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Vom Großhandel sah man in Berlin nichts. Er verbarg sich in Kontoren und Höfen von Straßen, in die man nie hinkam, und beherrschte selbst da nicht das Bild des Lebens.
Aber in Hamburg sah man eigentlich nur ihn, empfand nur ihn – fühlte die reichen Läden in einigen Straßen der Alstergegend nicht als hervorstechendes Merkmal – der Hafen triumphierte, dieses wogende Gebreite von Wasser, im stürmischen Grau der Wintertage, groß und düster – mit all diesen unübersehbaren, sich verzweigenden kanalartigen Armen – flutenden Straßen gleich, auf denen statt der Wagen Schiffe den Verkehr besorgten: flink keuchende Fahrzeuge, mit dicken, aus Hanfstreifen geflochtenen Ballen an ihren Borden, Prall und Stoß abzudämpfen: Motorboote, die puckerten und an Menschen erinnerten, die mit kurzen Schritten vorwärts hasten: Dampfpinassen, die zuweilen einen greulichen Heulton ausstießen; Schlepper, die vorsichtig dahinrauschten, um nicht zu hohe Wellen zu erzeugen; Verkehrsboote voll von Menschen. Und an den Dückdalben und Landungsbrücken Namen, wie Straßenschilder. Ja, eine Verzweigung von Wasserwegen. Und sie führten alle zu den Teilen des Hafens, wo die Ozeandampfer lagen und ihre Leiber entlasten und füllen ließen. Aufgereiht waren die Schiffsriesen gleich einem Heer, das alle seine Regimenter hat einzeln Stellung nehmen lassen. An der Front eines jeden glitt auf unruhig bewegten Wogen der Hafenverkehr vorbei. Von den unübersichtlichen, wunderfein ineinandergegitterten Linien der Taue und des Mastwerks flatterten hoch die Flaggen, an deren Farben und Zeichen man erkannte, welcher Gesellschaft diese Gruppe gehörte, welche fernen Häfen ihre Bestimmung waren. Der Ozean, der ihr Feld war, schien sie zu umwittern – wie einen König die Majestät umgibt, auch fern von seinem Thron.
An den Kais häuften sich die Warenballen und Fässer zu wundervollen Pyramiden oder hohen Schanzen. Das dröhnende Rasseln der schweren Lastfuhrwerke, die aus allen Straßen den Ufern zulenkten, hörte den ganzen Tag nicht auf. Dampf und Elektrizität gaben eisernen Hebebäumen die Kraft und Leistungsfähigkeit von hundert Menschenarmen – aber auch die Faust griff zu, und man sah, wie Stiernacken sich unter dem Gewicht von schweren Säcken neigten.
Jeder dieser großen Dampfer schien eine Welt für sich, voll atemlosen Lebens, voll Eile, voll krachenden Getöns, rasselnden Kettengeklirrs. Spröde Laute zogen durch die Luft, als ob auf hunderttausend Bratschen zugleich die tiefe E-Saite gestrichen würde.
Es war ein merkwürdiges Durcheinander aller Völkerschaften. Da und dort sah man auf den Verdecken Chinesen rasch und still ihrer Dienerpflicht nachgehen. Mit ihren schwarzen Wollköpfen und grellen Augen im tiefgrauen Gesicht stachen die Neger zwischen dem herumhastenden Arbeitsvolk hervor. An der Reling der Westindienfahrer lungerten kreolische Matrosen.
Aus vielen Warenschuppen drang der Geruch des grünen Kaffees streng und würzig heraus. An andern Stellen hauchte einen der Atem des Südens an, und viele tausend Kisten mit Orangen wurden in die ragenden Speicher geschafft. Ganze Reihen von Loren, voll von Stabeisen, aus den rheinischen Industriegebieten kommend, wurden entleert, und hellkrachend, als zerberste jedesmal ein ganzes Haus voll Glaswaren, fielen die Eisenstangen neben das Gleis der Hafenbahn; die ganze Luft wurde von diesem klingenden, brutalen Lärm erschüttert.
Und zuweilen zerriß der traurige, dunkle Schrei einer Sirene diesen Lärm. Der Abschiedsgruß irgendeines Dampfers, der Anker auf ging.
Ja – das war der Großhandel – und die Salzluft des Ozeans war darin. Der Begriff der Ferne war ausgelöscht – da stand die Kultur und bediente sich der Hand des Kaufmanns und ließ die Erzeugnisse der Völker hin und her tauschen – ihre Unterschiede ausgleichend, ihre Mängel ergänzend, ihren Ueberfluß verteilend – –
Sophie begriff, daß ihr Sohn seinem Beruf mit leidenschaftlicher Hingabe gehörte.
In diesem ungeheuren Teil volkswirtschaftlichen Lebens mitzuringen, sich nur zu behaupten, vielleicht sogar in die erste Reihe zu kommen – das war wohl rechte Arbeit für ein Manneshirn und eine Manneskraft.
Ihr Sohn Allert hatte sie mit einer freudigen Nachricht empfangen. Sein Suchen nach Kapital war von Erfolg gewesen, wenn auch anders, als es eigentlich in seinem Plan gelegen. Ein Kompagnon hatte sich ihm zugesellt. Ein Chemiker mit Vermögen, der sich mit einer Viertelmillion beteiligte, war nun Mitinhaber der Farbwerke Allert v. Hellbingsdorf, und der Firma war im Handelsregister wie auf den Etiketten aller ihrer Erzeugnisse das Zeichen »& Cie.« zugefügt worden. Allert sagte, es passe gut; er selbst sei der kaufmännische, sein Teilhaber der wissenschaftliche Geist.
Er lobte den Doktor Dorne – so, wie er zu loben pflegte, mit dem klugen Vorbehalt, der lange sagt »es scheint«, ehe er wagt festzustellen »es ist«.
»Und nicht wahr, Mutter, der Frau Dorne nimmst Du Dich wohl an, soweit Deine Interessen und Verpflichtungen es zulassen. Du bist ja auch nicht zum Müßiggehen hier. – Weißt Du – das ist das Großartige in diesen Hafenstädten: das Arbeiten! Ich glaub' wohl, es macht die Geselligkeit ein bißchen enger und strenger, und es heißt, die Weiber hätten zu sehr das Präsidium darin – weil eben alle Männer so arbeiten – aber da ist kein Grandseigneur zwischen diesen bürgerlichen Aristokraten, und hätt' er noch so viele Millionen, der nicht arbeitete mit aller Anspannung – für sich und dabei auch noch für den Staat, in zahlreichen Ehren- und Verwaltungsämtern.«
»Also ich soll nett mit Frau Dorne sein? Gut. Kann geschehen. Auch wenn ich sie nicht leiden mag. Hoffentlich ist es mir möglich, Dir auch noch sonst zu nützen. Ich werde Dich wohl bald bei Frau Senator Amster einführen können. Und von da aus kommst Du dann in die Gesellschaft.«
Allert lachte.
»Gib Dir keine Mühe, Mutter. Ich bin noch nichts und gelte noch nichts.«
»Du bist ein Hellbingsdorf,« sagte seine Mutter.
Er lachte noch mehr.
»Das ist hier ganz egal. Hier gelten nur die hanseatischen Patrizier, und was sonst herankommt, muß sich erst durch Erziehung, Leistung und Vermögen allmählich ausweisen. Das macht's ja gerade so frei und schön – sich hier heraufzuarbeiten, wo alles arbeitet und man weiß, was das ist: Industrie und Handel. Hier kann es mir nicht passieren, daß mich einer anredet – wie vor'n paar Monaten mal in Berlin Dein Großvetter Baron Bray – Du weißt wohl – der von den Gardekürassieren. – ›Na,‹ sagte er, ›was, Allertchen, es geht die Sage: Kofmich biste jeworden? Legste denn nu 'n Adel ab, oder läßte sieben Zacken uf de Tüten drucken?‹«
Seine Mutter ärgerte sich. Als Frau stand sie doch nicht ganz über solchen Kleinigkeiten. Aber Allert amüsierte sich wieder. Und er machte Bray in Ton und Miene sehr echt nach.
Ja, Allert hatte Humor. Gottlob. Wie ihm das half in all den neuen Verhältnissen, mit denen er durch keine Tradition verknüpft war. Tradition ist solche Hilfe und solcher Halt, dachte Sophie.
Sie fand ihren Aeltesten ein bißchen amerikanisiert in seiner Erscheinung. Aber sie sah bald, das war so ähnlich die Art all der Handelsherren, die in vornehmer Haltung, dunkel gekleidet, mittags zur Börse gingen.
Allerts offenes, regelmäßiges Gesicht war fast bartlos, denn die winzigen Streifen vor den Ohrmuscheln erschienen eigentlich nur als Verlängerung der Schläfenhaare. Er war etwas blonder als sein Bruder Raspe und, bei gleicher Größe, ein wenig voller. Die gleichen blauen, fest blickenden Augen hatte er.
»Und ernsthaft, Mutter,« sagte er noch, »daß Du mich nicht da bei den Amsters als empfehlenswerte gesellschaftliche Akquisition anpreisest! Ich habe vor der Hand noch viel zu schwer zu arbeiten, um mich in Verkehr und Vergnügungen einlassen zu können.«
»Aber wenn Du nicht in die Gesellschaft kommst, hast Du auch nie Gelegenheit zu ...«
»Zu heiraten!« ergänzte Allert vergnügt. »Nee, Mutter – hab' auch noch keine Zeit dazu – nicht eher, als bis ich meine wirtschaftliche Lage aus allen Kämpfen heraus ins Gesicherte bugsiert habe –«
»Aber das kann doch ...«
»Kann lange dauern. Jawoll, Mutter. Sieh Dich mal um, mit recht offenen Augen – wieviel Männer kommen vor lauter Arbeit und Kampf ums Brot heutzutage gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Heiraten! Wenn sie dann so weit sind, Frau und Kind auskömmlich und standesgemäß ernähren zu können, sind sie grauhaarig und zu müde, um so bedenkliche Lebensveränderungen noch zu unternehmen. Ich sage mit Absicht: standesgemäß! Nicht, Mutter? Ehe man mit Frau und Kindern ins Jammertal kümmerlicher Beschränkungen hinabsinkt – auf eine Daseinsstufe kommt, an die man nicht gewohnt ist – besser bleibt man allein – schon bloß aus ästhetischen Gründen.«
»Aber wenn Du eine wohlhabende Frau ...«
Allert schloß seine Mutter in die Arme.
»Gern, wenn ich mich besinnungslos in sie verlieben kann. Und nun fang' nicht noch einen vierten Satz mit ›Aber‹ an.«
»Du gehst respektlos mit mir um,« lachte sie glücklich. »Und ausreden läßt Du mich nie.«
»Doch!« behauptete Allert, »immer wenn Du was sehr Kluges sagst, und das tust Du ja meistens. Und nun schicke ich Dir die Dornes, sie brennen darauf, Dir einen Besuch zu machen. Oder wahrscheinlich brennt nur Frau Julia – Lia – Juliana – so dergleichen heißt sie, glaub' ich – denn er, der Doktor Dorne, sieht und denkt nur an seine Frau und seine Wissenschaft – die letztere, kommt mir vor, läßt ihm keinen Raum zu Kritik und Unabhängigkeit – Madame hat die Zügel. Als Chemiker ist er großartig. Sollst mal sehen, der erfindet noch was Fabelhaftes. Wie man aus Selterwasser Schmieröl machen kann – oder sonst was ... Dann werden wir Millionäre, ich zahl' Onkel Just aus – Mutter, wenn Du wüßtest, was das so ist für 'nen Kaufmann, ohne fremdes Geld arbeiten – na und denn kauf' ich Dir Muschenfelde zurück. Bis dahin empfehle ich die Firma Allert von Hellbingsdorf & Cie. Deiner gnädigen Nachsicht.«
Sie sah ihm lächelnd nach. Die Frische seines Wesens war so wohltuend. Man hatte so das Gefühl: er spielt mit den Mühseligkeiten des Lebens Fangball. Das sind Siegernaturen. – –
Auf Allerts Rat hatte Frau Sophie sich nicht verlassen können bei ihrer Niederlassung in Hamburg. Er gestand offen, daß er aus jener Gegend da draußen bei Hammerbrook nur mal in Geschäftsangelegenheiten in die Stadt käme, und nie nach Harvestehude oder Uhlenhorst oder in die sonstigen Villen- und Wohnviertel. Seine Fabrik und sein Kontor befanden sich da, wo die Bille ihre ganze liebliche Wald- und Wiesenvergangenheit verleugnete und sich mit dem graugelben Riesenstrom in die Arbeit teilte, ein ganzes Netz von Kanälen zu speisen, bis sie sich dann durch den Billhafen und Oberhafen endlich in die Elbe warf, um in ihr zu ertrinken. Und zwischen all diesen Kanälen zogen sich die Straßen der Arbeit, des Lärms, der zischenden Dampfpfeifen und der grauen und weißen und gelblichen Staubwolken hin, wo Allert sogar, nur auf das Praktische und Sparsame bedacht, sich auch seine Wohnung genommen hatte.
So ließ Sophie sich denn gern von Frau Senator Amster beraten, die, wie man leicht merken konnte, es als etwas ihr Zukommendes empfand, andern Menschen die Marschroute zu geben. Zum Atelier war ein großes, nach Norden gelegenes Zimmer im Amsterschen Hause bestimmt worden. Dies lag am Mittelweg in Harvestehude, behauptete aber in der Reihe der zum Teil prunkvollen Bauten und Gärten einen fast bescheidenen, soliden und altertümelnden Charakter. Es sei schon viele Generationen in der Familie, sagte die Senatorin, und dereinst nur Gartenhaus gewesen. Aber nach dem großen Brand von 1842, als das Stadthaus der Amsters gesprengt wurde wie so manches Haus, um dem Brand Einhalt zu tun, da baute der Großvater es wohnlich aus. Seitdem war nur ab und zu der nötige moderne Komfort hinzugefügt worden.
In einer der Straßen, die vom Mittelweg zum Seebassin der Außenalster hinabführen, fand Sophie dann die ihr empfohlene Pension Hammonia und zwei angenehme Zimmer darin.
»Wo man arbeiten kann, fühlt man sich sofort zu Hause,« sagte die Senatorin Amster.
Und darin hatte sie wohl recht, denn als Sophie vor der Staffelei saß, kam ihr die Umwelt ganz vertraut vor.
Jetzt begriff sie auch nicht, wie sie an jenem Abend so flüchtig über ihr »Modell« hatte hinsehen können. Sie meinte, selbst in ihrem gespannten Seelenzustand hätte ihr dieses Mädchen gleich zu denken geben müssen.
Marieluis gefiel ihr. Wie gern sah man ihr in das kluge, klare Auge von unbestimmter Farbe. Ihr Gesicht und ihre Gestalt waren wohlgebildet, die Züge wie die Glieder wurden von einer bemerkbaren Harmonie getragen. Vielleicht war ihr Ausdruck zu reif für ihre zweiundzwanzig Jahre.
Die Pflegemutter war oft zur Gesellschaft dabei. Es kamen und gingen auch andere Damen. Offenbar hatte sie für die Porträtangelegenheit das Interesse ihres Kreises erweckt. Sophie bemerkte bald, daß die Senatorin für all ihre Unternehmungen und Beschäftigungen sich gewissermaßen ein Publikum zu bilden pflegte; dies mußte eine zustimmende und lobende Haltung einnehmen, das war – unbewußt – die Voraussetzung.
»Ich habe noch niemals eine so verständige Familie gesehen,« sagte Sophie, als ihr Sohn sie am Sonntag zum Essen abholte. Das war so ziemlich die einzige Zeit, in der er die Gegenwart seiner Mutter genießen konnte. »Alles, was sie tun, muß man billigen.«
»Und wie ist es mit der Herzenswärme?«
»Oh, die fehlt nicht!« meinte die Mutter in bestimmtem Ton. Aber dabei kam ihr das Gefühl: irgend was fehlt doch. Sie konnte sich aber nicht klarmachen, was. Unbestimmbarkeiten.
Da nun die Senatorin sich bewußt war, Frau v. Hellbingsdorf hierherberufen zu haben, folgerte sie daraus die Pflicht, sich der hier Fremden eifrig anzunehmen. Sie war auch von ihr entzückt. »Eine vollkommene Dame und so einsichtig,« sagte sie, woraus der Senator schloß, daß die Malerin sich widerspruchslos von seiner Frau bevormunden ließ.
Es wäre ihm aber niemals eingefallen, seine Frau mit derlei zu necken.
Sophie wurde oft zum Diner geladen, das erst halb sieben begann, wenn der Senator seine kaufmännischen und Regierungsgeschäfte erledigt hatte. Oft riefen ihn diese aber sogleich nach Tisch noch zu späten Kommissionssitzungen wieder fort.
Als sie den Verkehr der Gatten miteinander einigemal beobachtet hatte, dachte Sophie: eine solche Sachlichkeit, wie zwischen den beiden herrschte, ordne doch das Leben in der geschmackvollsten und nützlichsten Weise.
Marieluis saß meist schweigend, in unbefangener Haltung aufmerksam und freundlich mit am Tische und antwortete nur auf Anreden. Ab und zu fehlte sie. Dann hieß es: sie ist zum Kursus. Oder: heut' ist Abendschule. Sophie erfuhr gelegentlich, daß Marieluis einen Kursus besuche, in dem zwei Professoren abwechselnd kulturgeschichtliche Vorträge hielten, mit besonderer Berücksichtigung der Volkshygiene in allen Zeiten und bei allen Völkern. Und die Abendschule war von einer Frauengruppe begründet und unterhalten, die sich die Erziehung unehelicher Kinder zur Pflicht gemacht hatte.
Immer war die Senatorin voll des Lobes über die praktische Anstelligkeit, den raschen Verstand und die glückliche Hand ihrer Pflegetochter.
Mit immer wachsendem Interesse beobachtete Sophie das Mädchen. Ohne einen verschlossenen oder auffallend stillen Eindruck zu machen, schien sie doch ihr Innenleben für sich zu haben und zu beschweigen.
Einmal fragte Sophie: »Ist Marieluis Ihre Blutsverwandte?«
»Nein,« antwortete die Pflegemutter und setzte gleich auseinander: »Aber natürlich: kein schlechtes Blut! Wie hätten wir ein Wesen von ungewisser Rasse mit unserem Namen decken wollen! Denn das war ja von vornherein Absicht: wenn sie sich nach Wunsch entwickelt, adoptieren wir sie, sobald mein Mann fünfzig wird. Das ist denn auch vor vier Jahren geschehen. Der Vater von Marieluis war ein junger Arzt, der Letzte eines arm gewordenen, vornehmen hanseatischen Geschlechts – er fing gerade an, leidliche Praxis zu bekommen. Da zog er sich eine Blutvergiftung zu und starb. Die Frau stand dicht vor der Geburt des zweiten Kindes. Infolge der Aufregung ging die Sache nicht gut aus. Mutter und Kind starben. Die Frau war aus dem Hannöverschen, aus einer soliden, bescheidenen Gutsbesitzersfamilie. Wir haben uns genau nach allem erkundigt!« »Wie traurig,« sagte Sophie, »wie unaussprechlich traurig.«
»Gott,« meinte die Senatorin, »für Marieluis ist es schließlich ja ein Glück geworden. Vielleicht hätte sie mit entsetzlich vielen kleineren Geschwistern es knapp und unruhig gehabt. Nun kann sie ihre Individualität ausbilden. Und versorgt ist sie auch, wenn sie ledig bleibt. Natürlich beerbt sie uns nicht voll. Meine und meines Mannes Geschwisterkinder sind auch noch da. Aber immerhin: sie hat reichlich zu leben und kann wirken.«
»Die bewegliche Natur und Intelligenz meiner Frau brauchte Aufgaben,« sagte der Senator, »da gab ich ihr die Pflegetochter. Und ein Budget für ihre sozialen Bestrebungen. Um die Details dieser kann ich mich nicht kümmern. Sie interessieren mich auch nicht. Ich habe andere Pflichten. Wenn meine Frau die Formen und das Budget innehält, kann sie machen, was sie will.«
»Beides versteht sich ja wohl von selbst,« sprach seine Frau sehr stolz und entschieden.
Als der zweite Sonntag herannahte, bat die Senatorin: »Sie machen uns das Vergnügen? Wir essen Sonntags schon um vier. Wegen der Dienstboten, damit die Küche früher entlastet wird. Meines Mannes Bruder und Frau, Sie wissen, Thea Daisters Eltern, werden Sie dann kennen lernen.«
»Sie verzeihen und verstehen, wenn ich ablehne. Sonntags widme ich mich meinem Sohn, er hat in der Woche keine Zeit.«
Nun war aber die Senatorin erstaunt. Davon hatte Sophie von Hellbingsdorf noch nichts gesagt.
»Lassen Sie ihn doch bei uns Besuch machen,« sagte sie, ganz einfach über Allert bestimmend.
»Danke – wie liebenswürdig – mir schien aber – ja, er will, glaub' ich, zunächst ganz ungesellig leben.«
»Ach – wie verkehrt! Das reden Sie ihm aus. Die gesellschaftlichen Beziehungen bringen oft genug Nutzen für den Beruf. Das ist allerwärts so.«
Ja, Sophie wollte ihm die gütige Erlaubnis übermitteln. Sie ärgerte sich manchmal über sich selbst – Regentennaturen hatten es ihr gegenüber so leicht; es schien gar nicht zu ihrer selbständigen Lebenslage zu passen: aber einem Herrscherton antwortete sie immer etwas zu bescheiden.