Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.
»Sehe Jeder, wo er bleibe!«

Die letzte Stunde des ältesten christlichen Königsthrones kam mit raschen Schritten unaufhaltsam heran. Jeder Monat des Schreckensjahres 1792 brachte einen gellenden Vorklang dieser an Entsetzen und Schmach so reichen Stunde, bei deren erstem Pendelschlage das Verbrechen – in der Person Robespierre's – sich zu der wahnsinnigen Aeußerung erfrechte: schon die einzige Thatsache, daß Ludwig XVI. König gewesen, sei ein Vergehen, welches augenblickliche Hinrichtung verdiene. Auf diesem Wege kam man zu dem Wahnsinn, Gott abgesetzt zu erklären und ein gesunkenes Weib als das höchste Wesen zu verherrlichen, wie dies nach erfolgtem Königsmorde geschah. Denn selbst dem Pöbel vermochte man die neue Weisheit nur allmälig einzuflößen. Und das eigentliche Volk?

Das eigentliche Volk hatte in den vorhergehenden Zeiten schwer gelitten; die gesellschaftlichen und staatlichen Zustände Frankreichs, wie sie bis zum Jahre 1789 sich herausgebildet hatten, waren nicht mehr haltbar; die bisherige Gesellschaftsform mußte biegen oder brechen. Ein Dreißigstel der Einwohnerschaft des Königreichs genoß alle Vortheile, Freiheiten und Privilegien, während die Lasten und Dienstbarkeiten auf den Schultern derer ruhten, welche die übrigen neunundzwanzig Dreißigstel ausmachten.

Der Widerstand der Gewalthaber und Privilegirten gegen die nicht unberechtigten Forderungen der Volksdeputirten hatte am 17. Juni 1789 zur Constituirung der Nationalversammlung gefügt.

Am 12. Juli gab's zu Paris bereits den ersten blutigen Aufstand.

Am 13. Juli folgte die Errichtung einer Bürgermiliz und einer revolutionairen Municipalbehörde, Vorgänge, die in den Provinzen bald Nachahmung fanden.

Am 14. Juli eroberte das bewaffnete Volk die Bastille.

Am 4. August hob die Nationalversammlung alle Feudalrechte und persönlichen Lasten auf und ließ darauf die Erklärung der »Menschenrechte« folgen, womit der Umsturz der bisherigen Gesellschafts-Ordnung begonnen hatte.

Am 5. October zog ein wüthender Volkshaufe, gefolgt von Garden und Nationalgarden, nach Versailles und zwang den König und das Parlament, nach Paris überzusiedeln.

In der Absicht, den Einfluß des Klerus zu brechen, und um der Finanznoth abzuhelfen, beschloß die Nationalversammlung am 2. December die Confiscation sämmtlicher Kirchengüter, was bald darauf zur Creirung der Assignaten führte. Eine neue, den übrigen Veränderungen analoge Verfassung des Klerus, die Aufhebung der geistlichen Genossenschaften, der weltlichen Orden und Titel, sämmtlicher privilegirter Corporationen folgte und steigerte die Verwirrung.

Am 14. Juli 1790, dem Jahrestage der Erstürmung der Bastille, wurde von dem Könige, dem im Juni ein Fluchtversuch mißglückt war, sowie von den Staatsgewalten und den Deputaten auf dem Marsfelde die neue Verfassung beschworen und am 14. September wieder eine andere, die am 3. des genannten Monats zu Stande gekommen war.

Schon seit dem Mai nahm das Ausland eine drohende Haltung den Umwälzungen gegenüber an.

Am 1. October wurde die gesetzgebende Versammlung eröffnet; die radicalen Elemente hatten die Oberhand darin.

So kam das Jahr 1792 heran; im April wurde, nur anscheinend auf den Antrag des Königs, der Krieg gegen Oesterreich beschlossen.

Die schimpflichen Scenen, welche den Monat Juni ausfüllten, lehrten das in Paris zusammengeströmte Gesindel, wie man Könige in den Staub zieht; dann kam der Juli mit seiner unheimlichen Bruthitze. Am 10. August entlud sich das Gewitter: man nahm den König gefangen und mordete dessen Getreue. Es folgte der September mit der Priesterhetze und den barbarischen Metzeleien in fast allen Gefängnissen Frankreichs. Alleinherrscher war von da ab der Frevel:

»Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz –«

wie Schiller angesichts jener Greuel seiner französischen Zeitgenossen sang. Das Schreckensregiment war freilich noch nicht gleich anfangs als Staatsbehörde installirt, aber seine Schergen standen doch tatsächlich bereits in Amt und Würden. Was bisher Macht und Ansehen genossen hatte, mußte den Nacken beugen oder den Hals brechen: adelige Abkunft galt als Verbrechen, – man ahndete es mit Verbannung; Reichthum galt als Verbrechen, – man strafte es durch Plünderung; christlicher Glaube und christliches Leben galten als Verbrechen, – sie konnten nur mit dem Tode gesühnt werden.

Sowohl aus den Provinzen wie aus Paris war die Mehrzahl der unglücklichen Adeligen beim Beginn jener Greueltage in das Ausland geflüchtet; indessen gab es doch auch Einzelne, die sich zur Auswanderung nicht hatten entschließen können. Liebe zur heimischen Erde hielt die Einen, unerschütterliches Vertrauen auf die Anhänglichkeit ihrer alten Lehnsleute Andere zurück, und noch wieder Andere fanden in persönlichen Verhältnissen unübersteigliche Hindernisse.

Den Herrn von Neuville hatten die angeführten Motive zusammen bestimmt, in Frankreich zurückzubleiben. Der Marquis bewohnte das alte Stammschloß seiner Ahnen, welches an der Grenze der Picardie und des Artois in einer duftigen Waldgegend lag, die durch die klaren Wellen des Flüßchens Authie getränkt und im äußersten Gesichtskreise von den hundertjährigen Eichen des Crecy'schen Forstes eingefaßt ward. Das für die Kirchthürme, Kreuze und Edelsitze so verhängnißvolle Jahr 1791 hatte das Neuville'sche Stammschloß noch verschont. Das Familienwappen saß noch fest oben über dem Eingangsthore; noch kreischte der herrschaftliche Wetterhahn auf dem First, wenn der Wind ihn neckte, und aus den Schornsteinen rauchte es jetzt, wie immer. Der Marquis hatte sich, wie gesagt, nicht entschließen können, seine Ahnenburg zu verlassen; die manichfachen Dienste und Gegendienste, die Protection seinerseits und die Ergebenheit anderseits, das Zusammenleben auf demselben Fleck Erde, das in Schlachten gemeinsam vergossene Blut, – kurz, alle die Bande, welche ehemals, in der Feudalzeit, der die Revolution von 1789 ein Ende machte, den »Herrn« mit seinen Vasallen, den Meister mit seinen Knechten, den wohlthätigen Gutsbesitzer mit seinen Arbeitern und Schäfern verknüpften, gewährten dem Marquis, wie er vermeinte, hinreichenden Schutz gegen etwaige Versuche zu böswilligen Neuerungen.

Auch andere Motive hatten ihn zurückgehalten. Adrian von Neuville hatte seine Jugend und die schönsten Jahre seines Lebens auf dem Meere und in Französisch-Indien zugebracht und sich durch Muth, Entschlossenheit und Thatkraft vielfach ausgezeichnet. Als er sich endlich zur Ruhe setzte, lasteten bereits fünfzig Jahre auf seinen Schultern; aber alle ruhmreichen Erinnerungen an die Vergangenheit vermochten nicht, eine gewisse trostlose Oede und Leere auszufüllen, welche das Leben in seinem Herzen zurückgelassen hatte. Seine Verwandten waren todt, seine Jugendfreunde in alle Welt zerstreut; von drei Schwestern, welche vormals das elterliche Haus belebten, war die eine jetzt Nonne in einer Abtei bei Douai; die zweite war in der Blüthe ihrer Jahre gestorben, und die dritte hatte sich mit einem Edelmanne in der Normandie verheirathet, wo die Beiden, unweit Avranches, auf einem kleinen Gute wohnten. Der ehemalige Marine-Offizier fühlte sich auf seinem Stammschlosse vereinsamt und fand dasselbe viel zu groß für sich allein. Um sich zu zerstreuen und zugleich in der Hoffnung, neue Freunde aufzufinden, hatte er eine Rundreise bei den in der Umgegend seßhaften Standesgenossen beschlossen. Das war ein glücklicher Gedanke gewesen; denn bei einem, der in jenem Landstrich sehr mächtigen Familie der Lameth angehörenden Edelherrn hatte der Marquis die Bekanntschaft einer jungen Waise gemacht, deren Schönheit, Anmuth und Mildherzigkeit ihn unwiderstehlich fesselten. Delphine von Saint-Odon stand damals, wie er, ganz allein in der Welt. Da sie keinen andern persönlichen Besitz hatte, als ihren Rosenkranz, so war sie ganz auf ihre Verwandten angewiesen. Aus dieser Verlassenheit schien sich bei ihr das Gefühl einer Schwäche zu erzeugen, welche ganz auf die Güte eines Andern baut, was nicht selten auf ein starkes Mannesherz einen überwältigenden Eindruck ausübt. Adrian von Neuville gewann die Waise lieb, und nachdem er sich dieses Gedankens zwanzig Mal zu entledigen gesucht und zwanzig Mal ihn begierig wieder aufgegriffen, sah er sich endlich in der Schlacht, die er seinem eigenen Herzen lieferte, besiegt – er hielt um Delphinens Hand an. In jener Zeit wurden, wie das auch jetzt wohl in den hohen Kreisen noch vorkommt, die Mädchen bei Heirathen nicht gefragt, ob ihnen der Werber genehm sei, sondern sie hatten sich den Beschlüssen des Familienraths zu fügen. Indessen war Delphine von ganzem Herzen mit dem Belieben ihrer Anverwandten einverstanden; ohne Zaudern legte sie ihre Hand vertrauensvoll in die kräftige Rechte des Marquis. Das alte Schloß Neuville blühte wieder auf, und auch der Schloßherr glaubte mit der Glückseligkeit der Jugend zugleich die Jugend selbst zurückempfangen zu haben. Ein Töchterchen war die erste Frucht der Ehe. In dem Zeitpunkte, wo diese Geschichte beginnt, stand die Marquise im Begriff, ihrem Gatten ein zweites Kind zu schenken. Es war daher ein unerträglicher Gedanke für den Marquis, sich unter solchen Umständen in diesen Schreckenstagen von Weib und Kind zu trennen, oder die Letztern allen Wechselfällen des Exils preiszugeben. Vielleicht hätte er mit einer ältern Frau von festerer Constitution und stärkerm Charakter die Verbannung gewählt; aber die zart gebaute, an Drangsal und Widerwärtigkeiten nicht gewöhnte, schüchterne Delphine überließ ihm die ganze Verantwortlichkeit für ihr Schicksal, und er glaubte sie deshalb keinen Prüfungen aussetzen zu dürfen, welchen ihre Kräfte nicht gewachsen waren. Er gedachte sie und die kleine Charlotte in seinem waldumwachsenen Schlosse sicher zu bergen, bis der Sturm ausgetobt haben würde; er hoffte, daß seine Bauern und Pächter, auf deren Ergebung und Dankbarkeit er hundertfache Ansprüche sich erworben, in der Vertheidigung seiner beiden Schätze ihm nöthigenfalls hülfreich an die Hand gehen würden.

Die Zukunft kann Niemand durchschauen. Man glaubte damals fast allgemein, daß die tumultuarischen Scenen des Juni, August und September der Ausfluß einer vorübergehenden leidenschaftlichen Ekstase seien. Das »Schreckensregiment«, der »Wohlfahrts- und Sicherheits-Ausschuß« und die Errichtung von Schaffoten auf allen öffentlichen Plätzen ließen sich nicht voraussehen.


 << zurück weiter >>