins Grund bis zu dem der Malinika reicht. Nun also, das hat uns Ihr Herr Onkel weggenommen. Mein verstorbener Vater war ein rechtlicher Mann; er ließ sich das nicht gefallen und ging vor Gericht. Aber sie wiesen ihn ab. Als man Ihrem Oheim hinterbrachte, daß mein Vater sich über ihn beschwert habe, schickte er seine Leute und ließ ihn holen. Und unter den Fenstern des Landhauses wurde er ausgepeitscht. Ihr Oheim aber stand auf dem Balkon und schaute zu; auch seine Frau saß dabei und blickte herab. Mein Vater schrie: Mütterchen, Maria Wassiljewna, haltet ein, erbarmt euch! – Aber sie erhob sich nur ein wenig höher, um besser sehen zu können. Mein Vater mußte sich obendrein noch bedanken, daß man ihn lebend laufen ließ.«

Ein anderes Mal sitzt Turgenjew mit seinem Nachbar Mardary Apollonitsch beim Thee auf dessen Balkon. Die Luft ist draußen still, nur ein leiser Hauch trägt das Geräusch von halb gedämpften, ununterbrochen fallenden Schlägen herüber. Mardary Apollonitsch hat die gefüllte Schale zum Munde geführt und die Nasenlöcher weit geöffnet, – da stutzt er, horcht auf, schüttelt den Kopf, löffelt ein wenig, stellt dann die Schale wieder auf den Tisch und summt vor sich hin, indem er mit gutmütigem Lächeln unwillkürlich das Geräusch der Schläge nachahmt: »Tschuki, tschuki, tschuk! – Tschuki, tschuk, tschuki, tschuk«. – Was ist das? fragt der Gast erstaunt, und der Wirt erwidert mit dem klarsten und sanftesten Blick: »Ach, man bestraft da einen Tunichtgut, den Wasja, wie ich es angeordnet habe; wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie.« Als Turgenjew nach Hause fährt, trifft er den armen Wasja, wie er gemütlich auf der Straße dahintrollt und Nüsse knackt. »Du bist heute bestraft worden, mein Freund? Weshalb hat dich dein Herr prügeln lassen?« – »O, ganz wie ich es verdient habe, Väterchen; ganz nach Recht. Bei uns wird man überhaupt nicht für Kleinigkeiten gestraft; eine solche Sitte gibt es da nicht. Nein, nein, unser Herr ist nicht so streng; unser Herr – einen solchen Herrn soll man erst suchen im ganzen Gouvernement!«

Bei einem Herrenessen teilt einst der Jäger das Gastzimmer mit einem sonderbaren Genossen. Der sitzt beim Schein des Nachtlichtes aufrecht im Bett mit der Tabaksdose in der Hand, und der lange Schatten seiner Nachtmütze geht von der Wand nach der Stubendecke. Es ist ein Steppenjunker, der sich selbst den Hamlet des Schtschigrowschen Kreises nennt. In einer nächtlichen Beichte erleichtert er sein Herz. Er hat in jungen Jahren eine Menge europäischer Bildung in sich aufgenommen, doch nicht so viel, daß dieser Erwerb die Einbuße seines Russentums aufwiegen könnte. Das ist nun die Tragik seines Lebens. Seinen Landsleuten gilt er als ein Original, über das Herren und Diener die Achsel zucken; und er selbst empfindet gerade das als seinen Fluch, daß er kein Original ist. Ein Fremdling in seinem Vaterlande, weder Fisch noch Fleisch, ein Unglücklicher, der sich zwischen zwei Stühle gesetzt hat, – ein Hamlet! Und solcher Hamlets gibt es viele in Rußland, in allen Kreisen.

Auf einer Poststation trifft der Jäger so eine rückenmarkslose Gestalt, den Peter Petrowitsch Karatajew. Er ist mit dem Leben zerfallen, da er nicht zu leben verstand. Mit einer entführten Leibeigenen hat er im stillen Winkel seines Gutes selige Tage verlebt, bis Hab' und Gut zerstoben war und die Liebste ihn verließ. Nun will er Beamter werden. Als ihn aber Turgenjew nach einem Jahre in Moskau wiederfindet, hat er den letzten Halt verloren. Im Delirium klammert er sich an Shakespeares Dänenprinzen und deklamiert die Verse des Monologes: »Ich hege Taubenmut, mir fehlt's an Galle, die bitter macht den Druck.«

Und nun zu den Bauern. Chor und Kalinitsch sind zwei Leibeigene, die der Dichter in lebendigen Kontrast setzt. Chor, in dessen Heuschuppen er sich auf mehrere Tage einquartiert, ist eine krausbärtige Patriarchenfigur mit einem Sokratesgesicht. Er ist klein von Gestalt, aber voll Würde in seiner Haltung und seinen verblümten Reden. Ein Rationalist, in seinem Geschäft erfahren und tüchtig, baut er bedächtig und praktisch an seinem Wohlstand. So wohnt er, wie ein kleiner Peter der Große, ganz behäbig in seinem sauberen Hause aus Fichtenbalken, und zehn stattliche, rotbackige, hochgewachsene Söhne umgeben ihn. Seinen Herrn durchschaut er bis auf den Grund seiner Seele, aber er findet sich als guter Politiker mit seinen Launen ab. Er könnte sich loskaufen, aber er mag nicht, denn es ist nicht der Ordnung gemäß, und so zahlt er seinen jährlichen Zins von hundert Dukaten weiter. Mit seiner kleinen Welt und allen ihren Schlichen ist er vertraut; doch er zeigt auch Kenntnisse, die über den gewöhnlichen Horizont hinausgehen. Nur gegen die Schreibkunst besitzt er ein eigensinniges Vorurteil, und für das weibliche Geschlecht hat er nur Verachtung und Spott.

Um sein ganzes realistisches Wesen zu ergänzen, hat ihn Turgenjew zu einer rührenden Freundschaft mit dem idealistischen Kalinitsch verbunden. Das ist ein langaufgeschossener, blatternarbiger, gebräunter Waldstreicher, ein sorgloser, freundlicher Gesell, der gar elend in niedriger Dorfhütte haust. Unter dem rauhen Griff des Lebens ist er ein Romantiker geblieben, ewig entzückt und ewig träumerisch. Mit einem Strauß von Beeren und Kräutern tritt er in Chors Gehöft. Die Natur ist gut Freund mit ihm; er kann das Blut besprechen und den Wurm bannen, und die Bienen folgen ihm. Aber in der Alltagswelt ist er nicht zu Hause. Da läßt sich seine Gutmütigkeit von seinem rücksichtslosen Herren ausbeuten, daß er in elenden Bastschuhen herumlaufen und sein dürftiges Hauswesen verkümmern lassen muß. Aber wehe dem, der seinem Herren mit Worten zu nahe tritt! Von seinen Lippen kommt keine Klage; er singt mit seiner hübschen Stimme und spielt auf der Balalaika, während sein Freund Chor ihn mit weinerlichem Tone begleitet.

Die solide Kraft des moskowitischen Bauernstandes, die ein Anrecht auf die Zukunft in sich trägt, hat Turgenjew in der einen Gestalt gezeichnet und in der anderen die russische bedürfnislose Gutmütigkeit und die kindliche Zuneigung zur Natur.

Mit Jermolay streift der Jäger auf der Schnepfenjagd am Istafluß. Bei einer Mühle auf dem Stroh übernachten sie am Lagerfeuer, während der Nebel aus dem Wasser steigt und leises Rauschen vom Mühlrad herüberschallt. Da lauscht er halb im Schlummer dem Gespräch, das der Waldläufer mit der Müllerin führt. Sie ist ein armes, blasses, hustengequältes Weib, deren Gesicht noch die Spur früherer Schönheit zeigt. Kaltherziger Herrenspruch hat in jungen Jahren ihr Liebesglück zerworfen und ihr Leben trostloser Verkümmerung preisgegeben. Keine Klage tönt aus diesem elenden, gebrochenen Menschenwesen.

Bis zur Empfindungslosigkeit abgestumpft ist der Leibeigene Stepuschka, den Turgenjew am Himbeerquell trifft. Er genießt keinen Lohn, kein Deputat, hat keine Vergangenheit, keine Verwandtschaft; bei der Zählung der Seelen wird er nicht einmal mitgerechnet. Wenn an den hohen Feiertagen das Gesinde von der Herrschaft mit Brot und Salz, mit Buchweizenpasteten und Fruchtbranntwein bewirtet wird, erscheint er allein nicht an den Tischen und an den Branntweinfässern. Am Ostertage bekreuzt man sich wohl mit ihm, aber er wagt nicht, seinen ölfleckigen Ärmel unterzuschieben, und er spendet aus seiner Rocktasche kein rotes Ei. Im Sommer haust er nachts in den Hühnerstiegen, im Winter in den Heuschobern. Man ist an seinen Anblick gewöhnt; bisweilen erhält er einen Fußtritt; aber kein Mensch wechselt ein Wort mit ihm, und er selbst tut, wie es scheint, von Natur den Mund nicht auf. Und dieser arme Teufel, dieser Mensch ohne Menschentum vermag ohne Erregung zu lauschen, wenn der Lakai Tumann dem Jäger von der märchenhaften Verschwendung der flottesten Grafenherrlichkeit erzählt. Es gesellt sich noch ein anderer Zuhörer, ein Bauersmann, Wlas mit Namen, dazu. Er kommt gerade aus Moskau. Da ist sein Sohn gestorben, der bisher für ihn den Zins zahlte. Der Alte hat den Herrn gebeten, ihm nun die schwere Abgabe zu erlassen. Die Bitte aber blieb vergeblich. Der Bauer erzählt sein Mißgeschick mit blödem Lächeln, doch in seinen kleinen Augen blinkt eine Träne, und seine Lippen zucken. Drüben aber am Istaufer beginnt jemand ein Lied zu singen; das ist so wehmütig, und traurig sitzt der arme Wlas.

Auch Sutschok ist ein Verstoßener. Ein barfüßiger, zerlumpter Höriger, der einst nach den wechselnden Launen seiner wechselnden Gebieter Kosak, Gärtner, Hundewärter, Schuster, Schauspieler, Diener, Koch und Kutscher war und jetzt Fischfang treibt. Bei einer Entenjagd auf dem See des Steppendorfers Lgow liest ihn Turgenjew eines Tages auf. Der Kahn, in dem die Jäger hinausfahren, ist leck und sinkt, und die Insassen stehen bis an den Hals im Wasser. Der findige Jermolay entdeckt jedoch eine Furt und leitet die Jagdgesellschaft einen hinter dem anderen zum Ufer. Ganz hinten in der Reihe watet der arme Sutschok. Er ist der kleinste, und das Wasser geht ihm oft über den Kopf, daß die Blasen aufquirlen. Allein so mühsam er sich weiterhaspeln muß, er wagt es selbst in der größten Fährnis nicht, sich mit den Händen an die Rockschöße des Voranschreitenden zu klammern.

Mit einer ganzen Schar russischer Bauern sitzen wir zusammen in der Schenke, als der Türkenjaschka mit dem wilden Barin um die Wette singt. Verwegene, verwilderte Kerle recken sich im Halbdunkel auf der Wirtsbank, und ihnen allen klopft im Herzen mit elementarer Kraft eine leidenschaftliche Liebe zum Gesang. Der kehlgewandte Barin reißt mit seinen Trillern und Schnalzern die Hörer zum Beifall hin, aber Sieger bleibt doch mit seiner innigen Begeisterung der bleiche Jaschka. Er hebt an zu singen, inbrünstig und jugendfrisch, wehmütig und lieblich. »Das echte russische, heißfühlende Gemüt klopft und atmet in seiner Stimme und greift voll in das Herz – greift voll hinein in die Saiten dessen, was in der Seele des Russen klingt.« Auf allen rohen Gesichtern glänzt die Träne, als der Singende geendet hat. In der Nacht aber tönt die Scene in ein wüstes Finale lärmender, bewußtloser Betrunkenheit aus. Draußen sieht der Dichter die Sternlein in dem Dunst der unerträglich heißen Julinacht flimmern, und etwas Hoffnungsloses, Totes liegt in der lastenden Schweigsamkeit der entkräfteten Natur.

Unter den vom Elend zermürbten Leibeigenen tritt selten eine aus hartem Holz geschnitzte Figur hervor, wie der mächtige Waldriese Thomas, ein Förster, in dessen armselige Hütte der Jäger bei einer schauerlichen Gewitternacht einkehrt. Wie ein Rachegott, unnachsichtig und unbestechlich, taucht er überall auf, wo ein armes, verzweifeltes Bäuerlein einmal ein Häuflein Reisholz stehlen will. »Ich tue,« sagt er düster, »nur meine Pflicht und will das Brot meiner Herrschaft nicht umsonst essen.«

Die weichen Gestalten hingegen zählen nach Dutzenden. Sie säen nicht, sie ernten nicht; sie leben vom himmlischen Manna. Was ist da der Zwerg Kasjan für ein sonderbares Männlein! Die Natur ist seine Mutter, und sie bedachte ihn so stiefmütterlich. Er kann das Wild besprechen, daß es dem Jäger nicht vor die Flinte läuft; er kennt auch alle Heilkraft der Blumen und Kräuter. Und reden kann der Armselige mit einer wundersamen, stillen Begeisterung, daß die Worte ihm frei und ungehindert fließen, wenn er den Jäger beschwört, die Vögel Gottes zu schonen: »Denn Blut ist etwas Heiliges; es sieht nicht Gottes Sonne und verbirgt sich vor dem Tageslicht; es ist eine große Sünde, dem Lichte das Blut zu zeigen – ja, eine gewaltige.«

Auf das Weibsvolk sieht der Russe mit der naturgeschichtlichen Verachtung aller robusten und kulturfernen Völker hinunter. Die Frauen liegen auf der Ofenbank, oder keifen, und der Mann prügelt sie ohne Mitgefühl.

Man erinnert sich, was in Tolstois Macht der Finsternis der alte Dmitritsch zu Annjutka sagt: »Man kann von euch nichts verlangen. Wer lehrt euch denn? Nur ein betrunkener Kerl bläut es euch mit dem Riemen ein … Weiber sind wie die Tiere im Walde. Nichts sehen sie, und nichts hören sie. Die Mannsleute kommen doch in die Schenke oder in ein Schloß oder werden Soldat. Aber das Weib? Das weiß von Gott und von der Welt nichts – sie lebt so dahin, kaum daß sie die Fasttage weiß … Die Weiber sind wie die jungen Hunde, die wühlen immer mit dem Kopfe im Düngerhaufen. Nur ihre albernen Lieder zu singen – das verstehen sie.« Ganz so denkt im »Tagebuch eines Jägers« der alte Chor: »Laß dies Weibervolk sich zanken; was nützt es, sie auseinander bringen zu wollen – es wird nur schlimmer dadurch, und man verunreinigt sich höchstens die Hände.«

Aber auch die verachteten Dulderinnen haben ihre stillen Heldinnen. So jene arme Arina, die Müllerin, mit der Jermolay am Lagerfeuer sein Gespräch führt; oder Jermolays Frau selbst, die hungrig und elend in schmutziger Hütte lebt. Dem Mann, der sie mit Füßen tritt, kauft sie für ihre letzte Kopeke Branntwein, und wenn er, breit auf den Ofen hingestreckt, im Herrenschlaf schnarcht, deckt sie ihn mit ihrem eigenen Schafpelz zu. Liebenswürdiger ist die kleine, sanfte Akulina gemalt, die sich mit kindlicher Hingebung an den aufgeblasenen, dummstolzen Kammerdiener hängt. Ihr dichtes, helles, aschblondes Haar fällt in zwei Wellen unter der schmalen, roten Stirnbinde hervor und schlingt sich um die Stirne, die weiß ist wie Elfenbein. Das Gesicht hat jenen leisen goldigen Anhauch, der nur einer feinen Haut eigen ist. Die Brauen sind zart und hochgewölbt, und lange Wimpern beschatten die Augen, und der Ausdruck der liebreizenden Züge ist so einfach und sanft, so traurig und so voll kindlichen Schmerzes über die eigene Qual.

Am rührendsten jedoch bleibt jene Lukerja, »die lebende Reliquie«. Bei einer Birkhuhnjagd findet der Jäger einst auf einer kleinen Meierei seiner Mutter in einem abgelegenen Schuppen ein zur broncefarbenen Mumie eingetrocknetes Wesen, die Lukerja, die einst die schönste Vorsängerin und Tänzerin im Reigentanze des Hofgesindes war. Ein Sturz hat sie vor sieben Jahren mitten im frischen Jugendglück und Liebeslenz zum Krüppel gemacht. Nun liegt sie verlassen und sieht regungslos und ohne Klage ihr armes Leben dahinschwinden. Ein ganz kleines Stückchen Welt kann sie von ihrem Schmerzenslager übersehen: das ist ihre stille Freude; sie spürt den Duft der Feldblumen, hört die Bienen summen und die Tauben girren und sieht dem Flug der Schmetterlinge und Schwalben zu. Und dann fallen ihr die alten Lieder ein; kaum vernehmlich tönt ihr dünnes Stimmchen aus dem welken Munde, kraftlos hinsterbend wie ein Hauch, als hätte sie ihre ganze Seele ausatmen mögen.

Der Tod hat für die Enterbten des Glücks keinen Stachel. Wundersam kann so ein russischer Bauer sterben. Wenn der Holzhändler im Walde von der niederkrachenden Esche erschlagen wird und todeswund am Boden liegt, wehklagt er nicht; er fühlt, das ist die Rache, weil er die Leute am Sonntage arbeiten ließ. Er ordnet seine weltlichen Geschäfte, berechnet sein Debet und Credit, und dann zittert er wie ein geschossenes Vögelchen und streckt sich und ist tot.

Der Müller kommt mit einer tödlichen Verletzung: »Muß ich wirklich an dieser Kleinigkeit sterben?« Der Feldscher beschwört ihn, im Krankenhause zu bleiben, daß der kalte Brand nicht hinzutrete. Aber der Bauer schüttelt den Kopf. Er will nach Hause fahren, seine Anordnungen treffen. Er nimmt die Zügel. Der Weg ist voller Schlamm und Löcher. Jeder Stoß schafft ihm entsetzliche Qualen. Aber sein Gesicht bleibt gleichmütig. Er lenkt sein Pferd vorsichtig und ohne Hast und grüßt die Begegnenden. Vier Tage darauf ist er tot.

Eine alte Bäuerin liegt im Sterben. Der Geistliche sitzt an ihrem Bett und liest die Sterbegebete, und als er sieht, daß die Kranke verscheiden will, bricht er ab und gibt ihr schnell das Kreuz. »Weshalb eilst du, Väterchen?« sagt die Sterbende unwillig mit zitternder Stimme, »du wirst schon fertig werden.« – Sie wendet sich, legt die Hand auf die Bettdecke und tut ihren letzten Seufzer. Unter der Bettdecke findet man einen Rubel, mit dem sie den Geistlichen für seine Mühe hatte bezahlen wollen.

Nicht gleichmütig oder stumpfsinnig sieht der Russe den Tod kommen, sondern er stirbt, als wenn er eine Ceremonie vollzöge, kalt und einfach. Mit derselben duldenden Ergebung beugt er sich vor der Leibeigenschaft; sie ist ihm ein Unabänderliches, finsteres Naturgesetz, der Wille des Allmächtigen. So gellt kein Aufschrei der Verzweiflung aus dem zerbrochenen Herzen der Verkümmerten und Verstoßenen. Aber der Leser, der mit den Augen des Dichters den langen Zug dieser Mühseligen und Beladenen sieht, staunt, daß unter dem Fluche der Knechtschaft keine bösere Saat aufgegangen ist, staunt über die verhaltene urgesunde Kraft dieses Volksschlages, das gutmütig und bedürfnislos, geschickt und anstellig, fromm und treu ist, wie kein anderes auf der Welt. Und immer und immer wieder und überall tönt unausgesprochen die Frage: »Wann wird der Heiland kommen diesem Volke?«

Wie die Bürgschaft einer frohen Zukunft leuchtet es auf, wenn wir das heranwachsende Geschlecht sehen, jene Knaben, die »beim Tabun« am Nachtfeuer lagern. Da ist Kostja mit seinem gedankenvollen und traurigen Gesicht, seinen großen, schwarzen, von flüssigem Glanze leuchtenden Augen, die mehr sagen wollen, als seine Sprache vermag. Und dann der kluge, ehrliche, kräftige Pawluschka. Kaltblütig eilt er ohne Zagen dem Wolf entgegen, er allein mitten in der Nacht, ohne auch nur einen Stock in der Hand zu haben. Als dann der Nix ihm ruft, während er gerade am Flusse Wasser schöpft, meint der kleine Held: »Seinem Schicksal kann niemand entrinnen.« Im nächsten Jahre wird er von den Hufen eines Pferdes erschlagen.

Turgenjew war ein Sohn der schwarzen Erde. Ihr Geruch klebt an seinen Gestalten, und in ihren Seelen zittert der cri de la terre. Das sind keine glatten, sauberen Defregger-Figuren, die mit lieblichem, stereotypem Lächeln aus dem Genrebild herausschauen, keine wüsten Gesellen, wie sie auf Ostades, Brouwers und Teniers Gemälden sich rüpeln und raufen, – es sind die ernsten, trüben Landleute Millets, über deren stiller Arbeit das Evangelium liegt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!

Als die französische Übersetzung des Jägertagebuches erschienen war, schrieb George Sand dem Verfasser, indem sie ihm voll Dankes ihre Novelle Pierre Bonnin dedicierte, (1872): … »Ich stand noch ganz unter dem Reize dieser mächtigen Porträtgalerie. Welche meisterhafte Malerei! Wie man sie sieht, wie man sie hört, wie man sie kennen lernt alle diese leibeigenen Bauern des Nordens, diese Gutsbesitzer und Edelleute! Ein flüchtiges Zusammentreffen, ein kurzes Gespräch genügt, um ein Bild zu zeichnen, voll Farbe und klopfenden Lebens. Kein andrer könnte das so!« Und an Flaubert schrieb sie (1868) mit Bezug auf Turgenjew: » Quel talent! et comme c'est original et trempé! Je trouve que les étrangers font mieux que nous. Ils ne posent pas, et nous, ou nous nous drapons, ou nous nous vautrons.« Tolstoi, dessen Weltanschauung eine Kluft von der seines Landsmannes trennte und der keinen Standpunkt für die volle Würdigung Turgenjews finden konnte, schätzte doch das »Tagebuch eines Jägers« sehr hoch und hielt diese Skizzen in mancher Beziehung für unerreichbar.

Hinter dem Porträtisten Turgenjew steht der Genremaler und der Landschaftsmaler keineswegs zurück. Auf jeder Seite des Skizzenbuches finden wir mit sicherem Strich jene kleinen, frischen Bilder hingestellt, die uns auf den Schauplatz der Begebenheit setzen. Da ist der Hof eines Herrenhauses mit seinem regendurchweichten, schwarzen Boden; Mädchen in gestreiften, kattunenen Röcken kommen gegangen; Hofleute waten durch den Schmutz; dort stehen sie still und kratzen sich nachdenklich den Rücken; am Zaune ist ein Bauernpferd angebunden und schlägt mit dem Schwanz und nagt an den Latten; Hühner gackern, Hähne krähen, und auf den Treppenstufen sitzt ein Bursch mit seiner Guitarre und singt eine Romanze.

Ein andres Bild: eine Bauernstube, verräuchert, eng, niedrig; an der Wand ein zerrissener Schafspelz, in der Ecke ein Haufen alter Kleider; am Ofen zwei Töpfe; auf dem Tisch ein trübe flackerndes, halb verlöschendes Licht; auf einer kleinen Bank hockt ein Mädchen und schwingt die Wiege, die in der Mitte an der Schnur schwebt; und das Kind drin atmet schnell und schwer. Jetzt führt uns Turgenjew in die dämmerige Schenke mit den dumpfen Balkenwänden, in die Poststation mit dem öden Warteraum, in den verwilderten Fruchtgarten, auf den buntfarbigen, lärmenden Pferdemarkt.

Im Vorübergehen greift er hier und da seine Skizzen auf – auf ödem Feld den trübseligen Leichenzug oder auf der Anhöhe hinter dem Hohlwege die Silhouette des pflügenden Bauern. Er zeichnet einen strohgedeckten Schuppen und ein altes Pferd darunter, und dabei beobachtet er das Sonnenlicht, das durch die kleinen Balkenritzen fällt und das rotbraune, wirre Haar des Tieres mit lauter kleinen, hellglänzenden Fleckchen besät. Auf der Dorfstraße sieht er eine alte Bäuerin in großen Bastschuhen am Pfosten ihrer Hüttentür stehen; wie traumbefangen blickt sie nach der Schenke hinüber, wo das Volk zusammenläuft; ein kleines, flachshaariges Bürschlein im Kattunhemd, ein Cypressenholzkreuzchen auf der Brust, hockt mit gespreizten Beinen daneben, und ein Huhn pickt an einer vertrockneten, ganz schwarz gewordenen Brotkruste.

Auch an der Romantik geht der Dichter nicht vorüber, die die Natur mit geheimnisvollen Spukwesen und Waldgeistern belebt. Dem Kulturmenschen ist der seelische Kontakt mit der Natur zerrissen, der uns aus den naiven Kindermärchen widerklingt; das slavische Volk aber hat sich einen tiefen Instinkt bewahrt für alles, was draußen grünt und blüht und lebt und webt. Faust spricht zum erhabenen Geist:

»Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
– Kraft sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.«

Auch Turgenjew hörte das Herz der Natur klopfen. Und er sah die Natur durch sein Temperament. Das ist nach Zolas Definition die Kunst. Aber Turgenjew drapierte die Natur nicht mit seinen subjektiven Zutaten, er lehrte sie nicht, sich nach seinen Launen schmiegen und lachen und weinen nach seinem Willen, – er wird vielmehr von ihr beherrscht und beugt sich vor ihrer unberührten, wahren und strengen Majestät. So wird die Schwermut zum Stimmungston seiner Schilderung. Darin ist er ein Slave und Schüler Lermontows.

Die innigsten Töne, der berückendste Farbenschmelz, der einschmeichelndste Duft stehen seiner Kunst zu Gebote. Er weiß die Sinne der Lesenden festzuhalten, und ob er noch so oft in seinen alten, geliebten Wald uns führt, – er ermüdet nie. Immer überrascht seine Weise, und immer bannt sie. Er hat, was des Malers größter Zauber ist, die suggestiveness, die geheimnisvolle Macht, Stimmungen in der Seele des Betrachters zu wecken.

Es ist zur Frühlingszeit vor Sonnenuntergang. Im Walde wird es dämmerig, und die brennende Abendröte steigt von den Wurzeln und Stämmen der Bäume auf, geht höher und höher durch die niederen, noch nackten Zweige hindurch bis oben hinaus zu den unbeweglichen, flüsternden Wipfeln. Dann werden auch diese dunkel, der rötliche Himmel färbt sich blau, und der Waldgeruch macht sich mehr und mehr wahrnehmbar; eine warme Feuchte weht uns an, das Lüftchen erstirbt, die Vögel erschweigen.

Oder es brütet zur Mittagszeit die Hitze des August. Die Sonne sticht von dem dunkelblauen Himmel hernieder. Gerade vor uns drüben auf dem jenseitigen Ufer erglänzt ein gelbes Haferfeld, mit Wermut durchwachsen. Keine Ähre bewegt sich. Ein Bauernpferd steht bis an die Kniee im Wasser und schlägt sich träge mit dem triefenden Schweif. Bisweilen schießt ein großer Fisch unter einem überhängenden Ufergebüsch hervor, läßt Luftblasen emporsteigen und geht geräuschlos hinab auf den Grund, nur eine leichte Welle aufregend. Die Heuschrecken summen im vergilbten Grase, die Wachteln schlagen wie unwillig, die Sperber ziehen langsam über den Feldern und bleiben öfters wie angenagelt in der Luft stehen, schnell mit den Flügeln schlagend und den Schwanz wie einen Fächer ausbreitend.

An einem anderen Sommertage liegen wir im Walde auf dem Rücken und blicken nach oben. Es scheint uns da, als schauten wir in ein grundloses Meer, das sich unendlich weit über uns ausdehnt, – und als ständen die Bäume nicht auf der Erde, sondern hingen wie mit Wurzeln unermeßlich großer Gewächse in den durchsichtig klaren Wogen. Weit, weit in der Ferne, am äußersten, dünnsten Zweige bewegt sich ein einzelnes Blatt; es bewegt sich ganz allein, ohne vom Winde geschüttelt zu werden … Wie Zauberinseln im Meer schwimmen langsam, langsam die weißen, runden Wolken dahin … Man liegt unbeweglich, ein selig stilles und zufriedenes Gefühl überkommt das Herz … uns dünkt, als zögen in langer Reihe selige Erinnerungen durch die Seele, als entschwebte der Blick weiter und weiter in die Ferne und zöge uns hinab mit sich in einen lautlosen, glänzenden Abgrund.

An dem Himmel, der sich über die Landschaft spannt, sucht der Dichter die Stimmung zu finden, die sein Herz durchtönt. Ein Julitag zieht über die Erde dahin, ein ganzer Tag, von der ersten lächelnden Morgenröte bis zu den glanzdurchhauchten, goldiggrauen, schwebenden Wolken des Mittags und weiter, bis das Abendrot erbleicht und am dunkelnden Himmel, wie ein vorsichtig herbeigetragenes Licht, leise blinzelnd der Abendstern erscheint. Die allerzartesten Nüancen der sonnengetränkten, durchsichtigen Bläue, das anmutige Spiel der wechselnden Töne, die Lichter und Schatten und das schwimmende Gewölk – alles findet in Turgenjews Sprache einen entzückenden Ausdruck.

Auch die dunkle Nacht zieht den ernsten Blick auf sich, wie sie so still und feierlich und erhaben ruht; noch steht der Mond nicht am Himmel, aber zahllose goldene Sterne scheinen ihre Bahn zu ziehen längst der Milchstraße hin, und der Mensch fühlt bei ihrem Anschauen leise den strebenden, unaufhaltsamen Gang der Erde.

Und diese Erde schreitet dahin, gleichgültig ob all des armseligen Schaffens und Hastens der kleinen Menschenseele, und kalt klingt die Stimme der Natur: »Es ist mir nichts gemein mit deinen Werken; ich bin die Herrscherin, aber du sorge, daß du nicht sterbest!«

Das Bewußtsein der irdischen Nichtigkeit durchbohrt angesichts des endlosen, düsteren russischen Waldes den Dichter wie der erstarrende, teilnahmlos kalte Blick der Isis. Da kommt es über ihn wie die Schwingen einer tieftraurigen Verzagtheit; den Schritt des Todes hört er unter den Bäumen und fühlt seinen grausigen Hauch und spürt seine unabwendbare Nähe, als könnte er ihn tasten mit der Hand.


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