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Jetzt kam die Gesellschaftsdame der Fürstin zurück, eine ältliche Person von strengem Ausdruck und hochmütiger Haltung. Die beiden Damen vertieften sich in ein Gespräch über die Besuche und Besorgungen, die Fräulein v. Rothenkrug inzwischen hatte machen müssen. Sophie hörte der seltsamen Unterhaltung, die fast ein Kampf war, nicht zu. Immer fand die Greisin, daß ihre Rothenkrug zu karg mit den Worten, der Zeit, dem Gelde gewesen war, alles hätte gütiger und freigebiger eingerichtet werden sollen. »Nein,« sagte die Rothenkrug bestimmt, »man darf die Leute in der Not nur stützen; nie so weit gehen, daß sie ihre Hilfsbedürftigkeit als den bequemeren Zustand empfinden. Das wäre keine richtige soziale Politik.«

»Oh Gott!« klagte die Greisin unwillig. »Jetzt hört man bei jeder Gelegenheit Worte, die alles ins Allgemeine setzen. Was denn? Die Leute mit ihren vielen kranken Kindern brauchen Hilfe – unsereins hat Pflicht zu helfen – dafür ist mein Wohltätigkeitsbudget da –«

Gerade als die Rothenkrug ihrer Herrin den Pelz umlegte, füllte ein grauer Schatten das Atelier. Draußen war die Luft voll Schnee – der erste Schnee.

Der fällt schon auf sein Grab, dachte Sophie. Und als sie endlich allein war, stand sie lange an den breiten, hohen Scheiben und sah hinaus.

Und am Nachmittag saß sie, wie an allen drei vorangegangenen Tagen, wieder vor der Mappe. Von bräunlichem Leder war sie und vielfach abgegriffen. Sie hatte kein verschließbares Schloß, sondern nur eines, das man auf- und zuschieben konnte. Es war Sophie unter den Fingern aufgegangen. Sie kannte die Mappe, hatte sie schon einmal gehütet – in ihrem eisernen Kasten, der ihr bißchen Schmuck und ihre Versicherungspolicen und dergleichen enthielt, und den sie in ihrem Kleiderschrank verbarg. Damals hatte er am Donnerstag zu lange und so köstlich behaglich bei ihr verweilt und den vorgehabten Weg zu seinem Rechtsanwalt nicht mehr machen können; die Bürostunde war vorüber. Und er wußte ohne Bitte und Wort, die unverschlossene Mappe würde ihr unantastbar sein, als lägen eiserne Bänder wohlvernietet herum. Damals hatte Sophie dasselbe Gefühl gehabt wie vor einigen Tagen: er will die Mappe nicht mit nach Hause nehmen. Vielleicht war er dort nicht ohne Mißtrauen gegen die Sicherheit seiner Schlösser.

Schon in den ersten betäubenden Schmerz hinein war ihr schreckhaft die Erinnerung an die Mappe gekommen.

Sie fragte sich: »Was ist darin? Wem soll ich sie zustellen?«

Und sie fühlte vor allem eines: daß sie es dem Toten schuldig war, sich über den Inhalt zu unterrichten. Dieser Inhalt mußte dann bestimmen, was sie zu tun habe. Vielleicht waren es Papiere, deren Kenntnis nach seinem Tode den Haß vergrößern konnte, der zwischen ihm und seiner Frau bestanden. Sophie wußte: er hatte gewisse Beweise gesammelt. Aus Liebe zu seiner Tochter zögerte er immer noch, mit diesen Beweisen zum Schlage gegen die Frau auszuholen, die ihn so voll Feindschaft und Feigheit zugleich festhielt. Sophie war vorweg entschlossen: sie würde dergleichen verbrennen. Sie fühlte dazu ein heiliges Recht. – Dieser ihr noch unbekannte Inhalt der Mappe war wie ein Vermächtnis! Vor Gott und ihrem Gewissen gestand sie sich das Recht zu, damit zu verfahren, in Andacht vor dem Verstorbenen, nach ihrem Ermessen!

Aber als unter ihren zögernden, unsicheren Fingern das Schloß sich wie von selbst öffnete, erlitt Sophie ein Entsetzen, das ihr eine Ohnmachtsanwandlung zuzog. – –

Geld sah sie – Geld – Geldwerte! Ein breites, flaches Paket bildeten diese braun und weißen und grün und weißen Bogen, mit den feierlichen Aufdrucken von Zahlen, imposanten Schuldtiteln, faksimilierten Unterschriften – Staatspapiere waren es – Preußische Konsols. –

Seither hatte Sophie sie gezählt – es waren einundachtzigtausend Mark, in Stücken von fünf-, zwei- und eintaufend Mark. Wahrscheinlich, nein gewiß, ein Teil seines eigenen, vor der Frau verheimlichten Vermögens ...

Was hatte Sophie alles gedacht seit dieser Entdeckung!

Welche Möglichkeiten erwogen!

Die Mappe zu seinem Bankier bringen? Sophie kannte nicht den Namen der Firma, deren er sich in der letzten Zeit bedient hatte. Sie erinnerte sich: er sprach zuweilen davon, daß er seinen Bankier gewechselt habe. Wie nun in dem ungeheuren Berlin die große Bank oder die Bankierfirma herausfinden, die gerade eine Zahlung von 81 000 Mark vom Geheimrat Rositz zu erwarten gehabt hatte?

Aber vielleicht hatte niemand eine Zahlung erwartet. Vielleicht hatte er nur irgendwo ein Depot erhoben, um es an irgendeiner anderen Stelle neu verwahren zu lassen. Fällige Zahlungen läßt man doch überweisen.

Wie unbegreiflich und rätselvoll erscheinen Handlungen, wenn ihr Ablauf und Fortgang unterbrochen wird. Sophie sah ein, sie würde niemals erfahren, wohin er diese Mappe hatte tragen wollen, und auch nicht, wo er den Inhalt entnommen.

In welche Hände sollte Sophie nun den Nachlaß legen?

Wie erklären, daß er in ihrer Verwahrung sich befand? Wie überhaupt beweisen, daß diese Papiere des Verstorbenen Eigentum gewesen seien?

Und wie weiter, daß der Inhalt der Mappe unberührt sei?

Sophie erglühte und zitterte, als habe sie Unredlichkeiten begangen. – –

Wie nah sie dem Toten gestanden, so nah, daß er ihr unverschlossen ein Vermögen zum Aufbewahren gab – das mußte sie nun erzählen – einem Anwalt, oder einer Bankierfirma, oder seiner Frau...

Welchen unaussprechlich peinlichen oder vielleicht erniedrigenden Erörterungen setzte sie sich aus! Sie mußte von dem ernsten, weihevollen und adligen Bund sprechen, der ihre Seele mit der seinen verbunden hatte. – All dies der Entweihung, der Mißdeutung preisgeben. Und inmitten dieser furchtsamen und ratlosen Gedanken befiel sie die Erinnerung: er bot ihr Geld für Allert an; ganz gewiß hatte er dabei gerade dieses Geld gemeint – er drang es ihr förmlich auf – er wäre glücklich gewesen, ihren Sohn fördern zu dürfen!

Sie brach in Tränen aus. Und ein bitteres Lächeln über die grausamen Ironien des Lebens ging ihr dabei um den Mund.

»Hätte ich ja gesagt!«

Dann war dieses Geld fortab einem Zweck zugewandt, der ihn freute und ihrem Sohn Segen brachte.

Während jetzt? – – Wie rasch würde die Frau es vertun, in deren Hände es fiel. – –

Ob er wohl auf dem Krankenbett an die Mappe und ihren Inhalt dachte? Oder ob das jähe Elend, das ihn rasch befiel und schnell ganz hinwarf, ihm alle Gedanken genommen hatte?

Wenn die Sterbenden immer wüßten, daß sie an der letzten Schwelle stehen! Mit aller Kraft würden sie sich noch einmal umwenden, und ihre deutende Hand würde noch zeigen: so soll mein Nachlaß geordnet werden! Und sie wußte es in heiliger Gewißheit: diese Mappe mit dem wertvollen Inhalt würde er für sie bestimmt haben. – – Solange man ihm noch nicht die Ehren der Begräbnisfeier erwiesen, eilte ja nichts, Sophie fühlte, alles durfte ruhen. Aber nun war es vorbei. Die schonende Stille, die Gnadenfrist für das verwundete Gemüt war zu Ende: es hieß, sich wieder dem Leben aussetzen und seinen Rauheiten.

Auch in seinem Hause würde neue Lebendigkeit einsetzen – jener grausame Betrieb mußte dort nun beginnen, der selbst dort, wo Liebe wohnt, unvermeidlich ist. – Und bei ihm und den Seinen hatte keine Liebe gewohnt. Mit harten und gleichgültigen Händen würde in seinem persönlichsten Nachlaß gewühlt werden – in seinen Schränken, seinem Schreibtisch. – Und jetzt erst, jetzt fielen Sophie ihre Briefe an ihn ein. Wenn er auf Reisen war, schrieben sie sich; aber auch hier in Berlin flog manchmal ein Blättchen hin und her, wenn sie verhindert waren, sich zu sehen.

Sophie dachte nach, bemühte sich, das in Ruhe zu tun. – Draußen fiel der Schnee voll Gelassenheit und sehr dicht vom Himmel – das gab solche wunderbare Lautlosigkeit – spann ein – wies nach innen.

Sie konnte ohne Erröten an ihre Briefe denken; nichts war darin als die Würde und Tiefe eines seltenen seelischen Verstehens. Und wahrscheinlich erriet nie ein Mensch, von welcher Frau sie kamen. Ein S. zeichnete sie – vielleicht kam hier und da ein Name vor – aus der großen, so unendlich verzweigten Welt, darin sie gelebt hatten – aber eben weil diese Welt so groß, so konventionell, so unübersehbar und hinter all ihren Formen und Verknüpfungen so undurchdringlich war – eben deshalb würde seine Frau, wenn sie auch die Briefe fand, doch die Schreiberin nie finden.

Trotz dieses Gefühls, nur wie ein Wesen ohne Greifbarkeit und Körper zu bleiben, war es ihr doch schrecklich, daß neugierige und verständnislose Augen ihre einst an ihn gerichteten Worte lesen würden. Und in diesem Schmerz erschien ihr der Fall mit der Mappe viel leichter. Eine Erkenntnis kam ihr plötzlich und wurde sogleich in Tat umgesetzt. Sie schrieb ein Telegramm an ihren Sohn Raspe, der in Magdeburg stand. »Komm,« rief sie, »es ist dringend, komm!«

Am andern Mittag trat er bei ihr ein. Und die Frau fühlte sich wie ein beschütztes Kind und ganz beruhigt in den Armen dieses Mannes, der ihr Sohn war. Raspe überragte seine Mutter weit. Er trug seine hohe Gestalt mit einer gewissen stolzen Festigkeit, die sehr soldatisch und zuweilen ein wenig steif wirkte. Sein ernstes, offenes Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, als er seine Mutter so schutzbedürftig fand.

Der Sohn wußte ja: die Freundschaft mit dem bedeutenden Mann hatte seiner Mutter seelisch und geistig viel gegeben. Jetzt, aus dem leidenschaftlichen Vortrag des Erlittenen und der Lage, spürte er, daß diese Beziehung wohl einen noch viel größeren Platz im Leben seiner Mutter eingenommen habe, als er vermutet. Aber dieses Begreifen ließ nun keine Eifersucht mehr aufkommen. Er fand Worte der Verehrung und Dankbarkeit für den Verstorbenen.

Und sah auch zugleich, wie man, ohne zu lügen, doch in durchaus begreiflicher Darstellung, der Familie alles erklären könne. Vollends leicht gestaltete sich die Sache, wenn der ältere Sohn des Geheimrats, der Dragoner, noch im Trauerhause weilte. Dann konnte Raspe als Kamerad zum Kameraden gehen. Glücklicherweise war Raspe auch in Uniform gekommen.

Nun hieß es sofort handeln. Er schlug die Mappe in ein Papier, siegelte und ließ die Mutter darauf schreiben: Eigentum des Herrn Geheimrat Rositz.

Und dann ging er. Sophie drückte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe und sah unten, drüben auf dem Bürgersteig, den Sohn, der noch heraufgrüßte.

Er ist wundervoll, dachte sie entzückt, ihrer alten Schwäche untertan, immer am begeistertsten von demjenigen Sohn zu sein, der gerade bei ihr war. In der Tat hatten die Söhne auch beständig alles getan, durch ihr Wesen und ihre Leistungen der Mutter das Leben zu erleichtern und zu verschönern; sie durfte mit Achtung und Dankbarkeit an alle beide denken.

Jetzt sann sie mit Rührung und Bewunderung über Raspe nach. Sie wußte, das Wort, das ein großer General einmal als Richtschnur für preußische Offiziere ausgesprochen hatte:

Groß denken
und klein leben! –

das war der Wahlspruch ihres Jungen geworden. Und wenn sie zuweilen über seine Anspruchslosigkeit und die Kleinheit der Zulage – er nahm nur das Nötigste – klagte, so wußte er ihr klarzumachen, daß sein Beruf nun einmal Entsagungen fordere und daß es auf einige mehr nicht ankomme. »Offizier sein«, sagte er, »heißt fortwährend große Opfer bringen. Das ist unser Stolz. Und vielleicht kommt bald einmal die Stunde, wo das Volk das wieder mehr würdigt, als jetzt in der langen Friedenszeit möglich ist.«

Unterdessen ging Raspe Hellbingsdorf den Kurfürstendamm entlang, überschritt die Corneliusbrücke und kam durch die Friedrich-Wilhelm-Straße bis zum Tiergarten. Der Schnee, der seit gestern mittag bis heute früh unaufhaltsam gefallen war, machte die Straßenbilder glänzend und lachend. Der Tiergarten war ein weißes Feld, aus dem das dunkle Heer der Bäume starr und hart aufragte. In den Gabelungen der Aeste nisteten kleine Schneemengen. Wenn irgendeine Bewegung durch die Luft ging und die Zweige sacht anblies, rieselte weiße Streu herab. Das war alles so freundlich.

Und Raspe ging höchst gelassen seinem Ziele zu. Er sah keinerlei Ursache, nervös zu sein. – Es war ein ungewöhnlicher, in mancher Hinsicht unerklärlicher Fall – nun ja. Aber unter ehrenhaften Menschen findet man sich auf Treu und Glauben auch in das Ungewöhnliche.

Das war also das Rositzsche Haus. Vielmehr schon ein kleines Palais. Ein weißer, prunkvoller Barockbau, mit schwarzblauem Dach, auf dem die Nachmittagssonne grell gleißte. Dem Hochparterre war eine Terrasse vorgelagert. Ein wenig stieg der Weg von der Gitterpforte her an bis zum seitlichen Eingang, den ein Glasbaldachin schirmte.

Der Bediente gab die Auskunft, daß Herr Leutnant Rositz allerdings noch nicht abgereist seien und sich zu Haus befänden.

Raspe ermunterte den leisen, vornehm zögernden und wichtigen Menschen zu strafferer Beflissenheit, indem er etwas befehlshaberisch sagte, es handle sich um eine wichtige und dringliche Sache. Darauf verlor sich der Mann in Trauerlivree im Hintergrunde des breiten, mit dicken Teppichen und alten Truhen und Sitzbänken ausgestatteten Korridors.

Es lag nicht in Raspes Gewohnheiten, den Reichtum anderer Leute zu bewundern und einer prächtigen Umgebung, falls sie nicht gerade sehr künstlerisch wirkte, Beachtung zu schenken. Er bemerkte kaum, wie kostbar hier alles war; auch in dem Raum, in den man ihn führte und zwei Minuten zu warten bat, sah er sich nicht genau um.

Es schien ein Festsaal. Die Breitseite mit den großen Fenstern an der Front des Hauses. Reiche Stuckwände, hellgrau und gold, vom Plafond eine riesige glitzernde Kristallkrone und gelbseidene Sessel an den Wänden hingereiht. In der Mitte unter der Krone ein Rundsofa, das von einer Marmorgestalt gekrönt war. Raspe spürte nur: dies schien ja eigentlich kein Raum für eine ernste, gemessene Unterhaltung.

Er ging auf und ab. Die zwei Minuten waren lang. Aber der Diener hatte murmelnd, noch im Bann von Raspes Befehlshaberton und vielleicht auch der Uniform, angedeutet, daß gerade der Rechtsanwalt der Familie ... und wahrscheinlich Nachlaßsachen ... kurz, vorweg die zwei Minuten dehnbar gemacht.

Die Sonne schien, die Kristalle der Krone blitzten, es gleißte die gelbe Seide des Rundsofas, geziert hob die marmorne Figur ihre Arme zum Haar empor, das in steinernen Strähnen ihre stumme Stirn kränzte; der weiße Stein schimmerte körnig. Und Raspe ging auf und ab. Mit einem Mal öffnete sich eine der Flügeltüren, die einander gegenüber in den Schmalseiten des Saales standen. Eine junge Dame kam herein, in dem stumpfen Schwarz der neuen Trauerkleidung. Sie stand überrascht. Raspe machte große Augen.

Ach! – dachte er – es war eine nicht zu klaren Gedanken sich formende, aufwallende Bewunderung.

Das junge Mädchen sah ein wenig bleich aus, vielleicht im Kontrast zu der ganz schwarzen Kleidung, vielleicht von den Anstrengungen der letzten Tage. Braunschwarze Augen blickten ihn groß und lebhaft an. Und der Ausdruck in ihrem feinen, länglichen Gesicht war so deutlich: Wer sind Sie? – Was wollen Sie hier? – daß Raspe sich verbeugte.

»Hellbingsdorf. – Oberleutnant von Hellbingsdorf. Ich bin Herrn Leutnant Rositz gemeldet und erwarte ihn.«

»Ach so ... Mutter und die Brüder haben gerade mit Justizrat Kahler zu sprechen,« sagte sie.

»Ihr Herr Bruder will mich aber doch empfangen. Ich warte eben.«

Sie stand ein wenig unsicher. Was sollte sie tun? Vielleicht war dies ein guter Freund und Kamerad ihres Bruders. Dann konnte man ihn doch nicht fremd und ungastlich hier allein im Tanzsaal stehen lassen. Sie war zufällig hereingekommen, den Raum als Durchgang benutzend.

Sie sah ihn immer gerade an. Er gefiel ihr so gut, wie ihr noch nie ein Mensch auf den ersten Blick gefallen hatte. Was für ein fester, gütiger Ausdruck in seinen blauen Augen!

»Sind Sie ein Freund von Viktor? Ich habe Ihren Namen nie gehört. Aber das will nichts sagen – ich weiß nichts von Viktors Leben – Sie haben wohl erraten – ich bin seine Schwester Mathilde – Tulla sagen ja immer alle zu mir ...«

Raspe verbeugte sich.

»Nein,« sagte er, »ich bin kein Freund Ihres Herrn Bruders, nicht einmal sein Bekannter. Ich habe es nur übernommen, einen sehr wichtigen Auftrag an ihn zu überbringen.«

»Viktor wird gewiß gleich kommen.«

Der Wunsch, ein Gespräch zu beginnen, hier zu bleiben, bewirkte nun gerade, daß ihr gar nichts einfiel, was sie sagen könnte. Außerdem: es schickte sich doch nicht, daß sie einem fremden Offizier Gesellschaft leistete, den Viktor nicht mal kannte.

»Sie haben sehr Schweres erlebt, gnädiges Fräulein,« sagte Raspe, »darf ich Ihnen meine Teilnahme ausdrücken? Ich hatte einigemal das Glück, im Hause meiner Mutter Ihrem Herrn Vater zu begegnen, und war voll Bewunderung für seine ausgezeichnete Persönlichkeit.«

»Oh,« sprach sie, »oh, Sie kannten Papa? – Er hätte noch nicht fort dürfen ...«

Mehr konnte sie nicht hervorbringen.

Sie sah ein paar Sekunden schweigend vor sich hin. Und dann schlug sie plötzlich groß die Augen auf und sah Raspe an.

Sie dachte: aber ich muß doch wohl fortgehen. Besonders, weil ihr Bruder Viktor gleich hereinkommen könne. Und das war ihr, sie wußte nicht warum, jetzt und hier unangenehm – als müsse sie dann verlegen werden.

Und zögernd ging sie, nach einer kleinen, ernsthaften Neigung des Kopfes. Langsam schritt die schmale, schwarze Gestalt durch den Raum, dessen Leere etwas Festliches hatte, schon durch die Größe und durch das Glitzern des durchsonnten Kristalls über dem gelben Rundsofa.

Der feine Kopf der zögernd Davongehenden war von merkwürdig vielem dunklen Haar umgeben. Ihr ganzer Körper schien zart und schlank.

Raspe sah ihr nach und fand es schade, daß sie ging.

An der Tür wendete sie sich noch einmal um, die Hand auf dem Griff. Sehr ernsthaft, fest und lange sahen sie einander in die Augen ...

Das war merkwürdig! dachte Raspe, als sie dann wirklich ging.

Und fast laut sagte er noch einmal vor sich hin: »Merkwürdig ...«

Er verfiel in solches Grübeln unbestimmter Art, daß er darüber gar nicht spürte, wie aus »zwei Minuten« eine Viertelstunde wurde.

Dann kam Viktor Rositz hastig herein.

In Zivil; mit der größten Sorgfalt drückte dies Zivil die frische, tiefe Trauer aus.

Starke Familienähnlichkeit mit der Schwester, dachte Raspe, aber mit einem weniger sympathischen Zug –

»Sie haben eine wichtige Angelegenheit, Herr von Hellbingsdorf? Wichtig für Sie? – Für mich? – Für einen Dritten? Darf ich erfahren? Aber bitte ...«

Und er öffnete die Tür, durch welche vorhin seine Schwester so überraschend hereingekommen war.


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