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Als Alunka, das Indianermädchen, mit einem letzten Jubelruf durch das Tor schlüpfte, fehlte noch eine ganze Stunde bis Sonnenuntergang und es war daher weder eine Schildwache noch sonst ein Beobachter zu sehen. Ganz atemlos stürzte sie in das Markthaus, eine Art Schuppen, in welchem indianische Jäger jeden Morgen Wildbret feilzubieten pflegten. Auch verkauften hier Indianerweiber die ersten Blau- und Preißelbeeren, die Fischer Lachs, Heilbutte und den öligen Eulachon oder Kerzenfisch Ein kleiner Seefisch, der zur Salmfamilie gehört und an der nordwestlichen Küste Amerikas zu finden ist. Sein Fettgehalt ist so bedeutend, daß Öl daraus gepreßt wird und man ihn auch als natürliche Kerze benützt.. Die Garnison war mit ihrem Bedarf an Lebensmitteln in erster Linie auf diesen Markt angewiesen. Die entfernteren Ecken dieses tiefen Gebäudes waren dunkel genug, um Alunka ein günstiges Versteck zu bieten; sie kroch mit dem Schlitten unter einen Haufen von Rehfellen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Kollia langte kurz nach dem Mädchen am Tor an, wartete aber auf Paul, um diesem, der als Fremdling die Falschheit und Hinterlist der dunkelhäutigen Nachbarn noch nicht kannte, zu erklären, welche Gefahr sie liefen, wenn sie das Dorf unbeschützt betraten, um gestohlenes Eigentum zurückzufordern. Paul war jedoch zu ärgerlich und erregt, um auf den Rat seines aleutischen Freundes zu hören und rannte an demselben vorüber in das Dorf hinein. Einen Augenblick blieb er vor dem Markte stehen, ungewiß, was er beginnen sollte. Alunka war nirgends in Sicht. Vor ihm stand ein anscheinend leerer Schuppen, der mit dem Strande parallel lief und dessen Hinterwand am Wasser lag, während die dunkle Offenseite sich dem Knaben gegenüber befand.
Die Küste entlang erstreckten sich weithin große, plumpe Gebäude aus gefällten Stämmen – es waren die Häuser der Indianer. Paul, der erst seit wenigen Tagen in Sitka weilte, hatte diesen sonderbaren Ort bislang nur vom Bord des Schiffes aus gesehen. Vor jedem Gebäude war ein ungeheurer, sorgfältig geschnitzter Pfahl oder Stamm aufgepflanzt, den man » totem« nannte.
Den ungewohnten Augen des Knaben erschienen die Pfähle wie schreckliche Ungeheuer, denn sie waren in allen Farben bunt bemalt: ein scheußlicher Kopf erhob sich hier aus dem einen Stamme, ein scheußliches Reptil entsprang aus dem anderen, immerfort in einer häßlichen, verworrenen Masse bis zur Höhe einer riesigen Alaskazeder. Diese Türschwellenwächter standen so feierlich vor jedem runden Hauseingang und sahen so abscheulich und abschreckend aus, daß der kleine Amerikaner sich zögernd umwandte. Da sah er Nikolai neben sich stehen, bleich und still, aber fest entschlossen, seinen Kameraden nicht im Stiche zu lassen. Nach einer sorgfältigen Prüfung des verödeten Marktplatzes durchwanderten die Knaben das Dorf seiner ganzen Länge nach; sie wagten es nicht, ein Haus zu betreten, doch prüften sie, in der Hoffnung, Alunka zu finden, die verschiedenen umherlungernden Indianergruppen. Alsbald erregten die Knaben die Neugierde und das Interesse der Leute; ihr Weiterschreiten wurde von einer sie umringenden und scheel ansehenden Menge sehr erschwert. Krieger, Weiber und kleine Kinder drängten sich an sie heran und starrten ihnen verwundert ins Gesicht; zottige Wolfshunde schnüffelten und knurrten um die Ankömmlinge herum, die sich nur mit Mühe ein tapferes Aussehen bewahrten.
Sie kehrten endlich zum Marktplatz zurück. Plötzlich vergaß Paul, als er Alunkas ansichtig wurde, das Gedränge. Das Mädchen schlenderte müßig den Strand entlang und schnellte Kieselsteine ins Wasser, augenscheinlich hatte sie von der Anwesenheit der Knaben keine Ahnung. Paul machte eine Bewegung, um sich ihr zu nähern, in demselben Augenblicke drehte sie sich um und sah ihm ins Gesicht. Da sprach sie, zornig gestikulierend und auf Paul und Kollia deutend, hastig einige Worte zu dem größten Krieger. Noch ehe die Knaben imstande waren, die Situation zu begreifen, wurden sie angefaßt und roh zur Öffnung eines Indianerhauses geschleppt. Diese Öffnungen bilden, außer dem Zutritt durchs Dach, die einzigen Eingänge und sind ziemlich hoch über dem Boden angebracht. Die Knaben wurden in die Höhe gehoben, nicht gerade sanft durch die Öffnung hineingestoßen, und befanden sich nun in einem großen Gemach. Auf dem Fußboden brannte ein Feuer, dessen Rauchwolken durch eine große Öffnung im Dache verschwanden. Eine hölzerne Plattform erstreckte sich an den Seiten des Hofes und auf diese mündeten viele kleine Türen, welche, wie Nikolai seinem Freunde später erzählte, zu winzigen Zimmern führten, die von je einer Indianerfamilie bewohnt wurden.
Viele Indianer waren bereits versammelt, und eine noch größere Anzahl stürzte nach den Knaben herein, bis der Raum überfüllt war. Einige Minuten lang herrschte ein wahnsinniges Stimmengewirr. Alunka und der große Krieger machten sich durch einen Wortwechsel mit zwei mächtigen Indianern bemerkbar, die sich beim Eintritt des Mädchens und der Gefangenen von ihren Pfeifen erhoben hatten. Diese beiden Indianer sprachen abseits mit Alunka, die sich fest in ihre scharlachrote Decke hüllte, die Schultern und Ellbogen in die Höhe zog, ein trotziges, mürrisches und spöttisches Gesicht schnitt und dreiste Antworten gab. Die Decke ging unten auseinander und ließ ein dunkelblaues, enges, baumwollenes Röckchen sehen. Unter diesem bemerkte Paul eine kleine Natter, die von Zeit zu Zeit ungeduldig den Boden schlug.
Kollia hielt Paul an der Hand und sagte in gebrochenem Englisch: »Fürchte nichts! … Dieses Mädchen macht ihren Vater minorga cultus (ganz verrückt). Warte … fürchte dich nicht.«