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Mitten im Orientkriege, am 2. März 1855, starb in Petersburg der Zar Nikolaus. Turgenjews Diener brachte am Morgen seinem Herrn den Samovar und sagte, indem er ihn niedersetzte, im gleichgültigsten Tone der Welt: »Der Kaiser ist tot!« Turgenjew sprang auf, stürzte nach dem Palaste, wo schon eine große Menschenmenge zusammengeströmt war, und fragte mit einer angenommenen Trauermiene einen bärbeißigen Gendarm, ob das Gerücht vom Tode des Zaren wahr sei. Dieser antwortete mit der Gegenfrage, ob er glaube, daß jemand wagen würde, etwas der Art zu erfinden. Turgenjew eilte in dem Gefühl, daß er sich aussprechen müßte, zu einem Freunde. Die Gegenwart eines pathetisch perorierenden Generals legte ihrer Stimmung Fesseln an; aber als er sich entfernt hatte, sanken sich beide stumm in die Arme.
Nun war sie da, die Stunde der Erlösung, und die Pforten waren aufgetan, daß Licht und Leben hineinflutete in das geknechtete und verdorbene Land. »Du hast die Wahrheit begraben,« so hatte eine der vielen namenlosen Flugschriften dem verstorbenen Zaren zugerufen, »hast vor die Tür ihres Grabgewölbes einen schweren Stein gewälzt und hast in der Trunkenheit deines Herzens gesagt: Für sie gibt es keine Auferstehung! – Aber am dritten Tage hat die Wahrheit sich erhoben, ist vom Tode auferstanden!«
Daß in der Todesstunde des Herrschers fremde Heere von der Krim aus das heilige Rußland mit überlegener Kraft gepackt hatten, schien ein Beweis für die geringe Leistungsfähigkeit der kaiserlichen Autokratie zu sein.
Nun saß Alexander II. auf dem Thron – ein Mensch. In seine gütige, weiche Seele, ein williges Ackerland, hatte der edle Shukowsky das Saatkorn der Humanität gesenkt. Und die Sonne schien dazu. Daß er die Bauernfrage löste, war sein persönliches Verdienst, eine Großtat, deren Glanz ihn umstrahlen wird, solange man von einer russischen Geschichte etwas weiß.
Nachdem die jahrelang dauernden, unendlich mühseligen Vorarbeiten abgeschlossen waren, unterzeichnete Alexander II. am 19. Februar 1861 das Manifest der Aufhebung der Leibeigenschaft; am 5. März wurde es in den Kirchen der beiden Hauptstädte verlesen, und als die Feldarbeiten begannen, war es überall im weiten Reichsgebiete bekannt. Der alte Freiheitsschwärmer Baburin (Turgenjews »Punin und Baburin«) war vor langen Jahren nach Sibirien verbannt. Die Kunde von dem Ende der Knechtschaft kommt auch zu ihm geflogen. Da zittern seine Finger, als er das Zeitungsblatt in Händen hat. Er umarmt und küßt seine Frau dreimal; will etwas sagen, aber nein, er vermag kein Wort über seine Lippen zu bringen. Die Tränen quellen ihm hervor, und plötzlich ruft er: »Hurrah! Hurrah! Erhalte Gott den Zaren!« Und dann eilt er hinaus barhäuptig in die bittere Kälte; Bart und Haare, selbst die Freudentränen frieren zu Eis, doch ihn macht die Wonne jung und stark, und selig ruft er den Genossen das Evangelium zu: »Es gibt keine Sklaven mehr in Rußland!«
Mit einem Schlage sanken die Sperren eines freien geistigen Verkehrs nieder. Ein Frühlingssturm brauste über die Gemüter dahin. Millionen fleißiger Hände regten sich wetteifernd, an den Fundamenten zu bauen, auf denen das neue Rußland sich erheben sollte. In diesen sechziger Jahren erhielt das soziale Leben eine neue Ordnung, auf allen Bahnen zog siegreich der Fortschritt einher, eine russische Wissenschaft entstand, und in einer glänzenden Literatur fand das vielgestaltete Leben der Gegenwart seinen Ausdruck. Es war die Zeit der großen Prosaiker. Turgenjew, Dostojewsky und Tolstoi erstritten für ihre vaterländische Literatur in Europa einen Enthusiasmus, der um so merkwürdiger war, als kaum jemand bis dahin der russischen Dichtung Beachtung geschenkt hatte. »Diese Barbaren von gestern« – sagt ein Petersburger Literaturhistoriker – »sprachen eine Art neuen Wortes aus, dem es beschieden war, einen tiefen Einfluß auf die verblaßte Produktion der letzten Periode der europäischen Literatur auszuüben; auszuüben dadurch, daß in diesem neuen Wort, in diesem durchgeistigten Realismus nicht die Langeweile der Übersättigung, nicht die Ohnmacht greisenhafter Erschöpfung, sondern ein jugendlich leidenschaftlicher Drang zum Licht und zur Wahrheit lebte.«
Während es in Rußland eine Lust ward zu leben, verließ Turgenjew sein Vaterland. Stürmen und Drängen war nicht das Element, in dem er Behagen fand. Als es galt, im Strudel wirbelnder Parteiungen Stand zu fassen und den Platz zu behaupten, trieb er dem ruhigen Ufer zu. Er war kein Mann der Tat, und jeder politische Egoismus lag ihm fern. Sein Behagen war es, von ferne zuzusehen, wie die junge Saat aufging, die er hatte streuen helfen. Das neue Regime hob auch die Hemmungen auf, die bisher in Rußland die Reiselust gedämpft hatten. In Deutschland, Frankreich, Italien, England und Schottland ließ Turgenjew seinen dürstenden Schönheitssinn über alle jene Stätten schweifen, wo mit den Reizen einer wunderbaren Natur der süße Duft einer gesteigerten und verfeinerten Weltkultur sich einte.
Wie die Pracht des Südens ihn ergriff, das spricht aus seiner Novelle »Helene«. Auf dem Hintergrunde der alten Lagunenstadt spielt sich der Schluß ab, und in üppiger Klangfülle rauscht da an unserem Ohr der Hymnus auf die ewig schöne Zauberin Venezia.
In den »Visionen« schwebt der Dichter über den Lago maggiore dahin. In den Wellen spiegeln zitternd die Sterne, und mit leisem Plätschern springt das Wasser an den Uferrand. Orangenduft kommt gezogen, und mit ihm dringen kräftig und rein die Töne einer jugendlichen Frauenstimme herauf … Da leuchtet ein Marmorpalast aus dem Schwarz der Cypressen … Die Wellen des Sees, auf denen der Staub von tausend Blüten liegt, schlagen sanft an seine Mauern, und dort, ins dunkle Grün der Orangen und Lorbeerbäume gehüllt, umflutet vom hellen Glanze, bedeckt mit Statuen und Säulenhallen, mit Tempeln und Grotten, ragt aus dem Schoße des Wassers eine hohe Insel empor – Isola bella.
Die italienische Reise fällt in das Jahr 1857. In seinen »Erinnerungen« erzählt uns Turgenjew einen Ausflug, den er nach Albani und Frascati zusammen mit Botkin, dem Freunde Belinskys, und mit dem Maler Alexander Andrejewitsch Iwanow machte. In den jungrussischen Künstlerkreisen regierte damals die Neigung zu billigen, groben Effekten und äußerlicher Realistik. Ihnen galt der Maler Brüllow, eine aufgeblasene Null, als Held. Abseits aber stand eine kleine Schar, und deren Seele war Iwanow. Overbeck hatte ihn einst in das Studium Raffaels eingeführt. Seine »Verklärung Christi« und Brüllows »Untergang von Pompeji« waren zwei Merkpunkte der feindlichen Strömungen in der russischen Malerei. Ein wunderlicher Grübler, ein mystischer Heiliger – dieser Idealist Iwanow. Er hatte David Friedrich Strauß' »Leben Jesu« gelesen, und den Christus, den er in diesem Buche fand, den wollte er malen. Und er malte ein ganzes Jahrzehnt daran. Das Ziel aber konnte er nicht erreichen, denn es lag jenseits der Grenze menschlicher Darstellungskraft. Turgenjew, der die Meister des Cinquecento anbetete und in der Landschaftsmalerei den Claude Lorrain für unerreichbar hielt, sah in der russischen Kunst seiner Zeit eine Décadence und schätzte den Maler Iwanow um so höher, als er sah, daß dieser trotz seiner Irrtümer doch in seinem unbestechlichen Wahrheitsdrange der echte Künstler war. Als im Jahre nach der italienischen Reise Iwanow starb, schrieb Turgenjew an Madame Viardot eine laute Totenklage, und noch zehn Jahre später nahm er lebhaft Partei für ihn. Die Künstler sollen Iwanow studieren, sagte er, erstens weil er als eine eigentümlich russische Natur den jugendlichen russischen Herzen nahe steht und verständlich und teuer ist; und zweitens, weil er sich das große Verdienst erwarb, auf die alten Meister hinzuweisen und selbst zu ihnen zurückzukehren. Eine Heimatskunst, die durch die Schule des Klassicismus hindurchgegangen ist, verlangt Turgenjew vom Maler; es ist dieselbe Kunst, für die seine eigene Persönlichkeit auf dem Gebiete der Literatur ein Beispiel ist. »Ich bin natürlich selbst Realist und ein Kind meiner Zeit, liebe aber und verehre die Antike und die antike Art der Kunstproduktion über alles,« schrieb er an Friedländer, als dieser ihm seinen Aufsatz »Über die antike Kunst im Gegensatz zur modernen« gesandt hatte. Im März 1880 sah Turgenjew im Berliner Museum die Pergamenischen Ausgrabungen. Die Hautreliefs der Götter- und Gigantenschlacht überraschten und entzückten ihn wie eine Offenbarung, und als er aus der Rotunde wieder heraustrat und schönheitstrunken ins volle Tageslicht starrte, mußte er denken: »Wie glücklich bin ich, daß ich nicht sterben mußte, ehe ich diese Eindrücke empfing, und wie selig, daß ich dies alles gesehen habe!«
Aber Turgenjew war doch nicht so starr in seinen Anschauungen, daß er sich nicht von dem Reiz der modernen Pariser Malerei umfangen ließ. Man sah ihn unter den eifrigen Besuchern des Salons, und auch im Hotel Drouot brachte er stundenlang bei den Bilderauktionen zu. Die Landschafter Millet, Troyon, Rousseau waren seine Lieblinge.
In seinem »Tagebuch eines Jägers« nennt er gelegentlich die russischen Kunstfexe »stämmige Keulen, mit Honig überstrichen«; sie reden – sagt er – nie von Raffael, sondern von dem göttlichen Sanzio; Correggio heißt bei ihnen der unnachahmliche Allegri; jedes im Lande geborene mittelmäßige Talent erheben sie zu einem Genie; der blaue Himmel Italiens, die Citrone des Südens und die Nebel an den Ufern der Brenta kommen nicht weg von ihren Lippen, – es ist eine Qual, sich mit ihnen zu unterhalten.
Im Jahre 1863 machte sich Turgenjew in Baden-Baden ansässig, und bis 1870 hat er hier mit Vorliebe in seiner Villa geweilt, die neben der Viardotschen Besitzung im Tiergartentale lag. Welchen Klang hatte damals für ein russisches Ohr die Bäderstadt an der Oos, wo der greise Shukowsky gestorben war, wo auf den schattigen Promenaden und am Spieltische sich die Petersburger und Moskauer Aristokratie mit dem Extrakt der eleganten abendländischen Welt zusammenfand. Wir sehen mit des Dichters Augen die Menschenmenge vor dem Konversationshause auf- und abwogen. Die grünen Bäume, die Hellen Häuser, die Berge ringsum – alles hat ein festliches Ansehen und glänzt im Schein der strahlenden Sonne und lächelt wohlwollend und milde. Und ein Widerschein dieses freundlichen Lächelns zeigt sich auf den Gesichtern der Menschen, den jungen und alten, den häßlichen und schönen … Unter dem »russischen Baum« versammeln sich Turgenjews Landsleute. Sie nähern sich würdevoll und nachlässig, begrüßen einander mit erhabener Miene, mit Anmut und Nonchalance, wie es sich für Wesen ziemt, die auf dem höchsten Gipfel der Bildung zu stehen glauben. Die princes russes, die unfähig sind, selbst etwas Amüsantes zu erfinden, beklatschen dankbar die alten, abgeschmackten Kalauer eines französischen Schwätzers. Alles parliert französisch, die Damen in ihren Toiletten von ausgesuchtem Pariser Chic, mit flirrenden Stahl- und Goldflöckchen auf Hüten und Schleiern, die an den Glanz und das Zittern der Schmetterlinge und Frühlingsblumen erinnern, – die Herren mit enganliegenden, schwarzen Überröcken, grauen Hosen und glänzenden Hüten, mit affektiert zerstreuten Blicken, herablassender Arroganz und einem Parfüm von wundervollem Patschuli und feinstem Havannaduft. »Herr, schütze mich vor meinen Landsleuten!« war Turgenjews Stoßgebet, und er flüchtete in den Waldesschatten, streifte auf den Bergen umher, und die Brust weitete sich, und das Gefühl einer starken Gesundheit pulsierte in den Adern. Er saß einem der gewaltigen Baumriesen zu Füßen, und es war ihm, als ob ein feiner Strom von dessen Saft in sein Herz überginge; unbeweglich ruhte er, nur daß seine Hand, ohne daß er es merkte, ein langes Farrenkraut ergriffen hatte und es im Takte mechanisch hin- und herwiegte.
Auch seiner Schaffenskraft wuchsen die Flügel. Er hat in Baden-Baden »Dunst«, »Ein König Lear der Steppe«, »Visionen«, die »Literatur- und Lebenserinnerungen« geschrieben.
L. Pietsch hat hier Gelegenheit gehabt, den Dichter bei seinem poetischen Schaffen zu beobachten. Wenn Turgenjew schrieb, – erzählt er uns – geschah es jederzeit unter dem Zwange einer ihn beherrschenden und treibenden, unerklärlichen Macht. Er sah ein bestimmtes Bild, eine Einzelgestalt oder Gruppe in einer gewissen Beleuchtung und Farbenstimmung. Diese Erscheinung kehrte unablässig wieder, peinigte ihn wochenlang, monatelang und verlangte von ihm künstlerische Gestaltung. Immer deutlicher bildeten sich die Figuren in ihrem Benehmen, ihrer Sprache, ihren Erlebnissen zur Klarheit heraus, Wille und Schicksal führten Katastrophe und Lösung herbei. Er litt und stöhnte unter dem innerlichen Zwange des Schreibenmüssens, suchte sich ihm durch Billardspielen mit sich selbst, durch eine Schachpartie, durch eine Hühnerjagd zu entziehen, bis er endlich der unentrinnbaren Nötigung sich beugte und mit einem Ausruf komischer Verzweiflung an seinen Schreibtisch ging. In ähnlicher Weise äußerte sich der Dichter gelegentlich selbst: »Meine literarischen Erzeugnisse wachsen wie das Gras. Es ist weder mein Wunsch, noch bin ich befähigt, etwas mit vorgefaßter Absicht zu schreiben oder eine bestimmte Idee durchzuführen. Begegne ich im Leben irgend einer Thekla oder Andrejewna, einem Peter oder Iwan und ich bemerke an ihnen irgend etwas, was ich sonst nicht bemerkte, so beobachte ich sie. Sie machen mir Eindruck; ich forsche der Ursache nach; ich vergleiche diese Personen mit anderen, versetze sie im Geiste in andere Lebenssphären, und so bildet sich mir eine ganz eigene Welt.«
Das Schicksal seiner so sorgfältig abgeschlossenen Werke interessierte Turgenjew nicht allzusehr. Gegen die Kritik war er gleichgültig, und diese Gleichgültigkeit war aufrichtig.
Mit leichtem Schwung und großem Vergnügen verfaßte er in Baden-Baden eine Anzahl von Libretti, die Frau Viardot komponierte, » Le dernier des sorciers«, » Trop de femmes«, » l'Ogre« und andere.
Fröhliche Tage, selige Tage – im innigen Zusammensein mit der Familie Viardot. L. Pietsch und L. Friedländer sind dort Turgenjews Gäste gewesen. Schwermut und Podagra suchten den Dichter heim, aber er barg den Schmerz unter der zuvorkommendsten Aufmerksamkeit, mit der er für das Behagen seiner Besucher sorgte. Unvergeßlich waren die Abende, an denen auf Turgenjews Wunsch Frau Viardot bis zur späten Stunde, sich selbst begleitend, Schubertsche Lieder mit der ihr eigenen hinreißenden Meisterschaft vortrug. Zuweilen war der Kreis größer, den der Parterresalon der Turgenjewschen Villa sah, und die Künstlerin führte dann mit ihren jugendlichen Töchtern und einigen stimmbegabten Schülerinnen eine ihrer lyrischen Opern auf. Turgenjew selbst übernahm bisweilen eine Baßpartie zum Ergötzen des Publikums, das nicht selten »ein Parquet von Königen und Königinnen, von Fürsten und Fürstinnen war, die einfach als Freunde des Hauses mit abgelegter Strahlenkrone der Majestät in der Künstlervilla des Tiergartentales, dieser greatest attraction des damaligen Baden-Baden, verkehrten«. »Vergebens,« sagt L. Pietsch, »würde ich versuchen, den Zauber dieser Sommerabende und der ihnen folgenden Nächte zu schildern, während welcher diese jungen, kunstgeschulten Mädchenstimmen den Widerhall der umgebenden Berge weckten. Und wenn dann die ganze Schar in ihren phantastischen Trachten, so manche mit wahrhaft märchenhafter Anmut geschmückt, auf den mondbeglänzten Gartenwegen, über die tauschimmernden Wiesen und durch den nachtdunklen Park dahinzog zur Villa Viardot, wo das Beisammensein nach dem heitersten Singen erst spät nach Mitternacht sein Ende fand!«
»In falscher Tonart zu singen ist echt russische Manier,« heißt es in Turgenjews »Rudin«, als ein Studentenlied angestimmt wird. Und auf dem alten Schlosse Baden-Baden läßt er in »Dunst« einen russischen Grande immer wieder von neuem sein » Deux gensdarmes, un beau dimanche …« anstimmen, »… natürlich falsch, denn es gibt keinen russischen Edelmann, der nicht falsch singt …« Aber das Volk, das hat die Ader der Musik. Da klingen die schwärmerischen Weisen rein aus heiteren Kehlen, wenn die Burschen in rotem Hemde auf dem Rasen tanzen und der Rauch aus den Hütten steigt und das junge Gras von den Wiesen her duftet. Bis zur Leidenschaft steigert sich hier die Liebe zum Gesang. Man erinnert sich, wie der Jäger (»Tagebuch eines Jägers«) in der Schenke dem Singen der beiden Bauern lauscht, die die Herzen der Hörer im Schauer der Begeisterung und im Hauche süßer Wehmut schmelzen lassen. Als der Türkenjaschka sein Lied ertönen läßt, sagt Turgenjew: »Ich entsinne mich noch, wie ich einstmals des Abends zur Zeit der Ebbe an dem flachgestreckten, sandigen Gestade des mächtig rauschenden Meeres eine große, weiße Möve sah. Das Tier saß unbeweglich, die seidenartige Brust dem Glanze des Abendrotes entgegenwendend und nur bisweilen langsam einen der langen Fittiche dem heimatlichen Meere entgegenhebend, im Scheine der tiefstehenden, purpurfarbenen Sonne. So sang Jaschka, ohne weder an sich noch an seinen Nebenbuhler zu denken, noch an uns … Er sang, und von jedem seiner Töne wehte es uns heimatlich an, so unübersehbar weit und breit; wie die wohlbekannte Steppe erschloß es sich vor uns, die sich in ungemessene Fernen hinein erstreckt.«
Die Musik war eine der Sonnen, die Turgenjew, den Sohn seines liederbegabten Volkes, durchglühten, und er brachte ihr die Weichheit und Empfänglichkeit entgegen, deren sie zu ihrer vollen Wirkung bedarf. In der Idylle des kleinen Frankfurter Konditorstübchens singt (»Frühlingswogen«) der junge Russe Sanin seiner Gemma die sanften russischen Volkslieder, auf deren Schwermutsklängen sich gern Turgenjews Seele wiegte. Der Dichter liebte seine Landsleute Glinka und Tschaikowsky, aber er haßte die lästigen Aufdringlinge, die sich brüsteten, musikalische Originale zu sein. Innig sprachen ihn die melodiösen deutschen Kompositionen an, Schuberts, Webers, Schumanns Lieder, doch am liebsten lauschte er den Höchsten der Hohen, dem ernsten Gluck, dem tiefen Beethoven, dem heiteren Mozart. Als Turgenjew Flauberts Éducation sentimentale gelesen hatte, hatte er an dem Gesange der Mlle. Arnoux viel auszusetzen. So wie man sie sich vorstellt, – schrieb er dem Verfasser – müßte sie anders und etwas anderes singen; und dann, eine Altstimme kann nicht ihre Stärke in hohen Noten suchen; und schließlich, es muß musikalisch präcisiert werden, was sie singt, sonst bleibt der Eindruck verschwommen, und das Ganze klingt ein wenig komisch.
In Turgenjews Geschichten wird viel musiziert. Der Menschensprache fehlt oft die Fähigkeit, ein tiefes, allgewaltiges, aber unklar umrissenes Gefühl in eine feste Form zu bannen; die Musik vermag dann leichter das Unaussprechliche auszusprechen. So appelliert der Dichter an die Musik, um den Leser in die Stimmung zu versetzen, die er braucht. In der Erzählung »Helene« wird in Venedig Verdis »La Traviata« gegeben. Auf der Bühne ringt sich aus der welkenden Brust Violettas die letzte, sich aufbäumende Lebenskraft, und ihr lascia me vivere, morir si giovane schwebt mit schwarzen Schattenflügeln durch den Saal hinauf zur Loge, wo der arme, schwindsüchtige Insarow, das Herz so übervoll von Plänen, dem unerbittlichen Tode entgegenreift. In dem »Lied der triumphierenden Liebe« siegt Mucio über das Herz der Valeria durch die unentrinnbaren, glühenden, geheimnisvollen Geigentöne.
Nur der, dessen Herz im Tempel der Musik beten gelernt hat, kann fühlen und schildern, wie die Melodieen arme Menschenkinder in den Himmel des Entzückens heben. Da ist im »Adligen Nest« jener alte Klavierlehrer Christoph Gottlieb Lemm, von der Natur so kümmerlich bedacht, vom Glück so verlassen, – aber er ist ein Verehrer von Bach und Händel und ausgerüstet mit tüchtigem Wissen und mit jenem Feuer, jener Kühnheit des Gedankens, die ausschließlich der germanischen Rasse eigen ist. Und nun denke man an jene stille Sommernacht, da an dem Fenster dieses Musikanten Lawretzky in seinem seligen Gefühl errungener Frauenliebe vorübergeht. Er glaubt plötzlich über seinem Haupte eine Fülle herrlichster Siegesmelodieen zu vernehmen, – wie Harmonie braust Lemms Klavierspiel herab. Vom ersten Tone an dringen die sanften und doch leidenschaftlichen Klänge ihm tief ins Herz hinein; sie quellen über von Wärme, von Schönheit und Begeisterung; sie rühren an alle zarten Empfindungen, sie mahnen an alles, was es Heiliges und Treues auf Erden gibt. Eine stille Wehmut hauchen sie aus und scheinen dann, zum Himmel aufsteigend, zu sterben … Im Zimmer ist kein Licht; nur der Strahl des Mondes, der jetzt aufgegangen ist, fällt schräg durch das offene Fenster. Tönend vibriert die Luft; das ärmliche, unwohnliche Stübchen ist wie von überirdischem Lichte erfüllt, und der Kopf des Alten erscheint hoch und begeistert in silberhellem Halbschatten.
In der Geschichte »Eine Unglückliche« führen Fustow und Ratsch ein Zither- und Fagottkonzert auf. Die gequetschten, heiseren, rauhen Töne des Blasinstrumentes und besonders das Zitherspiel lassen den Hörer kalt. »Es kommt mir stets so vor,« sagt er, »als ob in diese Saiten die Seele eines gebrechlichen Wucherers eingesperrt wäre, und daß diese näselnd weinte und jammerte über den unbarmherzigen Virtuosen, der sie zwänge, ihre musikalischen Töne von sich zu geben.« Als dann aber Susanne zum Pianino geht und Beethovens F-moll-Sonate von den Tasten erklingt, da empfindet er jenes Erstarren, jenen kalten und doch süßen Schauer des Entzückens, der die Seele auf Augenblicke ergreift, wenn das Schöne unerwartet und plötzlich in sie eindringt.
Bei einer Moskauer Soirée (»Klara Militsch«) spielt ein Virtuose eine Phantasie von Liszt nach Wagnerschen Motiven. Der weiche, träumerische Jacob Aratow fühlt sich von diesen Tönen schroff abgestoßen. Turgenjew drückt damit das Gefühl aus, das ihn selbst bei Wagners Musik beherrschte. Dieser Widerwille, den er übrigens mit Tolstoi teilt, verstieg sich bis zu harter Unduldsamkeit. Er nannte den Meister von Bayreuth l'eunuque enragé. »Mozarts Melodieen,« äußerte er gelegentlich, »schmeicheln meinem Ohr wie ein schöner Quell, Wagners Dissonanzen bereiten mir vom ersten bis zum letzten Tone unangenehme Empfindungen.«