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(1875.)
Woher kommt es, fragte ich neulich einen ausgezeichneten Portraitmaler, »dass Sie, der Sie früher mit Erfolg sich in mehreren andern Kunstfächern versucht haben, zuletzt sich ganz auf das Portrait beschränkten?«
»Ich glaube daher,« antwortete er, »weil es mich am meisten ergötzt, so ein Ding, das nie dagewesen ist und nie wieder kommen wird, zu studiren und festzuhalten.«
Er schien mir mit diesen Worten schlagend das Interesse zu bezeichnen, das Einen zu der einzelnen Individualität, der innern wie der äussern, hinzieht. Auch für den Kritiker ist das Individuum ein besonders verlockender Gegenstand; auch für ihn ist die Ausführung eines Portraits eine seltsam fesselnde Beschäftigung. Leider stehen seine Mittel nur allzusehr hinter denen des Malers zurück. Was kann schwieriger und vergeblicher sein, als das rein Individuelle in Worten ausdrücken zu wollen – das, was seiner Natur nach jeder Wiedergabe durch Worte spottet! Ist die Persönlichkeit in ihrem ununterbrochenen Flusse nicht das wahre perpetuum mobile, das sich nicht construiren lässt?
Und doch reizen und locken diese unlöslichen Aufgaben Einen immer auf's neue. Wenn man allmälig mit einem Schriftsteller vertraut geworden ist, sich in seinen Schriften frei bewegt, dunkel fühlt, dass gewisse Charakterzüge bei ihm die andern beherrschen, und dann von Natur einen kritischen Hang hat, so lässt es Einem keine Ruhe, bevor man sich selbst über seinen Eindruck Rechenschaft gegeben und sich das undeutliche Bild eines fremden Ich, das sich in unserm Innern gebildet, klar gemacht hat. Man hört oder liest Urtheile über einen Schriftsteller und findet sie albern. Warum sind sie albern? Andere Aeusserungen über ihn dünken uns halbwahr. Was fehlt ihnen, um völlig wahr zu sein? Ein neues grosses Werk von ihm erscheint. Wie ist es von den früheren schon vorbereitet? Man wird fast neugierig, zu erfahren, wie man selbst sein Talent charakterisiren würde – und man befriedigt, seine Neugier.
Wer einen Blick auf die lange Reihe enggedruckter Bände wirft, die
Paul Heyse's gesammelte Werke bilden, und sich erinnert, dass der Geburtstag des Verfassers in das Jahr 1830 fällt, wird vermuthlich zuerst ausrufen: Welcher Fleiss! Unwillkürlich wird er diese staunenswerthe Productivität auf eine Willenskraft von seltener Ausdauer zurückführen. Nichts desto weniger entstammt sie einer selten glücklichen Natur. Diese Natur war an und für sich von so üppiger Fruchtbarkeit, dass sie ohne Willensanspannung oder Kraftanstrengung ihre Ernte geliefert hat; sie hat sie so mannigfach geliefert,
dass man glauben möchte, sie sei nach einem bestimmten Plane und mit sorgsamem Willen gepflegt worden; es war ihr jedoch augenscheinlich vergönnt, völlig frei zu walten. Die Natur walten, »sich gehen zu lassen«
Auf Schritt und Tritt sich aufzupassen,
Was soll es frommen?
Wer nicht wagen darf, sich geh'n zu lassen,
Wird nicht weit kommen. P. H., das war, wie man fühlt, von Anfang an Heyse's Wahlspruch, und so kommt es, dass er mit Eigenschaften, die zu einer zerstreuten, spärlichen und fragmentarischen Production zu führen pflegen, jedes Unternehmen vollendet und abgerundet, dass er lyrische und epische Gedichte, ein grösseres Epos (Thekla), ein Dutzend Dramen, mehr als fünfzig Novellen, und zwei grosse Romane geschrieben hat. Er begann frühzeitig, schon als Schüler trat er seine literarische Laufbahn an. Und sorglos wie ein Fusswanderer, sein Lied vor sich hinpfeifend, nie sich übereilend, aus jeder Quelle trinkend, stillstehend vor den Sträuchern am Wege und Blumen wie Beeren pflückend, im Schatten ausruhend und im Schatten wandernd, hat er nach und nach eine Bahn durchschritten, die nur möglich scheint, wenn man das Auge bei athemlosem Marschiren fest auf das Ziel heftet.
Die Stimme, der Heyse als Schriftsteller folgt, ist unzweifelhaft die Stimme des Instincts. Nichts liegt ihm, obwol er Norddeutscher ist, ferner als Instinctlosigkeit und Absichtlichkeit. Obgleich in Berlin geboren, fasst er in München Wurzel und findet in der vollblütigen süddeutschen Race und dem säftereichen süddeutschen Leben die Umgebungen, die mit seiner Anlage übereinstimmen; obgleich in Süddeutschland zu Hause, fühlt er sich immer nach Italien hingezogen, wie nach dem Lande, wo die Menschenpflanze ein von der Reflexion noch weniger gestörtes, schöneres und üppigeres Wachsthum erreicht hat, und wo die Stimme des Blutes am klarsten und stärksten spricht. Diese Stimme ist die Sirenenstimme, die ihn lockt. Natur! Natur! klingt es in seinem Ohre. Deutschland hat Schriftsteller, die fast instinctlos scheinen, und die nur ein kräftiger norddeutscher Wille zu dem, was sie geworden, gemacht hat (wie Karl Gutzkow z. B.), andere (wie Fanny Lewald), deren Werke vor Allem das Gepräge eines kräftigen norddeutschen Verstandes tragen. Nicht wollend oder überlegend, sondern seinem inneren Drange folgend, schafft und formt Heyse seine Werke.
Es ist für manchen Dichter eine Versuchung, dem Leser ein etwas anderes Bild von sich, als das wirkliche, mitzutheilen. Er stellt sich gerne als das, was er zu sein wünschte dar, in früheren Tagen entweder als empfindsamer oder melancholischer, in neuerer Zeit bisweilen als erfahrener oder kälter oder rauher, als er ist. Mehr als ein ausgezeichneter Dichter scheut sich, wie Mérimée oder Leconte de Lisle, so sehr seine Gefühle zur Schau zu stellen, dass er umgekehrt dahin gelangt, eine Gefühllosigkeit an den Tag zu legen, die ihm nicht ganz natürlich ist. Man setzt eine Ehre darein, erst jenseits der Schneelinie, wo das Menschliche endet, recht frei und leicht zu athmen, und aus Verachtung derer, die dort unten das Mitleid der Menge in Anspruch nehmen, erliegt man der Versuchung, sich selbst zu einer Höhe emporzuschrauben, wohin nicht der Instinct, sondern der Stolz zu steigen gebietet. Für Heyse existirt diese Versuchung nicht. Er hat nie einen Augenblick sich in eine grössere Wärme oder Kälte als die, welche er empfand, hinein schreiben können oder wollen. Er hat sich nie geberdet, als ob er mit seinem Herzblut schreibe, wenn er ruhig als Künstler formte, und er hat sich geduldig darein gefunden, dass die Kritik ihm Mangel an Wärme vorwarf. Er hat auf der andern Seite nie, wie so viele von Frankreichs vorzüglichsten Schriftstellern, eine furchtbare oder empörende Handlung mit derselben stoischen Ruhe und in demselben Tone berichten können, mit welchem man erzählt, wo ein Mann von Welt seine Cigarren kauft, oder wo man den besten Champagner erhält. Er strebt weder nach dem Flammenstyl der feurigen Temperamente, noch nach der Selbstbeherrschung des Weltmanns. Im Vergleich mit Swinburne scheint er kühl, und im Vergleich mit Flaubert naiv. Aber der schmale Pfad, auf welchem er wandelt, ist genau derjenige, welcher ihm vom Instincte seines Innern, von dem rein individuellen und doch so complicirten Wesen, das seine Natur ausmacht, angewiesen wird.
Die Macht, der man selbst als Künstler gehorcht, wird nothwendig die Macht, welche man in seinen Werken auf den Ehrenplatz erhebt. Daher verherrlicht Heyse als Schriftsteller die Natur. Nicht, was der Mensch denkt oder will, sondern was er von Natur ist, interessirt Heyse an ihm. Die höchste Pflicht ist für ihn, die Natur zu ehren und ihrer Stimme zu folgen, die wahre Sünde ist Sünde gegen die Natur. Man lasse sie gewähren und walten!
Es gibt darum nicht viele Schriftsteller, die so ausgeprägte Deterministen wie Heyse sind. An den freien Willen im überlieferten Sinne des Wortes glaubt er nicht, und steht augenscheinlich ganz ebenso skeptisch, wie sein Edwin oder Felix Kinder der Welt II, 17. Im Paradiese I, 31., Kant's kategorischem Imperativ gegenüber. Aber glaubt er auch nicht an angeborne Ideen, so glaubt er doch an den angebornen Instinct, und dieser Instinct ist ihm heilig. Er hat in seinen Novellen geschildert, wie unglücklich sich die Seele fühlt, wenn dieser Instinct entweder gestört oder unsicher ward. In der Novelle »Kenne Dich selbst« ist die Intelligenz, in der »Reise nach dem Glück« die Moral der Friedensstörer.
In der ersteren Novelle hat Heyse die Qual dargestellt, welche aus einem zu frühen oder absichtlichen Eingreifen in das instinctive Leben der Seele hervorgeht. »Jene schöne Dumpfheit der Jugend, jene träumerische unbewusste Fülle, die reine Genusskraft der noch unerschöpften Sinne gingen dem jungen Franz über seinem vorzeitigen Ringen nach Selbstgewissheit verloren«. Gesammelte Werke IV, 135. Er schildert hier die Schlaflosigkeit des Geistes, die ebenso gefährlich für die Gesundheit der Seele ist, wie wirkliche Schlaflosigkeit für das Wohl des Körpers, und zeigt, wie der Reflexionskranke »jenen heimlichen dunkeln Kern verliert, welcher der Kernpunkt unserer Persönlichkeit ist.«
In der Novelle »Die Reise nach dem Glück« ist es die conventionelle Moral, welche durch Verdrängung des Instincts die Seele zersplittert hat. Ein junges Mädchen hat mit Ueberwindung ihres eigenen Herzenstriebes aus eingeprägten Sittlichkeitsrücksichten in später Nacht den Geliebten fortgewiesen und ist dadurch die unschuldige Ursache seines Todes geworden. Nun verfolgt die Erinnerung an dieses Unglück sie beständig. »Wenn Einem nicht das eigne Herz den Weg weist, läuft man immer in die Irre. Ich bin schon einmal elend geworden, weil ich nicht hören wollte, ob auch mein Herz noch so laut schrie. Jetzt will ich aufmerken, wenn es nur halblaut flüstert, und für alles Andere kein Ohr haben«. G. W. V., 199.
In dem Instinct ist die ganze Natur gegenwärtig. Ist nun die innere Zersplitterung, die dort eintritt, wo der Instinct seine leitende Kraft verloren hat, für Heyse das tiefste Unglück, so besteht umgekehrt für die Charaktere, welche er mit Vorliebe schildert, das Lebensgefühl, d. h. das tiefste Glücksgefühl, in dem Genüsse der Ganzheit und Harmonie ihrer Naturen. Heyse ist selbstredend weit davon entfernt, die Selbstreflexion ohne Weiteres als ein für das gesunde Lebensgefühl feindliches Princip anzusehen. Es scheint ungefähr seine eigne Ansicht zu sein, welche der Kranke in »Kenne dich selbst« mit den Worten ausspricht: ebenso angenehm, wie es ihm sei, in der Nacht aufzuwachen, sich zu besinnen und zu wissen, dass er noch weiter schlafen könne, ebenso herrlich scheine es ihm, sich aus traumhaften Glückszuständen aufzuwecken, sich zu sammeln, zu reflectiren und dann sich gleichsam auf die andere Seite zu legen und weiter zu geniessen. Wenigstens hat er in seinem Roman »Kinder der Welt« Balder, den am idealsten angelegten Charakter des Buches, diesen letzten Gedanken noch gewichtvoller ausführen lassen. Schwermüthige Betrachtungen sind eben ausgesprochen worden, Betrachtungen über die Sonne, die gleichgültig über Gerechte und Ungerechte scheine und mehr Elend als Glück sehe, über die endlose, sich stets erneuende Noth des Lebens u. s. w. Franzel, der junge socialistische Buchdrucker, hat eben entwickelt, wie der, welcher das allgemeine Loos der Menschen bedenke, erst recht nie zur Ruhe komme, und hat in seinem Schmerz das Leben ein Unglück und eine Lüge genannt, als Balder ihm zu zeigen sucht, wie ein Leben, worin man zur Ruhe käme, überhaupt nicht mehr diesen Namen verdienen würde. Er erklärt ihm dann, worin der Lebensgenuss für ihn bestehe, nämlich darin, »Vergangenheit und Zukunft in Eins zu empfinden«. Höchst eigenthümlich hebt er hervor, dass er nicht gemessen könne, wenn er sich nicht ganz empfinde, und dass er in den stillen Augenblicken der Betrachtung alle die zerstreuten Elemente seines Wesens in einen Accord vereine. »So oft ich wollte, das heisst, so oft ich mir ein rechtes Lebensfest machen und mein bischen Dasein aus dem Grunde gemessen wollte, habe ich so zu sagen alle Lebensalter zugleich in mir erweckt, meine lachende, spielende Kindheit, wo ich noch ganz gesund war, dann das erste Aufglänzen des Denkens und der Gefühle, die ersten Jünglingsschmerzen, die Ahnung, was es um ein volles, gesundes Mannesleben sein müsste, und zugleich auch die Entsagung, die sonst nur ganz alten Menschen leicht zu werden pflegt.« Für eine solche Lebensauffassung ist das Menschenleben nicht in Augenblicke zerklüftet, die verschwinden und deren Verschwinden beklagt wird, auch nicht im Dienste sich gegenseitig widerstrebender Triebe und Gedanken zersplittert; für eine solche Fähigkeit, in jedem Augenblick Anker zu werfen, die Ganzheit und Wirklichkeit seines Wesens zu fühlen, kann das Leben nicht wie ein böser Traum zerreissen. »Glaubst Du nicht,« sagt Balder, »dass der, welcher in jedem Moment, wenn er nur will, eine solche Fülle des Daseinsgefuhls in sich erzeugen kann, es für ein leeres Wort halten muss: nicht geboren zu sein, wäre besser?« K. d. W. II. 162. Man beachte, dass es ein todtkranker Krüppel ist, welcher diese Worte spricht und noch dazu ein Krüppel, den der Dichter augenscheinlich in dem Bilde des so verschieden denkenden Leopardi's geformt hat. Die eigenthümliche Art von Genussphilosophie, die in denselben ausgesprochen wird, und die durch eine synthetische Reflexion die ganze Zeit im ewigen Jetzt sammelt, ist im Grunde die schliessliche Lebensanschauung des Dichters. Es ist das Lauschen der harmonisch angelegten Natur auf ihre eigenen Harmonien. Alles geben die unendlichen Götter ja ihren Lieblingen ganz, alle die unendlichen Freuden und alle die unendlichen Schmerzen ganz. Diese Lebensphilosophie nimmt selbst den Missklang des unendlichen Schmerzes in ihre innere Harmonie auf und vermag ihn für sich aufzulösen. Hier ist der Punkt, wo Heyse sich am Schärfsten von Turgeniew und den andern grossen modernen Pessimisten der Poesie scheidet. Er wagt es, seinen Lieblingspersonen selbst sehr unschöne und abschreckende Vergehen beizumessen, um ihnen nach allerlei Prüfungen und Qualen den innern Frieden wiederzugeben. Der junge Baron in dem Roman »Im Paradiese« ist ein Beispiel. Eine Sünde gegen sein besseres Ich lastet auf seinem Gewissen. Die innere Harmonie mit dem eigenen Gefühl, »auf die Alles ankommt«, ist ihm verloren gegangen. Es zeigt sich im Laufe des Buches, dass er sich durch jenes Vergehen noch dazu gegen seinen besten Freund vergangen. Aber durch alle Irrungen und alles Unglück, das hieraus erwächst, findet er sich wieder. Die Harmonie der Natur war nur zeitweise aufgehoben, nicht, wie er es fürchtete, heillos zerstört.
Unmittelbar ist der Instinct die Stimme des Blutes. Daher kommt es, dass die Individuen bei Heyse tief in Stamm und Race wurzeln. Sie scheinen wie das Gesetz Mosis zu lehren, dass die Seele im Blute ist. Sie folgen der Stimme des Blutes und appelliren an sie. Die unentwickelten sind der kräftige Ausdruck eines Racentypus; die entwickelten unter ihnen kennen ihre Natur und respectiren sie; sie nehmen sie als gegeben mit dem Gefühle, dass sie sich nicht ändern lässt; sie werden ebenso durchgängig von ihrem Naturinstinct geleitet, wie die Charaktere Balzac's vom Eigennutze. Um zu verdeutlichen, was ich meine, führe ich ein paar Stellen aus den »Kindern der Welt« an: Als Edwin in Toinette glühend verliebt ist, geht sein Bruder Balder ohne sein Wissen zu ihr, um sie zu bitten, nicht aus einer Grille oder im Leichtsinn den Bruder zurückzuweisen und sich an einen Fremden wegzuwerfen. Hierauf bekommt er die Antwort, dass sie erst jetzt erfahren und begriffen habe, woran es liege, dass sie kein Glück im Leben gewinnen könne. Sie hat das Geheimniss ihrer Herkunft erfahren, dass nämlich ihre unglückliche Mutter nur gezwungen in die Gewalt ihres Vaters kam, und daraus erklärte sie sich's nun, dass sie, wie sie glaubt, nicht lieben kann: »Mein Freund,« sagt sie, »ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Sie und Ihr Bruder. Aber es wäre ein Verbrechen, wenn ich mir einredete, Sie könnten mir helfen, jetzt, da ich so klar Alles einsehe, von meinem Schicksal weiss, dass es mir nun einmal im Blute liegt.« (Die Worte sind auch im Texte gesperrt.) Dies ist für sie das letzte unwiderlegliche Argument. Und bei allen Personen des Buches tritt dieser an Aberglauben grenzende Respect vor der Natur hervor. Wie er sich bei Toinette findet, so bei ihrem Gegenpol Lea. Sie contrastiren in allen Punkten; nur in dieser einen Hinsicht stimmen sie überein. Als Lea, die Edwin's Frau geworden ist, erfahren hat, wie viel Macht die Erinnerung an Toinette noch über sein Herz besitzt, und als sie während ihrer Trauer einen Augenblick, in einem Buche Edwin's lesend, sich damit tröstet, wie gut sie Vieles von dem, was er geschrieben und was manchem anderen Weibe zu hoch sein würde, versteht, wirft sie plötzlich das Buch wieder fort, denn es fährt ihr durch den Sinn, »wie ohnmächtig alles Einverständniss der Geister sei gegen den blinden, unvernünftigen, elementaren Zug der Naturen, der alle Freiheit knechtet und die Weisesten bethört.« Sie ist ein scheinbar rein intellectuell angelegtes Weib. Ein lebendiger Drang nach Wissen und geistiger Klarheit hat sie zu Edwin geleitet, er hat sie in – der Philosophie unterrichtet. Man könnte also glauben, dass sie jetzt ihrerseits einen Kampf gegen jene magische Macht des Blutes durch einen Appell an die Geistesmächte, die sie so lange mit Edwin verbunden haben, versuchen würde. Im Gegentheil! Weit entfernt, als lauter Geist und Seele charakterisirt zu sein, ist sie vor Allem eine Natur. Sie hat ihn immer glühend geliebt, aber sie hat gefürchtet, dass seine Liebe, weniger heiss als die ihrige, durch Ausbrüche ihrer Leidenschaft zurückgeschreckt werden möchte, und doch hat sie – die Philosophin – in ihrer Einsamkeit zu sich selbst gesagt: »Liebe ist Thorheit – seliger Unsinn – Lachen und Weinen ohne Sinn und Verstand. So habe ich ihn immer geliebt, bis zum Vergehen und Vergessen aller Vernunft.« Jetzt, da das Glück ihrer Ehe auf dem Spiele steht, bricht sie in die Worte aus: »Wenn er merkt, dass ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, heisses, alttestamentarisches Blut, – vielleicht kommt er dahinter, dass er sich sehr verrechnet hat, als er mit einem solchen Wesen eine ›Vernunftehe‹ schliessen zu können glaubte. – Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihm Alles sagen darf, weil er selbst nicht mehr genug hat an einem bescheidenen Lebensglück, wo er etwas Stolzeres, Uebermüthigeres, Ueberschwänglicheres verlangt – und dann kann ich ihm sagen: Du hast nicht weit zu suchen, die stillen Wasser sind tief« K. d. W. III, 210, 242, 256.. Alles ist hier charakteristisch, sowohl die Zurückführung auf Abstammung und Race, wie der Protest der heissen, leidenschaftlichen Natur gegen die Verkleidung der unmittelbaren Leidenschaft als vernünftige Hingebung. Nur wer mit diesem Grundzuge Heyse's vertraut ist, wird das rechte Verständniss und Interesse für eins seiner Dramen haben, das sonst sein schwächstes sein dürfte, und das aus mehreren Ursachen mir seiner nicht ganz würdig erscheint; ich meine »Die Göttin der Vernunft«. Oder ist es nicht höchst eigenthümlich, dass Heyse Angesichts der ganzen gigantischen französischen Revolution sich aus ihr gerade diesen Stoff zurecht legt, und ihn gerade so behandelt? Mancher Dichter würde mit der Wahl eines solchen Sujets sich ein Organ für das Pathos der Revolution suchen oder die rein ideelle Begeisterung der Vernunftgöttin im historischen Augenblick eine gedankenlose und unwürdige Vergangenheit, die sich dennoch tragisch rächt, adeln lassen. Ein Dichter wie Hamerling könnte vielleicht etwas Ansprechendes aus diesem Gegenstande machen. Heyse stutzte, seiner Naturanlage gemäss, bei dieser Erscheinung: ein Weib, ein Stück Natur mit weiblichem Instinct und weiblicher Leidenschaft, wird für die Vernunft, die Vernunftgöttin, d.h. die trockene, steife, todte, rationalistische Vernunft des 18. Jahrhunderts ausgegeben! Und er dichtet dann ein Weib, das kraft der Tiefe ihrer Natur (im Grunde ihrer Zeit vorausgeeilt) von dem Gefühl ergriffen ist, dass das ungeheure All-Leben sich auf keine Schulformel zurückführen lässt, ein Weib, das liebt und fürchtet, leidet und hofft, das für das Leben ihres Vaters und ihres Geliebten zittert, das vor Qual, von dem Geliebten verkannt zu werden, verzweifelt, und lässt dann dies Weib, das als ein echtes Kind ihres Dichters gesagt hat: »Mir ist das Höchste: Nichts zu thun, was mich mit mir selbst entzweit,« mit allen Fibern vor Leidenschaft bebend, in persönlicher Verzweiflung, ohne einen Gedanken an das Allgemeine und Abstracte, an Republik oder Geistesfreiheit, und während ihr Vater vor der Kirchenthür getödtet wird, – nothgedrungen vom Altare herab das neue Vernunft-Evangelium verkünden, das sie selbst einmal spöttisch als das Weltgesetz, dass zwei mal zwei vier ist, bezeichnet hat. Viel werthvoller, als in poetischer Hinsicht, scheint mir dies Stück als Beitrag zur Psychologie seines Dichters.
Man würde Heyse indess sehr Unrecht thun, wenn man aus dem bis jetzt Hervorgehobenen schliessen wollte, dass er nichts Höheres als die elementare Natur und ihre Triebe anerkenne. Mit dem Worte Instinct ist hier etwas von dem einzelnen Triebe völlig Verschiedenes gemeint. Der Instinct ist der Drang, sich ganz zu bewahren. Darum kann Heyse auch sehr wol eine freie Sympathie über die Bande des Blutes und selbst über das nächste Verwandtschafts-Verhältniss triumphiren lassen. In der Novelle »Der verlorene Sohn« versteckt und pflegt eine Mutter, ohne es zu wissen, den unschuldigen Mörder ihres Sohnes, und als dieser durch seine Liebenswürdigkeit sowohl das Herz der Mutter wie der Tochter gewinnt, lässt der Dichter ihn die Tochter als Braut heimführen. »Der verlorene Sohn« wurde in ehrlicher Nothwehr getödtet und sein Gegner hat nicht einmal seinen Namen gekannt. Selbst als die Mutter das Nähere über den Tod des Sohnes erfährt, legt sie darum der Heirath kein Hinderniss in den Weg, sondern trägt allein und ohne Jemand ihr Geheimniss zu vertrauen, das Unglück, das sie getroffen hat. Hier ist also mit voller Zustimmung des Charakters ein rein geistiges Band an die Stelle der Blutsbande getreten; die Mutter nimmt den als ihren Sohn an, durch dessen Hand ihr eigener Sohn gefallen ist; aber indem sie das thut, handelt sie in Uebereinstimmung mit ihrer tiefsten Natur und bewahrt ihre Seele ungetheilt. Das Gleiche gilt in allen Fällen, wo bei Heyse die Persönlichkeit aus Pflichtrücksichten eine wirkliche Leidenschaft, eine tiefe Liebe zuückdrängt. Wo es geschieht (wie im Drama »Marie Moroni«, in der Novelle »Die Pfadfinderin«, oder in dem Romane »Die Kinder der Welt«), da geschieht es eben, um die Treue gegen sich selbst zu bewahren, um nicht die Ganzheit und Gesundheit seines eigenen Wesens einzubüssen, und man sieht die Pflicht aus dem eigenen Born der Natur entströmen, indem als höchstes Pflichtgesetz das Gebot gilt, nicht in Zwiespalt mit dem eigenen Ich zu gerathen. So weit ist Heyse davon entfernt, die Natur als feindlich gegen Geist und Pflicht aufzufassen.
Für ihn ist sie Alles: alles, was in unserer Macht steht, was wir ausführen oder vollbringen, trägt, insofern es etwas werth ist, untrüglich ihren Stempel, und über alles, was nicht in unserer Macht steht, über unser ganzes angeborenes Schicksal gebietet sie direct, unmittelbar, allmächtig und unumschränkt. Selbst der unglücklichste Charakter, den er geschildert hat, findet, wie übel er auch vom Schicksal behandelt worden ist, einen Trost darin, dass er ein Kind der Natur, d. h. dass er nicht beeinträchtigt worden ist. »Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschliessen, durch eine grosse blinde Fügung des Weltlaufes sich gefunden und vereinigt haben und ich an dieser Constellation zu Grunde gehen muss – so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein Gottvater aber, der mich unseliges Geschöpf de cœur léger, oder auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde herumlaufen liesse, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine Gratification in der Ewigkeit zukommen zu lassen – nein, lieber Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir das nicht plausibel machen« K. d. w. III, 109..
So nimmt bei Heyse selbst der, dessen Leben am qualvollsten verfehlt ist, seine Zuflucht zum Naturbegriff, als zum letzten beruhigenden Gedanken, und so hat er selbst in den schmerzlichsten Stunden seines Lebens dazu seine Zuflucht genommen, und die wunderbaren Gedichte »Marianne« und »Ernst«, das Tiefste und Ergreifendste, was er geschrieben hat, sind als Zeugnisse davon zurückgeblieben. Die Natur ist sein Ausgangspunkt und sein Endziel, die Quelle seiner Poesie und ihr letztes Wort, sein Eins und Alles, sein Trost, sein Credo.
Was er verehrt, anbetet und darstellt ist also, ganz allgemein ausgedrückt, die Natur. Aber wie er seiner eigenen Natur folgt, so stellt er auch seine eigene Natur dar, und ihr Grundzug ist der, ursprünglich harmonisch zu sein. Eine solche Bezeichnung ist sehr weit und vag. Sie lässt, unbestimmt wie sie ist, Heyse wol am ersten als einen Nachkömmling Goethe's erscheinen und passt eben so gut auf den grossen Meister. Die Harmonie ist indessen, näher bestimmt, nicht eine weltumspannende, sondern eine verhältnismässig enge, sie ist eine aristokratische Harmonie. Es gibt Vieles, das sie ausschliesst, Vieles, das sie nicht versöhnt, ja nicht einmal berührt. Nicht als Naturforscher, sondern als Schönheitsanbeter betrachtet Heyse das bunte Treiben des Lebens. Es ist ersichtlich genug, dass er nicht begreift, wie man Lust dazu verspüren kann, als Künstler mit Vorliebe solche Gestalten zu schildern, denen man im Leben seine Thür verschliessen würde; ja er hat selbst mit grosser Offenheit ausgesprochen, dass er nie eine Figur habe zeichnen können, die nicht irgend etwas Liebenswürdiges gehabt hätte, nie einen weiblichen Charakter, in den er nicht bis zu einem gewissen Grade verliebt gewesen wäre K. d. W. I, 111; G. W. VI, 206.. Darum besteht auch seine ganze Gestaltengalerie mit wenigen Ausnahmen (wie Lorinser oder Jansen's Frau) aus gleichartigen Wesen. Sie haben nicht blos Race, sondern edle Race, d. h. angeborenen Adel. Ihre gemeinsame Eigenschaft ist, was Heyse selbst als Vornehmheit bezeichnet. Wie versteht er dies Wort? Die Vornehmheit ist bei allen seinen Charakteren die angeborene Unfähigkeit, etwas Niedriges oder Schmutziges zu begehen, bei dem Naturkinde durch die einfache Güte und Gesundheit der Seele bedingt, bei dem Culturmenschen mit dem bewussten Gefühl seines Menschenwerthes, mit der Ueberzeugung von dem Rechte eines vollen und kräftigen Menschenlebens versetzt, das seine Norm und seinen Richterstuhl in sich selber hat und mehr vor Halbheit als vor Irrthum schaudert. Heyse hat selbst einmal seinen Lieblingsterminus definirt. Im »Salamander« heisst es G. W. III, 300.:
Ich habe meiner Tugenden und Fehler
Mich nie geschämt, mit jenen nie geprunkt,
Und meiner Sünden macht' ich nie den Hehler.
Denn dies vor Allem, dünkt mich, ist der Punkt,
Wo Freigeborne sich vom Pöbel scheiden,
Der feig und heuchlerisch herumhallunkt.
Den nenn' ich vornehm, der sich streng bescheiden
Die eigne Ehre gibt und wenig fragt,
Ob ihn die Nachbarn lästern oder neiden.
Und mit fast ähnlichen Worten spricht die früher von aristokratischem Schein geblendete Toinette diesen Grundgedanken aus: »Es gibt nur eine wahre Vornehmheit: sich selber treu zu bleiben. Gemeine Menschen kehren sich an das, was die Leute sagen, und bitten Andere um Auskunft darüber, wie sie selbst eigentlich sein sollen. Wer Adel in sich hat, lebt und stirbt von seinen eigenen Gnaden und ist also souverän K. d. W. II, 47.«. Diese Art von Adel ist also der Stempel, den die ganze, diesem Dichtergehirn entsprungene Menschenrace trägt. Sie besitzen ihn alle, vom Bauer bis zum Philosophen, und vom Fischermädchen bis zur Gräfin. Die einfache Kellnerin in der »Reise nach dem Glück« spricht eine Lebensanschauung aus, die genau mit der eben angeführten zusammen fällt G. W. V, 201. Seite 175 wird das Wort, »vornehm« von ihr gebraucht., und wer sich nur die Mühe geben mag, die Schriften Heyse's zu durchblättern, wird entdecken, dass das kleine Wort »vornehm« oder ein Aequivalent dafür immer eins von den ersten ist, die er anbringt, sobald es gilt zu charakterisiren oder zu preisen. Man sehe z. B. in einem einzigen Band der Novellen die Anwendung des Wortes »vornehm«, um die äussere Erscheinung, Blick und Haltung zu bezeichnen (in »Mutter und Kind«, in »Am todten See«, in »Ein Abenteuer« VIII. 44, 246, 321). Oder man durchblättere, um sich von der durchgreifenden Bedeutung dieses Charakterzuges zu überzeugen, Heyse's zwei Romane. In »Kinder der Welt« bezeichnen alle die dem Leser sympathischen Personen sich gegenseitig als adelige Geister: Franzelius nennt Edwin und Balder die wahren Aristokraten der Menschheit, Edwin findet in der höchsten Schwärmerei der Leidenschaft kein höheres Lob für Toinette und Lea als das, dass sie das Adelsgepräge tragen, und als Toinette nach der Begegnung mit Lea diese als die würdige Gattin Edwin's anerkennt, ist es wieder derselbe Ausdruck, der sich ihr zu allererst darbietet; sie bezeichnet in ihrem Briefe Lea als Edwin's so vornehme, kluge und holdselige Lebensgefährtin« K. d. W. II, 335. Dass Du das beste, tiefste, holdeste, adligste Menschenbild bist. – Das arme, tapfre, freigeborne Herz – es hat seinen Adel bewährt. K. d. W. III, 309. Und in dem Roman »Im Paradiese«, dessen ersten Entwurf wir vermuthlich in dem versificirten Fragmente »Schlechte Gesellschaft« haben, steht durchgängig die sogenannte »schlechte« Künstlergesellschaft als die wahrhaft gute und vornehme der sogenannten vornehmen Gesellschaft gegenüber Im Paradiese III, 6 ff.. Von den Künstlern ist keiner im gewöhnlichen Sinne des Wortes Aristokrat. Ihre Herkunft ist, wie die der Helden in »Kinder der Welt«, durchgehends äusserst unansehnlich. Aber die Vornehmheit liegt ihnen im Blute, sie gehören zu den Auserkorenen, die gut und richtig handeln, nicht aus Pflichtgefühl oder durch mühsame Ueberwindung schlechter Triebe, sondern aus Natur. Was Toinette irgendwo »den redlichen Willen, der Menschheit keine Schande zu machen« nennt, hat auch »Im Paradiese« als den natürlichen Adel im Gegensatze zu der auf künstlichen Principien beruhenden Noblesse aufgestellt.
Wenige Dichter haben deshalb eine solche Reihe von Charakteren ohne Falsch und ohne Gemeinheit geschildert, wie Heyse. Niemand hat einen besseren Glauben an die Menschen gehabt. Den triftigsten Beweis dafür, wie lebendig sein Bedürfniss ist, überall das edle Erz in der Menschennatur hervorzuheben, liefert der Umstand, dass, wo bei ihm ein Umschlag im Charakter des Handelnden dem Leser oder dem Zuschauer eine Ueberraschung bereitet, die Enttäuschung immer darauf beruht, dass die Erwartung übertroffen wird und die Persönlichkeit sich weit besser und tüchtiger, weit edelgesinnter erweist, als Jemand geahnt hatte. Bei fast allen andern Dichtern ist die Desillusion die entgegengesetzte. In den Novellen, wie z. B. in »Barbarossa« oder »Die Pfadfinderin«, wird die Versöhnung dadurch bewirkt, dass die schlechte Person der Erzählung zuletzt in sich geht, und da der Kern ursprünglich gut ist und der Betreffende wol manchen hitzigen und schlechten, aber keinen eigentlich bösen Blutstropfen in sich hat, kommt eine Art Friedensschluss zwischen ihm und dem Leser, zur Verwunderung des letzteren, zu Stande. Weit bedeutsamer jedoch als in den Novellen tritt dieser charakteristische Optimismus in Heyse's Dramen hervor. Sie verdanken ihm ohne Frage ihre besten und wirkungsvollsten, vielleicht ihre entschieden dramatischsten Scenen. Ich will ein paar Beispiele anführen. In »Elisabeth Charlotte« hat der Chevalier von Lorraine unedle Mittel aller Art benutzt, um die Heldin zu stürzen und die männliche Hauptperson des Stückes, den deutschen Gesandten Grafen Wied, aus Frankreich zu entfernen. Von dem Grafen gefordert, ist er schwer verwundet worden, und als der Graf, von politischen Intriguen umstrickt, in die Bastille geschickt worden ist, tritt er im fünften Act im Audienzzimmer des Königs auf. Was kann er wollen? Den Grafen noch ärger anklagen? sein unehrenhaftes Betragen fortsetzen, das seinem Gegner schon so viel Unglück und ihm selbst eine Wunde eingetragen hat? Wird er sich rächen, die Lage ausnutzen? Nein, er kommt, um die feierliche Erklärung abzugeben, dass der Graf wie ein echter Edelmann gehandelt hat, und dass er selbst an dem Duelle Schuld ist. Er wünscht sogar, selbst in die Bastille gesandt zu werden, damit sein Gegner nicht glaube, er hätte ehrlos einen unrichtigen Grund des Duells angegeben mit anderen Worten: sogar in diesem verderbten Hofmanne lebt das Ehrgefühl als Rest des altfranzösischen Rittergeistes, ersetzt bis zu einem gewissen Grad das Gewissen, und zwingt ihn im entscheidenden Augenblick sich von seinem Schmerzenslager zu erheben, um zu Gunsten des Feindes einzuschreiten, den er rachsüchtig und rücksichtslos verfolgt hat. – In dem schönen und volkstümlichen Schauspiel »Hans Lange« findet sich eine Scene, die bei der Aufführung die Zuschauer in athemloser Spannung erhält, und deren Ausgang immer vielen Augen Thränen entlockt: es ist die Scene, wo das Leben des Junkers auf dem Spiele steht. Er ist verloren, wenn die Reiter ahnen, dass er es ist, der als Sohn des Juden verkleidet auf der Bank liegt. Da tritt der Grossknecht Henning auf, von Reitern geführt, die ihn im Stalle haben brummen hören, er wisse wol, wo der Hase im Pfeffer liege. Henning ist vom Junker verdrängt worden; bevor dieser nach Lanzke kam, war er wie ein Kind im Hause, jetzt ist er weniger als Stiefkind geworden und er hat immer einen Groll auf den Vorgezogenen gehabt. Mit grösster Kunst wird die Scene nun so geführt, dass Henning trotz der Bitten und Verwünschungen der Eingeweihten immer deutlicher zu verstehen gibt, dass er sich an dem Junker rächen wolle, dass er wisse, wo derselbe sei, und dass keine Macht in der Welt ihn davon abhalten werde, seinen Feind zu verrathen – bis er, feurige Kohlen auf des Anderen Haupt sammelnd und sich mit dem eingejagten Schrecken begnügend, endlich das Blatt vom Munde nimmt, um die ihm jetzt natürlich blindlings vertrauenden Verfolger vollständig auf die falsche Spur zu bringen. – Und genau von derselben Natur ist endlich die entscheidende und schönste Scene in dem patriotischen Drama »Colberg«. Es wird Kriegsrath gehalten, aber auch die Bürger sind berufen, denn die Wichtigkeit des Augenblicks macht es wünschenswerth, dass alle Stimmen gehört werden. Alle Hoffnung für die belagerte Stadt scheint aus zu sein. Der französische General hat ein Schreiben gesandt, um Gneisenau zu einer ehrenhaften Capitulation aufzufordern. Das ganze Officiercorps beschliesst sofort, dass von Uebergabe der Festung keine Rede sein kann, und Gneisenau legt darauf der Bürgerschaft die Frage vor, ob man sich vom Feinde eine Frist erbitten solle, damit die Bürger, Frauen und Kinder die allen Schrecken preisgegebene Stadt verlassen können. Da erhebt sich der alte pedantische Pädagog Zipfel, ein echter altmodischer deutscher Philologe, um im Namen der Bürgerschaft die Antwort zu ertheilen. Mit vielen Umschweifen, mit lateinischen Redensarten spinnt er unter allgemeiner Ungeduld seine Rede aus. Man unterbricht ihn, man gibt ihm zu verstehen, wie man wol wisse, er denke nur daran, dem Commandanten und den Truppen die gefährliche Vertheidigung der Stadt zu überlassen – endlich gelingt es ihm, die Ansicht zu erklären, die er mit der langen Erzählung vom grossen Perserkriege und Leonidas mit seinen Spartanern im Sinne gehabt; die Ansicht nämlich, dass es Allen ohne Unterschied gebühre, dazubleiben und zu sterben. Diese Scene hat Heyse con amore geschrieben. Sie enthält, so zu sagen, sein ganzes System. Denn nirgends triumphirt sein guter Glaube an die Menschheit so, wie dort, wo er im Spiessbürger den Helden enthüllen, im armen Pedanten den unbeugsamen Mann aufweisen kann, den kein Anderer in ihm gefunden hätte, als der Dichter allein, der es weiss, dass jede seiner Gestalten im tiefsten Grunde der Seele ein unauslöschliches Adelsgepräge trägt.
Den Schriftstellern, die, wie Spielhagen z. B., am häufigsten bei den Kämpfen des Bewusstseins und des Willens verweilen, und die am liebsten die grossen socialen und politischen Conflicte schildern, werden selbstverständlich die Männerfiguren besser gelingen als die Frauen. Ein Mannescharakter wie Leo in dem Romane »In Reih' und Glied« sucht seines Gleichen, aber eine ebenso vorzügliche Frauengestalt hat Spielhagen nicht gezeichnet. Der dagegen, dessen Geist den Adel und die Anmuth des unmittelbar Natürlichen, die sichtbare und seelische Schönheit sucht, wird selbstverständlich lieber und besser Frauen schildern, als Männer. Hierin ist Heyse seinem Meister Goethe ähnlich. In fast allen seinen Productionen steht der Frauencharakter im Vordergrunde, und die männlichen Gestalten dienen hauptsächlich dazu, ihn hervorzuheben oder zu entwickeln. Da die Frauennatur in der Liebe ihr verborgenes Wesen entfaltet und die schönste Blüthe treibt, da in der Liebe die Natur als Natur durch tausend Illusionen zum Geist geadelt wird, so verherrlicht Heyse vorzugsweise die Liebe des Weibes. Er feiert die Liebe und er feiert das Weib, aber es ist seine höchste Freude, diese beiden Grossmächte im Kampfe mit einander darzustellen. Denn wenn die Liebe siegt, wenn sie als die Macht erscheint, deren Gebot das Frauenherz nicht Trotz zu bieten vermag, strahlt sie, den Widerstand überwältigend, wie eine Allmacht, und indem sie die Wirkung hat, dass das Weib unter ihrem Einflusse, im Trotz gegen sie, im Kampf wider sie, von ihr beseelt, sich im ganzen Stolz ihres Geschlechtes zusammenrafft, verleiht die Liebe ihr jene aristokratische Schönheit, welche Heyse am besten darstellt.
Der angeborne Mädchenstolz ist für Heyse das Schönste in der Natur. Eine ganze Gruppe seiner Novellen könnte die Ueberschrift »Mädchenstolz« führen. Kierkegaard nennt irgendwo das Wesen des Weibes eine Hingebung, deren Form Widerstand ist. Dies ist wie aus Heyse's Herzen gesprochen, und dieser Widerstand ist es, der als Merkmal der adeligen Natur ihn interessirt und bezaubert. Es ist das ewig Festungsartige im weiblichen Gemüth, das ihn fesselt, das Sphinxartige, dessen Räthsel er immer wieder errathen muss. Der süsse Kern ist doppelt süss in seiner harten Schale, der feurige Champagner doppelt heiss in seiner Umwallung von Eis. Es liegt um die weibliche Natur, wie Heyse sie schildert (von L'Arrabbiata bis Julie und Irene im »Paradies«) ein Eispanzer, der verbirgt, abweist, irre führt, zerbricht und schmilzt. Die Frau behauptet ihren Adel, indem sie so lange wie möglich sich weigert, ihr Ich aus den Händen zu geben, indem sie den Schatz ihrer Liebe aufspart und aufbewahrt. Sie erhält sich ihren Adel, indem sie ihr Ich ausschliesslich in die Hände eines Einzigen legt und der übrigen Welt gegenüber abweisend dasteht. Sie ist keiner blinden Macht unterworfen. Ist der Mädchenstolz gebrochen und besiegt, so findet sie sich selbst auf der anderen Seite des Schlundes, und gibt sich frei, naturfrei möchte ich sagen. Nie kommt bei Heyse eine Verführung vor; wird eine solche ein einziges Mal als vergangenes Ereigniss erwähnt (»Mutter und Kind«), so dient sie nur dazu, die stolze Selbstbehauptung und die ebenso stolze, bewusste Selbsthingebung in das schärfste Licht zu stellen.
Diese Selbstbehauptung, diese Widerstandskraft (Rabbia) wird in der Schilderung aufs mannichfaltigste variirt: Atalante in dem Drama »Meleager« hat die ganze frische Wildheit des Amazonentypus; sie zieht das Leben und das Spielen in der freien Natur, Wettlauf, Speerkampf und das Geschäft des Waidwerks weichlicher Zärtlichkeit und schmeichelnder Liebkosung, den Siegeskranz dem Brautkranze vor. In Syritha wird die erste Schamhaftigkeit, die aufgescheucht von der Hochzeit entflieht, geschildert; in L'Arrabbiata der Mädchenstolz, der es weiss, wie nahe bei der schüchternen Bitte in der Seele des Mannes das rohe Verlangen liegt; im Mädchen von Treppi die instinctive Weigerung der Jungfräulichkeit; in Marianne (»Mutter und Kind«) der Frauenstolz, der bei dem sogenannten gefallenen Weibe sich unter dem Gefühl der unverschuldeten Schmach verdoppelt; in Madeleine (»Die Reise nach dem Glück«) das Pflichtgefühl gegen den von Kindheit an eingeprägten Sittlichkeitsbegriff; in Lore (»Lorenz und Lore«) das Schamgefühl des jungen Mädchens, dem Angesichts des Todes das Liebesgeständniss entschlüpft ist; in Lottka die melancholische Verschlossenheit im Gefühl angeerbter Erniedrigung; im schönen Kätchen der verzweifelte Unwille darüber, Allen zu gefallen, welcher alle Bewunderer und die eigene Schönheit zum Kukuk wünscht; in Lea die Scheu des entwickelten und reservirten Weibes, ihre Schwäche ahnen zu lassen; in Toinette der Abscheu des eingefrorenen Herzens, eine Leidenschaft zu heucheln, die es noch nicht fühlt; in Irene die Sittenstrenge einer kleinen Prinzessin; in Julie die Kälte einer Cordelianatur – bis der Augenblick kommt, da alle diese Bande gesprengt werden, da alle diese Herzen flammen, da der Männerhass der Amazone und die Schüchternheit des Mädchens und die Schamhaftigkeit der Jungfrau und der Stolz der Frau und die Pflicht der Strengerzogenen und die Schwermuth der Erniedrigten und die Hülle der Schneekönigin, Alles, Alles als Holz eines einzigen ungeheuren Scheiterhaufens in süssem Rauch auf dem Altare des Liebesgottes aufgeht.
Denn nicht im Widerstande, der nur Form und Schleier ist, sondern in der Hingebung sieht Heyse das Wesen des Weibes und ihre wahre Natur; und Naturanbeter, wie er ist, preist er Eros als den Unwiderstehlichen, der alle Schranken durchbricht. Das Weib bereut es nie, sich seiner Macht unterworfen zu haben, aber es kann seinen Trotz bereuen. Bettina sagt irgendwo in ihren Briefen ungefähr so: »Die Erdbeeren, die ich pflückte, hab' ich vergessen, aber die, welche ich stehen liess, brennen mir noch auf der Seele.« Heyse hat mehr als eine Variation dieses Themas gegeben: nachdem das Mädchen von Treppi sieben Jahre hindurch ihre jugendliche Sprödigkeit bereut hat, überwindet sie, als der Geliebte durch einen Zufall wieder in ihr Dorf kommt, kraft einer begeisterten und abergläubischen Ueberzeugung von der Macht und dem Recht ihrer Liebe, alle äusseren und inneren Hindernisse, die sich ihrem Glücke in den Weg stellen, sogar die Gleichgültigkeit und die Kälte des Zurückgekehrten. Madeleine in der »Reise nach dem Glück« hat, wie oben erwähnt, in einer Nacht ihren Geliebten von ihrer Thür fortgewiesen, und da er in der Finsterniss wegreisen muss, ist er mit dem Pferde gestürzt und auf der Stelle gestorben. Die Reue über ihren Trotz gegen die Liebe lässt ihr keine Ruhe: »Was half mir meine Tugend?« sagt sie; »sie war heil und ganz, und durchaus nicht fadenscheinig, und doch fror mich darin bis in's innerste Herz« G. W. V, 197.. Doch nicht genug damit, dass sie es bereut, der conventionellen Moral gefolgt zu sein: das Bild des Todten verfolgt sie Jahr aus Jahr ein; eifersüchtig scheint er über sie zu wachen. Jedes Mal in ihrem Leben, wenn sie glaubt, das Geschehene vergessen und das Glück aufs neue finden zu können, hört sie den Finger des Todten an die Thür klopfen, wie er klopfte in der Nacht, als er abgewiesen wurde. Streng straft Eros den, der nicht auf seinem Altare opfert. Und Heyse führt in anderen Dichtungen diesen Gedanken noch weiter aus. Hier hat der abgewiesene Liebhaber den Tod doch nur als zufällige Folge der Strenge gefunden, welche die Heissbegehrte gegen ihn erwiesen hat. Lasst uns den Fall setzen, dass er sich nicht als Bittender, sondern als Gewaltthäter nähert, und dass der Widerstand des stolzen Weibes statt auf einem Pflichtgefühl zu beruhen, das die Versuchung besiegt, nur Nothwehr gegen eine gefürchtete Ueberrumpelung ist, was dann? Auch dann straft Eros wie ein eifriger Gott. Das Drama »Die Sabinerinnen« hat Heyse augenscheinlich um eines einzigen Charakters willen geschrieben. Wie konnte er sonst darauf verfallen, diesen für die Tragödie so wenig geeigneten, rein burlesken Stoff sich zu tragischer Behandlung zu wählen! Jener Charakter ist Tullia, die sabinische Königstochter. Von einem römischen Krieger geraubt, in seinem Hause eingeschlossen, tödtet sie ihn, da er in der Brautnacht es wagt, sich ihr zu nähern. Wenn ein tragisches Leid jetzt als Rache der Römer die Tollkühne träfe, würde sich Niemand darob wundern; aber die psychologische Pointe ist in Uebereinstimmung mit der ganzen Erotik Heyse's die, dass sie durch Ermordung ihres Gatten die erwachenden Triebe ihres eigenen Herzens zu tödten versucht und sich dadurch irreligiös gegen Eros empört hat.
Er neigte
Sein Angesicht herab zu meiner Stirn,
Dass mich des Athems Hauch umrieselte
Und seine leise Stimme mir wie Gift
Schleichend durch alle Adern rann.
Jetzt schaudert sie mit zersplitterter Seele über ihre so echt weibliche, so tief berechtigte That. Die Erscheinung des Todten verfolgt sie überall, aber noch mehr als der Anblick seiner Leiche die Erinnerung an seine Liebkosungen. Nur Tag und Nacht, sagt sie, ist's her, dass jene That vollbracht wurde, und doch liegt's hinter mir wie tausend Jahre und tausend Tode. Eins nur ist gegenwärtig und ich werd' es immer empfinden: sein Kuss auf meiner Wimper, seine Hand in meiner. Gegen den Schluss spricht sie dann zu ihrer Schwester die Grundidee des Stückes in diesen Worten aus:
Flieh' vor der Liebe nicht,
Sie holt dich dennoch ein. Geh' ihr entgegen
Und beuge dich vor ihr. Denn tödtlich zürnt sie
Dem, der ihr trotzt, und saugt das Blut ihm aus.
Hat nicht der grimme Gott die Jungfrau'n alle
Sich unterworfen? Ich allein, o Schwester,
Entgelt' es, dass ich frei mich aufgelehnt
G. W. IX, 73 ff..
Selbst den Gewaltthäter kann die Jungfrau nicht hassen. Er brach den Frieden; aber was thut Liebe anders? Er überlistete; aber die Liebe ist listig. Er höhnte; aber spottet nicht die Liebe selbst des Gewaltigsten und Freiesten? Mit andern Worten: ist nicht Eros selbst ein Gewaltthäter ohne Scheu und Scham, ein Verbrecher, der alle herkömmlichen Gesetze sprengt?
Alle? Das ist zu viel gesagt. Heyse hat wohl bisweilen, wie in den angeführten Fällen, eine an Kleist erinnernde Neigung zu rein pathologischen erotischen Problemen, aber er ist allzu harmonisch angelegt, allzu reif und allzu deutsch-national, um ohne weiteres die Leidenschaft als Ordnung und Gesetz der Gesellschaft durchbrechend zu schildern. Er ist entwickelt genug, um einzusehen, dass die Gesetze der Leidenschaft und die Gesetze der Gesellschaft zwei höchst ungleichartige Dinge sind, die sehr wenig mit einander gemein haben; aber er bezeigt letzteren den Respect, den sie verdienen, d. h. einen bedingten. Seit seiner frühesten Jugend hat es ihn gereizt und gelockt, die nur relative Wahrheit und den nur bedingten Werth dieser Gesetze darzustellen, Fälle zu erdichten, wo sie auf solche Weise übertreten werden, dass die Ausnahme gegen die Regel Recht zu haben scheint, und sogar der verhärtetste Spiessbürger sich bedenken wird, hier zu verurtheilen. In seiner Besorgniss, der Ausnahme volles, unumstössliches Recht zu geben, hat Heyse bisweilen – wie in seinem ersten, in die gesammelten Werke nicht aufgenommenen, Drama »Francesca von Rimini« – völlig barocke Ausnahmen aufgesucht; aber durchgehends ist es sein Bestreben, den Fall so mit Pallisaden zu umzäunen, dass kein Sturmlauf der gewöhnlichen Moral diese Schutzwehr umstürzen könne. Wenn Goethe Egmont und Clärchen zusammenführt, stellt er das Verhältniss nicht dar, als ob es einer Entschuldigung bedürfe; das Verhältniss wird durch seine Schönheit vertheidigt. Heyse, der minder grossartige, ebenso vorsichtige als kühne Dichter, hat immer ein Auge auf die conventionelle Moral geheftet und bestrebt sich stets, sie zu versöhnen, entweder dadurch, dass er ihr so zu sagen Recht gibt in allen andern Fällen, als eben diesem einen, wo ihre Uebertretung unvermeidlich war, oder dadurch, dass er das Vergehen wider die Sittenlehre sühnt, indem die Persönlichkeit mit Wissen und Willen das verbotene Glück um einen so hohen Preis erkauft, dass es so theuer bezahlt keinen Philister locken würde.
In »Francesca von Rimini« liegt der Fall so: Lanciotto ist hässlich, roh und verderbt, sein Bruder Paolo edel und schön. Lanciotto entbrennt leidenschaftlich für Francesca. Durch Bruderliebe zu dem durchaus unwürdigen Lanciotto verleitet, hat sich Paolo dazu missbrauchen lassen, nicht nur als Liebeswerber, sondern sogar auf dem Hochzeitstage als Bräutigam verkleidet, den Bruder zu vertreten, welcher befürchtet, dass seine Hässlichkeit nie das Jawort des Mädchens erringen könne. Erst im Dunkel des Brautgemachs wagt Lanciotto sich seiner Braut zu nähern. Aber auch Paolo liebt Francesca, wie sie ihn wieder liebt. Es ist also kein Wunder, dass die junge Frau, als sie den plumpen Betrug entdeckt, dessen Beute sie geworden, sich durch die Liebkosungen ihres Gatten entehrt fühlt, und weit entfernt davon, ihre Liebe zu Paolo als Sünde zu betrachten, sie als berechtigt und heilig ansieht.
Der Kuss von Deinem Munde war die Hostie
Die den entehrten Mund mir neu gereinigt.
Um seine Verschanzung recht tüchtig zu bauen, hat also der Dichter in dieser naiven Jugendarbeit sich den unmöglichsten, an den Haaren herbeigezogenen Fall construirt; denn was kann ungereimter sein, als dass Paolo aus purer einfältiger Gutmüthigkeit gegen einen verächtlichen Bruder seine Geliebte dem gemeinsten Betruge preisgibt, der noch dazu sein eigenes Lebensglück vernichtet. Aber man findet in diesem grellen Beispiel den Typus, nach welchem in Heyse's so zahlreichen späteren tactvollen und feinen Arbeiten die moralische Collision construirt wird. Ich greife auf's Gerathewohl einige Beispiele heraus: in »Beatrice« ist die gesetzliche Ehe, welche die Liebesgeschichte durchbricht, eine Zwangsehe, ebenso unheilig wie die Ehe Francesca's, obschon besser motivirt. In »Cleopatra« wehrt der junge Deutsche sich so hartnäckig gegen die Liebe der schönen Aegypterin, wie Graf Wetter von Strahl bei Kleist sich gegen die Leidenschaft des Käthchens von Heilbronn. Erst als die Sehnsucht nach ihm Cleopatra dem Tode nahe bringt, entsteht zwischen ihnen das Liebesverhältniss. Die stolze Gabriele, in der Novelle »Im Grafenschlosse«, lässt sich erst dann zu ihrer »Gewissensehe« mit dem Grafen überreden, als er sein Leben ihretwillen aufs Spiel gesetzt hat. Die junge Frau in »Rafael« erkauft sich einige Stunden des Zusammenseins mit dem Geliebten für lebenslängliche Einsperrung in's Kloster; die Hingebung Garcinde's und Lottka's wird geadelt, indem das nach aussen gebundene, aber innerlich freie Ich sich eine Hingebung, welche die Verhältnisse verbieten, unter keiner anderen Bedingung denken kann, als unter der, dass sie den Tod zur Folge hat. Das Anrecht zum Glücke eines flüchtigen Augenblicks wird durch Selbstmord erworben.
Den Glücksbecher, den diese Persönlichkeiten leeren, hat ihr Schicksal mit Gift gewürzt. Heyse behauptet mithin für diese heroischen Seelen das Recht, einen Streit der Pflichten anders zu lösen, als »der ängstliche, von kleinen Gewohnheiten und Rücksichten eingeengte Mittelschlag der Philister« es zu thun pflegt, und in der Einleitung zu seiner »Beatrice« G. W. VIII, 168. hat er selbst seine ethische Ketzerei mit diesen Worten theoretisch formulirt: »Geniale Naturen, die auf sich selbst beruhen, erweitern durch ihre Handlungen, indem sie das Maass ihrer innern Kraft und Grösse als ein Beispiel vorleuchten lassen, eben so sehr die Grenzen des sittlichen Gebiets, wie geniale Künstler die hergebrachten Schranken ihrer Kunst durchbrechen und weiter hinausrücken. Und was an Uebermaass und Uebermuth des Selbstgefühls in jenen heroischen Seelen sich rühren mag, wird es nicht eben durch den tragischen Untergang geläutert und gebüsst?«
Nicht weniger als durch diese immer nahe liegende Association mit Untergang und Tod adelt Heyse die Liebe, legitim oder illegitim, wie oben berührt, durch die Art der Hingebung. Sie ist immer bewusst. Diese Weiber lassen sich nie hinreissen, sie verschenken sich als eine freie Gabe – wenn sie sich überhaupt verschenken. So schon in Arbeiten aus Heyse's früher Jugend, wie »Der Kreisrichter« G. W. VI, 71: »Ich bin einmal in meinem Leben verkauft worden. Wie wollen die Menschen mich nun schelten, wenn ich mich verschenke, um jene Schmach zu verschmerzen!«, so in »Rafael«, in »Lottka« und so vielen andern Novellen in Prosa und Versen. Ueberall ist die Selbstherrlichkeit und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gewahrt. Frei gibt das Weib sich dem Geliebten hin, frei geht es der Vernichtung entgegen oder gibt sich mit eigner Hand den Tod, und wo das Liebesglück nicht geadelt wird durch den Preis, den es kostet, da wird es wenigstens durch den Stolz, womit es verschenkt und genossen wird, erhöht. Kraft dieses Stolzes fühlt sich die Persönlichkeit, selbst von der stärksten Naturmacht beherrscht, unabhängig und souverän in dem Behaupten ihrer Herrscherwürde. In dem Roman »Im Paradiese« hat Heyse aber zum ersten Male principiell die Freiheit der Liebe im Gegensatz zu den Gesetzen der Gesellschaft als Problem behandelt und als Recht vertheidigt. Die Grundidee des Romans ist keine andere als die, dass die Sittlichkeit und Würde der Liebe zwischen Mann und Frau von der äusseren Bestätigung des Ehebandes unabhängig sei. Nach seiner Gewohnheit hat Heyse den hier gegebenen Fall mit den kräftigsten Beweggründen versehen: Jansen kann nicht, ohne seinen Freund zu beschämen, von seiner verächtlichen Frau sich befreien, und ohne Julie wird er als Künstler und Mensch verkümmern. Doch als Julie in der Gegenwart aller Freunde, mit dem Myrthenkranze geschmückt, sich frei mit Jansen vermählt, wird ganz entschieden ein Angriff auf die rein äussere Moral der Gesellschaft gerichtet, obwol der Vorgang nicht als Beispiel zur Nachfolge hervortritt. Der Dichter, der in »Kinder der Welt« seinen Zeitgenossen es eindringlich an's Herz legte, dass die Moralität des Einzelnen nicht von seinen metaphysischen Ueberzeugungen abhänge, hat im »Paradiese« lehren wollen, dass die Reinheit und Würde eines Liebesverhältnisses sich nicht nach dem äussern Sittengesetze beurtheilen lasse, sondern dass die Liebe ausserhalb und innerhalb der Ehe wahr und unwahr, sittlich und unsittlich sein könne. Auf den Adel des Herzens kommt bei ihm Alles an.
Ich habe schon gesagt, dass Heyse als Dichter unmittelbar von Eichendorff ausgeht. Wie der Held in seiner Novelle »Ein Abenteuer«, scheint er in seinen ersten Wanderjahren sich den romantischen »Taugenichts« zum Begleiter erwählt zu haben. Wo er in einer seiner Novellen (Lottka) sich selbst als Jüngling einführt, singt er in der Eichendorff'schen Tonart, und man erkennt, dass er sehr früh die romantischen Melodien mit seltener Geläufigkeit nachgepfiffen. In der Sammlung romantischer Kindermärchen, die er als Schüler unter dem Titel »Der Jungbrunnen« herausgab, ist Musje Morgenroth ein leiblicher Bruder des berühmten Eichendorff'schen Helden. Das Buch ist die Arbeit eines Kindes, hat aber doch ein gewisses Interesse, da es den ersten Standpunkt des Dichters bezeichnet. Man sieht auch daraus, mit welchen Gaben er von Anfang an ausgerüstet war: die knabenhafte aber nie geschmacklose Prosa fliesst leicht, und die Verse, die bedeutend höher stehen, sind mit all' ihren Nachklängen unaffectirt, sicher geformt und frisch. Er singt nach, aber er singt rein; es ist die gewöhnliche romantische Tonart, aber mit jugendlicher Frische und Anmuth angeschlagen. In den Flegeljahren naiv zu produciren, heisst schon ein Phänomen sein, und die ungewöhnliche angeborne Herrschaft über die Sprache sichert den dichtenden Schüler gegen Forcirtheit und Manier. Der, wie es scheint vom Vater, dem bekannten Philologen, ererbte Sprachsinn entwickelt sich bei dem Sohne zu einer Sprachfertigkeit, einer Leichtigkeit, mit Worten und Rhythmen umzuspringen, die schon im ersten Jünglingsalter nicht weit von Virtuosität entfernt war. Diese fast Rückertsche Sprachfertigkeit bedingte als ein Grundelement in Heyse's Begabung die übrigen Eigenthümlichkeiten, die er nach und nach entwickelt hat. Er sang von Anfang an, nicht weil er mehr auf dem Herzen hatte, als alle Uebrigen, sondern weil es ihm weit natürlicher und leichter als Andern fiel das auszusagen, dessen sein Herz voll war. Da nicht starke innere Umwälzungen oder eingreifende äussere Begebenheiten erforderlich waren, um seine Lippen zu öffnen, wie sonst wol, um die Erzeugungslust derer zu wecken, denen die Formfindung schwierig ist und denen es nur in den Augenblicken der Leidenschaft gelingt, die Schätze des Innern an's Tageslicht zu heben, so blickte er nicht nach Innen, sondern nach Aussen, grübelte nur wenig über sein Ich, seinen Beruf und seine Fähigkeiten, sondern sich wohl bewusst, dass er in seiner Seele einen klaren Spiegel trug, der aus der Umgebung Alles auffing, was ihn ansprach, liess er mit der Empfänglichkeit und dem Schaffensdrange eines bildenden Künstlers den Blick nach allen Seiten umher schweifen.
Eines bildenden Künstlers, sagte ich; denn nicht lange fuhr er fort, die romantische Musik anzustimmen. Er hat selbst gesagt:
Schön ist romantische Poesie,
Doch was man nennt beauté de nuit.
Die rechten Männer, meint Heyse, verstehen ihre Gedanken à jour zu fassen, und er ist in allzu hohem Grade ein Sonnenkind, als dass er im romantischen Zwielicht hätte stehen bleiben können. Lyriker war er überhaupt nicht, und die Romantik hatte naturgemäss und nothwendig ihre Stärke in der Lyrik. Die Naturumgebungen flössten ihm auch kein selbständiges poetisches Interesse ein; eine solche Frische des Meeres und der Landschaft, wie sie z. B. die dänischen Novellen Blicher's überhaucht, wird man in den seinen nicht finden; er ist kein Landschafter und hat stets die Landschaft nur als Hintergrund benutzt. Was am ersten und frühesten seinem Blicke begegnete, sobald er genug entwickelt war um mit eigenen Augen zu sehen, war der Mensch; und wolgemerkt, nicht der Mensch als eine von Organen bediente Intelligenz, oder als ein auf zwei Beinen gehender Wille, oder als psychologische Merkwürdigkeit, sondern als plastische Gestalt. Zu allererst hat er, nach meiner Auffassung, ganz wie der Bildhauer oder der Gestaltenmaler, sobald er seine Augen schloss, seinen Gesichtskreis mit Conturen und Profilen bevölkert gesehen. Schöne äussere Formen und Bewegungen, die Haltung eines anmuthigen Kopfes, eine reizende Eigenthümlichkeit in Stellung oder Gang haben ihn ganz auf dieselbe Weise beschäftigt, wie sie den bildenden Künstler erfüllen, und sind von ihm mit derselben Vorliebe, ja bisweilen fast mit technischen Ausdrücken wiedergegeben worden. Und nicht nur der Erzähler, auch die auftretenden Personen fassen oft genug auf dieselbe Weise auf. So sagt z. B. die Hauptperson in der Novelle »Der Kreisrichter«: »Die Jugend hier ist gesund, und das ist in jungen Jahren die halbe Schönheit. Auch haben sie noch Race. Achten Sie auf die feine Form der Köpfe, und die zarte Bildung der Schläfen, und im Gang und Tanz und Sitzen die natürliche Anmuth G. W. VI, 40..« Ein schlagendes Beispiel dieser Art des Dichters zu sehen, findet man in der Novelle »Die Einsamen«, wo sein Missmuth darüber, mit den Mitteln seiner Kunst nur so unvollkommen malen zu können, folgendermaassen zu Worte kommt: »Nur den Umriss! wüthete er vor sich hin, ein paar Dutzend Linien nur! Wie sie auf dem Eselchen einhertrabt, das eine Bein über den Rücken des Thieres, flach und sicher ruhend, das andere mit der Spitze des Fusses fast den Boden streifend; und den rechten Ellenbogen auf das ruhende Knie niedergestützt, die Hand leicht unter dem Kinn, mit der Halskette spielend, das Gesicht hinausgewendet nach dem Meer; welche Last schwarzer Flechten im Nacken! Es leuchtet roth darin; ein Korallenschmuck – nein, frische Granatblüthen. Der Wind spielt mit dem lose angeknüpften Tuch; wie dunkel brennt die Wange, und wie viel dunkler das Auge G. W. VI, 5.!«
Es sind solche Bilder plastische Figuren, einfache malerische Situationen, mit denen die Phantasie Heyse's von Anfang an operirt hat, und die ihren einen Ausgangspunkt bilden. Und ob man noch so sehr fühlt, wie viel vernünftiger es ist, einen Dichter zu schildern als ihn zu loben, so kann man doch nicht einen Ausbruch der Bewunderung darüber zurückhalten, wie vorzüglich es überall Heyse gelungen ist, seine Gestalten, freilich besonders die Frauengestalten, dem Auge darzustellen. Er gehört nicht zu der beschreibenden Schule, er charakterisirt nicht weitläufig, weder wie Balzac noch wie Turgenjew, sondern schildert mit wenigen Zügen; aber seine Gestalten bleiben uns doch in der Erinnerung, und aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie alle Styl haben. Ein Bauermädchen aus Neapel oder Tyrol, ein Dienstmädchen oder ein junges Fräulein aus Deutschland erhalten, von ihm gemalt, ein höheres, unwirkliches und doch unvergessliches Leben, weil sie alle durch die streng idealistische Methode und Kunst der Darstellung geadelt sind. Sie sind formvollendet wie Statuen, sie haben eine Haltung wie Königinnen. Niemand, ausser dem Maler Leopold Robert, an den einige von Heyse's italienischen Arbeiten erinnern, hat meines Wissens einen so grossen Styl in der Zeichnung von Bauern und Fischern an den Tag gelegt. Und wie die Formen der äusseren Gestalt, so sind diejenigen des Gemüthslebens stylvoll. Wenn der Ausdruck nicht allzu gewagt wäre, möchte ich sagen, dass Heyse die Liebe plastisch schildert. Die Romantiker fassten sie immer lyrisch auf. Vergleicht man aber die Liebesnovellen Heyse's mit romantischen Liebesnovellen, so wird man finden, dass, während die Romantiker ihre Stärke darin haben, die romantische Entzücktheit als solche zu analysiren und den seltsamsten, sonst namenlosen Stimmungen Namen zu geben, sich bei Heyse gleich jedes psychologische Moment in einer Miene oder Geberde spiegelt; Alles wird bei ihm gleich Anschauung und sichtbares Leben.
Ich bemerkte, dass die Fähigkeit, Gestalten festzuhalten und zu idealisiren, den einen Ausgangspunkt der Phantasie dieses Dichters bilde. Sie hat noch einen andern. Gewiss fast eben so ursprünglich wie seine Fähigkeit, Charaktere darzustellen, ist seine Lust »Abenteuer« zu erleben und zu erdichten. Unter Abenteuern verstehe ich Begebenheiten eigenthümlicher, ungewöhnlicher Art, die – was bei wirklichen Abenteuern fast nie der Fall ist – eine sichere Contur, einen so bestimmten Anfang, Mitte und Schluss haben, dass sie der Phantasie wie ein von einem Rahmen umschlossenes Kunstwerk erscheinen. Aus irgend einer äusseren oder inneren Beobachtung – dem Fragmente eines Traumes, einer Begegnung auf der Strasse, dem Anblick der mittelalterlichen Thürme einer alten Stadt im Abendsonnenschein – entspringt ihm durch die rapideste Ideenassociation eine Geschichte, eine Verkettung von Begebenheiten, und da er so streng künstlerisch angelegt ist, nimmt diese Begebenheitsreihe stets eine rhythmische Form an. Sie hat deutliche, feste Umrisse und inneres Gleichgewicht wie die Gestalten. Sie hat ihr Knochengerüst, ihre Fleischesfülle, vor Allem ihre wohlmarkirte und schlanke Taille. Die Fähigkeit, eine Geschichte in knapper und geschlossener Form mitzutheilen, sie so zu sagen harmonisch zu rhythmisiren, entspringt unmittelbar aus Heyse's durch und durch harmonischer Natur. Die Novellenform, wie er sie zugeschnitten und ciselirt hat, ist eine völlig, originale und selbständige Schöpfung, sein wahres Eigenthum. Darum ist er auch besonders durch die Prosanovelle populär geworden. Seine Novelle hat immer äusserst wenige und einfache Factoren, die Anzahl der Personen ist gering, die Handlung gedrängt und mit einem einzigen Blick überschaubar. Aber die Fabel ist nicht allein um der Personen willen da, wie in den modernen französischen Novellen, die nur ein psychologisches oder physiologisches Interesse befriedigen wollen; sie hat ihren eigentümlichen Entwicklungsgang und ihr selbständiges Interesse. Eine Novelle wie die durch die altväterliche Anmuth des Styls so reizende »Abendscene« Christian Winther's Heyse und Kurz, Novellenschatz des Auslandes, Bd. VIII. hat den Mangel, dass nichts in ihr geschieht. Die Novelle ist bei Heyse nicht ein kleines Zeitbild oder Genrebild; es geschieht Etwas, und es geschieht immer etwas Unerwartetes. Die Handlung ist in der Regel so angelegt, dass an einem gewissen Punkt ein unvorhergesehener Umschlag eintritt, eine Ueberraschung, die, wenn der Leser zurückdenkt, sich immer als in dem Vorhergehenden gründlich und sorgfältig motivirt erweist. An diesem Punkt spitzt sich die Handlung zu; hier laufen ihre Fäden in einen Knoten zusammen, aus welchem sie in entgegengesetzter Richtung sich weiter spinnen. Der Genuss des Lesers beruht auf der Kunst, womit der Zweck, den die Handlung erstrebt, gradweise immer mehr und mehr verschleiert und verdeckt wird, bis die Hülle plötzlich fällt. Seine Ueberraschung beruht auf der Gewandtheit, mit welcher er anscheinend mehr und mehr von dem gerade über dem Ausgangspunkt liegenden Endpunkte entfernt wird, bis er schliesslich entdeckt, dass er in einer Spirallinie geführt worden ist und sich direkt über dem Punkte, wo die Erzählung anfing, befindet.
Heyse hat selbst in der Einleitung zu seinem »Deutschen Novellenschatz« sich über das Princip ausgesprochen, dem er in der Novellencomposition huldigt. Hier, wie in der Einleitung zur »Stickerin von Treviso«, macht er denen gegenüber, die das ganze Gewicht auf Styl und Vortrag legen wollen, darauf aufmerksam, dass die Erzählung als Erzählung, was Kinder die Geschichte nennen, doch die nothwendige Grundlage der Novelle ist und bleibt und ihre eigenartige Schönheit hat. Er betont, dass er nach seiner Aesthetik der Novelle den Vorzug gebe, deren Grundmotiv sich am deutlichsten abrundet und – mehr oder weniger gehaltvoll – etwas Eigenartiges, Specifisches schon in der ersten Anlage verräth. » Eine starke Silhouette«, fährt er fort, »dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinn Novelle nennen, nicht fehlen Heyse und Kurz, Deutscher Novellenschatz. Bd. I, S. XIX..« Mit dem Ausdruck Silhouette meint Heyse den Grundriss der Geschichte, wie eine gedrängte Inhaltsangabe ihn nachweist, und er veranschaulicht durch ein treffendes Beispiel und eine treffende Bezeichnung seinen Gedanken. Er führt die Inhaltsangabe einer Novelle Boccaccio's an:
»Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all' seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er gethan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht.«
Heyse hebt hervor, dass in diesen wenigen Zeilen alle Elemente einer rührenden und erfreulichen Novelle liegen, in der das Schicksal zweier Menschen durch eine äussere Zufallswendung, die aber die Charaktere tiefer entwickelt, auf's liebenswürdigste sich vollendet, und er fordert darum auch den modernen Erzähler auf, selbst bei dem innerlichsten oder reichhaltigsten Stoffe sich zuerst zu fragen, wo »der Falke« sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend andern unterscheidet.
Er hat in der Forderung, die er an die Novelle richtet, insbesondere die Aufgabe charakterisirt, die er sich selbst gestellt und die er erfüllt hat. Er zieht den bizarren Fall dem typisch alltäglichen vor. Man kann in der Regel so sicher sein in seinen Prosaerzählungen einen »Falken« zu finden, wie jener Untersuchungsrichter es war, hinter jedem Verbrechen eine Frau zu entdecken. In »L'Arrabbiata« ist der Biss in die Hand der »Falke«, im »Bild der Mutter« die Entführung, in »Vetter Gabriel« der aus dem »Briefsteller für Liebende« abgeschriebene Brief. Der Leser kann, wenn er selbst bei Heyse nach besagtem wilden Vogel suchen will, sich einen Einblick in die Compositionsweise des Dichters verschaffen. Nicht immer ist er so leicht zu fangen, wie in den angeführten Fällen. Mit einer Erfindsamkeit, einer behenden Grazie, die bei einem Nicht-Romanen äusserst selten ist, hat Heyse es verstanden, den Knoten der Ereignisse zu schürzen und zu entwirren, das psychologische Problem zu stellen und zu lösen, das er in der Novelle isolirt. Er vermag den einzelnen eigentümlichen Fall rein und scharf novellistisch von dem allgemeinen Cultur- und Gesellschaftszustande, in welchem er ein Glied ist, abzuheben, ohne wie die romantischen Novellendichter, den Vorgang ins Unwirkliche und Märchenhafte hinüberspielen und ohne ihn jemals in eine blos epigrammatische Pointe auslaufen zu lassen. Seine Novellen sind weder kurze Romane, noch lange Anekdoten. Sie haben, zugleich Fülle und streng geschlossene Form. Und so knapp diese Form auch ist, hat sie sich doch geschmeidig genug erwiesen, um den verschiedenartigsten Stoff in sich aufnehmen zu können. Die Novelle Heyse's schlägt viele Saiten an, wol am häufigsten die zarten und seelenvollen, aber auch die komischen (wie in dem amüsanten Schwank »Die Wittwe von Pisa«), die phantastischen (wie in der Hoffmanniade »Cleopatra«), ja ein vereinzeltes Mal die schaurigen (in dem peinlichen Nachtstück »Der Kinder Sünde der Väter Fluch«). Die Novelle, wie er sie behandelt, grenzt an die Gebiete Alfred de Musset's, Mérimée's, Hoffmann's und Tieck's, hat aber doch ihre ganz besondere Domäne, wie ihr ganz eigenthümliches Profil.
Indessen, so willfährig ich bin, die Bedeutung jenes scharfen Profils als individuelles Merkmal der Heyse'schen Novelle und die Bedeutung desselben für die Novelle als Kunstart anzuerkennen, so schwer fällt es mir, dasselbe als entscheidende Norm für die Schätzung der einzelnen Erzählung gelten zu lassen.
Die Novelle ist ja, wie jedes Kunstwerk, ein Organismus, in welchem schöne, von einander relativ unabhängige Verhältnisse höchst verschiedener Art zum Totaleindrucke beitragen. Wir verweilten bei den Charakteren und der Handlung; der Styl ist das dritte Element. Nach meiner Ueberzeugung sind diese drei Elemente einander nicht untergeordnet, sondern nebengeordnet, und jedes von ihnen bereitet, wenn es zur Meisterschaft entwickelt ist, dem Leser einen gleich vollkommenen Genuss.
Ganz gewiss kann, wie Heyse hervorhebt, die einseitige Entwicklung des Vortrags zu geistreichen Capriccios ohne Thema führen; wer aber allzu grosses Gewicht auf »die Geschichte« legt, kann ja auf der anderen Seite der blosen Unterhaltungsliteratur verfallen.
»Frühlingsfluthen« von Turgenjew ist eine Novelle, deren Handlung unbefriedigend verläuft – den Styl im engeren Sinne kann ich nicht beurtheilen, da ich die Erzählung nicht in der Originalsprache las – aber bedeutet dieser Mangel viel bei einem solchen Meisterwerk individueller Charakterzeichnung? Wiegt die Schilderung der italienischen Familie nicht an und für sich jede Unvollkommenheit in der Motivirung der Begebenheiten auf? Was thut es, dass der Leser vielleicht sich den Schluss lieber anders vorstellt und nicht zum zweiten Mal lesen mag, wenn er drei viertel der Novelle mit dem gleichen Genuss immer wieder liest?
Blicher's »Tagebuch eines Dorfküsters« ist eine Novelle, in welcher die Handlung wenig zu bedeuten hat und die meisten Charaktere durch ihre Rohheit abstossend wirken; aber sie ist deshalb doch ein Werk von höchstem Kunstwerthe, ihre Hauptstärke liegt im Style, in der meisterhaft durchgeführten, fast zweihundert Jahre alten Sprachweise des braven Küsters. Diese Sprachweise ist uns eine Bürgschaft für die schneidende Wahrheit der Erzählung, eine Wahrheit, zu der man nicht auf dem Wege des Idealismus gelangt, und die darum von Heyse weder gesucht, noch erreicht wird, ich meine jene Wahrheit, die von den Franzosen als »la vérité vraie« bezeichnet wird.
Und könnte man nicht Heyse mit seinen eigenen Waffen schlagen? Ich glaube es. Er will mit seiner Betonung dessen, was die Novelle in der Novelle ist, zugleich gegen die Ueberschätzung des Styls und des ideellen Gehalts Front machen. Aber von allen seinen versificirten Novellen scheint mir »Der Salamander« am höchsten zu stehen, von seinen Prosanovellen ist »Der letzte Centaur« mir eine der liebsten, und jene scheint mir wegen des Vortrags, diese wegen der Idee den Preis davonzutragen.
Man gebe sich keine Mühe damit, im »Salamander« nach einem »Falken« zu suchen; Handlung gibt es da nicht, die Charaktere entwickeln sich so gut wie gar nicht, und doch wird jeder empfängliche Leser unter dem Einflusse des Zaubers dieser Terzinen einen so lebhaften Genuss empfinden, dass es ihm vorkommt, als hätte das Gedicht ausser seinen eigenen Vorzügen noch alle die, die ihm abgehen. Von der epischen Ruhe, von dem objectiven Styl, der Heyse's eigentliches Ideal im Novellenfach ist, wird man hier nicht viel finden. Diese epische Ruhe passt vielleicht überhaupt weniger für den unruhigen Geist unserer Zeit. Vollständig ist die Verwirklichung dieses Ideals Heyse wol eigentlich auch nur gelungen in den wenigen Prosanovellen, die das moderne Culturleben gar nicht berühren, wie in den genialen Pastichen aus der Vorzeit: »Die Stickerin von Treviso« und »Geoffroy und Garcinde«, wo der edel einfältige Styl der altitalienischen oder provençalischen Erzählungen idealisirt ist, oder bei denjenigen Stoffen, die dem Leben des Volkes in Italien oder Tyrol entnommen sind; denn das Volk ist in jenen Ländern selbst ein naives und in einer Form gegossenes Stück Mittelalter. Eine Erzählung wie das kleine Juwel »L'Arrabbiata« das Heyse's Ruhm begründete, kommt erst durch ihre schlichte, strenge Einfassung zu ihrem Rechte; mit stylistischen Verzierungen oder mit psychologisch zugeschliffenen Facetten ausgestutzt, würde sie ihre ganze Schönheit verlieren, wenn nicht unmöglich sein. Ebenso ist »Die Stickerin von Treviso«, die wohl nach der eben genannten Novelle den grössten Beifall geerntet hat, in ihrer rührenden Einfachheit und Grösse auf solche Weise eins mit ihrer Chronikform, dass sie ohne diese gar nicht denkbar ist. Aber wo rein moderne Culturscenen geschildert werden, da kann der Styl kaum zu individuell und nervös sein. Heyse selbst kann es nicht unterlassen, sich in dieser Hinsicht nach seinem Stoffe zu richten; wie fieberhaft ist die Darstellung in der hübschen Krankengeschichte in Briefen »Unheilbar«! Indess lässt er sich augenscheinlich nur widerstrebend oder unfreiwillig zu einem so leidenschaftlich wogenden und zitternden Styl wie im »Salamander« hinreissen. Diese Novelle ist lauter Vortrag, ihre Schönheit beruht ganz und gar auf der bestrickenden Anmuth der metrischen Diction und doch findet sich hier kein Wort, das nicht zur Sache gehört. Alles ist hier lebendiges Leben, jede stylistische Wendung tiefgefühlt und durchsichtig; die kämpfende Seele des Schreibenden liegt offen vor dem Leser. Die Situationen sind unbedeutend und alltäglich; keine bengalische Beleuchtung, nicht einmal in einem Schlusstableau. Aber diese merkwürdigen, unglaublich schönen, naturwidrig leichten, nervös leidenschaftlichen Terzinen, welche fragen und antworten, scherzen, singen und klagen, verleihen der schauspielartig natürlichen, beherrscht verliebten, blasirt koketten Heldin und der Leidenschaft, die sie einflösst, einen solchen Reiz, dass keine spannende Geschichte mit Wende- und Angelpunkt fesselnder sein könnte. Zum Abschluss tönen diese herrlichen Terzinen, welche durch die Behandlung ein ganz neues Versmaass geworden sind, ebenso überraschend, wie genial und kühn, in die Accorde dreier naturfrischer Ritornelle aus. Allen Theorien zum Trotz behauptet eine Dichtung, wie diese, ihren Platz.
Es will mich überhaupt bedünken, als mache Heyse sich einen unrichtigen Begriff von der Bedeutung des poetischen Styls. Theoretisch fürchtet er dessen selbständige Entwicklung und mag keine Werke, die »lauter Vortrag und Styl« sind. Nichtsdestoweniger hat er in Gedichten wie »Das Feenkind« und noch mehr in einem Gedichte wie »Frauenemancipation« selbst solche Productionen geliefert. Das erste von diesen Gedichten ist fein und graciös, aber der Scherz dauert reichlich lange – von Schlagsahne isst man nicht gern allzu viel; das andere, dessen Tendenz übrigens die beste ist, leidet an einer Plauderhaftigkeit ohne Salz. Aber ein ausgeprägter Styl ist ja auch nicht dasselbe, wie die formelle Virtuosität des Vortrags. Dass ein Sprachkünstler wie Heyse, der Uebersetzer Giusti's, der Troubadours, der italienischen und spanischen Volkslieder, diese im vollsten Maasse besitzt, versteht sich von selbst. Allein der in Wahrheit künstlerische Styl ist nicht die formelle Anmuth, die sich gleichmässig über alles verbreitet: Styl im höchsten Sinne des Wortes ist Durchführung, in allen Punkten durchgeführte Form. Wo Sprachfarbe, Ausdruck, Diction, persönlicher Accent noch eine gewisse abstracte Gleichartigkeit haben, wo es nicht gelungen ist, in jedem Moment den Charakter sich in allen diesen äusseren Formen abspiegeln zu lassen, da hängt die sprachliche Draperie, aus wie leichtem Gewebe sie auch bestehen mag, steif und todt um die Persönlichkeit des Sprechenden. Der vollkommene moderne Styl dagegen umschliesst diese, wie das Gewand den griechischen Redner, die Haltung des Körpers und jede Bewegung hervorhebend. Der virtuosenhafte Vortrag kann, selbst wenn er »glänzend« ist, traditionell und trivial sein; der echte Styl ist das nie. An der Erzählungsweise in Heyse's Novellen habe ich nicht viel auszusetzen; seine dramatische Diction dagegen spricht mich nicht so an.
Mancher wird vielleicht meinen, wenn einige der historischen Dramen Heyse's nicht die Anerkennung, wie seine Novellen, gewonnen haben, so liege es daran, dass sie zu wenig Handlung und zu viel Styl besitzen. Wenn das Wort Styl aber verstanden wird, wie ich es hier bestimmt habe, so muss man gewiss eher sagen, dass ihre Jambenform abgetragen war und dass sie nicht Styl genug haben. Die Diction in »Elisabeth Charlotte« z. B. trägt weder hinlänglich die Farbe des Zeitalters, noch der Person, welche spricht. Man vergleiche nur die hinterlassenen derben Memoiren der Prinzessin. Der Dichter hat bei seiner fabelhaften Fertigkeit, sich in jedes poetische Genre hinein zu finden, ein Drama ebenso leicht zu Stande zu bringen, wie er eine Geschichte erzählt, sich die Arbeit etwas zu bequem gemacht. Die kleine Tragödie »Maria Moroni«, die unter den Schauspielen den Novellen am nächsten steht, könnte sowol durch Plan wie durch Charakterzeichnung den italienischen Dramen Alfred de Musset's, an die es erinnert, würdig zur Seite stehen, wenn sie in der Sprachfarbe nicht so viel trockener wäre. Der Dialog Musset's funkelt nicht nur von Witz, sondern lodert zugleich von Innigkeit und Leben. Heyse ist in seinen Dramen nicht so persönlich mit seiner ganzen Seele an jedem Punkte zugegen gewesen. Aber dies: »an jedem Punkte« ist der Styl.
Wie ich also wegen der Vorzüglichkeit des Vortrags den »Salamander« unter den versificirten Novellen am höchsten schätze, so würde ich um der Idee willen unter den Prosaerzählungen dem »Letzten Centaur« einen hohen Platz geben, obwol diese Novelle ebenfalls zu denen gehört, die der Definition am fernsten stehen. Es handelt sich in ihr, nämlich nicht um eine Begebenheit oder einen Conflict in einem bestimmten Lebenskreise, nicht um einen besonderen psychologischen Fall, überhaupt nicht um ein Stück Leben, sondern um das Leben selbst; sie lässt gleichsam das ganze moderne Leben in einem engen Rahmen sich abspiegeln. Ein Schuss in das Centrum ist so erquickend. Warum es leugnen? Der peripherische Charakter in einzelnen anderen Arbeiten Heyse's ist Schuld daran, dass sie weniger interessiren. Wenn man eine lange Reihe Novellen durchgelesen hat, kann man nicht wol umhin, sich nach Kunstformen zu sehnen, die bedeutungsvollere, allgemeingültigere Ideen und Probleme in poetische Form fassen.
Heyse's Dramen sind höchst verschiedenartig: bürgerliche Tragödien, mythologische, historisch-patriotische Schauspiele von sehr verschiedener Kunstrichtung; sein Talent ist so biegsam, dass er sich an jede Aufgabe wagen darf. Einen starken Drang zum Historischen hat Heyse nicht gehabt; die historischen Dramen sind alle aus einem patriotischen Gefühl entsprungen und wirken am meisten durch dies Gefühl. Die für den Dichter bezeichnendste von diesen Dramengruppen ist die, welche antike Stoffe behandelt. Zu der Zeit, da man überall in dem höheren Schauspiel politische moderne Action verlangte, hat man in Deutschland über diese Beschäftigung mit altgriechischen und römischen Stoffen unverständig lamentirt oder gespottet. Man fragte, was in aller Welt den Dichter und uns an einem Gegenstande, wie der Raub der Sabinerinnen oder Meleager oder Hadrian, zu interessiren vermöchte. Für den, welcher kritisch liest, ist es klar genug, was Heyse zu diesen Sujets hat hinziehen können. Sie verkörpern ihm seine Lieblingsideen über Frauenliebe und Frauenloos, sein eigenes Wesen spiegelt sich in ihnen. Wer das warmblütige Drama »Meleager« mit Swinburne's »Atalanta in Kalydon,« das denselben Stoff behandelt, vergleichen will, wird zu manchen interessanten Beobachtungen über die Eigentümlichkeit der beiden Dichter Anlass finden. »Hadrian« hat wol am meisten die Kritik verwirrt. Was den Dichter zu einem uns so fremdartigen, noch dazu an die Schattenseiten des antiken Lebens erinnernden Verhältnis, wie dem zwischen Hadrian und Antinous locken könnte, schien fast unbegreiflich. Ich für meinen Theil schätze unter Heyse's Dramen »Hadrian« am höchsten, und zwar weil dies Stück das persönlichste und am tiefsten empfundene ist. Ich habe diese Tragödie von dem jungen, schönen Aegypter, der, vom Weltbeherrscher so leidenschaftlich geliebt, von aller Herrlichkeit und Pracht des Hofes umgeben, frei in jeder Hinsicht, nur an seinen kaiserlichen Bewunderer gebunden, nach vollständiger Freiheit schmachtet – ich habe diese Tragödie nicht lesen können, ohne an einen gewissen jungen Dichter zu denken, der, schon in frühester Jugend an einen süddeutschen Hof berufen, bald der Liebling eines liebenswürdigen und verständigen Königs, als Günstling des Glückes beneidet ward, während er doch heimlich in manchem Augenblick sich weit weg vom Hofe wünschte und in mancher gebundenen Stunde es fühlte, wie wenig selbst die Gunst des besten Herrn die Freiheit des ganz Unbeschützten, aber ganz Unabhängigen aufwiegt.
In diesem Drama ist ausnahmsweise alles Scenische von der höchsten Wirkung. Die eigentliche Ursache, warum Heyse bei seiner grossen Befähigung für die Bühne doch sonst nicht entschieden durchdringen konnte, ist ohne Zweifel die, dass er des eigentliche deutsche Pathos, das Schiller'sche, nicht besitzt. Erst wenn ein Pathos gebrochen, wenn das Pathetische halb pathologisch ist, vermag er es mit voller Originalität zu behandeln. Das eigentliche dramatische Pathos aus voller Brust wird bei ihm leicht unkünstlerisch-national, patriotisch und ein bischen alltäglich. Hierzu kommt, dass die Darstellung der eigentlich männlichen Action nicht seine Sache ist. In wie hohem Grade er auch in seiner Poesie über die passiven Eigenschaften des Männlichen, wie Würde, Ernst, Ruhe, Unverzagtheit, gebietet, es fehlt doch ihm, wie Goethe, ganz das active Moment. Ein kräftig eingreifendes Handeln, das ein Ziel verfolgt, ist so wenig der Kern seiner Dramen, wie seiner Novellen und Romane. Kommt ab und zu eine energische Handlung vor, so geschieht sie aus Verzweiflung: das Individuum ist in eine Enge getrieben, wo es keinen andern Ausweg erblickt als den, das Aeusserste zu wagen. (Man vergleiche die Handlung des jungen Försters in »Mutter und Kind«, als er den Sohn seiner Geliebten raubt, oder die Entführung in »Das Bild der Mutter«.) Im »Paradiese« ist die Scene, wo Jansen in seiner Erbitterung über all' die Halbheiten, in denen er sein Leben verbracht hat, die Modelle seiner Heiligen zu Scherben schlägt, ein gutes Beispiel. Es war unmännlich von Jansen, eine Heiligenfabrik zu unterhalten – die ganze Idee ist als flüchtiger Scherz unterhaltend, lässt sich aber nicht festhalten, ohne den Charakter zu entstellen – es ist indess noch unmännlicher, ja weibisch gehandelt, seinen Zorn über die todten Gypsgestalten ausgehen zu lassen. Obwol nun aus dem angeführten Grund der eigentliche dramatische Nerv wol immer Heyse's Arbeiten fehlen wird, sind die Hindernisse, die sich dem entscheidenden Erfolg des Dichters auf der Bühne in den Weg stellen, nicht so bedeutend, dass er sie nicht mit der Zeit überwinden und einen scenischen Triumph feiern könnte. Vorläufig ist er vor einigen Jahren zur allgemeinen Verwunderung in einer Dichtungsart aufgetreten, die ihm ganz fern zu liegen schien, in der er aber in kurzer Zeit einen grossen Erfolg errang.
Es ist noch in frischer Erinnerung, welches Aufsehen die »Kinder der Welt« in Berlin erweckten, als der Roman zuerst in der »Spener'schen Zeitung« erschien. Man sprach einen Monat lang überall von diesem Feuilleton. Plötzlich hatte der unschuldige, dem Weltleben entfremdete Novellist sich als ein rein moderner Geist enthüllt, der einen philosophischen Roman mit Hölderlin's Worten schloss:
Verlass mit Deinem Götterschilde,
Verlass, o Du, der
Kühnen Genius,
Die Unschuld nie!
Man hatte offenbar bisher übersehen, dass durch Heyse's einschmeichelnde Poesie ein heftiger Freiheitsdrang ging, eine völlige Unabhängigkeit von Dogmen und conventionellen Banden. Darum wurde man jetzt viel mehr als es sich gebührte, überrascht. Der Dichter ist von gemischter Herkunft: von seinem germanischen Vater hat er das Positive in seinem Wesen, die Fülle und Schönheit des Gemüthes geerbt, von der Mutter, die Jüdin war, eine kritische Ader. Zum ersten Male wurden beide Seiten seines Wesens dem grossen Publicum offenbart. Es musste eine bedeutende Wirkung auf die Gemüther hervorbringen, dass dieser Fabius Cunctator, der sich so lange von den Problemen der Zeit fern gehalten hatte, jetzt den Augenblick gekommen fühlte, um seine Position unter denen einzunehmen, die den Kampf der Zeit kämpfen. Der Roman ist ein würdiger und vornehmer Protest gegen die, welche noch in unseren Tagen die Denk- und Lehrfreiheit fesseln wollen. Er hat alle Polemik gegen die Dogmen hinter sich. Er lässt alle Hauptpersonen mit klarem Bewusstsein in der Atmosphäre freier Ideen leben, welche die Lebensluft der modernen Zeit ist. Es ist eins von den Werken, welche die Innigkeit eines lange zurückgehaltenen, spät gereiften persönlichen Bekenntnisses haben, und darum eine Lebensfähigkeit besitzen, der keine formelle Ungeschicklichkeit, kein formeller Mangel Abbruch thun kann. Es fehlt dem Buch als erstem Versuche Manches dazu, ein echter Roman zu sein: es gebricht, wie zu erwarten war, dem Helden an Entschlossenheit, an activer Manneskraft; das Buch concentrirt sich nicht um ein einzelnes, absolut herrschendes geistiges Interesse; die Alles verschlingende Erotik lässt die Idee nicht klar und central, wie sie vom Dichter gedacht ist, hervortreten. Die entscheidende Wendung des Buches scheint bevorzustehen, wo Franzelius nach Balder's Beerdigung auf die Denunciation Lorinser's in's Gefängniss geworfen worden ist. Hier sagt Edwin ausdrücklich K. d. w. n, 265.: »Sie wollen den offenen Krieg, sie fordern ihn selbst heraus, und es wird nicht eher Frieden geben, bis man ihn ehrlich durchgefochten hat.« Aber der offene Krieg bleibt aus, Edwin und die ganze kleine Schaar der Helden des Buches begnügen sich mit der Defensive, und als Edwin endlich mit seinem epochemachenden Werke fertig wird, ist der Roman zu Ende. – In nahem Zusammenhang mit diesem Mangel steht die zu grosse Weichheit der Gefühle in den Partien, die von Balder handeln. Das strenge Beobachten von Maas und Grenze, das Heyse's Novellen auszeichnet, wird hier vermisst Aber wie wäre es möglich, dass grosse Vorzüge bei einer so umfangreichen Arbeit nicht durch einige Mängel erkauft würden! Nicht allein haben die idealen Frauengestalten hier dieselben Vorzüge, wie in den Novellen: der Dichter hat hier noch dazu sein Gebiet in hohem Grade erweitert; eben die am wenigsten idealen Figuren: Christiane, Mohr, Marquard, sind unübertrefflich. Und welche Strömung echter Menschlichkeit geht durch diesen Roman; welchen Fond echter, allseitiger Bildung enthält er! Es ist nicht nur ein muthvolles, es ist ein erbauliches Buch.
Bei den einzelnen schmutzigen Angriffen, die es seinem Verfasser zugezogen hat, will ich nicht verweilen. Die Denunciationen in ein paar deutschen Winkelblättern interessiren mich nur, weil der norwegische Uebersetzer von Goethe's »Faust« einen dieser Schmähartikel, der den Inhalt des Buches so wiedergab, als handle es sich darin um lauter roheste Sinnlichkeit, mit einer Einleitung abdrucken liess, die alle norwegischen Familienväter warnte, das Buch über ihre Schwelle kommen zu lassen Hätte ein Kritiker dieses Schlages nicht seiner Zeit eine »Warnung« vor Goethe's Faust ganz in demselben Style verfassen können: »Der Inhalt dieses unsittlichen Werkes ist folgender: Ein schon ziemlich bejahrter Arzt (Dr. med.) ist des Studirens müde und sehnt sich nach fleischlichen Lüsten. Zu dem Ende verschreibt er sich dem Teufel. Dieser führt ihn nach verschiedenen niedrigen Erlustigungen (die z. B. darin bestehen, halbbetrunkene Studenten noch betrunkener zu machen) zu einer jungen Bürgerstochter, die Faust (der Doctor) gleich zu verführen sucht. Ein Paar Rendezvous bei einer alten Kupplerin bahnen ihm den Weg dazu. Da die Verführung aber nicht schnell genug gelingt, gibt der Teufel Faust ein Juwelenkästchen, das er dem Mädchen schenken soll. Ausser Stande, diesem Geschenk zu widerstehen, also nicht einmal verführt, sondern erkauft, ergibt Gretchen sich Faust, und um desto ungestörter mit ihrem Galan zu sein, flösst sie ihrer alten Mutter einen Schlaftrunk ein, der dieselbe tödtet. Nachdem sie dann den Tod ihres Bruders verschuldet hat, bringt sie das Kind, die Frucht ihrer Schande, um. Im Gefängniss singt sie schmutzige Lieder. Dass ihr Verführer sie im Stiche lässt, kann Einen nicht wundern, wenn man seine religiösen Grundsätze vernommen hat. Er ist, wie die Scene, wo seine Donna ihn nach seinem Glauben befragt, deutlich beweist, kein Christ; ja, er scheint nicht einmal an einen Gott zu glauben, obschon er zu allerlei leeren Ausflüchten greift, um seinen absoluten Unglauben zu verdecken. – Da dies lästerliche Buch trotzdem, wie wir zu unserer Verwunderung hören, Leser, ja sogar Leserinnen findet, und in den Leihbibliotheken unserer Stadt eine eifrige Nachfrage erfahren soll, fordern wir alle Familienväter auf, über das Seelenheil der Ihrigen zu wachen, das eine so ruchlose Lectüre um so leichter gefährden kann, als eine glatte, einschmeichelnde Form die unsittlichsten Lehren umhüllt.«.
Auf einen kleinen Hieb von Frankreich aus musste Heyse füglich gefasst sein. Er käme nicht unverdient; denn die in seinem Roman vorkommenden Aeusserungen über französische Literatur und Geistesrichtung sind ganz im Styl der üblichen deutschen Anschauung gehalten; aber der Hieb hätte ritterlicher und geschickter ausfallen sollen als der, vom Nationalhasse und Selbsterhaltungstriebe dictirte, sehr unedle und beschränkte Artikel von Albert Réville in der »Revue des deux mondes.«
Die Freiheit des Gedankens war die Grundidee der »Kinder der Welt«; die Sittenfreiheit ist der Grundgedanke des Romans »Im Paradiese«, doch nicht so, dass er unbedingt als Vertheidigungs-Eingabe zu betrachten sei; denn wenn die Gedankenfreiheit als absolut bezeichnet werden kann, ist die Freiheit der Sitten doch nur relativ, und der Dichter hat letzteren nicht mehr als eine relative Freiheit behaupten wollen. »Im Paradiese« ist aber auch ein Werk von ganz anderer Art als der erstere Roman. Schon der Umstand, dass jener im verstandesscharfen Berlin, dieser im heiteren und sinnlichen München vorgeht, deutet den Unterschied an. Während die »Kinder der Welt« ein philosophischer Roman genannt werden konnte, ist »Im Paradiese« eine Art roman comique, leicht, graciös und voll mit Ernst gemischten Scherzes. Er hat vielleicht seinen grössten Werth als Psychologie einer ganzen bedeutenden Stadt und als Porträt der gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände derselben. Ganz München ist in diesem Buche enthalten, und den Hauptplatz nimmt selbstredend das Künstlerleben der Kunststadt ein. Die Gespräche und Reflexionen über Kunst haben hier nicht den müssigen und abstracten Character, wie in den gewöhnlichen Künstlerromanen; man fühlt, dass es kein Theoretiker, sondern ein Kenner ist, der spricht, und ein wahrer Atelierduft ist über alle diese Partien des Buches verbreitet. Die ganze Aesthetik des Verfassers lässt sich in Ingres' alter Definition zusammenfassen: »l'art c'est le nu«.
Was die Schlingung und Composition der Handlung betrifft, bezeichnet »Im Paradiese« einen unzweifelhaften Fortschritt. Das Interesse wird hier überall erhalten, und, was mehr ist, es ist immer im Steigen; ein Lob, das man »Kinder der Welt« nicht spenden konnte. Ab und zu sind nur noch die Mittel, die die Handlung vorwärts bringen, ein wenig ungeschickt benutzt. So ist besonders die ganze Rolle, die der Hund Homo als deus ex machina spielt, etwas stark übertrieben. Er erinnert mit seinem übermenschlichen Scharfblick an jene Löwen, welche die Sculptur der Zopfkunst mit menschlichen und majestätischen Gesichtern darstellte, von Mähnen umrahmt, die in Wirklichkeit Allongenperrücken allzu ähnlich sahen. Doch in deutschen Romanen ist nicht die Handlung, sondern die Charakteristik die Hauptsache, und in fast allen Nebenfiguren offenbart dieses Buch eine ganz neue Seite von Heyse's Talent. Gestalten wie Angelica, Rosenbusch, Kohle, Schnetz haben ein spielendes, mannigfaltiges Leben, das von Heyse's Stylart sonst fast ausgeschlossen war. Heyse's Geist hat mit einem Wort Humor gewonnen, den Humor des reifen Mannesalters, der vierziger Jahre kann man vielleicht sagen; aber einen feinen, weisen, stillen Humor, der die Begabung des Dichters vervollständigt und seinen Farben den ächten Schmelz verleiht.
Wir haben den Kreis von Ideen und Formen durchlaufen, in welchen dieser Dichtergeist seinen Ausdruck gefunden hat. Wir sahen, wie Heyse zuletzt im Roman den bewegenden Gedanken der modernen Zeit gerecht ward, denen die Novellenform nicht Raum zu geben vermochte. Ich hob indess eine Novelle hervor, die sich durch ihren Grundgedanken nicht weniger auszeichnet, als »Der Salamander« durch den Styl.
Jedes Mal, wenn Heyse es versucht hat, den alten Mythen ein modernes Interesse abzugewinnen, hat er Glück gehabt. Das kleine, reizende Jugendgedicht »Die Furie« gehört zum Besten, was er geschrieben. In einem kleinen Drama »Perseus« (in die gesammelten Werke nicht aufgenommen) hat er eine neue Auslegung des Medusamythus gegeben: er hat mit der armen, schönen Medusa Mitleid gefühlt, der das grausame Schicksal, auf Jedermann versteinernd zu wirken, beschieden ward, und er belehrt uns, dass nur die Eifersucht neidischer Göttinnen auf ihre Liebe zu Perseus Schuld daran ist. Ihr Kopf fällt von der Hand ihres eigenen Geliebten, während sie, um ihm nicht durch den unheilvollen Blick zu schaden, ihr Gesicht in den Sand begräbt. Heyse hat aus dem alten Mythus ein originelles und trauriges Mährchen gemacht. Die Geschichte vom »Centaur« ist heiter und tiefsinnig. Man wundert sich nicht, wenn »Im Paradiese« uns mittheilt, dass diese Novelle den Maler Kohle zu seinen lieblichen Fresken begeistert hat. Der Pilgergang »unserer lieben Frau von Milo«, den man als Bild vor seinen Augen zu sehen glaubt, so lebhaft ist die Freske beschrieben, ist als Gedicht mit »dem letzten Centaur« gar innig verwandt. Der letzte Centaur! Das klingt fast wie der letzte Mohikaner! Was weiss Heyse vom letzten Centauren? Wie hat er ihn in eine reguläre Novelle einführen können? O, das geschieht mit vieler Kunst und doch, auf die natürlichste Weise. Er zieht erst, so zu sagen, zwei Kreise in einander, dann einen dritten Kreis, und in diesem beschwört er den Centauren herauf. Der erste Kreis ist die Welt der Lebendigen, der zweite die Welt der Todten, der dritte schliesst leicht und natürlich das Reich des Uebernatürlichen ein. Die Erzählung hebt, wider Heyse's Gewohnheit, rein selbstbiographisch, also mit einem möglichst starken Wirklichkeitselemente; an: der Verfasser kommt eines späten Abends an einer Weinstube vorbei, wo er in seiner Jugend einmal wöchentlich seine liebsten Freunde und Kameraden zu treffen pflegte, und jetzt lässt er diese, welche alle gestorben sind, in der Erinnerung Revue passiren. Dann tritt er in die Weinstube ein, fühlt sich müde, und – plötzlich ist es ihm, als werde er aufgefordert, in dem alten Kreise sich einzufinden, und als die Thür geöffnet wird, siehe! da sitzen sie alle beisammen. Aber keiner von ihnen bietet dem Eintretenden die Hand, es ist in ihren Mienen ein Zug von Fremdheit, Ernst und Kummer. Dann und wann trinken sie einen langen Zug aus dem Weinglase, dann glühen für einen Augenblick die bleichen Wangen und matten Augen; aber gleich darauf sitzen sie wieder starr und stumm und stieren in's Glas. Nur Einer von ihnen ist ungebeugt von dem Schicksal, das sie getroffen hat, und von welchem nach stillschweigender Abrede in der Gesellschaft nicht gesprochen wird. Es ist Genelli, der ausgezeichnete Maler, dessen Centauren in der Schackschen Sammlung zu München alle Reisenden bewundern. Einer von der Gesellschaft bemerkt, solch' ein Genellisches Fabelwesen sehe so lebendig aus, dass man fast glauben möchte, der Künstler wäre selbst dabei gewesen. Und als der Meister ruhig die Antwort gibt: »Er ist auch dabei gewesen,« gleiten wir unmerklich aus dem Reiche der Todten in die Fabelwelt hinüber. Er hat den Centauren gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie dieser eines schönen Sommernachmittags, ohne an etwas Böses zu denken, in ein kleines Tyrolerdorf hineintrabte, wo Genelli bei seinem Weinglase sass. In alten Zeiten war der Centaur Landarzt von Profession gewesen, hatte, bei einer Tour auf Praxis über die Berge ermüdet, sich in einer Gletscherhöhle schlafen gelegt, war dann eingefroren – und jetzt erst, nach dem Verlauf von Jahrtausenden, ist das Eis um ihn geschmolzen, und kann er mit verwunderten Augen sich in der verwandelten Welt umsehen. Es ist Sonntag und eben Kirchweih, da er mit seinem mächtigen Körper – oben ein farnesischer Herkules, unten ein prachtvoller heroischer Streithengst – mit wehender Mähne und lang nachschleppendem Rossschweif, einen kleinen Rosenzweig im dichten Haar hinter dem Ohre durch die leeren Strassen trabt, nur ab und zu ein altes Weib, das mit Geschrei vor der Erscheinung flüchtet, erschreckend. Er sieht die Kirchenthür offen, das Gebäude voll Menschen und eine wunderschöne Frau mit einem Kind auf dem Arme über dem Altare gemalt. Neugierig, nichts Arges denkend, trabt er durch das Portal und schnurstraks über die Steinfliesen, die von seinem mächtigen Hufschlag dröhnen, auf den Altar zu. Man begreift, welch' ein Spektakel über dies geradewegs der Hölle entstiegene Ungeheuer entsteht. Der Pfarrer schreit laut, schwingt, was er Geweihtes in der Hand hat, gegen ihn und ruft: »Apage! Apage!« (was der Centaur versteht, weil es Griechisch ist). Die Gemeinde schlägt ein Kreuz über das andere; verwundert trabt das Fabelthier dann zur Kirche hinaus, und von allen alten Weibern und allen Kindern des Dorfes begleitet, die natürlich sehr erschrocken sind, »den hohen Reisenden so leicht gekleidet zu sehen,« bewegt es sich nach dem Dorfkruge hin, wo Genelli auf dem Altane sitzt. Der Meister belehrt dann den Centauren, dass er ein Paar hundert Jahre zu spät oder zu früh wieder zum Leben erwacht ist. Zur Zeit der Renaissance würde man ihn vermuthlich wohl empfangen haben. »Aber heutzutage und unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt!« Genelli wagt es nicht, ihm ein heiteres Horoskop zu stellen. »Wo Ihr Euch sehen lasst, in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und mit faulen Aepfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben u. s. w.« Und es geht, wie er geweissagt hat. Während der biedere Centaur gutmüthig, wie der Starke ist, vom Publicum sich anglotzen, sein sammetweiches Fell befühlen lässt, während er gemüthlich eine Flasche Wein nach der andern leert und über die Brüstung der Laube sie dem hübschen Schenkmädchen, dem er sofort seine Rose geschenkt hat, zurückreicht, lauern Hass und Neid auf sein Verderben. Eine ganze Verschwörung hat sich gegen ihn gebildet. »An der Spitze stand natürlich die hochwürdige Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr nachtheilig fand, sich mit einem gewiss ungetauften, völlig nackten und wahrscheinlich sehr unsittlichen Thiermenschen näher einzulassen.« Eben so aufgebracht zeigte sich ein Italiener, der auf dem Markte ein ausgestopftes Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen vorwies. Den Rossmenschen sah man gratis, er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wusste, ob er sich nicht noch bewegen liess, einige Kunstreiterstückchen zum Besten zu geben. Das Kalb dagegen war ein ruhiges Genie und machte zu solchen Extravaganzen durchaus keine Miene. In die Concurrenz kann sich der Italiener nicht finden. »Es sei ein Unterschied,« setzt er dem Pfarrer auseinander, »zwischen einem zünftigen, von der Polizei approbirten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen, nie dagewesenen Missgeburt, die ohne Pass und Gewerbeschein das Land unsicher mache und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vor dem Maule wegstehle.« Aber der leidenschaftlichste Gegner des Centauren ist doch der kleine, schiefbeinige Dorfschneider, der Bräutigam des hübschen Schenkmädchens. Auch der Schneider klagt dem Pfarrer seine Noth, die neue Mode, die der Unbekannte eingeführt, müsse das ganze Schneiderhandwerk ruiniren und überdies alle Begriffe von Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen. Während nun also der Centaur in seiner heiteren Stimmung eben in dem Hofe des Wirthshauses die schöne Nanni auf seinem Rücken tragend die Umstehenden mit einem höchst graciösen und eigentümlichen Tanz unterhält, kommen alle die Verschworenen mit berittenen Gensdarmen, um ihn zu fangen. Ohne sie der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen, führt er seinen Tanz fort, und die Hände des Mädchens sanft an seine Brust drückend, setzt er mit einem prachtvollen Sprung über die Köpfe der Bauern weg. Pistolenkugeln knallen um ihn, ohne ihn zu treffen und bald steht er frei auf dem nächsten Bergabhang. Da lässt er, von dem kläglichen Flehen des Mädchens gerührt, sie sacht zur Erde niedergleiten. »So sehr ihr die ritterliche Huldigung des Fremden geschmeichelt hatte und eine so traurige Figur ihr Schatz neben ihm spielte – eine solide Versorgung konnte sie von diesem reitenden Ausländer nicht erwarten.« Ihre praktische Natur trägt den Sieg davon, und wie eine gejagte Gemse springt sie von Stein zu Stein, ihrem Schneider in die Arme. Ein Ausdruck göttlichen Hohnes gleitet über die Mienen des Centauren hin, man sieht ihn sich entfernen, und bald nachher verschwindet er den nachstarrenden Blicken.
Hier schweigt Genelli, der kleine Kreis bricht auf, und der Dichter erwacht in der Vorstube des Weinhändlers.
Alle Eigenschaften, die das Lesen eines Dichterwerkes zu einem Genusse machen, scheinen mir in diesem Mährchen vereint: ein hoher Humor, der einen milden Schimmer über alle Einzelheiten wirft, die zartesten Halbtöne und das feinste Clair-Obscur, das die Handlung vom Lichte des Tages in einen Traum von lauter Verstorbenen hinüber gleiten lässt, um dann wieder das Zwielicht der Schattenwelt von einem Sonnenstrahl des alten Hellas erhellen zu lassen. Hierzu kommt eine tiefe, für ihren Dichter ganz eigenthümliche Idee. Denn dieser Scherz ist ja in vollem Ernste ein Hymnus auf die Freiheit in der Kunst wie im Leben, und auf die Freiheit, wie Heyse sie immer aufgefasst hat. Für ihn besteht die Freiheit nicht (wie z. B. für den Norweger Henrik Ibsen) im Kampfe für die Freiheit, sondern sie ist auf dem religiösen Gebiete der Protest der Natur gegen das Dogma, auf dem socialen und sittlichen Gebiete der Protest der Natur gegen die Convenienz. Durch Natur zur Freiheit! das ist sein Weg und seine Losung. So wird der Centaur als halb Naturwesen, halb Gottheit seiner Phantasie ein theures Symbol. Wie schön ist der Centaur in seiner stolzen Kraft durch den Rest altgriechischen Blutes, das er in seinen Adern bewahrt hat! Was muss er nicht Alles ertragen, der Arme, für den Rest Heidenthum, das in ihm wiedererstanden ist und das, nachdem es einige tausend Jahre eingefroren war, in unseren Tagen, da die Gletscher zu schmelzen beginnen, erwacht ist und sich an's Tageslicht hinaus wagt! Wie viel lehrreicher, wie viel gesetzter und moralischer findet die ganze civilisirte Umgebung seine interessanten Rivalen, die ausgestopften Kälber mit zwei Zungen und fünf durchaus nicht zum Fortschreiten bestimmten, sondern conservativen und ihren Platz conservirenden Beinen! Diese »Merkwürdigkeiten« übertreten nie eine bürgerliche Sitte, lassen sich nur mit Erlaubniss der Obrigkeit und Geistlichkeit sehen, und sind darum nicht minder ungewöhnlich. Sie werden ewig die Rivalen des Centauren bleiben, von Einigen als ihm ebenbürtig, von Vielen als ihn weit überstrahlend betrachtet.
Und ist der Dichter auf seinem Flügelrosse in dieser kleinlichen modernen Gesellschaft nicht leibhaftig »der letzte Centaur«?
Ich habe einige Aeusserungen über Heyse aufgezeichnet, günstige und ungünstige durcheinander, ächte Stimmen aus dem Publicum.
»Heyse«, sagte Einer, »das ist der Frauenarzt, der deutsche Frauenarzt, der das Goethe'sche Wort:
Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach u. s. w.
gründlich verstanden hat. Dass er kein Dichter für Männer ist, das hat Fürst Bismarck richtig gefühlt.«
»Im Gegentheil«, sagte ein Anderer, »Paul Heyse ist sehr männlich. Man findet ihn weich, weil er anmuthig ist, weil eine vollendete Grazie seinen Schöpfungen ihr Gepräge verliehen hat. Man ahnt nicht, wie viel Kraft erforderlich ist, um diese Anmuth zu haben!«
»Was ist Heyse?«, sagte ein Dritter, »ein Kleinstädter, der so lange mit Berlin, dem Weltleben und der Politik Verstecken gespielt hat, dass er sich unserer Gegenwart entfremdet und sich nur unter Troubadouren in der Provence zu Hause fühlt. Ich wittere immer aus seinen Schriften den Provençalen und Provinzialisten heraus«.
»Dieser Heyse«, bemerkte ein Vierter, »hat trotz seiner fünfzig Jahre und seiner dichterischen Reife die Schwäche, uns durchaus überreden zu wollen, dass er ein unmoralischer, lüsterner Poet sei. Aber kein Mensch glaubt es ihm. Das ist seine Strafe«.
»Ich bin in meinem Leben nie so beneidet worden« sagte in meiner Gegenwart eine alte Jugendfreundin Heyses, »wie heute, als in einer höheren Töchterschule, die ich besuchte, sich das Gerücht verbreitet hatte, ich würde heute Abend mit ihm in einer Gesellschaft zusammen treffen. Die Backfische haben mir einstimmig aufgetragen, ihm ihre begeisterten Grüsse zu bringen. Wie gerne wären sie ihm sämmtlich um den Hals gefallen! Er ist und bleibt der vergötterte Lieblingsdichter der jungen Mädchen.«
»Man kann«, sagte ein Kritiker, »Paul Heyse als den Mendelssohn-Bartholdy der deutschen Poesie definiren. Er erscheint wie Mendelssohn nach den grossen Meistern. Sein Wesen ist wie dasjenige Mendelssohns ein deutsches lyrisches und sinniges Naturell mit der feinsten, südländischen Bildung durchdrungen. Beiden fehlt der grosse Pathos, die durchgreifende Gewalt, der Sturm des dramatischen Elements; aber beide haben die natürliche Würde im Ernst, reizende Liebenswürdigkeit und Anmuth im Scherz, beide sind sie durchgebildet in der Form. Virtuosen in der Ausführung.«