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Draußen tobte das Unwetter, Thoms Melnup saß in der warmen Stube bei Tee und Wein neben seiner Frau Nata, und die Tischlampe beleuchtete friedlich die glatten Zimmerwände. Mit erhitztem Gesicht blickte Frau Nata zum Fenster hin, als ob sie die an den Scheiben entlang gleitenden Regentropfen bewunderte, und Thoms schlürfte eifrig den heißen Tee.
»Nein, Nata, das kann ich nicht!« sprach er endlich und blickte in sein Glas.
Sie wandte den Kopf, lächelte verächtlich und entgegnete: »Du kannst nicht! Nun, so werd ich's Großmutter sagen, daß morgen ihre Kuh auf den Markt geführt wird. So eine Verschwendung kann ich nicht länger dulden. Mit dem Futter, das Großmutter ihrer Kuh gibt, könnten wir sicher zwei auffüttern.«
»Aber fehlt's uns denn an Futter?«
»Na, zum Verschwenden haben wir's doch nicht grade! Außerdem versteh' ich durchaus nicht, wozu sie überhaupt einen Haushalt haben muß? Sie kann doch beim Gesinde essen, wozu noch unnütz in ihrer Hütte Holz brennen?«
»Nun, Frauchen, von dem bißchen Holz und Stroh, was Großmutter für sich verbraucht, werden wir wohl nicht arm werden!«
»So schwätzest du immer! Sammeln und sparen ist nicht deine Sache, aber im Ausgeben und Vergeuden bist du ein Held! Na ja, wie sollte auch so einer, der sich plötzlich an die volle Schüssel setzen durfte, darnach fragen, woher das alles stammt? Hast du, dem der Reichtum auf einmal in den Schoß gefallen ist, auch nur die kleinste Ahnung, wieviel Mühe und Schweiß dazu gehört, um zu etwas zu kommen? Wie man die Kopeken zu Rubeln zusammenlegen muß?«
Thoms schwieg. Die Worte der Frau berührten eine wunde Stelle in seinem Herzen: sie warf ihm seine einstige Armut vor. Nata räumte das Teegeschirr fort, wobei sie lauter und energischer als gewöhnlich auftrat. – – –
»Wie wird's also mit Großmutters Kuh, Thoms?« fragte die Frau beim Schlafengehen.
»Ich werd' mir die Sache noch überlegen,« erwiderte Thoms mit leiser, aber fester Stimme.
»Hoffentlich wirst du dann meiner Ansicht beistimmen. Gute Nacht!«
Nata schloß die Tür des Schlafzimmers, Thoms aber saß noch lange auf und überblickte im Geist seine Vergangenheit. Klar und deutlich traten ihm seine Kinder- und Jugendjahre vor die Seele, bis zu der Zeit, da er Besitzer des Melnuphofes geworden war.
Thoms war schon in seinem vierten Lebensjahr verwaist; damals hatte man ihn an einem trüben Regentage in das kleine Nebengebäude des Melnuphofes zum alten Kamolit gebracht. Das waren keine leichten Tage für ihn gewesen: der alte Kamolit war immer hinfälliger geworden und wollte sich nicht mehr viel mit dem Fischfang plagen. Nur dünne Suppen und kleine Grätenfische waren des Knaben tägliche Nahrung gewesen. Und dennoch – nur durch Kamolits Sorgfalt und Mühe war Thoms geworden, was er heute war. Wer weiß, auf welcher Landstraße er jetzt umherirren würde ohne des braven Alten Leitung!
Der alte Kamolit hatte ihn auf den rechten Pfad gelenkt und ihn gelehrt, das Leben mit ernsthaften, aufmerksamen Augen anzuschauen. Und später war dessen Frau, Großmutter Madde, die einzige geblieben, der Thoms für seine Erziehung Dank schuldete, als der alte Fischer längst nicht mehr die langen Winterabende hindurch Netze strickte und die Tage auf dem unruhigen Meer verbrachte: der Tod hatte ihm schon vor vielen Jahren das Ruder aus der Hand gewunden. Nur sein altes, durchsägtes Boot schützte noch zwei Bienenstöcke im Melnupschen Garten.
Konnte Thoms also der Großmutter ihre letzte Freude rauben, die sie daran fand, ihre Kuh zu pflegen und zu versorgen? Durfte er seiner Wohltäterin die letzten Lebensjahre verbittern, um einem Einfall seiner Frau nachzugeben? – Nein, nein, dem widersetzten sich Gewissen und Pflichtgefühl!
Dann wieder wurde Thoms' Herz von anderen Empfindungen gequält, welche Großmutter verdrängen wollten, und dieser Kampf hinderte ihn am Genuß der Nachtruhe. Er gedachte dessen, daß er erst an dem Tage ein vollzählender, unabhängiger Mann geworden war, an dem er die Schwelle des Melnuphofes überschritten hatte als dessen rechtmäßiger Herr und Besitzer. Erst seit jener Zeit konnte er in der Welt sicher auftreten, konnte zum Wohl seiner Mitmenschen wirken, konnte in Wort und Tat gutes Beispiel geben, denn seine Hände waren nicht mehr durch Armut gefesselt: er besaß Hab und Gut, mit dem er den Notleidenden helfen konnte. So mancher arme Seemann des Ortes pries ihn als seinen Wohltäter; so mancher armen Witwe oder Waise hatte er zur rechten Zeit die Tränen zu trocknen verstanden; bei so mancher wohltätigen Einrichtung der Gegend wurde sein Name mit Anerkennung erwähnt – und alles dieses hatte er nur Natas reicher Mitgift zu verdanken. Was wäre er ohne sie? Ein armer Fischer, der nicht mehr besaß als ein paar Netze und ein schadhaftes Boot!
Die Erinnerung an all dieses machte Thoms schwankend, ob er das Recht habe, gegen seine Frau aufzutreten; es war ja möglich, daß Natas Absicht gut war, und daß er sie nur nicht verstand. Doch dann kamen ihm die bösen Seiten seiner Frau in den Sinn. Er kannte ihren Hochmut und ihren Dünkel und ihre Eigenliebe, und dennoch hätte er sich zu Tode geschämt, wenn er sie dieser Fehler wegen hätte verurteilen wollen.
Die Seelenkämpfe erhitzten Thoms' Blut und ließen ihm die Luft im Zimmer drückend erscheinen. Er trat ans Fenster und blickte, die Stirn an die kühle Scheibe gedrückt, hinüber zur kleinen Hütte am andern Ende des Hofes. Er kannte dies kleine viereckige Häuschen so gut: dort hatte er seine Kinder- und Jugendjahre verlebt. Wenn er des Abends durchnäßt und ermüdet heimgekommen war, hatte ihn dort ein warmes Winkelchen und Großmutters Freundlichkeit erwartet.
Zuweilen hatte Thoms am Fenster der kleinen Stube gesessen und nach dem Melnuphof hinübergeschaut, in dem weitläufige Verwandte von ihm wohnten.
Am Sonntag pflegte er hinüberzugehen und ein wenig mit den anderen Dienstboten zu plaudern. Dabei traf er manchmal seine stolze Base Natalie und sah, wie schnippisch und hochmütig sie mit den Knechten umging. Thoms, der zu diesen gehörte, fühlte sich durch Natas Art beleidigt und ging ihr aus dem Wege. Doch die Zeiten änderten sich ...
Natas Gesichtszüge waren weder schön noch anziehend, im Gegenteil: das runde Kinn und die gerade Nase hatten etwas Eigentümliches, fast Abschreckendes. Dieses »Etwas« im Verein mit Natas Hochmut stieß alle Freier zurück. Hie und da wagte zwar ein Bauernsohn aus der Umgegend einen Versuch, aber als einheimische Strandbewohnerin wollte Natalie nichts von diesen »Auswärtigen« wissen und hielt sie für ihrer unwürdig. So kamen und gingen die Jahre und Nata war noch immer ledig. Schließlich fand sie Gefallen an Thoms' rundem, wetter- und sonngebräuntem Gesicht und seinen großen, mutig blickenden Augen. Und da wurden Thoms und Nata ein Brautpaar.
So wurde Thoms Besitzer des Melnuphofes, die alten Kamolits aber bezogen ein kleines Stübchen neben der Küche des Bauernhauses.
Ein paar Monate nach der Hochzeit erschien in Melnup ein unangenehmer Gast, nistete sich im wärmsten Winkel ein und wollte nicht mehr fortgehen, das war – der Unfriede. Der drückte bald Furchen auf Thoms' Stirn und füllte Natas dichtes Haar mit manchen weißen Fädchen.
Es verging ein Jahr ums andere; die Melnupbäuerin hatte keine Kinder, der Unfriede aber blieb in seinem Winkel hocken und grinste höhnisch.
Natalie wurde der alten Kamolits überdrüssig: »Die sind nur immer den Dienstboten im Wege, sie sollen lieber in ihre Hütte ziehen!«
Das hörten die alten Leute, und als Nata einst nicht zu Hause war, kamen sie zu Thoms und baten, er solle ihnen erlauben, wieder in die kleine Herberge In Kurland heißen die Nebengebäude auf den Gütern und Bauernhöfen »Herbergen«. hinunterzuziehen, dort würden sie allein sein und mehr Ruhe haben.
Thoms schwieg; seine und der Alten Augen füllten sich mit Tränen ...
So zogen Kamolits ins Nebengebäude; doch es scheint, daß der arme Alte es auch dort nicht ruhig genug fand: bald machte er sich auf den Weg nach einem noch engeren, noch stilleren Plätzchen, – er zog auf den kühlen Friedhof hinaus. Nun blieb nur Großmutter Madde mit ihrer Kuh übrig. – – –
Am kleinen Fensterchen ihres Stübchens saß seit der Abenddämmerung die Großmutter und wartete sehnsüchtig darauf, daß das Licht drüben in den Fenstern des Bauernhauses verlöschen möge, und die ganze Zeit hindurch war's nur ein Gedanke, der ihr Hirn quälte, nur ein Gefühl, das ihr Herz erfüllte: wie sollte sie ihre liebe Kuh retten?
Wenn der alte Kamolit selbst noch gelebt hätte, dann hätte sie doch jemand gehabt, auf den sie sich stützen, mit dem sie sich besprechen, dem sie ihren Kummer klagen könnte. Aber jetzt? Jetzt stand sie da wie ein einsamer, verirrter Wanderer im düstern Fichtenwalde. Zu wem sollte sie gehen, an wen sich wenden, wessen Rat erbitten? Wer würde ihr, der armen Witwe, den Weg weisen? – – –
Weiter und weiter ziehen Großmutters Gedanken, über sandige Heiden und dunkle Sümpfe, ziehen hinaus zum kleinen Strandkirchlein – ziehen noch weiter – durch die vereinzelt dastehenden Kiefern – bis zu dem kleinen Hügel, unter dem ihr dahingegangener Lebensgefährte ruht.
Wie gern hätte auch sie ihr müdes, graues Haupt unter jenen Hügel gebettet, doch der Kelch ihres Leidens war wohl noch nicht voll, noch mußte sie auf dieser Welt bleiben, von allen verlassen, von niemand geliebt!
Endlich erlosch das Licht im Vorderhause. Trotz ihres Alters erhob sich Großmutter schnell und schritt flink und leicht aus der Tür; draußen packte sie der Sturm und benahm ihr den Atem. Sie blieb stehen, hustete sich aus und schritt dann zu dem kleinen, seitwärts gelegenen Viehstall, in dem sich ihre Kuh befand. Dort will sie so schnell als möglich den Strick vom Pflock losbinden, doch die knochigen alten Hände sind steif und wollen nicht gehorchen; so sehr sie auch eilt – in ihrer Verzweiflung scheint's ihr, als ob die Zeit noch mehr eile.
Endlich ist der Strick gelöst, doch nun ist Großmutter auch mit ihrer Kraft zu Ende, sie schlingt die Arme um den Hals der Kuh und weint. Ach, sollte die Altersschwäche wirklich ihren Plan vereiteln? Und der ist doch so leicht auszuführen: dort am Meeresstrande hinter den undichten Kiefern auf den sandigen Dünen, wo die moosbedeckte Fischerhütte steht, – nur dorthin gelangen, dann wird ja alles gut sein. Dort will sie ihre liebe Kuh verbergen, das kann ihr niemand verbieten, das geht niemand was an!
Doch der Sturm war stark und ihre Kraft gering ... Lange noch stand Großmutter da, an den Hals ihrer Kuh geklammert. Schneeflocken fielen auf das runzelige Gesicht nieder, Wassertropfen sickerten an den weißen Haaren herab, aber Kummer und Herzeleid erwärmten das Blut und verliehen ihr Kraft zu neuem Kampf.
Die Kuh schritt mit behenden Schritten voraus. Großmutter preßte die eine Hand aufs Herz, wie um dessen heftiges Pochen zu beruhigen, und trieb mit der andern das Tier beständig zu noch größerer Eile an. Allmählich spürte sie, daß ihr die kalten Tropfen den Hals entlang rannen, daß die Füße feucht wurden im Kot, der den Weg bedeckte; ein Frösteln überlief ihren Körper und der Husten wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
Der Pfad führte über die Ebene; der Sturm schleuderte Großmutter ein Gemenge von Schnee und Sand in die Augen. Die Kuh wandte sich zurück; Großmutter stolperte und fiel wehklagend zu Boden. Die Leine entglitt ihren Händen und ihr Liebling trabte durch Schnee und Schmutz dahin zurück, woher er gekommen war. Nach einer kleinen Weile erhob Großmutter sich wieder und eilte, die Kuh mit Schmeichelworten zu sich lockend, vorwärts, doch die Füße versagten den Dienst, die Stirn stieß an etwas Hartes, die arme Alte stürzte nieder und verlor die Besinnung.
Die Glieder wurden schwer, ungelenkig, wie mit Blei gefüllt; Großmutter fühlte weder des Windes noch des Wassers Kälte, die durch die Kleider drang. Vor ihren Augen wogte grauer, von hell funkelnden Sternlein erfüllter Nebel und in diesem Nebel zeigten sich mannigfaltige, verworrene Bilder: irgendwo, hoch oben, wie durch Baumkronen hindurch, zeigte sich Thoms, einen Arm voll schwerer Steine schleppend. Die Steine entfielen ihm und einer von ihnen wälzte sich heran und traf Großmutters Brust. Sie klagte nicht, sondern blickte stumm nach oben. Thoms schaute sie mit nassen Augen an und verschwand in der Ferne ... An einem Aste herabkriechend erschien ihre liebe Kuh und fraß grünes Gras. Großmutter lächelte – aber da war alles wieder verändert ... Sie war auf dem Meer, der Sturm türmte die Wellen beängstigend hoch, – in der Ferne erhob sich eine mächtige Woge, dunkel, schwer, schaumgekrönt, wie Großmutter noch keine gesehen hatte. Alle Kraft zusammennehmend, wollte sie das Boot zum Ufer lenken. An das Steuer geklammert saß ihr Seliger und blickte sie mit weit geöffneten Augen an; ihre Kuh, ihre »Tole«, aber lag auf der Schlachtbank und der Wind spielte mit der Leine, die Großmutters Händen entglitten war. Diese beiden Geschöpfe – die einzigen, die ihr teuer waren – mußten gerettet werden! Aber zwei Wellen schlugen in das Boot und aus einer dritten – seltsam! – ganz dicht vor ihr tauchte Nata aus dem Wasser auf, Seegras in den Haaren, und streckte die schlammbedeckten Hände nach Tole aus. Das Boot schwankte, Großmutter fiel und schlug mit der Stirn ans Steuerruder ... Die schwarze Welle bedeckte sie und das Boot ... Aber ihr war so wohl ... Ihr Mann liebkoste ihr Gesicht; Brust und Kopf schmerzten nicht mehr. Die Hände faltend, lehnte sie das Haupt an ihres Seligen Brust und schloß die Augen ... Irgendwo in der Ferne ertönte bald lauter, bald leiser beruhigender Gesang von wunderbarer Schönheit. Dann wieder erklang ein seltsames Fischerlied – jenes Lied, bei dessen Klängen sie als junges Mädchen, auf den sandigen Dünen umherstreifend, geträumt hatte, – jenes Lied, in dem die Seeleute an langen Winterabenden von so viel märchenhaft schönen Dingen, die noch kein Sterblicher gesehen hat, zu erzählen wußten ...
Und die Schneeflocken glitten langsam durch die Zweige der Tannen und bedeckten Großmutters Kleider: zuerst vorsichtig und unsicher – dann dichter und immer dichter, bis sie Großmutter endlich ganz und gar mit einer weißen, weichen, friedlichen Decke umhüllt hatten ...