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Die Auswanderer.

Nun schliefen sie zum letztenmal in Europa. Am nächsten Morgen schon sollten sie den Hügel überschreiten, auf dem ein niedriger Steinpfosten die Grenze zwischen Europa und Asien bezeichnete. Seltsam: die Erde war doch drüben die gleiche wie hüben, die Bäume waren ebenso grün, der blaue Himmel spannte sich jenseits des Grenzpfostens genau so über der Erde aus wie diesseits, – und doch hätten die Auswanderer gern nur einmal noch hinter dem grünen Waldstreifen dort heimatlichen Rauch aufsteigen gesehen. Sie gingen auf die Landstraße hinaus und sahen zu, wie die Sonne am fernen Horizont verschwand. Plötzlich horchten alle auf: es schien ihnen, als ertönte dort, gleich hinter dem Birkenwäldchen, ein Lied, das sie oft in der Heimat gehört. Den Atem anhaltend lauschten sie, bis sie deutlich eine Männerstimme unterschieden, an die sich eine dünne, hohe Frauenstimme schmiegte. Jetzt wehte der Wind auch die Worte des Liedes herüber:

»Lasset mich gen Himmel eilen
Zu dem lieben Vater mein!
Schwer ist's, in der Fremde weilen,
Ach, zu Hause möcht' ich sein!«

Die Wanderer falteten die Hände und sprachen die wohlbekannten Worte leise mit. Als der Gesang verstummt war, schlugen sie wie auf Verabredung den Fußweg ein, der sich durch das Wäldchen schlängelte, aber niemand von ihnen sprach ein Wort.

Hinter dem Wäldchen fanden sie eine kleine Kirche mit einem Friedhofe daneben; die Form der Kreuze verriet, daß hier die Verstorbenen einer griechisch-katholischen Gemeinde ruhten. Aber an einem Ende des kleinen Friedhofes war ein ruhiges Plätzchen Fremden überlassen worden, stillen Gästen aus anderen Gemeinden, Pilgern, die hier ausrasteten vom ermüdenden Wandern auf der staubigen Landstraße des Lebens. Zwei der Holzkreuze waren sorgfältig bearbeitet wie auf dem heimatlichen Friedhofe, andere waren grob mit dem Beil behauen, die meisten aber glichen in die Erde gesteckten Spänen und wackelten, noch bevor das Holz zu faulen begonnen hatte. Doch sie alle schienen bemüht, die Ruhe der Heimgegangenen treulich zu behüten: wie segnend breitete sie die grauen Arme über den zerfallenden Sandhügeln aus.

Dort, ganz am Ende der protestantischen Abteilung, sah man drei frische Gräber. Vier russische Bauern umstanden sie barhäuptig, mit Grabscheiten in den Händen, und blickten ehrfurchtsvoll auf einen alten Graukopf, der am Rande des mittleren Grabes stand und mit fester Stimme betete: »Von Erde bist du genommen und zur Erde sollst du wieder werden. Jesus Christus, der Heiland, wird dich am jüngsten Tage auferwecken!« – Auf dem weißen Sandhügel aber saß in sich zusammengesunken ein junges Weib und schaute mit tränenden Augen auf drei Kreuze aus rohem Holz, die beiseite lagen.

Die Auswanderer betraten den Friedhof; die Männer nahmen die Mützen ab und jeder einzelne warf drei Handvoll Erde in jedes der Gräber und sprach ein stilles Gebet. Und als der Graukopf dann eine Schaufel ergriff, da nahmen sie den Russen die Grabscheite aus den Händen und begannen die Gruft mit Erde zu füllen. Polternd fiel der Sand auf die Sargdeckel. Erst als sich schon die Hügel wölbten, wagte der eine oder der andere eine halblaute Bemerkung: ob der Hügel nicht zu flach oder zu niedrig sei und dergleichen. Dann wurden die drei Kreuze eins nach dem andern aufgestellt. Fast schien es dem alten Manne leid zu tun, daß er sich nun von diesen Kreuzen trennen mußte; er lehnte sich für ein Weilchen an ein jedes von ihnen, als sie am Fußende der Gräber fest eingegraben standen. Dann aber ermannte er sich und begann mit kräftiger Stimme das Lied:

»Ich wandre meine Straße,
Die zu der Heimat führt,
Da mich ohn' alle Maße
Mein Vater trösten wird.«

Die Auswanderer sangen mit und dachten daran, daß sie sich auf der Landstraße befanden, Tausende von Werst von der baltischen Heimat entfernt, und daß sie noch nicht wußten, wo und wann ihre Wanderschaft aufhören würde. Nur das eine wußten sie: wohin sie auch gingen, dem Grabe konnten sie nicht ausweichen, und auch auf ihren Sarg würden einst Vorüberziehende eine Handvoll Erde schütten.

So lernten sie den alten Georg kennen, das heißt, soweit bei ihm von einem Kennenlernen die Rede sein konnte. Auch er und seine Tochter Marie waren Auswanderer und setzten nun in Gesellschaft der andern ihre Reise fort. Sie wanderten zusammen Tage und Wochen hindurch, sie litten miteinander Frost und Hitze; noch manch liebes Mal warfen sie gemeinsam Erdschollen auf ungehobelte Sargbretter, wenn wieder einer der Reisegenossen den Mühsalen der Wanderschaft erlegen war, und fragten sich in dumpfer Verzweiflung: wer hat's besser? Diejenigen, die unter zerfallenden Grabhügeln in fremder Erde ruhen, oder die, welche weiterziehen müssen, einem unbekannten Lande, einem unbekannten Schicksal entgegen? Wieviel Hoffnung, wieviel Mut hatte in ihren Herzen gelebt, als sie aus der Heimat ausgezogen waren, – wo war das alles geblieben? Es war auf dem weiten, tränenreichen Wege nach und nach verloren gegangen, hier war eine Hoffnung zerstört worden, dort die andere; hier wurde ein Kindlein begraben und dort das andere, – die Alten aber mußten immer weiter ziehen auf der Suche nach einem neuen Lande und einer neuen Heimat.

So schritt denn der alte Georg denselben Weg dahin wie sie alle. Gemeinsames Leid umspann die kleine Schar Tag und Nacht wie das Spinngewebe die Spinne, und bisher Fremde wurden zu Brüdern und Verwandten. Jeder einzelne wußte vom andern, woher er kam, was er hinter sich gelassen hatte, was er hoffte, was ihn betrübte. Nur vom alten Georg wußte man so gut wie nichts. Gleich ruhig und ungebeugt schritt er neben der Wagenreihe einher, ob der frische Morgenwind in seinem vollen, silbergrauen Barte spielte oder ob Regentropfen sein gebräuntes Gesicht trafen. Unter den buschigen Brauen hervor blickten die eingesunkenen Augen ebenso gleichgültig auf das Gewimmel der Großstädte wie auf den kaum bemerkbaren Weg durch die weite sibirische Steppe, wenn am Sonntagmorgen die andern alle später als sonst auf den Wagen saßen, als warteten sie, ob nicht vom Westen her der Klang der heimatlichen Kirchenglocke über die unendliche grüne Fläche herübertönte. Vermutlich hatte es auch in seinem Leben manch schmerzlichen Verlust, manch bittres Herzeleid gegeben, doch er schien alles Schwere von seinen breiten Schultern abgeschüttelt zu haben, wie die Tanne den weichen Schnee abwirft, wenn er ihre Äste zu tief herabdrückt. Nur eines hatten die Reisegefährten vom alten Georg erfahren! dort auf dem einsamen Friedhofe an der Grenze zwischen Europa und Asien hatte er seine drei Söhne begraben.

Die Länge der Reise begann die Auswanderer zu drücken; es schien ihnen, als wären sie schon eine Ewigkeit unterwegs: Annas Schweinchen, das als ganz kleines Ferkelchen die Heimat verlassen hatte, war ja schon ein ganz ansehnliches Halbschwein geworden, das an einer Leine hinter dem Wagen herlief. – Das Wandern wurde den Leuten zur Last und so mancher sagte des Abends beim Ausspannen der Pferde: »Nicht mit Gewalt soll man mich von hier fortbekommen! Sollen wir etwa bis ans Ende der Welt laufen?« Aber wenn die Reisenden am andern Morgen erwachten und sich dehnend und reckend unter den Wagenverdecken hervorkrochen, stand Georg schon bei seinem Pferde und schickte sich zur Weiterreise an. »Hier ist kein Wald ... sagte er, oder ein andermal: »Hier gibt's kein Wasser ... oder wieder: »Hier würde uns in jedem Sommer das Getreide verdorren!« oder: »Hier kann man sich vor Frost nicht schützen!«

Und schweigend machten sich dann die sonngebräunten Männer an das Anschirren der Pferde, und mit gesenkten Köpfen trabten die Gäule ihren gewohnten Gang weiter.

Eines Morgens aber sahen die Auswanderer den alten Georg nachdenklich am Ufer eines Flusses stehen und aufmerksam in die Ferne blicken. Stumm stellten sich die Männer hinter ihm auf und taten das gleiche. Es war eine Freude, die Steppe anzuschauen: sie wogte im Morgenwind wie ein unendliches grünes Meer; so weit das Auge blickte, kein Hügel, kein Baum, kein Strauch, nichts als grüne Wellen, auf denen sich weiße und rote und blaue Blumen schaukelten. Man hätte ein Boot nehmen und das Grasmeer durchrudern mögen, um am andern Ufer – nämlich dort, wo in blauer Ferne das Himmelsgewölbe die Bergspitzen berührte, – zu landen. Zwei Berge streckten ihre Häupter wie verwundert aus den Wolken hervor; ihre eine Seite war dunkel, die andere von leuchtend-weißem, ewigem Schnee bedeckt. Einige der Auswanderer schätzten die Entfernung bis zu jenen Höhen auf zwanzig, andere auf hundert Werst.

Der alte Georg blickte hinab auf den Fluß und dann nach rückwärts auf die schlanken Waldbäume, die leise im Morgenwind rauschten. Dann entblößte er sein Haupt, kniete nieder und sprach ein Gebet. Sich erhebend schaute er die Wandergenossen fest an und sprach: »Hier bleiben wir.« Und sie blieben, die Heimatsucher, die in dem Lande geboren waren, wo der lettische Landmann seine regelmäßigen Ackerfurchen zieht.

Von den fernen Bergen her strömte die Düna, – d. h. so nannten die Kolonisten den fremden Fluß, der hier wohl ganz anders hieß. Hans, der früher Soldat gewesen war und als solcher das Russische erlernt hatte, fragte auch einmal einen Eingeborenen nach dem Namen des Stromes, aber der war so zungenbrecherisch, daß er ihn sich nicht merken konnte; es tat ihm nachher leid, daß er sich das Wort nicht aufgeschrieben hatte. So nannten sie denn den Fluß in Erinnerung an die Heimat und auch seiner ansehnlichen Breite wegen »Düna«, und den Nebenfluß, der aus dem Walde kam, tauften sie die »Aa«; die Kolonie aber, die sie dort gründeten, konnte doch nicht anders als »Riga« heißen!

Möglich, daß dieses neue Riga an Größe und Schönheit einst die Mutterstadt auf den sandigen Ufern der Düna übertreffen wird, – es ist ja alles möglich auf dieser Welt! – aber die Gedanken der Neurigenser fliegen nicht so weit in die Zukunft, wenn sie, vor dem beißenden Rauch in ihren Rasenhütten flüchtend, ins Freie treten. Sie reiben sich die geröteten Augen und trösten sich damit, daß auch des Nachbars Hütte aus allen Löchern raucht, – nur gerade aus dem Loch nicht, das sie stolz »Schornstein« benannt haben. Und dann blicken sie neidisch zum Birkenwäldchen hin, an dessen Rande des alten Georg helles Holzhäuschen steht; der schöne, weiße Schornstein auf jenem Dach ist der beste Bürge für Neurigas glänzende Zukunft.

Um die Zeit jedoch, als das, was hier erzählt werden soll, vor sich ging, war dieser Schornstein noch nicht weiß; man darf ihm das nicht übelnehmen, denn damals war er überhaupt noch nicht da.

Mit Georgs neuem Hause verhielt es sich so: im Herbst erkrankte Johanns Mutter und konnte den ganzen Winter hindurch nicht zu Kräften kommen. Um aber Arzt und Arznei zu holen, mußte man mindestens hundert Werst fahren. Das ruinierte den armen Hans ganz und gar. Schließlich sah er sich gezwungen, beim alten Georg als Tagelöhner einzutreten, um ein wenig Geld zu verdienen. Und während die andern Ansiedler sich noch nicht einmal recht umgeschaut hatten, hatte der alte Georg mit seines jungen Knechtes Hilfe bereits eine Menge Bäume gefällt und am Waldrande aufgestapelt.

Hansens Mutter ging es schlechter und schlechter, und bald mußte er Georg sein Pferd verkaufen. Hans hatte also den weiten, weiten Weg von Livland nach Sibirien vergebens gemacht: hier wie daheim war er nichts als ein gewöhnlicher Knecht ohne eigenen Besitz. Nun brauchte sich Georg nicht mehr mit dem Anfuhren der Balken zu befassen; Hans und sein Brauner, beide im Dienste des alten Graukopfs, schafften bis Mariä Lichtmeß alles nötige Bauholz an Ort und Stelle.

Zum Dank überließ Georg ihm den Braunen, als Hans seine Mutter zum Friedhof hinausfahren mußte. Das geschah zu Mariä Verkündigung. Am andern Morgen waren beide Männer wieder bei der Arbeit und richteten die Balken zum Hausbau her.

Am dritten Ostertage geschah etwas Unerwartetes. – Die Neurigenser hatten gerade zur Feier des Tages einen Rundlauf aufgestellt: es war ein Pfosten in die Erde gegraben und oben darauf ein eisernes drehbares Gestell befestigt worden, von dem vier Stricke herabhingen; die Enden der Stricke waren zu je einer Schlinge geformt. Wenn sich nun vier Knaben rittlings in diese Schlingen setzten und um den Pfosten liefen, so drehte sich das eiserne Gestell oben, und wenn sie mit Laufen aufhörten, wurden sie an den Stricken hoch durch die Luft geschwungen.

Die Alten saßen ringsum auf Bänken, Balken und Zäunen und sahen den Jungen schwatzend und ihre Pfeifen rauchend zu; einige spielten auch Karten. Die Frauenzimmer standen ein wenig abseits, blickten bald auf die Kinder, bald auf die Männer, flüsterten und kicherten miteinander. Aber wenn die jungen Leute ihnen zuredeten, es doch mit dem Rundlauf zu versuchen, erhob sich lautes Lachen, Schreien und Protestieren. Doch als der junge Kahjaut und der junge Kahrklis zeigten, wie man die Schlinge auch über den Kopf ziehen und sich dann bequem Hineinsetzen könne, da faßten zwei der jungen Mädchen sich ein Herz und folgten der Einladung. Die beiden jungen Männer setzten sich nun in die andern Schlingen und begannen um die Pfosten zu laufen. Die Mädchen jammerten und baten um Erbarmen, die Burschen aber ließen nicht eher ab, bis der einen übel wurde.

So vergnügte man sich und freute sich, daß heute Osterdienstag war.

Da kam der alte Georg heran. Alle sahen ihn schon von weitem, aber alle taten, als blickten sie ganz wo anders hin, und bemühten sich, laut und lustig zu reden. Georg trat an den Zaun und stützte sich mit beiden Armen darauf.

»Gott helf kann man zu dieser Arbeit wohl nicht wünschen,« sagte er langsam, indem er zu den Spielenden und Laufenden hinüberblickte.

»Du siehst überall nur Arbeit,« erwiderte der alte Kahrklis ärgerlich, »der eine schindet halt seine Schuhe, der andere – Waisen.«

Damit wollte er zu verstehen geben, daß Georg die Krankheit und den Tod von Johanns Mutter zu seinem eigenen Vorteil zu benützen gewußt; er haßte den alten Georg, seit die Auswanderer auf diesen mehr hörten als auf ihn selber, der bis zu Georgs Erscheinen ihr Führer gewesen.

»Eigennützige Leute sind wir also alle,« erwiderte Georg bedächtig und fuhr dann fort: »Wie denken denn die Nachbarn über das Stück Landes hinter dem Wäldchen? Es wird jetzt im Frühling Zeit, daß wir's aufteilen.«

»Hast du denn noch nicht genug Land?« fragte Kahrklis spitz, »oder hast du gar Aussicht, noch einen Knecht zu bekommen?«

»Bisher nahm jeder von uns so viel Land, als er bearbeiten konnte,« sprach Georg ruhig weiter, »aber das Stück dort hinter dem Walde ist nicht gleichartig. Daß nicht später einer dem andern vorwerfe, er habe nach seinem eigenen Kopf gewühlt und das Beste für sich genommen.«

»Sag mal, wieviel Jahre zählst du eigentlich?« fragte Kahrklis, die Pfeife aus dem Munde nehmend und boshaft mit den Augen zwinkernd.

»Meine Jahre teilen wir ja nicht,« erwiderte Georg ohne Zorn, »die muß ich schon selbst behalten. – Also Ihr meint, jeder solle von dem Brachland so viel für sich nehmen, als er bebauen kann?«

Der alte Kahrklis erhob sich und trat dicht an Georg heran.

»Ja, Nachbar,« sagte er, »nimm nur, soviel du bearbeiten kannst, und noch sechs Fuß Friedhofserde dazu! Denn all das andere Land mußt du ja doch einmal verlassen, – so sehr wir alle das auch bedauern werden.«

Der alte Georg brach langsam ein Zweiglein vom Zaungeflecht und zerbiß es zwischen den Zähnen. Das junge Volk hatte den Rundlauf verlassen und auch die Weiber drängten sich näher an die beiden Sprecher heran.

Nach einer kleinen Pause sagte Georg: »Noch etwas wollte ich mit den Nachbarn ins reine bringen. Wie werden wir's mit dem Bau unserer Häuser halten? Werden wir gemeinsam arbeiten oder soll jeder auf eigene Hand bauen?«

Diese Frage hatten die Neurigenser schon lange erwartet. »Er soll nur seine Balken behauen!« hatten sie gesagt, indem sie auf die Axthiebe im Walde lauschten, »wir wollen doch seh'n, wer sie aufeinander fügen wird!« Nun verstanden sie, wohinaus Georg mit seinen Worten wollte.

Der alte Kahrklis steckte die Hände in die Hosentaschen, trat ein wenig zurück und betrachtete Georg von oben bis unten.

»Wenn's Zeit sein wird, darüber zu reden, werden wir das schon bestimmen,« sagte er dann bedeutungsvoll.

»Ich brauche euch also nicht zu helfen?« fragte Georg ruhig.

»Du hast schon dem Hans genug geholfen,« antwortete Kahrklis höhnisch, »ohne deine Hilfe wär's ihm nicht so leicht gefallen, sich in den Knechtsstand zu fügen. Wir werden schon schauen, ohne deine Hilfe fertig zu werden.«

Die Weiber wandten sich ab, auch manche Männer vermieden es, Georg jetzt anzublicken. Der alte Kahrklis redete doch gar zu deutlich! Es war ja wohl alles wahr, aber immerhin, – jemand die Wahrheit so direkt ins Gesicht zu sagen ...

»Mein Sohn, dein Strick wird sich gleich lösen!« sprach Georg, indem er sich an einen Knaben wandte, der grade den Fuß in eine Schlinge des Rundlaufs steckte, »befestige ihn sicherer ... Also lebt wohl, Nachbarn!«

Und langsam schritt er seiner Hütte zu.

Die Zurückbleibenden waren lange Zeit sprachlos. Kahrklis selbst war ärgerlich und unzufrieden, – wie der Metzger, dem das Ferkel nicht gleich auf den ersten Stich stirbt. Dann meinte der und jener, Georgs Balken würden wohl verfaulen, ehe sie unter Dach kämen.

Aber die Balken verfaulten nicht. Etwa eine Woche nach Ostern ertönten am Waldrande Axthiebe und Sägegeknirsch, und wer sich ins Birkenwäldchen wagte, konnte vier fremde Männer erblickten, die an den Balken arbeiteten. Seltsam war ihr Aussehen: sie hatten gelbe Gesichter, schiefgeschlitzte Augen und lange, dünne Schnurrbärte, die wie kaum in die Wurzel geschossene Karotten aussahen.

Lange rieten die Neurigenser hin und her, was für Leute das wohl sein mochten. Die Alten behaupteten, es seien Baschkiren, die Jungen hielten sie für Chinesen. Einige zeigten Lust, sie selbst auszufragen, aber es wollte sich doch niemand »hineinmischen«. Alle legten ihren Frauen ans Herz, von nun an auf die Katzen und Hunde recht achtzugeben, da sowohl die Baschkiren als die Chinesen diese Tiere überaus gerne äßen. Früher hätten die Baschkiren sogar kleine Kinder gefressen, aber jetzt hätte die Regierung ihnen das verboten.

Im allgemeinen konnte man über die Chinesen nicht klagen; sie arbeiteten still und mit Erfolg, wenn ihr Handwerkszeug auch ganz anderer Art war als das in Livland gebräuchliche. Hunde und Katzen blieben am Leben, ja eine Hündin bekam sogar vier Junge, und deren Besitzerin überlegte bereits, wieviel sie wohl für so ein Hündchen verlangen könnte, falls die Chinesen eins kaufen wollten. Das Haus des alten Georg wäre wahrscheinlich ohne jeden Zwischenfall fertig geworden, wenn nicht die chinesischen Unruhen ausgebrochen wären.

Kahrklis Vater und Sohn waren es, die die Kriegsnachricht aus der Stadt heimbrachten. Sie hatten unterwegs andere lettische Kolonisten getroffen, die ihnen die Geschichte genau auseinandergesetzt hatten: die Chinesen hatten allen weißen Leuten die Köpfe abgeschnitten, das konnte der Zar doch nicht gut dulden und so hatte er denn China den Krieg erklärt, und nun sollten alle an Chinas Grenzen lebenden russischen Untertanen sehr achtgeben, daß sich kein Chinese in der Nähe zeige; geschah das, so sollte es sofort den Behörden gemeldet werden. Zuletzt hatte der Erzähler dem alten Kahrklis seine – wie er behauptete – noch nagelneue Flinte verkauft, denn ohne Waffen sei ein Mensch in solchen Zeiten geradezu verloren. Das hatte Kahrklis vollkommen begriffen und hatte die Flinte ohne zu handeln gekauft. Heimgekehrt, verbreitete er die aufregende Nachricht in der ganzen Kolonie und zeigte überall die neue Flinte vor. Da erschien es den Neurigensern, als läge China gleich hinter den Bergen dort jenseits der Steppe, und als wären diese Berge kaum acht bis zehn Werst von ihrer Ansiedlung entfernt. Und plötzlich erinnerte sich jemand der chinesischen Arbeiter beim alten Georg. Wer konnte wissen, ob das nicht Spione waren? Ein anderer fragte, ob man deren Anwesenheit in Neuriga nicht auch den Behörden melden müsse, und ein dritter meinte, die gelben Teufel seien sicherlich nicht ohne Waffen; vielleicht hatten sie gar im Walde ein heimliches Versteck, wo sie Flinten aufbewahrten?

»Die Chinesen schießen nicht mit Flinten,« erklärte der junge Kahrklis, »vor Flinten fürchten sie sich sogar. Aber sie haben Bogen, deren Pfeile vier Männer durchbohren, wenn's auch nicht knallt.«

»Ach Gottchen,« schrie plötzlich die alte Kahjaut, »wahrhaftig Kinder, ich hab's selber gesehn, – die vier Kerls haben so sonderbare Dinger bei sich, – ich dachte, es seien Kesselchen, aber das werden gewiß diese Schießapparate gewesen sein.«

»Nein, Mutter Kahjaut,« belehrte wieder der junge Kahrklis, »das sind ihre Trinkgefäße, – die Bogen sind ja ganz etwas anderes.«

»Na ja, ich sag's ja, daß sie ganz anders waren als unsere Trinkgefäße,« beharrte die Alte.

»Nein, nein, Mutter Kahjaut, diese Dinger brauchen sie nur zum Trinken, schießen können sie mit denen ja gar nicht.«

Der alte Kahrklis machte dem Streit ein Ende. »Weiber, macht, daß ihr fortkommt,« rief er stirnrunzelnd, »wir Männer müssen über die Sache beraten.«

Die Frauen gingen widerwillig ein wenig zur Seite, ohne die Blicke von Georgs Bauplatz zu wenden, bereit, jeden Augenblick mit irgend einer Botschaft zu den Männern zurückzueilen.

Die erste Frage, die Kahrklis seinen Kameraden vorlegte, war die, was sie eigentlich vom alten Georg selbst hielten. Warum hatte er überhaupt die Chinesen hergerufen?

Über diesen Punkt hatten sich die andern schon längst Gedanken gemacht, aber es hatte niemand davon anfangen wollen. Es entstand ein Husten, Räuspern und Schneuzen, halbe Worte wurden wie unabsichtlich gemurmelt, – schließlich kam man überein: wenn man der Obrigkeit von der Anwesenheit der Chinesen Meldung machen wollte, so mußte man auch über den alten Georg reden. Mochte die Behörde doch untersuchen, sie würde ja keinen Unschuldigen verurteilen.

Und nun die zweite Frage: Sollte man zuerst nur die Meldung erstatten, oder sollte man die Chinesen nicht lieber gleich als Gefangene in die Stadt führen?

»Heut' sind ihrer nur vier, aber wer weiß, wieviel 's morgen sein werden,« meinte Kahrklis. Ein anderer erkundigte sich, ob jemand wisse, wieviel die Behörde für einen gefangenen Chinesen zahle? Das wußte Kahrklis nun zwar nicht genau, aber wenn nicht mehr, so doch ganz gewiß Entschädigung für den Weg und den verlorenen Arbeitstag. Der Arrestantentransport wurde ja auch bezahlt, und diese gelben Kerle wären dann auch Arrestanten.

Den Neurigensern wurde immer klarer, daß die Chinesen eingesperrt werden müßten.

»Sie sollen ihre Pässe vorzeigen,« hieß es schließlich, »sind ihre Pässe in Ordnung, – na, dann wird man schon überlegen, was weiter geschehen soll; wenn sie aber keine Pässe haben, – fort mit ihnen zum Gericht!«

Nun aber tauchte eine neue Frage auf: Wer sollte den Chinesen die Pässe abverlangen?

»Wenn so ein Räuber dir mit der Rückseite des Beils einen Schlag vor die Stirn gibt, ist's mit dem Untersuchen ein für allemal aus,« meinten einige, und andere rieten, man solle gemeinsam vorrücken: etwa zwanzig Mann sollten sich aufmachen, – der junge Kahrklis mit der Flinte, die andern mit Äxten, Dreschflegeln, Knüppeln, – und vor Georgs Haus ziehen. Der Vorschlag fand Beifall und die Suche nach Waffen begann.

Als die Weiber von dem Plane hörten, wollten sie auf keinen Fall zurückbleiben; es war nichts zu machen, man mußte auch sie mit Küchenmessern, Sensen und Harken bewaffnen.

»Soll's nur einer wagen, mich anzurühren,« rief Mutter Kahjaut, grimmig ihre Sichel schwingend, »ich säble ihm den Kopf ab wie eine Zwiebel!«

Als die kriegsgerüstete Schar im Wäldchen angelangt war, stellte Kahrklis seine Truppen auf.

»Sohn, spann den Hahn der Flinte,« befahl er, »und wenn du siehst, daß die Feinde fliehen wollen, schieß ihnen in die Beine. Zuerst aber zähle bis drei, – bleiben sie nicht stehen, so schieß getrost drauf los. – Und ihr da mit den Dreschflegeln, ihr stellt euch rechts und links von mir auf, und wenn ihr bemerkt, daß sie mich angreifen wollen, haut zu aus allen Kräften. Aber schlagt nicht auf die Köpfe, sonst haben wir Scherereien mit dem Gericht.«

»Na und was sollen denn wir?« fragte die alte Kahjaut, die ganz ungeheuer kriegslustig schien.

»Ihr steht im Hintergrunde,« befahl Kahrklis kurz, »das ist nichts für Weiber!«

Und dann eilten sie alle vorwärts und suchten durch lautes Reden die eigne Angst zu betäuben.

Einer der Chinesen saß grade rittlings auf dem Dach und bemühte sich, den Papierdrachen seines Söhnchens am Rauchfang zu befestigen; als er die nahende kriegerische Schar erblickte, schien er einen Augenblick zu überlegen, dann rasselte der Drachen vom Dach hinunter und der Chinese glitt ihm schnell nach. Als die Neurigenser den Hof des alten Georg betraten, hatten die Chinesen sich bereits mit allerlei Hausgeräten bewaffnet und standen alle vier beisammen in einer Ecke des Hofes, den Ankömmlingen mißtrauisch entgegenblickend.

»Habt ihr Pässe?« fragte Kahrklis, indem er sich bemühte, seiner Stimme etwas von der Würde eines Dorfschulzen zu verleihen. Die Chinesen murmelten etwas miteinander, gaben aber keine Antwort.

»Ich frage euch, ob ihr Pässe habt?« wiederholte der Alte noch strenger. Die Chinesen blickten ihn mißtrauisch an, antworteten aber keine Silbe.

»Vielleicht verstehen sie nicht lettisch,« meinte jemand, »man müßte russisch sprechen.«

Kahrklis nahm eine noch wichtigere Miene an. »Pässe! Pässe!« stieß er in gebrochenem Russisch hervor und gab ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß sie die Pässe aus der Tasche ziehen sollten. »Pässe her! – Gemeindevorstand!« Bei dem letzten Wort deutete er auf sich selbst.

Vielleicht hatten die Chinesen jetzt begriffen, was man von ihnen wollte. Sie fingen alle zugleich zu sprechen und zu gestikulieren an, es war jedoch unmöglich, etwas von ihrem Geschnatter zu verstehen.

»Pässe her!« befahl Kahrklis nochmals, »sonst – fort ins Gefängnis!«

Wieder schrien die Chinesen durcheinander und wieder rief der Alte sein »Pässe her!«, dem er einige russische Schimpfworte beifügte. Die Chinesen ereiferten sich mehr und mehr und rückten ein wenig vor.

»Nicht, nicht kommen, fort!« schrie Kahrklis und schwang seinen Dreschflegel, als wollte er einen Fliegenschwarm auseinanderjagen; dabei wich er langsam zurück. Die andern wollten ihn doch nicht im Stich lassen und folgten ihm. Nun wurden die Chinesen mutiger und drohten den Neurigensern mit der Faust.

»Ihr dürft mir nicht die Faust zeigen,« schrie Kahrklis mit zornrotem Gesicht, »ich bin drei Jahre lang Magazinsaufseher gewesen! – Jungens!« Dabei rannte er von einem seiner Landsleute zum andern: »Ihr alle seid Zeugen, daß sie mir die Faust gezeigt haben!«

»Und auch die Zunge,« meinte einer, indem er auf die Chinesen wies, die jetzt wirklich unglaublich lange Zungen herausgestreckt hatten.

»Ihr dürft mir aber nicht die Zunge zeigen,« rief Kahrklis mit drohend erhobener Faust, dann setzte er wieder russisch hinzu: »Ins Gefängnis, alle ins Gefängnis!«

Die Chinesen fuhren lachend in ihren Unehrerbietungsbezeugungen fort.

»Peter, gib mir die Flinte,« brüllte Kahrklis atemlos vor Wut, »das ist Beschimpfung, – Beschimpfung des Gemeindevorstands ...« Und die Flinte schwingend und mit den Füßen trampelnd drang er nun auf die Chinesen ein, sich oftmals umschauend, ob seine Getreuen ihm auch folgten.

Den Chinesen schien die Flinte nicht recht zu behagen; sie drohten zwar noch mit der Faust, wichen aber in dem Maße zurück, wie die Letten vordrangen, und so hätte der tapfere Anführer der Neurigenser die gelben Kerle vielleicht wirklich in den Wald gejagt, wenn der Hofzaun das nicht verhindert hätte: den wollte Kahrklis um keinen Preis der Welt überschreiten. Als die Chinesen das merkten, traten sie wieder sicherer auf. Allmählich aber kühlte auf beiden Seiten die Kampflust ab. Auch fiel es den Kolonisten ein, daß sie keine Stricke zum Binden der Gefangenen mitgenommen hatten. Eben sollte ein Bursche ins Dorf zurückgeschickt werden, um eine starke Leine zu holen, als plötzlich schauderhaftes Geschrei aus dem Wäldchen erschallte; man konnte nicht unterscheiden, ob es von einem Menschen oder einem wilden Tier herrührte, – es war ein gellendes, langgezogenes »aaah«. Entsetzt blickten alle nach der Richtung, woher sich das Geschrei und das Knacken brechender Äste mit Windeseile näherte. Bevor jemand ein Wort hervorbringen konnte, stürzte eine Frauensperson mit wirren Haaren, zerknülltem Kopftuch, offener Jacke und herabgeglittenem Rock aus dem Walde hervor und grade auf die Neurigenser zu. Was sie schrie, konnte niemand verstehen, aber nach der Totenblässe ihres Gesichtes und den vor Schrecken weit aufgerissenen Augen zu urteilen, sollte sie wahrscheinlich sofort an den Bratspieß gesteckt werden. Die tapfern Neurigenser sprangen alle wie auf Kommando beiseite; die Chinesen, die vermutlich glaubten, daß sie nun von einer neuen Feindesschar überfallen werden sollten, rannten wie die Hasen in den Wald, in dem sie spurlos verschwanden. Niemand dachte daran, sie zu verfolgen. Der junge Kahrklis war der erste, der Georgs Haustür entdeckte, und ihm nach stürmten die andern schreiend und sich stoßend in die Stube, verriegelten die Tür und stemmten sich obendrein mit vereinten Kräften dagegen.

Das schauderhafte Geschrei ertönte jetzt in allernächster Nähe und jemand gab sich alle Mühe, die Tür von außen zu öffnen; doch die Neurigenser ließen nicht locker.

»Haltet, haltet,« rief halblaut Kahrklis, der sich auf den Herd geschwungen hatte und die Flinte schützend vor sich hielt, als wehre er einen drohenden Schlag ab. »Ans Fenster! Ein paar von euch ans Fenster!«

»Was treibt ihr für Possen?« fragte plötzlich eine ruhige Stimme in die allgemeine Aufregung hinein. Es war Mariens, der Tochter des alten Georg, Stimme. Das Mädchen hatte die ganze Zeit am Fenster gestanden und dem Kriege zwischen Letten und Chinesen zugesehen, und jetzt erkannte es auch das schreiende Weib, das wie wahnsinnig an die Tür polterte.

»Laßt sie herein,« rief Marie denen zu, die die Türe zuhielten und stieß einige von ihnen zur Seite, »es ist doch unser Annchen!«

Zwei, drei Köpfe fuhren ans Fenster, prallten zurück, streckten sich wieder vor.

»Jawohl, die Anna,« sagte jemand ganz erstaunt. Die Tür wurde geöffnet und Anna, des alten Georg Magd, stürzte herein und sank sofort zu Boden. Sie konnte kein Wort mehr hervorbringen und bewegte nur stumm die Lippen wie ein aufs Trockene geratener Fisch.

Auf dem Hof war alles still und niemand verfolgte Anna. Der alte Kahrklis stieg vom Herd herunter und ging brummend von einem Fenster zum andern; wenn er an der am Boden liegenden Magd vorüberkam, spuckte er kräftig aus und schnauzte: »Altes Weib!« Diese Worte sollten seine ganze Verachtung ausdrücken. Aber das arme Mädchen bemerkte das nicht einmal. Es schnappte nach Luft und wand sich wie in Krämpfen oder als spüre es die Krallen eines Raubtieres im Rücken. Marie goß der Armen eine gute Portion Wasser ins Gesicht und hinter den Kragen, zwei andere Weiber richteten sie auf und zwangen sie zum Trinken. Da endlich fand sie ihre Stimme wieder, schrie angstvoll: »Sie kommen, sie kommen!« sprang entsetzt auf und rannte ins andere Zimmer, wo sie sich kopfüber aus dem Fenster stürzen wollte. Nur mit Mühe konnte sie von Marie, die sie an den Kleidern gepackt hatte, zurückgehalten werden.

»Sie kommen, sie kommen!« jammerte Anna, »aber ich ergeb' mich nicht, ich spring' in den Fluß, ich spring' in den Fluß! – Ach Gott, mein Schweinchen, ach, ach, mein Schweinchen!«

Es war nicht herauszubekommen, ob Anna an Krämpfen litt, ob sie plötzlich den Verstand verloren hatte oder ob ihr im Walde irgend ein Ungeheuer begegnet war.

Der alte Kahrklis hatte seine eigene Meinung.

»Chinesen werden ihr begegnet sein,« sagte er nachdenklich, »warum sonst würde sie schreien, daß sie sich nicht ergeben will?«

»Ja aber warum verfolgen die Chinesen sie denn nicht?« fragte die alte Kahjaut, die sich nicht so leicht von einem Manne überzeugen ließ.

»Was weißt denn du?« antwortete Kahrklis verächtlich und wandte sich wieder der Tür und dem Fenster zu.

»Haltet die Augen offen, Jungens,« ermahnte er die Burschen, die mit Dreschflegeln bewaffnet am Fenster standen, »sobald ein Kopf zum Vorschein kommt, haut drauf los. Jetzt gibt's kein Zögern mehr. – Ich werd' die Anna ausfragen.«

Anna war ein wenig zu sich gekommen. Nach langem, vergeblichem Zureden, als Kahrklis schon in Wut geraten war und sich von dem »albernen Frauenzimmer« abgewendet hatte, gelang es Marie, aus dem Mädchen folgendes herauszubekommen:

Während die Neurigenser auf den Chinesenfang ausgegangen waren, hatte Anna sich ihrem Schweinchen gewidmet. Sie pflegte es allmorgendlich auf die Waldwiese zu führen und mit einer langen Schnur an einen in die Erde getriebenen Pflock zu binden. Dort konnte ihr Liebling graben und wühlen und sich während der Mittagsglut im kühlen Bächlein wälzen. Als Anna gehört hatte, daß die Kolonie jeden Augenblick von Chinesen überfallen werden könnte, hatte sie sich vorgenommen, mit ihrem geliebten Schwein zusammen zu sterben, wenn das Gottes Wille sein sollte.

»Lebend werd' ich mich ihnen nicht ergeben und ebensowenig werd' ich ihnen mein Ferkelchen lebend überlassen,« rief sie auch jetzt noch, während sie Marie ihre Erlebnisse schilderte; dann besann sie sich und begann wieder zu jammern: sie hatte ja ihren Liebling nicht mehr im Walde vorgefunden, als sie ihn heimholen wollte.

»Nicht einmal den Pflock haben diese Heiden zurückgelassen,« wehklagte sie, »und ich hab's doch so geliebt, ich hab's mit solcher Sorgfalt aufgezogen, und nun fressen's diese Heiden, diese ungetauften Bösewichter!«

Dann aber kam das Merkwürdigste: Anna hatte hinter dem Wäldchen Menschenstimmen und Pferdegewieher gehört. Die Unsrigen pflügen hier doch noch nicht, hatte sie sich gedacht und hatte den Kopf vorsichtig aus dem Gebüsch hervorgestreckt.

»Ach du mein Gott, was hab' ich da für Banditen gesehen! Alle zu Pferde, alle mit Peitschen in der Hand, alle schreiend und schimpfend. Und unser armer Hans mitten darunter. Er hielt noch die Zügel des einen Pferdes, aber die Räuber schrien auf ihn ein und schlugen ihn auf den Kopf ...«

»Unsern Hans?« fragte Marie erbleichend, »hast du genau gesehen, daß es unser Hans war?«

»Werd' ich denn den eigenen Hausgenossen nicht erkennen?« rief Anna gekränkt aus, um dann gleich wieder zu jammern:

»Sie werden auch uns totschlagen, Mariechen, – sie werden uns totschlagen, so wie sie mein armes Schweinchen totgeschlagen haben. Wer weiß, wo seine Knochen jetzt bleichen? – Ach und wie hab' ich's gepflegt und gehütet! Keinen Bissen hab' ich gegessen, den ich nicht mit ihm geteilt hätte! Ach mein Herr und Gott, ach Mariechen, Mädchen, es war ja mein einziger Freund hier in der Fremde. Und nun kommen diese Räuber und erwürgen es am hellen lichten Tage. Bei Gott, Mariechen, sie werden's mit der Schlinge erwürgt haben, sonst hätte es ja doch gequiekt. Und unter tausend anderen hätte ich sein Quieken gehört und hätte das arme Tier den Räubern aus dem Rachen gerissen. Aber natürlich werden sie ihm das Kehlchen zugeschnürt haben und da blieb ihm nichts übrig, als die Füßchen von sich zu strecken.«

Annas Bericht versetzte die ganze Schar in Bangigkeit. Nicht gerade um des erwürgten Ferkels willen, – aber nun stand's ja außer Frage, daß Chinesen in der Nähe waren, daß sie die Kolonie von allen Seiten belagert hatten. Und dort hinter dem Wäldchen war bereits Blut geflossen, dort war wohl auch des alten Georg Haupt zur Erde gerollt, wenn er nicht am Ende mit diesen Empörern und Mördern unter einer Decke steckte. Mit geteilten Empfindungen blickten alle auf Marie: sollte man sie bemitleiden oder verachten? War sie eine Waise oder die Tochter eines Verräters?

Als die Sonne sich hinter den Bäumen versteckt hatte, tönte Gejohle und Pferdegewieher aus dem Walde. Nun würden die Chinesen wohl die Wohnungen der Kolonisten ausplündern, den aus der Ferne Eingewanderten den letzten Bissen Brot rauben und sie hier in der Fremde in hilfloser Einsamkeit zurücklassen. War da der Weg, von dem Anna in ihrer Angst gesprochen hatte, nicht wirklich verlockender: hinein in den Fluß, um dem Elend so schnell als möglich ein Ende zu machen? – Ach ja, wenn wir Menschen das Leben nicht gar so lieb hätten und wenn die Hoffnung nicht über unserem Haupte schwebte wie die Möve über den Wogen! Weithin tönt der Schrei dieses Vogels und noch im Untergehen meinst du seinen Ruf zu hören.

Die flüsternden Stimmen in Georgs Haus verstummten nach und nach. Jeder hatte seine Gedanken ausgesprochen und doch war niemand von der eigenen Meinung überzeugt.

Neues geschah nichts; alles war wie ausgestorben ringsum ... Nur aus einiger Entfernung schallte Viehgebrüll herüber; dort warteten die Kühe, die von der Weide zu ihren Ställen zurückgekehrt waren, auf das Gemelktwerden. Die Frauen horchten hin und jede erkannte das Brüllen ihrer Kuh und bedauerte das arme Tier, das mit vollem Euter nach menschlicher Hilfe rief. Und in ihrem Herzen wurde die Freude wach, daß das Vieh noch am Leben war, und die dunkle Ahnung, daß alles noch gut werden könnte. Die Frauen flüsterten bei jedem Brüllen miteinander, aber keine kam auf den Gedanken, nach Hause zu gehen, um das Vieh zu betreuen. Wie eine unübersteigbare Mauer hatte sich das Entsetzen zwischen ihnen und ihren Tieren aufgetürmt.

Marie hatte niemand, dem sie etwas zuflüstern konnte: niemand hatte sich neben sie gesetzt. Sogar Anna beweinte ihr Schweinchen im entgegengesetzten Winkel. Marie fühlte, daß sie auf sich allein angewiesen war. Niemand störte sie in ihren Gedanken, – und sie hatte viel zu denken. Ihre anfängliche Aufregung hatte sich gelegt, und wenn das Herz noch erbeben wollte, sobald ein gewisser Gedanke wie glühendes Eisen dran rührte, dann sagte sie sich fest: »Ich muß erst alles überlegen!«

Und sie überlegte. Erstlich, daß die Chinesen Hans geschlagen haben sollten. Anna hatte erzählt, daß Hans ein Pferd am Zügel gehalten habe, und daß die reitenden Chinesen die Peitsche über ihm geschwungen. Sollte Hans allein einem feindlichen Pferde in die Zügel gefallen sein, wenn er von einer ganzen Schar angegriffen worden? Und sollten die Chinesen wirklich weiß Gott was für ein Geschrei erhoben haben wegen eines einzigen unbewaffneten Menschen? – Vielleicht war also die Gefahr für Hans doch nicht so groß gewesen. Und warum war der Lärm aus dem Wäldchen so lange noch zu hören? Warum waren die Kühe der Kolonisten noch am Leben, obgleich ihr Gebrüll sie den Feinden verraten mußte? Und wenn die Chinesen den Tieren nichts zuleide getan hatten, warum sollten sie da diesen bedauernswerten Leuten nach dem Leben trachten, die hier zusammengelaufen waren, wie vor dem eigenen Schatten fliehend?

Ja aber der Vater und Hans hätten doch schon längst vom Felde zurück sein sollen! Und das Nachtmahl müßte schon auf dem Tisch stehen! Der Vater hatte zwar gesagt, sie solle das Essen nicht früher bereiten, als bis er heimgekehrt sei, und sie hatten ja auch etwas mitgenommen. »Wer weiß, wann wir mit der Arbeit fertig werden!« hatte der Vater gesagt, – aber dennoch, die Nacht hindurch waren sie doch noch nie auf dem Felde geblieben. Sehnten sie sich denn nicht nach der stillen Stunde, in der die Glieder, durch des Tages Arbeit ermüdet, rasten dürfen, während der Friede des Feierabends und das Bewußtsein der erfüllten Pflicht wie grüngoldige Dämmerung die Seele umfängt? An andern Tagen saß Hans um diese Zeit bereits hier auf der Ofenbank und sah träumerisch in die Abendröte, während das Heimchen hinter dem Ofen sein einschläferndes Zirpen hören ließ. Ach, es ist so etwas Beglückendes um das trauliche Beisammensein unter dem eigenen Dache. Es ist so schön, in Ruhe dazusitzen, wenn der Schlaf durch die Welt zieht, und sich zu sagen: Du bist in Sicherheit bei deinen Lieben! Die Dunkelheit der Nacht macht unsere Welt zwar klein und begrenzt, doch je kleiner die Welt, desto näher sind uns die, die uns lieben.

Hans und der Vater kamen noch immer nicht. Und die Kühe brüllten so kläglich vor den Ställen. Es war schon so spät, und wenn die Männer nun müde und schläfrig von der Arbeit kamen, mußten sie noch warten, bis das Nachtmahl gewärmt war ...

Mit plötzlichem Entschluß stand Marie auf und nahm den Milcheimer. Niemand sagte etwas, als sie zur Tür hinausging. Es war, als hätte sich eine riesengroße Eisscholle zwischen das Mädchen und die andern alle geschoben. Mochte die Fremde doch ihrer Wege gehen!

Marie durchschritt den Hof, dann den neueingerichteten Garten und blieb am steilen Flußufer stehen. Von den Wiesen stieg weißer Nebel auf und erfüllte allmählich das ganze Tal wie ein träumendes Meer, das langsam und ungleichmäßig zu Mariens Füßen wogte, als hätte es Zeit und Raum vergessen. Ob dort auf dem Grunde dieses Meeres nicht eine andere Welt lag, so eine friedlich schlummernde Welt, in der die Menschenbrust nur ganz leise und leicht atmete?

Irgend etwas Kaltes berührte Mariens Hand und weckte sie aus ihren Träumen. Das war Bär, der treue Hund, der seine Freude über das endliche Erscheinen seiner Herrin äußerte. Fröhlich winselnd eilte er ihr durch den Nebel voran. – Die Kühe erkannten Mariens Schritt schon von weitem und brüllten ihr freudig entgegen, und ihr strömte das Blut heiß zum Herzen. Ihr war, als sei sie nun von der bedrückenden Einsamkeit befreit, die ihre Seele inmitten der mißtrauischen Neurigenser gequält hatte. »Ihr und ich, – ja, ihr und ich!« murmelte sie fast zärtlich, während ihre Hand den Hals einer Kuh streichelte. Das Tier wandte den Kopf und versuchte, die liebkosende Hand zu lecken. Dann beruhigten sich die Kühe und bald hörte man nur noch ihr schläfriges Wiederkäuen und das gleichmäßige Hineinströmen der Milch in den Eimer. – – –

Nachdem Marie hinausgegangen war, herrschte tiefes Schweigen im Zimmer. Man schämte sich im stillen der eignen Feigheit gegenüber dem Mut des Mädchens, und in eines jeden Brust erwachte der Zweifel, ob denn die Gefahr wirklich so groß sei, daß man sich hier gleich erschreckten Schafen zusammendrängen mußte. Dann versuchte man sich selbst zu rechtfertigen, und es meldeten sich auch andere Gefühle, die die Verwunderung über Mariens Kühnheit verdrängten. Noch aber kämpften diese verschiedenartigen Empfindungen in den Herzen der Neurigenser und boten kein greifbares Bild, formten sich zu keinem hörbaren Wort. Daher schwieg man. Der alte Kahrklis war der erste, der mit seinen Gefühlen ins reine kam.

»Nun ja!« brummte er, »eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus!«

Natürlich, das war des Rätsels Lösung: Mitwisserin! Da hatte sie freilich nichts zu fürchten! – Jeder dachte es sich, aber noch immer schwiegen sie.

»Die wird nicht mehr zu uns zurückkommen!« fuhr Kahrklis boshaft fort, »oder aber – sie kommt und zeigt den Chinesen, wo wir sind.«

Neue Aufregung bemächtigte sich der Neurigenser.

»Damit sie uns fangen wie Mäuse in der Falle!« sagte jemand in dumpfem Groll.

»Genau so!« meinte ein anderer; »draußen in der Finsternis – da wäre noch Rettung möglich, – der Wald ist ja nah. Aber hier in der Stube – wirklich, wie in einer Mausefalle!«

Und nun wurde es ihnen klar, daß des alten Georg Haus ihnen keine Sicherheit gewähre.

Wieder war der alte Kahrklis der Gescheite. »Wenn ihrer viele sind,« meinte er, »gibt's für uns ja doch keine Rettung; sind's aber wenige, so können wir uns hier besser verteidigen als draußen auf der Fläche.«

»Ja, wie soll man nun wissen, wie viele es sind?« fragte jemand, »vielleicht ist das ganze Wäldchen voll!«

Da faßte der junge Kahrklis sich ein Herz. »Vater,« sagte er, »ich will hinaus und ein wenig Umschau halten.«

»Wohin willst du?« fragte der Alte streng.

»Ich werd' ein bißchen herumspionieren. Sind ihrer viele, so benachrichtige ich euch. Noch wär's Zeit, im Schutze der Dunkelheit zu flüchten.«

»Du hast Kurage!« tönte es bewundernd aus einem Winkel. Der alte Kahrklis hörte dies Lob. Es kam ihm in den Sinn, daß man auch im Kriege Spione ausschickte und Wachen aufstellte, die beim Herannahen des Feindes Signalschüsse abzugeben hatten.

»Gut, so geh und gib uns ein Zeichen, wenn du etwas bemerkst.«

»Was für ein Zeichen?«

»Wenn ihrer viele sind, so schrei zweimal, – sind's wenige, dann einmal.«

Der junge Kahrklis nahm die Flinte und ging zur Tür hinaus.

Die Wahrheit zu sagen: es war zweierlei, was ihn hinaustrieb. Erstens fühlte er sich mit der Waffe in der Hand draußen in der Finsternis sicherer als in dem menschenüberfüllten Zimmer; wenn man draußen eine Gefahr witterte, konnte man ja in den Wald davonschleichen; wie aber sollte man sich retten, wenn die Chinesen das Haus in Brand steckten? – Und zweitens: wenn er jetzt so mit einem kleinen Umweg zum Fluß schlenderte, dorthin, woher das Gebrüll der Kühe herübertönte, so konnte er vielleicht mit Marie zusammentreffen. Ihm schien's, als wäre es lustiger, zu zweien vor den Feinden zu fliehen, und in dieser gefahrvollen Nacht würde Marie wohl weniger unnahbar sein als sonst. An ihr Einverständnis mit den Chinesen glaubte er nicht recht, dazu erschienen ihm die Kerle zu unappetitlich.

Aufmerksam horchend schritt er dem Flusse zu und erschrak bald vor seinem Schatten, bald vor einem nahen Baume. Man sah nicht viel in der Dunkelheit, die durch dichten Nebel verstärkt wurde. Chinesen schienen nicht in der Nähe zu sein, aber auch von Marie war keine Spur zu entdecken. Er blieb oft stehen und lauschte angestrengt; im Dorf blökte ein Kalb, – sonst war weit und breit nichts zu hören. Plötzlich durchschauerte es ihn kalt: wurde da nicht gesprochen, dort, in der Nähe des Wäldchens? Er duckte sich hinter einen Busch und suchte unter Herzklopfen nach dem Hahn der Flinte. Gutwillig ergebe ich mich nicht, dachte er und biß die Zähne fest zusammen, damit ihr Klappern ihn nicht verrate; vielleicht konnte er unbemerkt bleiben, wenn er sich ruhig verhielt. Die Herankommenden waren nicht zahlreich, vielleicht zwei oder drei, aber daß jemand kam, war sicher. Der Bursche vernahm von Zeit zu Zeit einzelne Worte in fremder Sprache, – so sonderbar klangen sie, – als spräche jemand stark durch die Nase. Ein paarmal verstand Kahrklis ganz deutlich: »Chung, chung ... Natürlich waren's Chinesen und wahrscheinlich sprachen sie von Lihungtschang, – so hieß ja ihr Anführer, wie der Flintenverkäufer ihm erzählt hatte. Obgleich seine Hand zitterte und das Herz zum Zerspringen schlug, zog er den Hahn auf. Ob das geräuschlos oder mit Knacken vor sich ging, kam ihm nicht zum Bewußtsein, denn in seinen Ohren sauste und brauste es wie ein Wasserfall.

Vielleicht hatten die Chinesen irgend ein Geräusch gehört: sie blieben stehen, überlegten ein Weilchen, flüsterten miteinander – und nun näherten die Schritte sich grade der Stelle, wo Kahrklis hinter dem Busch hockte.

»Ob ich mich jetzt nicht leise den Uferabhang hinuntergleiten lassen und im Nebel verschwinden sollte?« fragte er sich bang. Doch dann war's ihm, als rühre sich auch im Nebel etwas und als winsele und brumme es da unten im Tal. Plötzlich trat der Mond aus den Wolken hervor und übergoß die Ebene mit seinem Licht, und nun wagte Kahrklis sich nicht mehr von der Stelle. Vielleicht blieb er hier im Gebüsch doch noch unentdeckt. Jetzt erblickte er die Feinde. Nein, es war nur einer, – kaum zwanzig Schritt von ihm entfernt; auf allen Vieren kriechend näherte er sich dem Versteck des Burschen. Jetzt erhob er den Kopf, wandte ihn bald nach rechts, bald nach links, und Kahrklis konnte seinen weißen Schafspelz im Mondschein leuchten sehen. Der Chinese hielt ein Weilchen still, dann stieß er wieder ein ärgerliches »Chung!« hervor und kam noch näher heran.

Das Herz des Burschen drohte still zu stehen. Halb besinnungslos riß er die Flinte an die Wange und tastete nach dem Hahn, – im selben Moment krachte ein Schuß, – er fühlte einen heftigen Stoß vor den Kopf, der Chinese aber schrie auf wie ein Tier, versuchte sich aufzurichten, fiel aber auf der Stelle nieder.

Von Entsetzen ergriffen rannte Kahrklis zum Hause zurück und stürzte atemlos in die Stube.

»Sie kommen, sie kommen!« schrie er und bemerkte jetzt erst, daß er die Flinte nicht mehr hatte. Was sollte sie ihm jetzt auch noch nützen? Wie sollte er sie in der Dunkelheit wieder laden?

Die Frauen begannen zu jammern und Gebete zu stammeln. Eine von ihnen wollte aus Angst die zehn Gebote hersagen, blieb aber schon beim zweiten stecken. Anna, die schon gegen jede Gefahr abgestumpft war, sang andächtig: »Herzlich tut mich verlangen nach einem sel'gen End'!«

Die Tür war halb offen geblieben und niemand dachte daran, sie zu schließen. Der alte Kahrklis hatte sich in einen Winkel gedrückt und stöhnte: »Ach Göttchen, ach Göttchen!« Die alte Kahjaut hatte die Arme um den Hals ihres Sohnes geschlungen und flehte ihn an, sie nicht zu verlassen. Zwei Nachbarinnen, die mehrere Wochen lang kein freundliches Wort gewechselt hatten, hielten sich umarmt und riefen einander zu: »Rette mich, Schwesterchen, rette mich!«

Anna saß jetzt mit geschlossenen Augen auf dem Herd, hielt sich die Ohren zu und sang mit Todesverachtung ihren Choral, wobei ihre Stimme zuweilen umschlug oder plötzlich und unmotiviert um einige Töne in die Höhe fuhr.

Mit einem Male verstummte alles Gejammer: in der Tür erschien ein Chinese, blieb auf der Schwelle stehen und horchte. Alles hielt den Atem an, nur Anna sang unbekümmert weiter: »Alle Menschen müssen sterben ...«

Der Chinese trat ein. Kahrklis warf sich inmitten des Zimmers auf die Knie und flehte um Gnade: »er werde nie wieder so was tun!« Die Weiber versteckten und duckten sich eins hinter dem andern; der junge Kahjaut kletterte schnell zum Fenster hinaus und der junge Kahrklis wollte ihm folgen, aber zwei Frauenzimmer klammerten sich an ihn wie Ertrinkende; soviel er auch um sich schlug und stieß, – sie drängten sich nur noch näher an ihn heran.

»Was treibt ihr nur?« fragte der Chinese plötzlich in reinstem Lettisch. Himmel, das war ja gar kein Chinese, das war ja Marie, die mit dem vollen Milcheimer in Händen auf der Schwelle stand!

»Mariechen, Mädchen,« schrie der alte Kahrklis sich aufrichtend, »schließ die Tür, so schließ doch die Tür!«

Die Tür wurde geschlossen; das Jammern und Weinen hörte auf. Auch Anna begriff, daß sie noch nicht geschlachtet werden sollte, und verstummte. Und nun erzählte der junge Kahrklis, was er erlebt hatte.

So lauerte die Gefahr also dennoch irgendwo in der Nähe wie ein grünäugiges Ungeheuer. Durch Dunkelheit und Nebel kam sie aus dem Walde oder vom Flusse her und rückte näher und näher, und bald mußte dies gespenstige, kalte, erbarmungslose, todbringende Etwas die Versammelten erreicht haben. Und Blut war also auch schon vergossen, Menschenblut! Der junge Bursche hatte einen Menschen getötet. Und alle fühlten, wie sich eine schwere, unheildrohende Wolke auf sie niedersenkte.

Das Mißtrauen gegen Marie begann zu schwinden, ja man schämte sich fast, daß man das Mädchen verdächtigt hatte. Wozu zweifeln und hassen in solcher Stunde, in der man vor Angst kaum zu atmen wagt und weiß, daß die eigene Brust jeden Augenblick vom Feindesschwert durchbohrt werden kann?

Einige Frauen setzten sich zu Marie, seufzten schwer und rückten nah an sie heran.

»Dein Vater kommt noch immer nicht, Mariechen!« sagte die eine und seufzte wieder.

»Wird ja wohl bald kommen!« glaubte die andere trösten zu müssen.

»Weißt du nicht, wo er heute arbeiten wollte?« erkundigte sich die erste.

»Hinter dem Birkenwäldchen,« erwiderte Marie. Auch in ihrem Kopf wogten wieder unruhvolle Gedanken hin und her.

»Hinter dem Wäldchen? – Ist Hans bei ihm?«

»Jawohl, sie arbeiten zusammen.«

Alle schwiegen. Aus einer Ecke ertönte ein schwerer Seufzer. Dann ließ sich die Trösterin von vorhin vernehmen: »Wahrscheinlich wollen sie draußen übernachten.«

Marie antwortete nicht; ihr war das nutzlose Hin- und Hergerede nur lästig und ihre Unruhe wuchs.

»Haben sie denn auch warme Kleider mit?« erkundigte sich eine fürsorgliche Nachbarin.

»Ja, sie haben Pelze,« antwortete das Mädchen fast widerwillig.

»Pelze?« schrie der junge Kahrklis auf. Marie sah ihn erstaunt an.

»Nun ja, die kurzen weißen Schafspelze – « und im selben Augenblick überlief es sie eiskalt: hatte Kahrklis nicht erzählt, daß der von ihm erschossene Chinese einen solchen Pelz angehabt hatte? Sie wollte aufstehen, aber die Füße versagten ihr den Dienst.

Der junge Kahrklis wurde unruhig. Er schritt ein paarmal durch das dunkle Zimmer, räusperte sich und erklärte plötzlich:

»Ich – wartet – ich geh' doch noch einmal ums Haus, – vielleicht daß – in solchen Zeiten muß man aufpassen!« Und seine Zähne schlugen wie im Fieberfrost aufeinander.

Marie hatte Kraft und Besinnung wiedergewonnen. »Ich muß mit,« dachte sie sich, »vielleicht ist er nur verwundet.« Und sie drängte mit Gewalt die quälenden Gedanken zurück, die ihre Seele umflatterten wie Nachtschmetterlinge die erleuchtete Fensterscheibe. »Nur an das Eine muß ich jetzt denken,« sagte sie sich, »alles andere kommt später.«

Der junge Kahrklis verließ das Zimmer; Marie schlang das große Tuch fester um die Schultern und wartete, bis er etwa zwanzig Schritte weit gegangen sein konnte, dann stand sie auf und ging schweigend zur Tür hinaus.

Kahrklis war bereits im Dunkel der Nacht verschwunden, aber Marie erinnerte sich, wo der Schuß gefallen war, und eilte mit unhörbaren Schritten der Stelle zu. Ja, dort schlich der Bursche wie ein Dieb vorwärts, blieb zuweilen stehen und lauschte. Dann wartete das Mädchen, bis er weiterging, um ihm lautlos zu folgen. Jetzt mußte er an Ort und Stelle angelangt sein. Marie sah, wie er sich über etwas Helles, am Boden Liegendes beugte; er versuchte es aufzurichten, doch der leblose Körper sank gleich wieder zurück. Marie fühlte, wie's in ihrem Herzen einen Riß gab. Wie eine Rachegöttin stand sie plötzlich neben Kahrklis und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»O weh!« schrie der Bursche auf und war im selben Augenblick verschwunden; nur das Knacken und Brechen der Äste im Gebüsch bezeichnete den Weg, den er genommen.

Nun neigte Marie sich zitternd über den Erschossenen. Ja was war denn das? – Da lag ja – Annas geliebtes Schweinchen! Sogar Strick und Pflock hingen noch an seinem Halse.

Im ersten Augenblick wollte Marie laut auflachen, dann aber schämte sie sich für die, die dort in der dunklen Stube saßen und Überfall und Tod erwarteten. Voller Ekel wandte sie sich von dem Hause ab; sie mochte nicht mehr hineingehen. Aufmerksam blickte sie nach allen Seiten, um zu erkennen, wo sie sich befände; ein paar Sternlein blinkten aus den Wolken hervor und der nordöstliche Himmelsrand erglühte bereits in Erwartung der Sonne. Dort lag das Birkenwäldchen, hinter dem der Vater und Hans arbeiteten. Sie brauchte nur der nahenden Sonne entgegenzugehen, dann mußte sie auch ohne Weg und Steg durch das Wäldchen kommen und den neuen Acker erreichen.

Mit vollen Zügen die kühle Nachtluft einatmend, blickte Marie nach der kaum merklich aufleuchtenden Morgenröte hin und ihr war, als verschwinde der Schrecken der Nacht dort im Nebel hinter ihrem Rücken, als verstecke er sich dort im Weidengestrüpp, sich seiner Ohnmacht schämend. Der Tau senkte sich auf ihr Gesicht und das feuchte Gras schlang sich um ihre Füße, – sie fühlte nichts und dachte an nichts, als daß sie dort hinter den Birken den Vater finden würde, den Vater und – Hans. Und ihr Herz schlug in frohem Stolz bei dem Gedanken: Hans hätte sich nicht so lächerlich feige benommen wie die anderen.

Mit vorgestreckten Händen tappte sie sich von Baum zu Baum durch den Wald. Bald war die blasse Morgendämmerung hinter den Bäumen verschwunden und durch die dichten grünen Wipfel schien kein einziges Sternlein hindurch. Aber in der Ferne brüllten von Zeit zu Zeit die Kühe auf, die noch immer der Melkerinnen harrten, und nach ihrem Gebrüll konnte das Mädchen immer wieder die Richtung berechnen. Nach einer Weile sauste ein frischer Wind durch die Baumwipfel und nun war ein Verirren unmöglich; der Wind kam gerade von dem Acker her, zu dem Marie eilte, und ihr war, als flüstere er ihr Grüße zu von ihren Lieben. Als ein taufeuchter Zweig ihr ins Gesicht schlug, lachte sie glücklich auf und wußte doch selbst nicht, warum ihr plötzlich so lustig zumute war.

Bald trug ihr der Wind ein wohlbekanntes Geräusch zu: das Klirren der Fußfesseln ihrer Pferde. Und richtig, dort graste der Braune, dort der Schimmel! Aber was bedeutete denn das? Da war ja noch ein drittes Pferd! Verwundert blieb Marie stehen und blickte hinüber zu dem fremden dunklen Pferde, das gleich den andern eiserne Fußfesseln trug und friedlich neben ihnen weidete; jetzt hob es den Kopf und blickte dem Mädchen mit leisem Wiehern entgegen.

Marie schaute sich um. Etwas weiter, dort am Waldrande unter dem dichten Baum, war ein Feuer angezündet. Ein Mann saß in tiefe Gedanken versunken davor, während ein anderer am Boden auf einer Pferdedecke lag und zu schlafen schien. Marie erkannte den weißen, vom Feuer beleuchteten Schafspelz des Ruhenden. Nun wandte auch der andere das Gesicht dem Feuer zu, – es war Hans. Vorsichtig näherte Marie sich ihm und sagte leise:

»Guten Morgen, Hans!«

Der junge Bursche war ihm Nu auf den Füßen.

»Guten Morgen, Marie,« flüsterte er mit kaum verhaltenem Jubel, »hast du schon mein Pferd gesehen?«

»Ist denn das dein Pferd?« fragte das Mädchen erstaunt.

»Ja. Ich hab's gestern den Tataren um den Verdienst dieses Jahres abgekauft. Hast du sie nicht gestern im Walde gehört? Sie trieben sich da den ganzen Tag umher wie die Zigeuner.«

Marie lachte unwillkürlich auf.

»Komm, wir wollen es anschauen,« forderte der glückliche Bursche das Mädchen auf, indem er's bei der Hand faßte. Es war das erstemal, daß er das wagte, aber in ihrer Freude fiel's ihnen beiden gar nicht weiter auf.

»Ich hab' die ganze Nacht kein Auge zugemacht,« erzählte Hans, »ich mußte immerzu meinen Braunen anschauen. Weißt du schon, wie wir ihn nennen sollen? Du mußt einen hübschen Namen finden. Weißt du, so einen, der all meine Freude ausdrückt. Ach Mariechen, wie war mir im letzten Winter das Herz so schwer, als ich mein Pferdchen hergeben mußte! Aber ich biß die Zähne zusammen und machte mich tapfer an die Arbeit, ans Verdienen und Sparen. – Sieh nur, was für eine dichte Mähne es hat.« Und er liebkoste den glänzenden Hals des Tieres, das mit gespitzten Ohren und leisem Schnauben auf Marie blickte.

»Wart, Mariechen,« rief Hans, in seiner Tasche nach etwas suchend, »ich hab' da noch eine Brotrinde, – gib ihm die. Und denk dir einen Namen aus, aber einen sinnreichen, bezeichnenden.«

Das Pferd schnupperte, streckte die feuchten Lippen vor und fraß bedächtig das Brot aus Mariens Hand. Marie aber blickte Hans an und sah, wie froh seine Augen durch die Dämmerung leuchteten.

»Ich denke, wir wollen es ›Kraft‹ nennen,« sagte sie dann langsam.

»Ja, Mariechen, das ist das Richtige,« jubelte der Bursche, »ja, jetzt hab' ich wieder Kraft. Jetzt kann ich wieder selbst einen eigenen Acker bestellen. Siehst du, hier steckt uns ja niemand eine Grenze; soweit unsere Kraft reicht, soweit gehört das Land uns. Und, Mariechen, nächstes Jahr kaufen wir uns ein zweites Pferdchen und nennen es ›Arbeit‹!«

Das Pferd rieb seinen Kopf an Mariens Schulter und sie hob etwas zaghaft die abgearbeitete Hand und kraute ihm die Mähne; dabei berührten ihre Finger die auf dem Pferdehalse ruhende Hand des Burschen; beide zuckten erschreckt zusammen und schwiegen wie beschämt. Schweigend schritten sie zum Feuer zurück und setzten sich in einiger Entfernung voneinander nieder. Dann begann Marie von dem gestrigen Kriege der Neurigenser gegen die Chinesen zu erzählen und beide lachten herzlich, aber leise, um den Vater nicht zu wecken. Der aber hatte alles gehört. Langsam richtete er sich halb auf und stützte den grauen Kopf auf die Hand. Ein tiefer Seufzer erschreckte die jungen Leute.

»Haben wir dich aufgeweckt, Väterchen?« fragte Marie.

»Macht nichts,« antwortete der Alte, »bald wird es ja ohnedies Tag und wir können die Pferde wieder vor den Pflug spannen. So viel wir heute aufpflügen, um so viel sind wir den anderen voraus. Wenn sie erfahren, daß wir hier schon ackern, werden sie alle herbeigeeilt kommen wie die Raben.« Und er blickte lange sinnend in die Glut.

»Es ist immer das gleiche,« sagte er endlich, »ich hoffte, die weite Welt würde sie größer und stärker machen. Aber sie bleiben, die sie waren. Den Großen macht das Leben größer, den Kleinen – noch kleiner.«

Er erhob sich und richtete seine hohe Gestalt gerade und stolz auf. Und als im Wäldchen die fremdartigen Vögel ihr Morgengezwitscher ertönen ließen, da zogen die beiden Pflüger bereits schwarze Furchen durch die weite Ebene; mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten folgten sie dem Pfluge, als trügen sie den Segen der Zukunft in ihren Händen.

Marie blieb am Waldesrande noch einmal stehen und sah zu, wie die beiden kräftigen Gestalten durch die tauige, grüne Stille der Morgenröte entgegenschritten. Die schwarze Furche dampfte hinter ihnen förmlich auf, – genau so wie in der Heimat; nur der Star fehlte, der daheim den Pflügern folgte und sich dessen freute, daß der Mensch wie ein Sieger über die Erde dahinschritt.

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