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Edelleute und Priester, Rentner und Gelehrte, Bauern, Tagelöhner und Dienstboten, alle Schichten der Gesellschaft waren in dem Arresthause von Amiens vertreten. Manche arme Teufel wußten selber nicht, welches angebliche Verbrechen sie in diese Höhle des Todes geführt hatte. Die Einen hatten öffentlich die Blutthaten der Revolution getadelt; denselben kein Lob gespendet zu haben, wurde Andern als Verbrechen angerechnet; noch wieder Andere hatten in einem Keller der Messe beigewohnt oder einen Priester, der die Civil-Constitution nicht beschwören wollte, auf dem Dachboden ihres Hauses verborgen. Einzelne waren reich und verdankten Neidern ihre Gefangenschaft. Viele waren arm, aber sie hatten den Zorn des Schuhflickers oder Trödlers, der dem Club ihres Ortes präsidirte, auf sich herabgezogen. Frauen und Mädchen in der Blüthe der Jugend befanden sich ebenfalls manchfach unter den Gefangenen …die Proconsuln hatten sie für sich in Sicherheit gebracht; auch an Kindern fehlte es nicht …mußte man doch die Aristokraten schon in der Wiege erwürgen!
Die Zahl der Detinirten war so groß, die Bekümmerniß der Einzelnen so stark, daß die Ankunft der Marquise von Neuville und der Tochter derselben kaum bemerkt wurde. Man sperrte sie in ein niederes und düsteres Gelaß; zwei Mal täglich bekamen sie eine elende Kost. Dabei konnten sie abwarten, welches Schicksal über sie würde verhängt werden.
Schlag auf Schlag ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer Habe und ihrer theuersten Hoffnungen beraubt, ward Delphinens Seele trostlos bei dem Gedanken an ihren auf immer für sie verlorenen Gemahl; so oft sie ihr Töchterchen anschaute, welches vielleicht bald schon eine verlassene Waise sein würde, strömten die Thränen ihr unaufhaltsam aus den Augen; die Furcht vor dem drohenden Schaffot warf düstere Schatten auf all ihr Sinnen. …Sie sah es im Geiste schon vor sich, eigens aufgeschlagen für sie, und es schien ihr, als ob sie ihrer eigenen Hinrichtung beiwohnte; Todeskrämpfe schüttelten bei solchen Vorstellungen im voraus ihre Glieder. Die Marquise war ein Kind ihrer Zeit. Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie durch die Voltaire'sche Sophistenschule, die sogenannten Encyklopädisten, ausgebildet worden war, hatte den alten kirchlichen Glauben, namentlich in der »feinern Welt«, mächtig erschüttert. Stand Delphine auch nicht eben auf der Höhe ihrer Zeit, so war sie mit derselben doch auf's engste verwachsen. Es fehlte ihr jener siegreiche Glaube, welcher Berge versetzt und die Welt verachtet im Hinblick auf die Ewigkeit; die unerschütterliche Hoffnung fehlte ihr, welche ihren Anker in den festen Grund der göttlichen Verheißungen wirft; jene Liebe, welche aus den Lustgärten irdischer Vergnügungen und vergänglichen Glückes das Auge zu dem Unsichtbaren emporrichtet, glühete nicht in ihrem Herzen. Delphinens Glaube war kalt und schwach, ihre religiöse Unkenntniß beinahe bodenlos; das mechanische Gebet, welches über ihre zitternden Lippen kam, brachte der Seele keinen Trost.
Die Stunden und Tage schlichen unerträglich langsam vorüber. Die Nachtruhe der Marquise war nur ein fieberhafter Schlummer; erst spät erhob sie sich von ihrem ärmlichen Lager, das so viele düstere Traumbilder umflatterten. Ihren eleganten Gewohnheiten blieb sie, so viel wie möglich, getreu. Zuerst des Morgens kleidete sie mit großer Sorgfalt ihr Töchterchen an und machte danach ihre eigene Toilette. Auch suchte sie ein wenig Ordnung in die enge Zelle zu bringen, aber mit geringem Erfolge, da ihre zarten Hände an Arbeit nicht gewohnt waren; die Kunkel und die schwere Stickerei unserer weiblichen Altvordern hätten sie sicherlich bald ermüdet. Diesen Beschäftigungen, welche die Marquise gewaltsam zerstreuten, folgte eine erdrückende Niedergeschlagenheit. Sie wechselte dann wohl einige Worte mit der zu ihren Füßen sitzenden Charlotte; bisweilen arbeitete sie auch maschinenmäßig an einer nutzlosen Handarbeit, von der sie selbst nicht wußte, was es werden, wozu es dienen sollte, das sie jedoch nicht liegen lassen konnte, da sie Schiffchen und Faden in ihrer Tasche gefunden hatte. Ueber alles aber und immer träumte und weinte sie.
In der »Erholungsstunde«, zu welcher die Schließer ihre Gefangenen in's Freie trieben, setzte sie sich traurig auf eine Bank und betrachtete die Gesichter ihrer Leidensgefährten, denen allen, so verschieden sie sonst sein mochten, die Spuren schwerer Prüfung, aufreibender Unruhe, durchwachter Fiebernächte und kummervoller Tage aufgedrückt waren. Wenn die Marquise so da saß, trostlos und gebrochen, redete die eine und andere Person sie wohl an und bemitleidete sie beim Anblick des reizenden Kindes an ihrer Seite; aber bald kehrte den Gefangenen das Gefühl ihrer eigenen Leiden und Besorgnisse wieder, Besorgnisse, welche eine nahe Zukunft leider zu sehr rechtfertigen sollte.
Nur eine war unter den Gefangenen, die der Marquise andauernde Theilnahme schenkte. Es war dies eine Jungfrau von dreißig Jahren, unbedeutend von Aussehen und ohne körperliche Schönheit. Sie saß in dieser zur Guillotine vorbereitenden Haft, weil sie mehrern Priestern während der blutigen Hetzjagd auf diese ein Asyl gewährt hatte. Man nannte sie Fräulein Calixta von Offremont; ganz Amiens kannte ihre werkthätige Nächstenliebe und ihren tugendhaften Lebenswandel. Diese fromme und sanfte Dame, welche, was ihre eigene Person betraf, dem Tode mit männlicher Festigkeit entgegensah, fühlte unbeschreibliches Mitleid beim Anblick der melancholischen Gruppe, welche die für das Schaffot bestimmte junge Mutter und deren Töchterchen bildeten. Insonderheit flößte Charlotte, die ohne Gespielinnen, ohne Unterricht, freudlos am lachenden Morgen des Lebens stand, deren Erbtheil Schmerz und Verlassenheit waren, ihr die innigste Theilnahme ein.
Fräulein Calixta wollte dem armen Kinde ihre letzten Stunden widmen und die paar Tage, welche Gott sie noch leben ließ, dazu anwenden, das göttliche Bild in diese junge Seele zu prägen, die würdig war, dasselbe aufzunehmen.
Calixta war mit dem Kerkermeister, dessen Familie sie vordem einen großen Dienst erwiesen hatte, näher bekannt und erhielt deshalb ohne besondere Schwierigkeiten die Erlaubniß, Delphine in ihrer Zelle zu besuchen und in ihrer eigenen Charlottens Besuche anzunehmen. Sie brachte ganze Stunden bei der Marquise zu, ermuthigte und tröstete sie mit der ihr Wesen verklärenden Milde und suchte Delphinens schwachen, beweglichen, leidenschaftlichen Geist fest auf Gott hinzulenken. Nebenbei – ihre Hände waren an solche Werke der Nächstenliebe gewohnt – säuberte und ordnete sie die Zelle der Marquise, stellte einige kleinere Möbel und Blumen hinein, welche die Tochter des Kerkermeisters ihr gegeben hatte, rüstete das Bett auf und besorgte täglich alle hieher gehörigen Arbeiten. Nachher, wenn sie dem traurigen Verließ ein möglichst anmuthiges Aussehen gegeben hatte, wenn Delphine ihr ruhiger zu sein schien, nahm sie Charlotte mit heraus und führte das Mädchen in ihr Gefängniß. Dort plauderte sie mit demselben, ließ es lesen, betete mit ihm zusammen. Charlotte erinnerte sich zeitlebens dieser aus gemeinsamer Trübsal entsproßten Freundschaft und der Lectionen, die ihr im Gefängniß gegeben wurden, während das Revolutionstribunal in der Stadt seine Sitzungen hielt. Ihre weiche Seele empfing damals ein Gepräge, welches nie wieder aus derselben verwischt wurde.
Gegen Ende des Monats December steckte die Tochter des Kerkermeisters eines Tages der Marquise heimlich ein zusammengerolltes Billetchen in die Finger. Delphine öffnete dasselbe, obwohl in gewaltiger Aufregung, unbemerkt, und erkannte alsbald die Handschrift des alten Vincenz. Was er ihr schrieb, lautete also: »Der Herr Marquis ist glücklich in England angekommen. Ich konnte es Ihnen, Madame, nicht eher mittheilen als jetzt. Verhalten Sie sich ganz ruhig, damit man Sie vergißt; Gott wird Sie schirmen und Sie mit meinem edeln Herrn wieder vereinigen. Freunde wachen über Sie.«
»Kann ich darauf antworten?« fragte die Marquise die Tochter des Kerkermeisters, als diese in ihre Zelle trat.
»Nein, das geht nicht,« versetzte das Mädchen. »Halten Sie sich nur ruhig, Bürgerin; mehr wird von Ihnen nicht verlangt.«
Ein schwacher Hoffnungsschimmer! Und doch eine erhebende Kunde für die arme Delphine. Das tödtliche Gefühl gänzlicher Verlassenheit verschwand; die Marquise betrachtete sich nicht mehr als ein der Schlachtbank unentrinnbar geweihtes Opfer, und mit der wieder frisch in ihr erwachenden Lebenslust verband sich neuer, der Hoffnung entsprungener Lebensmuth.
Delphine befolgte streng den Rath des alten Vincenz: sich vergessen zu machen; sie erschien nur äußerst selten während der »Erholungsstunde« im Garten, mischte sich niemals in die allgemeine Unterhaltung, vermied auf alle Weise, die Aufmerksamkeit des Mitleids auf sich zu lenken und machte sich aus ihrer Zelle eine Art von Asyl, wo, wie sie sich einzureden bemühte, die Richter und Henker sie nicht aufsuchen würden.
Der schreckenvolle Winter des Jahres 1793 und die nicht minder furchtbaren Frühlings-, Sommer- und Herbst-Monate desselben Jahres waren vorüber. Das Haupt des Königs war unter der Guillotine gefallen, die Girondisten-Partei hatte ihre Schein-Opposition mit dem Leben gebüßt, das Schreckensregiment war installirt. Die Bevölkerung der Gefängnisse wechselte ohne Unterlaß. Ihre Physiognomie hatte sich jetzt geändert. Auf die Niedergeschlagenheit der ersten Monate folgte eine fieberhafte Aufregung: Jeder erwartete den Klang der Glocke, der ihn vor das Tribunal rufen, die eintönige Verlesung der Namen, welche, in des Corridors düsterer Länge widerhallend, das Todesurtheil verkünden würde, – das Rollen der Richtkarren, jener berüchtigten »Charretten«, auf deren blutgerötheten Brettern kein Unterschied gemacht ward zwischen Rang und Ansehen, Schuld und Unschuld, Jugend und Alter und Geschlecht. Diese Erwartung eines sichern Todes, von dem nur Tag und Stunde unsicher war, rief selbst bei den festesten und entschlossensten Gefangenen eine unwillkürliche Unruhe hervor. Und da gab es nicht Wenige, die ihre Todesangst durch lautes Lärmen zu ersticken suchten. Diese Lebemänner und Weltdamen, welche früher ihre Zeit mit Vergnügungen und Zerstreuungen todtgeschlagen hatten, fanden sich regelmäßig im Garten und auf den Corridors ein, schwätzten mit erheuchelter Sorglosigkeit und scheinbarer Todesverachtung, lachten gar, sangen und spielten. Aber die Art, wie sie den Würfelbecher umkrallten und ihn gellend umkippten, oder wie sie das Vierblatt zwischen den Fingern zerknitterten, strafte ihre Scherze Lügen.
Die Marquise von Neuville verbarg sich in ihrer Zelle vor diesem lügenhaften Lärm und hielt Charlotte bei sich. Zitternd lauschte sie noch unheilvollern Lauten, – der Stimme, welche den Namen der für den nächsten Tag vor die Schranken citirten Gefangenen verlas.
Unter so vielen leidenschaftlich erregten, von Furcht und Angst bewegten Geschöpfen, welche des Lebens überdrüssig und zugleich scheu vor dem Tode waren, schien nur ein einziges Frauenbild durch einen himmlischen Talisman gefeit; sie blieb immer ruhig, immer sich selber gleich. Man liest in den Annalen der Kirche von Lyon, es sei während der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Marc Aurel zwischen den Märtyrern im Amphitheater, angesichts der Vorkehrungen zur Hinrichtung, eine junge Sklavin, Namens Blandina, erschienen, für welche alle zitterten: so gebrechlich war ihr Körper, so zart noch ihr Alter. Aber unter dieser unscheinbaren Hülle wohnte eine furchtlose Seele: Blandina überstand die Torturen, Blandina trotzte den Proconsuln, und der Gott der Märtyrer wollte, daß sie alle ihre Leidensgefährten überlebte, um diese, wie die Maccabäerin ihre Kinder, zur Ausdauer zu ermuntern. So überlebte auch, durch eine besondere Fügung der göttlichen Vorsehung, Calixta von Offremont die Legionen von Schlachtopfern, die armen Wesen, welche sich im Cachot folgten; vor den Richtern, unter den Händen des Henkers konnte sie bei ihnen ihr himmlisches Apostolat ausüben. Sie hatte so viel Elend angesehen, so viele Leiden mitgelitten, so viele Unglückliche getröstet, daß sie die Stimme kannte, welche zum Herzen redet. Alle Mitgefangenen glaubten eine Freundin in diesem merkwürdigen Mädchen zu sehen, das sie mit so zärtlicher Frömmigkeit und solcher Glaubenskraft auf dem trostlosen Wege ermuthigte, der zu den Gefilden des Todes führte. An so manches Weib, das traurig und niedergeschlagen von der Charrette die Blicke rückwärts wandte oder durch die Gefängnißgitter nach einem geliebten Wesen suchte, richtete Calixta Worte des Trostes und der Hoffnung: sie würde nicht vergessen werden, sondern im Gedächtnisse derjenigen fortleben, welche sie liebten, und Gott werde ihretwegen und um ihres für Ihn vergossenen Blutes willen ihre Familie und ihre Freunde beschützen. Zu denjenigen, welche den Tod fürchteten, sprach sie vom Himmel, den sie geöffnet zu sehen schien wie St. Stephan. Solchen, die dem Angeber, dem Richter, den Tyrannen, welche so viele Unschuldige auf das Schaffot brachten, nicht verzeihen konnten, hielt sie das Bild des am Kreuze sterbenden Erlösers der Menschheit vor. Wenn sie die Schwachen getröstet, beruhigt und befestigt hatte, so vollendete der Weihedienst des Priesters ihr Werk; Gott fügte es nämlich so, daß ein Priester, als der Vermittler zwischen der Erde und Ihm, sich immer unter den Gefangenen befand.
Mehr als zwanzig Monate hindurch schickte Calixta von Offremont auf diese Weise Tausende von Seelen, die ihr nicht zum geringsten Theile ihr ewiges Heil verdankten, vor sich her gen Himmel. Die Heimgegangenen erwiesen sich dankbar: aus den Wohnungen der Ewigkeit reichten sie dem edeln Wesen, dessen die Welt nicht würdig war, die Freundeshand. Am 7. Thermidor erschien Calixta von Offremont vor dem Revolutionstribunal. Als sie zurückkam, prägte sich auf ihrem gewöhnlich so ruhigen Gesichte eine außerordentliche Freude und Begeisterung ab. Sie umarmte Delphine, welche zu ihr gekommen war, mit den Worten: »Preisen Sie mich glücklich, Madame: morgen bin ich diesem Jammerthal entrückt!«
»Sie freuen sich!« entgegnete die Marquise erstaunt. »Ach, aber was soll aus uns werden?« fügte sie schluchzend hinzu.
»Theuere Freundin, ich freilich verlasse Sie; aber Gott, unser Gott und Vater wird Sie nicht verlassen. O, fassen Sie Muth! Eine frohe Ahnung sagt mir, daß bald bessere Tage kommen werden. Sie werden nicht unter dem Henkerbeil sterben, werden Ihr Töchterchen nicht lassen müssen, und so viele unschuldige Opfer, die jetzt noch unter Schloß und Riegel schmachten, werden ihre Freiheit wieder erlangen. Das Ungethüm ist von Blut übersättigt …Theuere Delphine, beneiden Sie mich nicht um mein Glück? Ich scheide aus dieser Welt voll Thränen und Kummer, ich gehe zu meinem Gott, zu Ihm, den ich einzig geliebt, nach dem ich immer verlangt habe. Ja, über ein Kurzes werde ich die ewige Schönheit und Güte in ihrem Urquell schauen, besitzen und selig sein. Meine Seele quillt über vor Freude! O, wie will ich für Sie, wie für meine liebe Charlotte beten!«
Die kleine Charlotte schmiegte sich an Calixta's Kniee und weinte. »Du gehst weg?« rief sie; »du mußt sterben und wir sollen uns niemals wiedersehen?«
»Nur auf eine Spanne Zeit werden wir getrennt sein,« tröstete Calixta lächelnd. »Das Leben erscheint mir jetzt wie ein flüchtiges Wölkchen, wie ein leiser Dufthauch, der sich in ein strahlendes Lichtmeer verliert. Welches Glück, Gott zu lieben! Hör' Charlotte!« – sie nahm das Kind auf den Arm – »erinnere dich stets daran, daß ich im Gefängniß, vor dem Tribunal, am Fuße des Schaffots ohne Unterlaß völlig glücklich gewesen bin, weil ich auf Gott vertraute. Vertrau' auch du auf Ihn, diene Ihm, liebe Ihn!+... Versprichst du mir das?«
Das Kind sann einen Augenblick ernsthaft nach und bejahte dann die Frage mit dem Hinzufügen, daß es immer an die gute Tante Calixta denken wolle.
Fräulein von Offremont umarmte nun die Marquise zu wiederholten Malen und preßte endlich das unter den obwaltenden Umständen so schreckliche »Adieu!« über die Lippen.
»Kann ich denn gar nichts für Sie thun?« frug Delphine, warm die Hände ihrer Freundin drückend.
»Nichts, als beten! Meine Güter sind vom Fiscus eingezogen, meine Geschwister aber befinden sich in Sicherheit; ich habe keine Sorge noch Unruhe. …Nur bitte ich, wenn Sie jemals meine Anverwandten sehen, ihnen zu sagen, daß ich sie alle bis zum Tode geliebt habe und daß ich sie bitte, unsern Feinden zu verzeihen. …Adieu, meine theuere Freundin, leben Sie wohl! Adieu, Charlotte, vergiß Gott nicht!«
Eine Stunde später bestieg sie die Charrette; auf dem Wege zum Richtplatze ermuthigte sie noch ihre Unglücksgefährten. Als sie von fern des Schaffots ansichtig ward, verklärte sich ihr Antlitz, und sie sang mit fester, weicher Stimme jenen Hymnus: »Meine Seele machet groß den Herrn und mein Herz frohlockt in Gott meinem Heiland. Denn Er hat herabgesehen auf die Niedrigkeit Seiner Magd+...«
Das geschah am 27. Juli 1794. Zwei Tage später, am 9. Thermidor, dem Tage, an welchem das Ungeheuer Robespierre gestürzt wurde und damit das sogenannte »Schreckensregiment« sein Ende nahm, lebte die Marquise noch: sie war gerettet. Am 12. Thermidor öffnete sich, wie überall in der Republik, so auch das Gefängniß zu Amiens. Vincenz erwartete die Marquise am Ausgange des Gefängnisses; der Alte war unter der Last der beiden letzten Angstjahre zum Greise geworden. Er brach beim Anblick seiner Herrin in Thränen aus und rief, Charlotte umarmend: »O, daß ich allein hier erscheinen muß!«
»Und mein Gemahl?« frug Delphine in schmerzlicher Unruhe.
»Ach, Madame, ich habe keine weitern Nachrichten über ihn erhalten!« versetzte der Alte.