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Es ist noch nicht lange her, da wußte man in Westeuropa außer in den Kreisen der Fachgelehrten so gut wie nichts von dem Lettenvolke und seiner Literatur. Erst die russische Revolution, die als einen ihrer entsetzlichsten Auswüchse den Aufstand der lettischen Bauern gegen die deutsch-adeligen Gutsbesitzer der baltischen Provinzen zeitigte, hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf das kleine Völkchen gelenkt, das Jahrhunderte hindurch in scheuer Unterwürfigkeit dahingelebt hatte, um schließlich den lange im stillen glimmenden Haß gegen die deutschen Eroberer zu wilden Flammen auflohen zu lassen. Man begann, sich um Sitte und Art dieses Völkchens zu kümmern, man studierte seine Geschichte, man fragte nun auch nach seiner Literatur.
Bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnten die Letten sich keiner andern literarischen Erzeugnisse rühmen als ihrer uralten, zumeist ein wenig schwermütigen, sehnsüchtigen Volkslieder und ihrer sinnigen Sagen und Märchen aus Urväterzeit, die sich von Mund zu Mund, von Eltern auf Kinder fortpflanzten. Die deutschen Pastoren und Lehrer des Landes waren die ersten, die diese Lieder und Sagen zu sammeln und zu veröffentlichen begannen und zugleich das Volk durch Übersetzungen mit den Werken der deutschen Literatur bekannt machten. Ein eigentliches Erwachen des literarischen Sinnes und Gefühles aber wurde erst bemerkbar seit dem Auftauchen des sogenannten »Junglettentums« in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: mit dem starken Betonen des Nationalen auf jedem Gebiete trat auch das Bestreben zutage, eine eigene Literatur zu schaffen.
Unter den Führern der »Jungletten« – Bauernsöhnen, die sich mit bewundernswerter Energie und eisernem Fleiße zu Bildung und Ansehen durchgerungen, – fanden sich talentierte Schriftsteller, die sich die Aufgabe stellten, ihr Volk von der deutschen und russischen Literatur unabhängig zu machen. Zeitungen und Zeitschriften wurden begründet, Theaterstücke verfaßt und aufgeführt, Bücher in schnell wachsender Menge veröffentlicht, und heute kann man bereits von einer neuen lettischen Literatur sprechen, die alle Literaturgattungen umfaßt und neben viel Schablonenhaftem manch Eigenartiges, tief und wahr Empfundenes darbietet. Die »modernen« Schriftsteller sind zumeist nichts als Nachahmer der westeuropäischen Moderne, der sie durch alle ihre Wandlungen und Abarten gehorsam folgen. Seit der Revolution macht sich auch ein starker Einschlag der russischen neuen und neuesten revolutionistischen Ideen und Ziele stark bemerkbar. Unter den Volksschriftstellern aber finden sich ganz selbständige Talente, welche die Kunst verstehen, die Volksseele in ihren geheimsten Regungen zu belauschen, um dann in schlichter Form von ihr zu sagen und zu singen. Sie schreiben nur von ihrem Volke und nur für ihr Volk, an dem sie mit heißer Liebe hängen und das sie verstehen wie niemand sonst, – sind sie doch mitten im Volke aufgewachsen als dessen Söhne, haben sie doch all das, was sie schildern wollen, selbst gesehen, selbst gefühlt, selbst durchkämpft!
Ich habe es versucht, einige solch echter Volksschriftsteller der Letten dem deutschen Lesepublikum vorzuführen. Ich konnte mich dabei nicht immer streng an das Original halten, sondern mußte manches dem Ausländer Unverständliche ausscheiden oder erklären, manche weitläufige Reflexion übergehen. Nicht wörtliche Übertragungen sind es daher, die ich hier biete, sondern teilweise Umgestaltungen, bei denen jedoch die Eigenart des Originals nach Möglichkeit gewahrt wurde.
Wien, im Juni 1910.
Hanny Brentano.