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IX

Es war schon spät, als Viktor erwachte. Er kleidete sich schnell an und frühstückte auf seinem Zimmer. Als er aber in die Halle kam, war die Uhr schon ein Viertel über die verabredete Zeit.

Alasco war nirgends zu sehen. Der Pikkolo führte ihn zum Tennisplatz, auch dort war er nicht. Da erinnerte sich Viktor besorgt des Ereignisses der Nacht.

Als er sich wieder zu seinem Zimmer begab, stellte er unterwegs auf dem Gang des ersten Stockwerks fest, daß jemand, der aus der weißen Türe kam, nicht sehen konnte, wer sich auf dem Balkon zwischen den Säulen befand. Er merkte sich die Nummer der Tür und suchte sie später auf der Fremdentafel in der Portierloge. Dieses Zimmer und ein andres, das auf dem Gang schräg gegenüber lag, gehörten Herrn und Frau Millner; wahrscheinlich hatten sie keine nebeneinanderliegenden Zimmer bekommen können.

»Hat Herr Alasco unten oder auf seinem Zimmer gefrühstückt?« fragte er den Pikkolo.

»Herr Alasco hat in der Halle gefrühstückt und ist bereits um sieben Uhr abgereist.«

»Abgereist?«

»In die Berge.«

Viktor war drauf und dran, die Tennisverabredung zu erwähnen, doch unterließ er es.

»Ganz richtig, er sprach davon. Bitte geben Sie mir seine Adresse, er hat es vergessen.«

Der Pikkolo suchte in dem Buche des Nachtportiers und fand schließlich einen Zettel, worauf stand: »In die Berge gereist. Adresse abzuwarten.«

Viktor nickte, als ob die Sache damit erledigt sei, und begab sich in den Garten. Diese plötzliche Abreise beunruhigte ihn.

Als er zu der Stelle kam, wo der alte Farham in Hemdsärmeln Holz hackte, grüßte er.

Der Millionär hatte offenbar gut geschlafen; den Gruß erwidernd, sagte er munter: »Schöner Morgen, was?«

Viktor konnte den Gedanken nicht loswerden, daß zwischen seinem nächtlichen Erlebnis und Alascos plötzlicher Abreise ein Zusammenhang bestehe –

Die Gestalt im Pyjama, die aus dem Zimmer des Ehepaares gekommen war, konnte doch nur Millner selbst gewesen sein! – Hatte Flora aber nicht gesagt, daß er mit Stöcken gehe?

Möglicherweise war die weiße Tür der Eingang zum Salon, während das Schlafzimmer gegenüber lag. Was aber hatte ein Fremder, und nach ihm Alasco im Salon des Ehepaares Millner zu suchen?

Plötzlich meinte er die Erklärung gefunden zu haben: Alasco hatte auf dem Balkon gestanden, unter dem Vorwand, die kühle Nachtluft zu genießen, tatsächlich aber um Gelegenheit zu bekommen, Frau Millner gute Nacht zu sagen, wenn sie aus dem Kasino zurückkehrte, wo in privatem Kreise bis spät in die Nacht hinein gespielt wurde. Er hatte beobachtet, daß ein Fremder aus ihrem Salon kam, und um den kranken Ehemann zu schonen, hatte er keinen Lärm schlagen wollen, sondern sich darauf beschränkt, in das Zimmer zu gehen, um nachzuspüren und Floras Rückkehr abzuwarten. Diese Erklärung hatte allerhand Wahrscheinlichkeit für sich.

Die Sache aber wollte ihm nicht aus dem Kopf. Schließlich setzte er sich in das Schreibzimmer, um der Hybsa über seine Unterredung mit Lucchetti und der Fürstin zu berichten. Nachdem er mit der Fürstin gesprochen, hatte er sich doch entschlossen, Lucchettis Vorschlag zur Annahme zu empfehlen. Als er seinen Bericht aber beendigt hatte, befriedigte er ihn nicht, er fand ihn zu lang, unklar und wenig überzeugend.

   

Als Viktor zum Lunch kam – es hatte soeben erst geläutet – saß Flora bereits an ihrem Tische. Er sah gleich, daß für Alasco kein Kuvert aufgelegt war, sie wußte also schon Bescheid.

Es war ihm einerseits eine Erleichterung, andrerseits aber wäre er gern Zeuge ihrer Überraschung geworden, um daraus seine Schlüsse zu ziehen.

»Haben Sie schon gehört?«

Sie fiel gleich mit der Tür ins Haus. Ihre Hand, die die seine drückte, zitterte. Ihre Stimme klang unsicher – ihre Pupillen hatten sich unnatürlich geweitet – sie schien sich für den Tag gut gewappnet zu haben.

Im selben Augenblick trat auch Lacombe herein, und seine kleinen, gelblich schimmernden Augen funkelten Viktor mit solch ungewöhnlichem Glanz entgegen, daß er begriff, es müsse sich etwas andres und mehr als Alascos plötzliche Abreise ereignet haben.

»Stellen Sie sich vor –« Ihre Fingerspitzen spielten nervös mit dem Brot, während sie nach Worten suchte.

Er sah, wie sie mit sich kämpfte, und beeilte sich, ihr zu Hilfe zu kommen.

»Und mit mir wollte er heute morgen um acht Uhr Tennis spielen,« sagte er munter, »sind Mexikaner immer so impulsiv?«

»Ach, Alasco – ja, impulsiv ist er.« Sie ging über das Ereignis hin, als wäre es etwas Nebensächliches. »Also stellen Sie sich vor, jetzt bin ich an die Reihe gekommen! – Heute nacht ist bei uns eingebrochen worden. Meine Agraffe ist fort, – auf dem Kamin aber fand ich, oder richtiger, mein Mann, als er heute morgen in den Salon kam, fünf Tausendfrankscheine! – Ich hatte keine Ahnung, wie sie dort hingeraten seien, meine waren es jedenfalls nicht! – Die zehntausend der Fürstin fallen uns ein, – ich suche, und die Agraffe, die ich gestern abend noch hatte, ist nirgends zu finden.«

Viktors Augen suchten die ihren voller Verwunderung. Er war drauf und dran, ihr von seiner nächtlichen Beobachtung zu erzählen, ein Instinkt aber hielt ihn davon zurück. Und als er erst einmal geschwiegen hatte, fand er keine Gelegenheit, später darauf zurückzukommen. Außerdem schien die Sache ja wirklich in allerengstem Zusammenhange mit dem gestohlenen Halsband zu stehen, so daß er im Interesse seiner Gesellschaft und seiner Mission jedes Wort wägen mußte.

»Sie haben den Diebstahl wohl gleich im Büro gemeldet?« fragte er.

»Ja, Gustav ließ den Geschäftsführer zu sich kommen.«

»War der Schmuck versichert?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Welch ein Leichtsinn!« Viktor schüttelte den Kopf.

»Aber denken Sie,« sie lachte mit ihren großen, unnatürlich glänzenden Augen, »Gustav hat voriges Jahr in London nur fünfunddreißig Pfund für die Agraffe gegeben, – und das ist – nicht einmal zum heutigen Kurs – so viel, wie der Dieb dafür deponiert hat.«

Gustav, der Geschäftsmann, hatte es natürlich gleich ausgerechnet.

Viktor ließ seinen Blick über den Saal schweifen. Der Geschäftsführer des Hotels pflegte der Kontrolle wegen an irgend einem unbesetzten Tisch zu essen, heute aber konnte Viktor ihn nirgends entdecken; dagegen begegnete ihm Lacombes Blick, – und er begriff, daß der Detektiv bereits in diese neue Sache eingeweiht war und ungeduldig auf eine Aussprache mit ihm wartete.

Flora frühstückte hastig; sie mußte zu ihrem Manne zurückkehren, den das Ereignis sehr angegriffen hatte.

Kaum hatte sie sich erhoben, als Lacombe an Viktors Tisch kam. Nachdem sie sich begrüßt hatten, gingen sie zusammen durch die Halle ins Freie.

»Was sagen Sie zu der Geschichte?«

Viktor zuckte die Achseln: »Die Sache hat viel Ähnlichkeit mit der der Fürstin.«

Lacombe fiel gleich mit der Tür ins Haus.

»Hören Sie mal, Herr Heller, wir arbeiten ja zusammen, – ist Frau Millners Agraffe auch bei der Hybsa versichert?«

»Sie ist überhaupt nicht versichert und gar nicht soviel wert, wie der Dieb in Scheinen hinterlassen hat.«

Lacombe atmete erleichtert aus, – diese Sache also brauchte er mit niemandem zu teilen.

»Und was sagen Sie zu der plötzlichen Abreise des Ingenieurs?« fügte er lauernd hinzu.

Viktor zuckte wieder die Achseln. Es fiel ihm nicht ein, dem Detektiv mitzuteilen, wo er Alasco zuletzt gesehen hatte.

»Und ohne eine Adresse zu hinterlassen!«

Während sie durch den Garten gingen, setzte Lacombe energisch auseinander, welche Vorsichtsmaßregeln man ergreifen müsse. Viktor aber meinte, man solle die Sache an sich herankommen lassen, und schließlich verwies er Lacombe an den Geschäftsführer des Hotels.

Als Lacombe ihn allein gelassen hatte, suchte er die Bank auf, die er sich gleich am ersten Morgen ausgewählt hatte, weil man von dort einen Überblick über den Eingang des Hotels hatte.

Während er dort saß und einen Zusammenhang in die Ereignisse zu bringen versuchte, kam der alte Farham festen Schrittes auf ihn zu.

Über der Adlernase hatte sich eine energische Falte gebildet, die Mundwinkel waren tief herabgezogen, die Lippen zusammengekniffen.

»Herr –« er suchte nach Viktors Namen.

»Heller!« sagte Viktor, erhob sich und bot dem Millionär einen Platz auf der Bank an. Der alte Herr aber wies ihn kurz ab.

»Wissen Sie Alascos Adresse?«

Es klang wie ein Befehl.

Viktor sah ihn ruhig an.

Der alte Herr biß sich in die Lippe –

»Ich meine, weil Sie gestern so viel mit ihm zusammen waren.«

Es sollte wohl eine Art Entschuldigung sein. Viktor faßte es jedenfalls als solche auf und zog verneinend die Achseln.

»Haben Sie ihn schon früher gekannt?«

Der Millionär heftete seinen klaren, scharfen Blick auf Viktor.

»Ich habe ihn vorgestern am Tische einer Landsmännin, Frau Millner, kennengelernt. Er ist ein guter Freund von ihr, und mir ist er sympathisch.«

Farham machte eine abwehrende Bewegung mit dem Kopfe, als ob er sagen wollte: Das interessiert mich nicht.

»Sie wissen wohl, weshalb er hier ist? – Gut. Er hat eine glänzende Erfindung gemacht, die ich erworben habe und ausnutzen will, wenn wir sie ausprobiert haben.«

»Ich weiß von dem Unterseeboot –«

»Gut. Heute morgen habe ich das lange erwartete Telegramm erhalten, das mir mitteilt, daß das Boot im Hafen von Neapel zur Abfahrt bereit liegt« – darum der vergnügte Morgengruß, dachte Viktor – »und als ich Alasco in seinem Zimmer aufsuchen will, um ihm davon Mitteilung zu machen, erfahre ich, daß er heute morgen abgereist ist.«

Viktors Ruhe reizte den Millionär, er knipste mit den Fingern und stampfte mit dem Fuß auf. –

»Ich habe ihn mit Haut und Haar und seiner ganzen Arbeitskraft gekauft, verstehen Sie. Ich habe ihm Vorschüsse gezahlt, und jetzt ist der Bursche mir durchgegangen, ohne eine Adresse zu hinterlassen!«

Viktor zuckte bedauernd die Achseln. Die Menschenbewertung des Millionärs machte ihm Spaß, und plötzlich bekam er Lust, ein wenig zu sondieren.

»Haben Sie von dem Einbruch bei Millners gehört?« sagte er mit bedenklicher Miene.

»Pah, Unsinn!« Der Millionär machte eine geringschätzige Bewegung, als sei seine Zeit zu kostbar für dergleichen. »Alasco ist kein Dieb, er ist ein verfluchter Luftikus, der hinter Frauenzimmern herläuft. Außerdem aber ist er ein Genie, das eine Erfindung gemacht hat, die ich gekauft habe. Einige verfluchte Zeitungen in den Vereinigten Staaten aber haben bereits Wind davon bekommen, – der Teufel mag wissen, wie, und Gott gnade Alasco, wenn er selbst dahinter steckt. Darum wende ich mich an Sie, Herr –«

»Heller,« schob Viktor bereitwillig ein.

»– und an jeden, der Alasco wohlwill und zufällig seine Adresse kennt. Denn wenn er in zwei Tagen von dieser Stunde an gerechnet – die Uhr ist jetzt halb drei« – er klopfte die Worte mit seiner geballten Linken in die hohle Rechte – »nicht hier ist, dann lasse ich ihn, koste es was es wolle, durch die Polizei holen! – Das Unterseeboot liegt unter voller Besatzung bereit! Und während er sich in den Bergen dieser verdammten Insel herumtreibt, haben Parker und Son ihre Spione draußen, – jede verlorene Stunde kann uns Millionen kosten!«

Seine Lippen waren blaß vor Wut, der Stahl seiner Augen schien Funken zu sprühen.

»Dafür mache ich Alasco verantwortlich, und ich wiederhole, wer ihm wohlwill, der tut gut daran, ihn von diesem meinen Entschluß in Kenntnis zu setzen. Er weiß aus Erfahrung, daß mit Jack Farham nicht zu spaßen ist.«

Er machte eine energische Kopfbewegung, so daß die graue Stirnlocke hüpfte, schlug heftig mit dem Arm durch die Luft, als ob er ein Stück Holz spaltete, und stampfte aus seinen kurzen, festen Beinen auf den Tisch zu, wo Mrs. Farham saß und hinter einem Magazin den Auftritt mit schlechtverhohlener Besorgnis verfolgt hatte.


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