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Selbigen Abends hatte Viktor Gelegenheit, Doktor Manot zu sprechen, bei dem er als der Vertrauensmann von Farham, der Fürstin und Millners, hoch angeschrieben war. Viktor bat ihn, ob er ihm den Gefallen tun würde, am Montag einen Passagier mit in seinen Wagen zu nehmen.
»Kein sehr angenehmer Mensch, das muß ich zugeben, aber ein Mann, den ich aus privaten Gründen bei der Veranstaltung nicht entbehren kann. Auch möchte ich Sie bitten, Herr Doktor, die Gelegenheit zu benutzen und den Mann unterwegs auf seine Gemütsverfassung hin zu prüfen. Ein gutes Honorar ist Ihnen sicher. Mehr kann ich Ihnen vorderhand nicht sagen.«
»Gefährlich für seine Umgebung?« fragte der Arzt auf seine knappe Art.
Viktor mußte lachen.
»Das kann man wohl sagen – aber anders als Sie meinen. Gehirn und Nerven sind in schönster Ordnung, und für Sie ist er ganz ungefährlich. Ich glaube, er wird Sie interessieren, er ist ein richtiger Typ aus der Nachkriegszeit, – ein Mensch ganz ohne Hemmungen.«
Doktor Manot nickte, er war bereit.
»Er soll Montag morgen, Punkt sieben Uhr, vor dem Hoteleingang warten.«
Sonntag abend, gleich nach dem Diner, kam Paolo mit dem Auto, um Viktor nach Bastia zu fahren, wo Florin ihn erwartete. Viktor mußte am Montag vom frühen Morgen an in Bastia sein, falls irgend etwas Unerwartetes eintreffen würde.
Viktor hatte sein Gepäck mitgenommen, und Lacombe gesagt, daß er eine Woche fortbleiben würde: Florin hatte ihm einige interessante Flüge nach Elba und andern kleinen Inseln im Tyrrhenischen Meer versprochen.
Am Morgen hatte Paolo Viktor den Bescheid gebracht, daß abends ein Pferd zu verkaufen sei. Das wollten sie jetzt unterwegs erledigen.
Als sie Mezzavia erreicht, hatten, fuhr Paolo den Weg nach Calcatoggio, der links von der Bastiachaussee abbog. Als sie die Bergerie erreichten, war es fast dunkel.
Nur die alte Frau war zu Hause. Sie stand wartend vor der Tür und rief Paolo einen Bescheid zu, bevor er den Wagen angehalten hatte.
»Wir sollen höher hinauf,« sagte er zu Viktor und fuhr weiter, bis sie eine Stelle erreicht hatten, wo der nackte Felsen bis ganz an die Fahrstraße ging. Dort hielt er das Auto mit einem Ruck an und forderte Viktor auf, auszusteigen und zu warten.
Dann fuhr er weiter, durch eine schmale Öffnung zwischen den Felsen. Es ging nur langsam und beschwerlich, der Wagen schwankte wie bei Seegang und verschwand schließlich hinter einem Felsenvorsprung.
Nach einigen Minuten kam Paolo ohne Auto zurück, und jetzt ging es zu Fuß über einen Pfad zwischen niedriger, abgesengter Macchia in die Berge. Paolo hatte eine elektrische Taschenlaterne und ging ihm leuchtend voran. Viktor mußte häufig stehen bleiben, um Atem zu schöpfen. Bald war die Luft schwer und eingeschlossen, – beim Laternenschein konnte Viktor sehen, daß ringsum Gebüsch war, – bald spürte man einen frischen Luftzug, als ob sich eine Schlucht ganz bis zum Meere hinunter öffnete. Bald war der Weg eben, bald ging es steil bergauf.
Schließlich machte Paolo halt.
Ein kleiner Hund bellte wütend hinter einer Tür.
Paolo drehte seine Laterne, und Viktor sah, daß sie sich in einem Weingarten befanden, unreife Trauben hingen über ihren Köpfen, und junge Ranken schlugen ihnen um die Ohren.
Auf einem kleinen offenen Platz war eine gemauerte Zisterne, mit einem alten morschen Holzdeckel, und im Hintergrunde sah man eine Tür, zu der eine Steinstufe hinaufführte.
Jetzt waren schleppende Schritte zu hören, die Tür wurde geöffnet, und ein kleiner Hund fuhr Paolo mit Freudengeheul an die Beine, als sei er ein lange erwarteter Besuch.
Eine alte Frau begrüßte ihn mit überströmender Herzlichkeit, Viktor verstand nicht, was sie sagte. Die Laterne zeigte ein braunes, runzliges Gesicht, zwei neugierig funkelnde Augen, und Ringe in den Ohren. Sie stieg eine schmale Steintreppe im Innern des Hauses hinauf, Paolo folgte ihr und leuchtete Viktor mit der Laterne.
Sie gelangten zu einem Raum unter dem Dach, wo mehrere Türen mündeten. Wieder sagte sie etwas in einem reißenden Wortstrom, und Paolo übersetzte: Maestro sei noch nicht da, würde aber sicher bald kommen, – Viktor möchte sich gedulden.
Sie öffnete eine Tür, und Viktor sah in ein Zimmer, wo eine Wachskerze auf einem Holztisch stand; über der eisernen Bettstelle hing ein mächtiges Holzkruzifix, und ringsum an den Wänden hingen Heiligenbilder, mit künstlichen Blumen hinter den Rahmen, und Lichtern davor.
Gerade gegenüber war eine Türöffnung in der Wand, durch die der funkelnde Nachthimmel hereinsah.
Indem Viktor ins Zimmer trat, kam aus dieser Öffnung eine Gestalt –
Es war eine Frau – es war Teresa.
Die Tür wurde hinter ihnen geschlossen.
Beiden war ein Ausruf der Überraschung entfahren. Sie streckte die Arme nach ihm aus, als wollte sie sie in der Wiedersehensfreude um seinen Hals schlingen. Dann aber ließ sie sie sinken, verwirrt, errötend – und zog ihn mit auf das flache Dach, wo Weinreben sich über den Rand der Balustrade rankten.
Über dem Abhang zu ihren Füßen und längs der dunkeln Halden des weiten Tales leuchteten die Sterne. Weit drüben sah man Hochwald, aus dem Boden der Täler aber sandte die Macchia ihren starken Atem, von der Abendfrischung über dem offenen Meere, weit entfernt und tief unten, hergetragen.
Ziehende Lichter auf der Bucht erzählten, daß Fischer draußen in der Nacht arbeiteten –
Im Gehölz leuchtete es von Insekten –
Auf der Balustrade stand ein Korb mit Früchten. Teresa bot Viktor davon, – frühreife Pfirsiche und grüne Feigen, die Tonietta ihr aus Lucchettis eigenem Garten gebracht hatte.
Sie setzten sich auf den Mauerrand. Der Abendwind spielte mit dem Haargekräusel auf Teresas Stirn; sie strich es wieder und wieder mit der Hand zurück.
Ihre Arme schimmerten durch die Dunkelheit; ihre Augen waren in dem flimmernden Sternenlicht von einer undurchdringlichen Tiefe, worin das warme Blau verborgen lag.
Die Ungleichheit ihrer Lebensbedingungen verschwand in der schlichtenden Dunkelheit, sie kamen einander ganz nah. Obgleich keiner sie sehen und ihre Sprache verstehen konnte, flüsterten sie, – ihre Stimmen wogten ineinander, ihr Atem vermischte sich, ihre Seelen wurden vereint, – als ob die Erde mit ihrem bekümmerten, gefurchten Gesicht unter ihnen entwichen sei.
Dann aber richtete Viktor sich auf und begann sie auszufragen.
Und sie erzählte, wie alles zugegangen war.
»Mitten am hellen Tage waren ihnen vier bewaffnete Männer entgegengekommen, der eine war beritten, und hatten ihnen den Weg versperrt. Sie richteten ihre Revolver auf Farham, zwangen ihn, den Wagen anzuhalten und auszusteigen.
Millner wollte sich zur Wehr setzen, – der Berittene aber ritt ganz nah an ihn heran, setzte ihm die Pistole auf die Brust, und Frau Millner klammerte sich flehend an ihren Mann, bis er sich ergab.
Dann mußten sie zu Fuß durch das Gestrüpp gehen, und als der leidende Millner nicht mehr vorwärts konnte, wurde er auf das Pferd gesetzt.
Sie sahen, daß das Auto von einem der Männer hinterhergefahren und schließlich in eine Schlucht getrieben wurde. Das Gepäck wurde aus dem Wagen geworfen, im Gebüsch versteckt, und einer blieb als Wache dabei zurück.
Schließlich waren sie zu einem Hause mit zwei Stockwerken gekommen – Viktor erkannte es nach der Beschreibung, es war dasselbe, worin Lucchetti ihn empfangen hatte.
Sie erzählte weiter von dem Sekretär und Tonietta, die beide zugegen waren. In dem Raum mit der Galerie wurden die Herren von dem Sekretär untersucht, ob sie Waffen bei sich hätten, – ihre Brieftaschen und Uhren wurden ihnen abgenommen. Alles aber was man ihnen abnahm, wurde aufgeschrieben, und die Gefangenen mußten ihren Namen unter die Liste setzen.
Darauf erschien Lucchetti selbst. Er grüßte heiter und höflich, und bedauerte, daß er ihre Reise unterbrochen hatte, um sie bis auf weiteres in seinen Schutz zu nehmen; es würde ihnen kein Leid geschehen, Fluchtversuch aber sei gleichbedeutend mit Tod.
Frau Millner und Teresa waren in das obere Stockwerk geführt und dort von Tonietta untersucht worden! Sie nahm Frau Millner Ringe und Schmucksachen ab, schrieb alles genau auf und ließ Frau Millner die Liste unterschreiben.
Schließlich kam Teresa an die Reihe. Als Tonietta hörte, wie gut sie Italienisch sprach, küßte sie sie auf beide Wangen; den Ring um ihren Hals aber mußte sie ihr abnehmen, wie sehr Teresa auch flehte und bat und ihr sagte, daß des Unglücks kein Ende wäre, wenn dem Ring der Madonna Gewalt angetan würde. Schließlich wurde Tonietta bedenklich und ging zu Lucchetti, um für sie zu bitten.
Da kam er selbst und bedeutete Tonietta und Frau Millner, daß sie das Zimmer verlassen sollten.
Er wollte den Ring sehen, ich aber warf mich ihm zu Füßen und flehte ihn an, seiner selbst wegen, den Ring nicht zu kränken, – ich hätte meiner Mutter versprochen, ihn niemandem zu zeigen, weil er heilig sei.
Er aber lachte nur und riß mir das Band vom Halse, trat darauf ans Fenster, um den Ring genau in Augenschein zu nehmen –
Und stellen Sie sich vor: Da schlug Madonna ihn mit Entsetzen. Ich sah, wie dem starken Manne die Hände zitterten. Es war, als ob seine Augen den Anblick nicht ertragen könnten. Sein Mund bebte, er wollte sprechen, doch kein Wort kam über seine Lippen.
Schließlich trat er zu mir, hing mir den Ring um den Hals, und befestigte das Band, das er vorhin zerrissen hatte. Dabei sah er bald mich, bald den Ring an, – einmal bekreuzigte er sich heimlich, doch ich sah es. Er fragte mich aus, und ich erzählte aus meinem Leben, und als ich von Rom sprach, seufzte er tief auf, und die Augen wurden ihm feucht.
Lange blieb er bei mir und sprach zu mir wie ein Freund und Bruder, so daß ich gar keine Angst mehr vor ihm hatte.
Ich erzählte ihm alles, auch von Walther, daß er hier sei und daß Sie mir geholfen hätten. Und ich wäre froh, sagte ich, daß ich hier sei, wo Walthers böse Augen mich nicht erreichen könnten!
Er ballte seine Hände vor Zorn, ließ sich genau beschreiben, wie Walther aussehe, und wollte auch wissen, wer Sie seien. Und als ich ihm erzählte, daß Sie mich gerettet und die Stellung bei Millners verschafft hätten, da sagte er lachend ›Bravo – bravo!‹ und rieb sich die Hände wie ein großer Junge.
Er fragte mich nach Millners und nach einem, den er Alasco nannte, den ich aber gar nicht kenne. Und auch von Herrn Farham, mit dessen Auto wir fuhren, wollte er Näheres wissen, – ich konnte ihm anmerken, daß er ihn nicht leiden mochte. Er wollte wissen, ob er mit mir gesprochen habe, er hat mich aber nur mit seinen stumpfen Augen angesehen, als er mir ins Auto half.
Darauf rief er Tonietta und sagte ihr, daß Herr und Frau Millner das große Giebelzimmer bekommen sollten, ich aber sollte zu Tante Lucia im Weingarten – und Farham sollte den Raum über der Wachtstube bekommen.
Darauf führte er mich wieder nach unten, – unser Gepäck war bereits angekommen; jedes Stück wurde aufgerufen und von dem Sekretär ausgeschrieben, und wir mußten noch einmal unsre Namen ansetzen.
Farham machte Schwierigkeiten und bot ihm im Namen seines Vaters, wie er sagte, was er verlangen wollte, daß wenigstens sein Gepäck zurückgeschickt werden sollte; Lucchetti aber sah ihn drohend an und sagte: ›Nicht nur Ihr Gepäck, mein Herr, auch Ihr Leben ist in meiner Hand! Vergessen Sie das nicht!‹
Gegen Frau Millner aber war er sehr höflich, forderte sie auf, Tonietta zu sagen, was sie für sich und ihren kranken Mann benötigte, denn meiner Hilfe müsse er sie leider berauben; Tonietta würde sie statt dessen bedienen.
Darauf wurde ich auf ein Maultier gesetzt, und der Sekretär ritt mit mir durch den Wald hierher.
Die alte Frau nennt Lucchetti hier ›Bimbo‹, sie ist seine Tante; wenn er kommt, küßt er sie auf beide Backen. Und er kommt jeden zweiten Tag und bringt mir immer etwas Schönes mit, weil ich aus Roma bin, wie er sagt, – seinem geliebten Roma, wo er als Kind gelebt hat.
Auch Tonietta ist schon mehrmals hier gewesen, – diese Früchte hat sie gestern gebracht, und sie sagte, daß sie heute abend mit einer Überraschung für mich kommen würde –«
Hier sah Teresa lächelnd zu Viktor auf.
»Sie sind wohl die Überraschung! – Lucchetti hört es gern, wenn ich von Ihnen erzähle, – bisweilen ist es mir, als ob er Sie kennte –«
Teresa zögerte, Viktor aber schwieg. Da Lucchetti nichts verraten hatte, hielt er es für das beste, auch selbst von ihrer Bekanntschaft zu schweigen.
Warum aber hatte er Teresa von den andern, von ihrer Herrin, getrennt? – Warum kam er her, um sie allein zu besuchen? – Das gefiel Viktor nicht, und er konnte es nicht unterlassen, Teresa zu warnen, sie müsse vor allem und jeden auf ihrer Hut sein!
Teresa begriff, was er dachte, und das alte Lächeln zeigte sich um ihren Mund, ihre Zähne leuchteten –
»Er ist wie ein Vater zu mir,« sagte sie treuherzig, beruhigend. Und während ihre Augen sich in die seinen senkten, war etwas in ihrer Stimme, das ihm das Blut zum Herzen trieb.
Er wollte ihre Hände greifen, die still in ihrem Schoß lagen, dicht neben den seinen, doch besann er sich und sagte statt dessen, er hoffe, daß ihre schwere Zeit jetzt vorbei sei. Er fügte noch hinzu, daß er für ihre Rettung arbeite und daß es ihm eine Freude sei. Weiter wagte er sich nicht.
Sie wandte ihren Kopf langsam von ihm und richtete ihren Blick auf das ferne Meer, so daß er sie im Profil sah: die klare Stirn, die ausdrucksvollen Lippen, die sich zu einer Frage geöffnet hatten, die keine Worte fand! Er mußte sich Gewalt antun, um diesen stolzen Kopf nicht in seine Hände zu nehmen und gegen seine Brust zu drücken. –
Sie aber wandte sich ihm wieder zu, – mit erwachendem Verständnis in ihrem Blick, und während sie sich höher aufrichtete, löste sie das Band von ihrem Halse –
Er begriff, was sie dachte, als ob sie es ihm ins Ohr geflüstert habe: Sieh, mein Ring ist von bösen Augen beschmutzt, die sich seinen Anblick erzwungen haben. Jetzt aber zeige ich ihn freiwillig deinen guten Augen, und Madonna wird dich und dein Werk segnen!
Sie zeichnete mit dem Ring ein Kreuz auf ihrer Brust, küßte ihn, und reichte ihn Viktor, damit auch er ihn küssen sollte.
Er tat es, und während sie den Ring wieder um ihren Hals hing, sah er, daß ihre Lippen bebten.
»Teresa,« flüsterte er –
Sie aber erhob sich von der Mauerkante, trat einige Schritte zurück und starrte übers Meer, bis sie Herr ihrer Bewegung geworden war. Darauf wandte sie sich ihm wieder zu, ihr Gesicht strahlte – er konnte bei dem schwachen Sternenschein nicht genau sehen, aber er fühlte es in seinem Herzen.
Da wurde an die Tür geklopft – einmal – noch einmal –
Teresa begab sich ins Zimmer und öffnete die Tür –
Es war die alte Frau. Sie brachte den Bescheid, daß Lucchetti nicht kommen könne, er sei aufgehalten worden; der fremde Herr möchte sich sofort zu seinem Hause begeben; der Bote solle ihn führen.
*
Gigi, der Sekretär, empfing Viktor im Vorzimmer und führte ihn ohne etwas zu sagen, in den Raum mit dem großen viereckigen Tisch und den Waffen an den Wänden.
Der Tisch stand gedeckt, als ob eine Gesellschaft sich gerade erhoben habe. An der Wand, auf zwei großen Koffern – Farhams wahrscheinlich, dachte Viktor – lag unter einem grauen Tuch ein großes Bündel. Sonst war alles wie an jenem Tage, als Viktor il maëstro seinen Besuch gemacht hatte, im Auftrage der Hybsa.
Er fragte nach Lucchetti, – statt einer Antwort aber führte Gigi ihn die Treppe zur Galerie hinauf und murmelte etwas von » disastro«.
Beim Schein der Deckenlampe sah Viktor sein Gesicht und begriff, daß sich irgend etwas sehr Ernstes ereignet habe. Er fragte nicht mehr, seine Stirn aber war feucht, sein Herz bedrückt.
Von der Galerie gelangten sie zu einem Bodenraum, in dessen schräger Wand ein großes Fenster offen stand und der nur durch den Lampenschein von unten im Saale erleuchtet war.
An beiden Enden des länglichen Vorraumes war eine Tür. Gigi klopfte an die linke, klopfte mehrmals, beugte sich vor, um zu lauschen. Als keine Antwort kam, öffnete er vorsichtig –
Ein schwacher Lichtschein fiel über den Fußboden, – Gigi ließ ihn eintreten –
Viktor hörte ein leises Stöhnen und trat klopfenden Herzens näher. Leise schloß Gigi die Tür hinter ihm.
Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand eine brennende Kerze. Ein Doppelbett ragte von der Wand ins Zimmer, – und auf dem einen, vollständig angekleidet, lag Flora.
Als sie merkte, daß jemand im Zimmer stand, richtete sie sich auf.
»Ach!« Es klang halb wie ein Schrei, halb wie ein Stöhnen.
Sie warf sich ins Bett zurück, ihr Körper wurde von einem furchtbaren Weinen geschüttelt.
Er hatte ihr Gesicht gesehen: die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Wangen waren hohl, das üppige Haar fiel ungekämmt über Nacken und Schultern –
»Flora!« flüsterte er, beugte sich über sie und versuchte ihre Hand zu fassen. Sie aber schien seiner gar nicht zu achten.
Während er darauf wartete, daß das heftige Weinen Nachlassen würde, dachte er bei sich: Sind alle Bemühungen umsonst gewesen?
Er ließ seine Blicke durch das dürftig ausgestattete Zimmer schweifen und sah eine kleine Flasche neben ihr auf dem Bette liegen. Er nahm sie, – es war ein Morphiumpräparat aus einer Apotheke in Ajaccio. Und plötzlich begriff er, daß es für sie ein Martyrium gewesen war, das Gift, an das ihre Konstitution sich gewöhnt hatte, während der Gefangenschaft zu entbehren –
Etwas Ernstes schien sich ereignet zu haben, ein Nervenzusammenbruch war die Folge gewesen, und man hatte ihr jetzt das Betäubungsmittel verschafft, wonach sie verlangte.
Schließlich hörte das verzweifelte Schluchzen auf, – sie drehte den Kopf zu ihm um und flüsterte: »Er ist tot!«
Ihr Gesicht war verzerrt, die Mundwinkel schlaff, die breiten Backenknochen erschienen noch breiter in dem zusammengefallenen Gesicht, – die Augen lagen tief in den Höhlen, der Blick war erloschen.
Wieder fürchtete er für seinen Plan. Würde er ihn durchführen können, mit dieser kranken Frau?
»Flora!« rief er.
Sie nickte schwach, ihre Hand suchte die seine auf der Decke.
»Er hat sich erschossen,« flüsterte sie kaum hörbar. Dann aber richtete sie sich auf dem Ellbogen auf und strich sich das Haar aus der Stirn.
»Gustav?«
Sie nickte, sah ihn lange an und sagte schließlich ganz ruhig: »Es mußte ja so kommen.«
Plötzlich mußte er sich ihrer Worte von jenem Morgen auf der Promenade des Pins erinnern, daß sie ihm »das Schlimmste« nicht sagen könnte. Jetzt wird sie es können, dachte er, und es wird sie erleichtern, wenn sie es ausspricht.
»Erzählen Sie mir alles, Flora!« sagte er eindringlich.
Sie sah ihn an, und plötzlich schien auch sie zu fühlen, daß eine Beichte ihr Gemüt erleichtern würde. Sie begann, als spräche sie von einem Dritten:
»Ich konnte das Spielen nicht lassen, Sie haben es ja bemerkt. Sie wußten aber nicht, wie schlimm es tatsächlich um mich stand. Ich hatte Gustav das Versprechen gegeben, nicht zu spielen, und ein ganzes Jahr habe ich meine Versprechen auch gehalten, als wir aber nach Nizza kamen, war die Versuchung zu groß. Während er zu Bette ging, weil er in den ersten Nachtstunden am besten Schlaf finden konnte, ging ich ins Kasino.
Er wollte wissen, was ich trieb und mit wem ich zusammen war. Ich verschwieg ihm mein wirkliches Vorhaben und erfand alles mögliche andre. Nachdem ich erst angefangen hatte, mußte ich zu lügen fortfahren.
Abend für Abend ging ich ins Kasino, und er ahnte es nicht, Gewinn und Verlust mußte ich vor ihm verbergen. Oft wußte ich weder aus noch ein, denn meine Verluste waren groß. Unsre Mittel aber waren nur gering, – denn außer der Leibrente, die wir für die Unfallversicherung gekauft hatten, besaßen wir nichts.
Dann kam die Katastrophe! – Ach, Sie glauben nicht, wie gemein ich gehandelt habe!
Ein Mann begehrte mich –, ein Mann, den wir in Nizza kennen gelernt hatten – er sah meine Lage, seine kalten Augen sahen durch mich hindurch, wie durch Glas –
Oh, der junge Farham war es, mit seinem schlüpfrigen Lächeln und seinen schlaffen Händen, dem nichts heilig ist, er wollte mich dem kranken Mann fortnehmen. Zwar fühlte er, daß ich beinahe Widerwillen gegen ihn empfand, aber gerade darum wollte er mich besitzen. Ich hatte ihm gesagt, daß Gustav ihn niederschießen würde, wenn er davon erführe, ich warnte ihn; was aber andre abschreckt, reizt ihn nur noch mehr.«
»Der Schädling!«
Sie zischte es in plötzlicher Wut, biß in ihr Kopfkissen, stöhnte wie ein krankes Tier.
Viktors Hand strich beruhigend über ihr Haar, schließlich faßte sie sich.
»Wenn jemand anders es Ihnen erzählt hätte, Sie würden es sicher nicht geglaubt haben, und doch ist es so: über ein halbes Jahr bin ich Farhams Geliebte gewesen, – habe mich an ihn verkauft, obgleich ich ihn verabscheue, – habe mich wie eine Dirne verkauft, – alles nur des Spieles wegen!
Er kam des Nachts zu mir in den Salon, er hatte selbst einen Schlüssel zur Tür, und hinterließ auf dem Kamin die Summe, die ich nötig hatte, mit der ich meine Ehrenschulden bezahlen mußte!
Ich verkaufte mich, weil ich meinen Verlust auf keine andre Weise vor Gustav zu verbergen vermochte, um uns vor dem Untergang zu retten, in den wir durch das Spiel getrieben wurden!
Oh, wie habe ich gelitten! Ich versuchte zu trotzen, verhöhnte alles, was Liebe und Treue hieß, mit Tränen im Halse, – und um dieses entsetzliche Leben, diese Leere und Lügen überhaupt ertragen zu können, griff ich zum Schnee – dem weißen ›Trost‹. Auch das hat Farham mich gelehrt, er selbst hat es nicht nötig, auf ihn macht nichts mehr Eindruck, für mich aber bedeutete es, daß ich Tag für Tag tiefer sank.
Wie habe ich während dieser vierzehn Tage unsrer Gefangenschaft gekämpft! Einmal, als ich mit Lucchetti allein war, bat ich ihn, mir den Schnee zu verschaffen, doch er konnte mir nur Morphium aus der Apotheke bringen – und es war zu spät.
In Nizza hatte ich auch Alasco kennen gelernt, ich verliebte mich in seine Jugend, seine Ehrlichkeit, seine Männlichkeit – ich kämpfte mit mir, konnte nicht mehr schlafen, – er war schließlich noch das einzige, das mich ans Leben band, – aber auch das mußte ich verbergen.
Gustav aber ahnte es. Seit seinem Unfall reizbar, niedergedrückt, schwankte er beständig zwischen den Zwangsvorstellungen, daß er nur zur Last sei, aus meinem Leben verschwinden wolle, und daß ich ihm untreu sei: Natürlich sei ich ihm untreu, – und falls er dahinter käme, wolle er erst den Betreffenden und dann sich selbst töten.
Um Alascos willen mußte ich beständig die Kühle spielen, ihn abweisen – Sie haben es ja selbst mit angesehen. Als Sie kamen, hatte das Elend seinen Höhepunkt erreicht, so konnte es nicht weitergehen. Natürlich konnte auch Farham sehen, wie es zwischen mir und Alasco stand, – und er stellte seine Bedingungen. Der Gedanke allein war ihm ein Genuß, diesem jungen Mann, den sein Vater in der Tasche hatte, und der sich erlaubte, auf den Sohn als auf einen Tunichtgut herabzusehen, den Weg zu Liebe und Glück zu versperren, – und mir waren die Hände gebunden.
Dann kam der Tag, oder richtiger die Nacht vor Alascos Flucht, die uns alle überraschte. Farham war in der Nacht bei mir, und Alasco hatte vor meiner Tür gestanden, nicht, um mich zu belauschen, – ach nein, – er hegte keinen Verdacht, sondern weil er jung und verliebt war und mich noch einmal sehen wollte, wenn ich aus dem Kasino kam.
Da sah er Farham aus meiner Tür kommen, und wollte sich überzeugen, was Farham in unserm Salon, den er leer wähnte, zu schaffen hatte. Er kam herein und sah mich –«
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und sprach von ihm abgewandt, so daß er sich Vorbeugen mußte, um sie zu verstehen: »An meiner Bekleidung und in meinen entsetzten Augen sah er, was geschehen war, – er geriet außer sich, – er beschwor mich, drohte, wollte hinter Farham herstürzen und ihn erschießen –
Ich raffte mich aus meiner Erniedrigung auf, der letzte Rest von Stolz stieg in mir auf, – ich konnte nicht ehrlich gegen ihn sein, – ich leugnete, daß ich etwas für ihn fühlte, – ich verbat mir seine Liebe, – ich könne über mich selbst verfügen, wie ich wollte, sagte ich ihm, – ich jagte ihn fort, verbot ihm, mich je wieder zu belästigen, – und der gute ehrliche Junge fügte sich, – er sah ein, daß er keine Rechte hatte – und ging.
Seit jener Stunde ist mein Leben in schwarzes Dunkel gehüllt gewesen, denn ich liebe ihn ja! – Als ich am nächsten Morgen erfuhr, daß er abgereist sei, – als ich seinen leeren Platz sah, da wäre ich vor aller Augen fast zusammengebrochen, wenn Sie mir nicht geholfen hätten!
Das aber war noch nicht das Schlimmste! – Als Gustav am Morgen in den Salon kam, wo wir unser Frühstück einzunehmen pflegten, sah er die fünftausend Frank auf dem Kamin liegen – Farhams Honorar! – Die Aufregungen in der Nacht hatten mich so stark mitgenommen, daß ich vergessen hatte, das Geld an mich zu nehmen.
Gustav aber gab mir selbst die Lösung in die Hand, indem er sagte: ›Derselbe Fall, wie bei der Fürstin! Sieh nach, Flora, ob dir etwas gestohlen ist!‹
Da gab ich vor, daß mir meine Agraffe gestohlen sei. Ich versteckte sie in einer alten Handtasche, auf dem Boden einer Schublade, wo niemand etwas zu suchen hatte.
Sie wissen, was Lacombe sich in seinem Eifer herausnahm, er durchstöberte meine Sachen und fand die Agraffe. Damit war das Maß voll, ich mußte fort, und Sie verhalfen mir dazu.«
Sie schwieg, lag unbeweglich, bis sie schließlich fortfuhr:
»Als wir von Lucchettis Leuten überfallen wurden, war mein erster Gedanke, daß es wie eine Errettung sei, würden wir doch eine Zeitlang vor aller Welt versteckt leben können. Doch hatte ich nicht an die furchtbare Entbehrung gedacht – Sie wissen, was ich meine – ich hatte im Berghotel das Notwendige aus Ajaccio verschreiben wollen.
Zuerst bekam ich Verzweiflungsanfälle, dann wurde ich stumpf. Farham sah ich nur beim Frühstück, das wir zu dritt unten in dem großen Zimmer einnahmen. Beim Mittagessen war er nicht zugegen, weil Lucchetti ihn nicht leiden konnte; denn beim Mittagessen machte Lucchetti selbst den Wirt, und er war sehr gut gegen Gustav und mich. Seine Heiterkeit war das einzige, was mich etwas belebte, – und der gute Wein, mit dem er uns bewirtete. Manchmal sah er mich bekümmert, – ja, sogar entsetzt an, er konnte nicht begreifen, was mir fehlte.
Farham langweilte sich unbeschreiblich in seinem Gefängnis im Hinterhause, über dem Wachtraum. Vor dem Hause steht ein alter Feigenbaum, der seine Äste bis zu seinem Fenster und nach der andern Seite, bis zu dem Dachfenster hier nebenan erstreckt.
Eines Tages, beim Frühstück, steckte er mir einen Zettel zu – ich hatte keinen Willen mehr und fügte mich.
Jede Nacht pflegt hier draußen eine Eule zu schreien, zweimal, nie mehr. Viele Nächte hat sie mich aus unruhigem Schlaf geweckt.
›Wenn du einen dritten Schrei hörst,‹ schrieb er mir, ›dann bin ich es. Dann klettere ich über den Feigenbaum und durch das Dachfenster, das immer offen steht. Komm dann zu mir auf den Bodenraum.‹
Er ist gewandt wie ein Affe, Turnen ist der einzige Sport, der ihn interessiert.«
Sie schwieg und begann erst wieder nach einer Weile: »Es war in der gestrigen Nacht, daß ich die Eule dreimal schreien hörte, – Gustav schlief, ich hörte ihn tief atmen – da schlich ich mich hier nebenan auf den Bodenraum – und Farham kam durchs Fenster.
Ob wir irgend einen Lärm gemacht hatten, ich weiß es nicht, ich war zu stumpf, – plötzlich aber sah ich Licht – und dort in der Tür stand Gustav, einen Leuchter in der Hand!«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Kissen –
»Ich erinnere mich kaum, was geschah, – er sah uns und zog sich wieder zurück, – Farham verschwand durch das Fenster, und ich blieb auf dem Bodenraum; in das Zimmer zu ihm wagte ich nicht zurückzukehren; einen andern Ausgang gab es nicht, sonst wäre ich durch die Nacht in den Wald geschlichen und hätte mich irgendwo zum sterben niedergelegt.
Als es aber hell wurde, wagte ich mich zu ihm herein. Er lag auf dem Bette, hatte sich zur Wand gekehrt und rührte sich nicht, aber ich merkte, daß er wach war.
›Nun hat er Gewißheit bekommen,‹ dachte ich bei mir, ›nun hat er mit eignen Augen gesehen, daß ich ihn betrüge!‹
Ich kleidete mich an, nahm eine große Dosis von dem Morphium, das Lucchetti mir verschafft hatte, und begab mich hinunter in den Saal –
Ich schlief ein wenig in dem Sessel, – Tonietta kam herein, ich wechselte einige Worte mit ihr, schlief wieder ein, stumpf bis in mein Innerstes.
Endlich war es Frühstückszeit, – ich aß allein, Farham hatte sich durch Unwohlsein entschuldigt, und Gustav blieb oben in seinem Bett.
Ich ging zu ihm hinauf, er lag noch ebenso unbeweglich wie vorhin und sagte kein Wort. Ich sprach zu ihm, er aber schien mich nicht zu hören. Trotz meiner Schlaffheit litt ich unbeschreiblich.
Endlich wäre es Mittagszeit geworden. Ich sehnte mich danach, Lucchettis dröhnende Schritte, seine muntere Stimme zu hören. Er wird mir helfen, dachte ich, – wenn alle Menschen wie dieser sogenannte Bandit wären!
Da hörte ich, daß Gustav aus unsrem Zimmer kam – Tonietta ging hin und her und deckte den Tisch, jeden Tag standen frische Blumen an meinem Platz – und während Gustav an seinen Stöcken die Treppe herunterkam, hörten wir Lucchetti durch das Vorzimmer stampfen.
Er kam herein, begrüßte uns munter wie gewöhnlich, hing Hut und Büchse an den Nagel, und legte Pistole und Patronengürtel auf den kleinen Tisch gleich neben der Tür. Darauf trat er auf mich zu, schüttelte den Kopf über mein schlechtes Aussehen und fragte, ob er nicht nach einem Arzt schicken sollte –
Da fiel ein Schuß –
Ich sah Gustav mit Lucchettis Pistole in der Hand neben der Tür stehen, sah Blut aus seiner Schläfe tropfen, sah ihn schwanken und hörte wie die Pistole zu Boden fiel –
Was weiter geschah, weiß ich nicht – als ich wieder zu mir kam, lag ich hier, – ich erwachte erst, als sie hereinkamen.«
Sie nahm seine Hand zwischen ihre beiden und preßte sie an sich, als sei sie der letzte Halt in ihrem elenden Dasein.
»Was soll aus mir werden?« flüsterte sie.
So blieb sie lange liegen, bis sie in einen unruhigen Schlaf hinüberglitt.
Die ganze Nacht blieb Viktor bei ihr sitzen. Im Hause war es totenstill, alles schien zu schlafen, – erwartete man denn nicht Lucchetti?
Bald wimmerte Flora im Schlaf wie ein Kind, bald lag sie still. Einmal war er etwas eingeschlafen und erwachte dadurch, daß sie an ihm vorbeischleichen wollte –
Sie war wie eine Schlafwandlerin, wollte in den Wald, Alasco suchen. Er solle nicht zu seinem Posten zurückkehren, wie sie ihm geschrieben hatte, – jetzt sei sie frei, und sie wollten zusammen fliehen und in einem andern Lande, wo niemand sie kannte, von vorn anfangen.
Schließlich ließ sie sich von ihm beruhigen: Jetzt müsse sie schlafen, – der morgige Tag würde Klärung bringen, – er versprach ihr, daß sie Alasco bald wiedersehen sollte – und sie verfiel schließlich in einen tiefen, totenähnlichen Schlaf.
*
Gegen Morgen wurde Viktor von Hundegebell geweckt und hörte Lucchettis Stimme im Vorzimmer.
Kurz darauf klopfte Gigi an die Tür – Lucchetti hatte einen Arzt geholt.
Viktor meinte, man solle Flora nicht wecken, bat aber, ob er den Arzt sprechen könne.
Der Arzt kam herein, ein kleiner dicker Mann, mit einem gelblichen Gesicht und schwarzen Augen, die noch vor Erbitterung über die nächtliche Gewalttour durch die Macchia, und die Anstrengung, die man ihm zugemutet hatte, funkelten.
Viktor erklärte ihm Floras Lage, wie sie durch die Entbehrung des Stimulanzmittels, an das sie gewöhnt, geschwächt gewesen, und die Katastrophe den Nervenzusammenbruch veranlaßt hätte.
Der Arzt betrachtete ihr Gesicht beim Schein des Lichtes, das Gigi hielt – lauschte ihren Atemzügen, sie waren schwach aber ruhig, und untersuchte das Morphiumpräparat, das Lucchetti ihr besorgt hatte.
Er meinte, daß die Krise überstanden sei, und da sie eine kräftige Konstitution zu haben scheine, wäre ihre vollständige Genesung wohl nur eine Frage von Zeit, Ruhe und guter Ernährung. Da er Gigis Augen beständig auf sich ruhen fühlte, hütete er sich wohl, eine Bemerkung über die unfreiwillige Zwangssituation, in der sie sich befand, zu machen.
Während Viktor ihn hinunterbegleitete, übernahm der Sekretär die Wache an Floras Bett.
Der Arzt hatte schon die Leichenschau vorgenommen, jetzt lag der Körper unter einer grauen Decke aufgebahrt.
Lucchetti kam herein. Sein Gesicht war von der bewegten Nacht geprägt. In seinem Haar und auf der Samtjacke saßen Spuren von dem nächtlichen Ritt durch Gestrüpp und Buschwerk.
Sein Blick war müde, leuchtete aber auf, als er Viktors ansichtig wurde. Mit ausgestreckten Händen eilte er auf ihn zu: » Caro signore« sagte er, »entschuldigen Sie, daß ich Sie warten ließ!«
Er drückte ihm mehrfach warm die Hand, während er ihm in die Augen sah, als ob er sagen wollte: »Ich kenne Sie und ich mag Sie leiden.«
Darauf machte er eine Bewegung zur Bahre, als ob er sagen wollte: »Dafür bin ich nicht verantwortlich.«
»Er war ein Mann von Ehre,« sagte er, indem er sich bekreuzigte, »wissen Sie den Grund?«
Viktor nickte.
»Das ist gut,« sagte er erleichtert, fragte aber nicht weiter. Er erkundigte sich nach Flora und schüttelte den Kopf. Viktor berichtete, was der Arzt gesagt hatte.
Lucchetti musterte ihn scharf: »Sie haben Schlaf nötig,« sagte er.
Viktor richtete sich auf und strich sich übers Gesicht.
»Sie wollten mich ja sprechen, haben nach mir geschickt –«
»Wollen Sie nicht zuerst schlafen?« fragte Lucchetti, Sie haben noch einige Stunden, bevor Ihr großer Tag beginnt.«
»Zuerst das Geschäft,« sagte Viktor, »auch ich habe Ihnen viel zu sagen. Wenn ich alles vom Herzen habe, werde ich besser schlafen können.«
»Gut.«
Er blickte um sich und ging dann auf den Arzt zu, der im Begriff war, zusammenzupacken.
»Guten Morgen, Doktor,« sagte er und schlug ihm auf die Schulter, »der Führer hat ein Maultier für Sie. In einer Stunde sind Sie wieder zu Hause und können noch ein wenig schlafen, bevor Ihr Arbeitstag beginnt. Das Honorar werde ich Ihnen zusenden.«
Er gab dem Arzt die Hand, begleitete ihn zur Tür und schloß sie hinter ihm. Darauf warf er noch einen Blick auf die Galerie – sie waren allein mit dem Toten. Lucchetti bot Viktor einen Stuhl und setzte sich selbst auf den Tisch.
»Wo ist Farham?« fragte Viktor.
»Drüben im Wachtzimmer.« Und mit einer verächtlichen Kopfbewegung fuhr er fort: »Übler Bursche! Keinen Schuß Hagel wert.« Er tat ihn mit einer Handbewegung ab und fuhr fort: »Das, was ich Ihnen mitzuteilen habe, betrifft die Sache der Hybsa. Wir haben den Dieb des Halsbandes gefunden. Heute in acht Tagen, zu einer Stunde und an einem Ort die ich Ihnen noch näher bezeichnen werde, steht das Halsband zur Verfügung. Sie müssen dann bereit sein, es für die Hybsa entgegenzunehmen und mir die längst verfallene Schuld des Fürsten samt Unkosten zu zahlen.«
Viktor brannte darauf, zu erfahren, wer der Dieb sei und wie man ihn gefunden habe. Da aber Lucchetti nicht aufgelegt schien, mehr zu sagen, hielt er inne.
»Und was hatten Sie mir mitzuteilen?« Lucchetti betrachtete ihn mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, und Viktor fiel gleich mit der Tür ins Haus.
»Es wird Intrige gegen Sie geplant,« flüsterte er.
»Es werden immer Intrigen gegen mich geplant,« lachte Lucchetti.
»Zwei Angriffe sollen gegen Sie unternommen werden,« fuhr Viktor fort, »und der eine scheint mir nicht ungefährlich. Lacombe will Sie durch einen neuen, soeben vom Festlande verschriebenen Oberst und einer Umorganisierung der Gendarmerie treffen, und er meint, daß Sie sich schon jetzt unsicher fühlen, weil Sie ihn gerade am Tage der Fliegerveranstaltung zur Verhandlung mit Ihrem Vertreter nach Ajaccio bestellt haben, weil Sie damit rechnen, daß die ganze Polizeistärke an Bastia konzentriert und die Bahn im Ajaccio frei sein wird.«
Lucchetti lachte so herzlich, daß Viktor mit einstimmte.
»Ich weiß schon, wie der neue Oberst heißt,« sagte er. »Und wer will sonst noch etwas gegen mich unternehmen?«
»Ein Mensch, der sich Weyler nennt –
Lucchettis Gesicht wurde düster, er runzelte die Brauen.
»Ich weiß Bescheid – Teresa hat mir von ihm erzählt.«
»Er muß unschädlich gemacht werden,« und ohne Erbarmen erzählte Viktor den ganzen sündigen Plan, den Walther sich ausgedacht hatte, und worin Teresa die Hauptrolle spielen sollte.
Lucchetti hatte seinen Blick zur Decke gerichtet, wie es seine Gewohnheit war, wenn er nachdachte. Viktor nahm an, daß er überlegte, wie er den Schurken am besten treffen könnte.
»Den müssen Sie mir überlassen,« beeilte er sich zu sagen.
Lucchetti sah ihn verwundert an.
»Ich habe noch eine alte Abrechnung mit ihm,« fuhr Viktor fort und erzählte von dem Polizeischild und der Brieftasche; Walther hatte sich auf diesem Raub eine Position aufgebaut: das Schild verwandte er als Legitimation, und mit dem Inhalt seiner Brieftasche hatte er sich ›ein selbständiges Geschäft‹ gegründet.
Darauf entwickelte Viktor seinen Plan: Walther hatte ihm gesagt, daß er gern einen Flug mitmachen wollte, und er habe ihm Platz im Wagen des Arztes verschafft, – er sah auf seine Uhr – sie waren jetzt schon unterwegs. Florin hatte er bereits geschrieben, daß Walther als Letzter mit ihm fliegen sollte. Statt aber über der Stadt zu kreuzen, sollte Florin über das Meer nach Livorno fliegen. Falls Walther sich sträubte, würde er, Viktor, der als zweiter Passagier mitflog, ihn, mit dem Revolver in der Hand, zwingen, sich in sein Schicksal zu ergeben. In Livorno angekommen, wollte er ihn der Polizei wegen des an ihm begangenen Raubes ausliefern und das betreffende Konsulat von seinem lichtscheuen Treiben unterrichten.
Lucchetti hatte aufmerksam zugehört. Als Viktor geendet hatte, sagte er: »Gesetzt, Sie kommen lebendig mit ihm nach Livorno und übergeben ihn dort der Polizei – was versprechen Sie sich eigentlich davon?«
Er sprang vom Tische und blieb vor Viktor stehen: »Wie kann ein kluger und guter Mensch wie Sie, Zutrauen zu der blinden und stumpfen Polizei haben, die nur nach den Paragraphen des Gesetzbuches mißt! Werden ihm dadurch die Giftzähne ausgebrochen? – Er ist ein Unmensch und muß unschädlich gemacht werden, damit seine Bosheit und sein Gift nicht mehr wirken können. – ›Teresa – Teresa!‹«
Sein Gesicht verzog sich vor Zorn, – die Augen traten ihm blutunterlaufen aus dem Kopfe, seine Lippen bebten, und er hob seine geballten Hände mit den weißen Knöcheln, und machte eine Bewegung, als ob er jemandem den Hals umdrehte. Dabei knirschte er mit den Zähnen wie ein Raubtier, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Plötzlich aber ließ er seine Hände sinken, strich sich über die Stirn und hatte sich wieder in der Gewalt.
»Nein,« sagte er ruhig und ernst, »Sie müssen ihn mir überlassen. Sie, mit Ihrer Justiz können nicht mit ihm fertig werden. Er ist mein Mann.«
Viktor schwieg verblüfft. In seiner Erinnerung tauchten Gedanken auf, die er selbst gedacht hatte, als er in die Welt zog, um das Leben kennenzulernen und einem kleinen Mädchen begegnete, das in Not war: Was kümmerte die Polizei ihr Schicksal, was kümmerte sie das Leben? Paragraphen einhalten – Vorschriften nicht kränken – was gibt's noch sonst?
Lucchetti trat dicht an ihn heran und sah ihm mit seinem zwingenden Blick in die Augen: »Wenn wir uns heute abend in Bastia wiedersehen, dann wissen Sie mehr als jetzt. – Gehen Sie jetzt hinauf ins Gastzimmer rechts und schlafen Sie, bis Gigi Sie weckt. Paolo wird rechtzeitig mit dem Auto hier sein.«
»Ich werde ihn dennoch mit ins Flugzeug nehmen,« sagte Viktor und richtete sich höher auf.
»Wenn es Ihnen glückt.« Lucchetti lachte gutmütig und fügte hinzu: »Tun Sie Ihr Möglichstes, ich werde das meine tun – und unsre Wege werden sich treffen.«
»Und was wird aus Frau Millner?« fragte Viktor besorgt.
»Auch sie werden Sie bald wiedersehen. Am Kai, wo der Dampfer anlegt, werde ich Sie aufsuchen, wenn zum erstenmal zum Abgang geläutet worden ist. Auf Wiedersehen heute abend!«
Viktor wollte nach Teresa fragen; Lucchetti aber ergriff seine Hände und drückte sie, als ob er ihm durch seinen Händedruck eine Freude verkünden wollte.
»Ich muß jetzt fort,« sagte er und winkte von der Tür, »auch meiner wartet ein geschäftiger Tag.«
*
Viktor fuhr mit Teresa an seiner Seite, von Porta Maggiore in die Campagna hinaus.
Sie kamen durch Vorstädte, wo hundertjährige Villengärten hinter moosbewachsenen Mauern mit schmutzigen Werkstätten, Mietshäusern, düsteren Vorstadtkneipen, vernachlässigten Kirchen und traurigen Resten ehemaliger lustiger, ländlicher Trattorien wechselten.
Sie gelangten zum Flugplatz bei Centocelle, – und vor ihnen lag die Campagna und die bläulichen Höhenzüge der albanischen Berge.
Eine Schafherde lag quer über die Landstraße, vier langhaarige Schäferhunde hielten sie zusammen, die Schnauzen tief an der Erde. Die Schafe waren erst kürzlich geschoren; der Hirte führte den Widder am Bande, wie ein Opfertier zu Ehren des Frühlings geschmückt, kunstvoll geschnitten und blau gemalt. Der Hirte lächelte mit weißen Zähnen, nickte und blieb stehen, damit die Inglesen Bei der Landbevölkerung in der Campagna werden alle Fremden einfach Inglesen, d. h. Engländer, genannt. im Wagen sein schön geschmücktes Tier bewundern konnten.
Die hügelige Ebene lag in vollem Frühlingsglanz, Heu wurde eingefahren, es duftete nach dem langen, vergilbten Gras, das von gelassenen römischen Ochsen auf hochgeladenen Wagen über die Landstraße gezogen wurde – –
Sie kamen von Livorno, waren schnurstracks durch Rom gefahren, um ihren Bestimmungsort zur verabredeten Zeit zu erreichen.
Sieben Tage waren seit dem Montag nachmittag vergangen, als die Fliegerveranstaltung stattfand, und Viktor auf Lucchettis Aufforderung, am Kai neben dem Dampfer nach ihm ausspähte, da die Schiffsglocke zum erstenmal geläutet hatte.
Während er dort stand und wartete, sah er, wie ein Auto sich einen Weg zur Schiffsbrücke bahnte –
»Der Enterich« kreiste gerade niedrig über Stadt und Hafen. Schimpfend und gestikulierend machte die Menge dem Auto Platz. Der ältliche Chauffeur mit dem schwarzen Vollbart und den buschigen Brauen mußte seine ganze Geschicklichkeit aufbieten, – und auf den Mund gefallen war er auch nicht, so daß er sein Ziel schließlich erreichte.
Im Auto saß eine schwarzgekleidete, dicht verschleierte Dame mit ihrer Kammerzofe, die ebenfalls schwarz gekleidet war, auf dem Rücksitz ein jüngerer Herr in einem hellen Reisemantel, den weichen Filzhut tief in das kräftige, sonnengebräunte Gesicht gedrückt, und neben dem Chauffeur saß ein junger Mann, der wie ein Kammerdiener oder Verwalter aussah.
Nachdem der Chauffeur den Wagen an Bord bugsiert hatte, stieg er aus, nahm, die Hand an der Mütze, von der schwarzgekleideten Dame einen Bescheid entgegen und begab sich auf den Kai, um den Auftrag auszuführen.
Er ging dicht an Viktor vorbei, stieß ihn im Gedränge, griff entschuldigend an die Mütze und flüsterte im selben Augenblick: » Ben trovato, amico! – Wir erwarten Sie im Palace Hotel in Livorno!«
Viktor faßte sich – » buon viaggio!« beeilte er sich zu flüstern. Im selben Augenblick erkannte er Flora an der charakteristischen Haltung ihres Kopfes, die Kammerzofe war Teresa, nur den Mann auf dem Rücksitze, mit dem sonnengebräunten Teint konnte er nicht erkennen, bis ihm der gleichgültige, blasierte Blick auffiel, womit er die Umgebung musterte. Da wußte Viktor, daß er es mit Farham zu tun hatte, der durch Walnußsaft unkenntlich gemacht war.
Viktor eilte zu dem abgesperrten Flugplatz zurück, er mußte sich mit Gewalt durch die Menge drängen.
Jetzt wurde die Schiffsglocke zum letztenmal geläutet, und gleichzeitig sollte das Flugzeug zum letztenmal aufsteigen – mit ihm selbst und Walther als Passagiere.
Er winkte Florin zu, daß er warten möge, – Doktor Manots kleiner gelber Selbstfahrer war noch nicht eingetroffen, obgleich er schon längst da sein müßte. Wahrscheinlich hatte er unterwegs eine Panne gehabt.
Florin wurde ungeduldig, er machte Viktor ein Zeichen zu, länger wollte er nicht warten.
Viktor ging an Bord, und im selben Augenblick sah er den Dampfer mit einem großen Bogen in See stechen. Mit dem Fernglas vorm Auge beobachtete er aus dem Flugzeug das Auto an Bord des Dampfers – er sah Teresas Gesicht beständig nach dem Flieger gewandt.
Viktor und Florin kehrten im Palace Hotel ein, und am nächsten Morgen trafen sie Lucchetti, der sie vor dem Hotel erwartete.
Er teilte ihnen mit, daß Flora nicht weiterfahren könne, – sie müsse mit Teresa irgendwo in Pflege, wo sie absolute Ruhe habe, und er empfahl ein Sanatorium vor der Stadt; er selbst wolle mit Farham weiterfahren.
Er übergab ihm Floras und Teresas Pässe, und bezeichnete ihm die alte Osteria in der Campagna, wo er ihn wegen der Verhandlung mit der Hybsa treffen sollte. Teresa möchte er mitbringen, sagte er. Ferner bat er ihn, an den alten Farham nach Neapel zu telegraphieren, und ihn zu bitten, in Begleitung von Alasco, ebenfalls an dem bezeichneten Ort zu erscheinen, um wegen des Lösegeldes für seinen Sohn zu verhandeln.
Damit sagte er lebewohl, und noch vor Mittag war er mit Farham und dessen Wächter, dem Bauern Giacomo, unterwegs, den Viktor beim Abgang des Dampfers auf dem Auto gesehen hatte.
Flora hatte in der Nacht einen neuen Anfall gehabt, sie lag noch zu Bett, und Teresa, die das Zimmer mit ihr teilte, war besorgt.
Als Viktor zu ihr kam, bat sie ihn gleich, ihr das Stimulanzmittel zu verschaffen, das sie nicht mehr entbehren konnte. Viktor versprach es unter der Bedingung, daß sie einen Arzt konsultieren wollte.
Nachdem er das Begehrte in einer lichtscheuen Apotheke gefunden hatte und zurückkehrte, traf er vor ihrer Tür den Hotelarzt. Er sagte, er habe ihren Zustand nicht bedenklich gefunden; es handelte sich seiner Meinung nach nur um eine Nervenkrise auf Grund seelischer Erregungen.
Schon am nächsten Tage hatten die neue Umgebung und das Stimulanzmittel Wunder gewirkt. Flora konnte aufstehen, und durch Vermittlung des Arztes waren sie und Teresa bereits vor Abend in einem Sanatorium auf dem Gipfel des Montenero untergebracht, – in der Nähe der alten Wallfahrtskirche mit der wundertätigen Madonna, die ein Seemann einst im Orient entdeckt, mit nach Hause gebracht und auf seinem Rücken den Berg hinaufgetragen hatte.
Die Gegend war wunderbar schön. Flora hatte von ihrem Fenster Aussicht über die Ebene von Livorno, mit den blauen pisanischen Bergen im Hintergrunde.
Viktor besuchte sie täglich, bis der Tag kam, an dem er und Teresa Lucchetti in der Campagna treffen sollten. Da war sie bereits so wohl, daß sie sie ruhig allein lassen konnten.
*
Viktor fuhr das Auto selbst.
Während er neben Teresa saß und überlegte, was jetzt kommen würde, – warum Lucchetti ihn zu dieser Unterredung bestellt hatte, schweiften seine Gedanken zu den früheren Ereignissen zurück.
Sein Plan war nur teilweise geglückt, Flora war allerdings gerettet, – wie aber stand es um Teresas Schicksal?
Es beunruhigte ihn sehr, daß Walther sich auf irgend eine Weise der Vernichtung, die ihm gedroht, entzogen hatte. Noch war er nicht unschädlich gemacht, konnte sich mit Lacombe verbinden und Lucchetti verfolgen. Auch würde er die Beute seiner Augen sicher nicht gutwillig aufgeben. Teresa zitterte, wenn sie nur an ihn dachte.
Hatte er Verdacht geschöpft und war deshalb nicht zum Flugplatz gekommen, – oder war Doktor Manot unterwegs ein Unglück zugestoßen? – Das war die entscheidende Frage.
Lucchetti hatte recht gehabt, es wäre besser gewesen, er hätte ihn auf seine Kappe genommen!
Viktor hielt das Auto an, um einen Bauern nach dem Wege zu fragen. Der Bauer, der mit seinen Weinfässern unterwegs nach Rom war, saß faul auf seinem Strohsack, von dem kugelrunden Wagendach gegen die Sonne geschützt; die Weinfässer waren auf dem schmalen Wagen angebunden; das Pferd mit dem kunstvoll geschmückten, schweren Sattelzeug und dem Federbusch auf der Stirn, zog den Wagen gemächlich durch Sonnenbrand und Staub zur Stadt.
Der Kutscher richtete sich halb auf und zeigte mit der Peitsche: Dort hinten, rechts vom Wege, lag die Osteria auf der öden Ebene, deren magere Weiden Schafherden bis auf den nackten Felsen abgenagt hatten.
Ringsum lagen Hirtenhütten verstreut, wie verwitterte Heuhaufen anzusehen, mit einem Loch als Eingang, und einem Stock, der aus der Mitte herausragte. Weit hinten, in der Richtung der Berge erhob sich, von anmutig gebeugten, dunklen Pinien umgeben, ein Turm, – der letzte Rest einer mittelalterlichen, längst zusammengefallenen Burg.
Endlich! – Am Wege lag eine Ruine, eine Grabrotunde von ungewöhnlichem Umfang. Vor der Ruine aber war eine Torwölbung errichtet und dahinter lag eine Wagenremise. Hoch oben in der uralten Mauer der Rotunde waren zwei kleine Fenster angebracht. An der Seite konnte man einen Anbau aus rohem Mauerstein sehen; dort war wahrscheinlich der Eingang.
In der Nähe der Wagenremise stand ein Holzblock, Holzscheite waren aufgestapelt, Hühner liefen pickend herum, und im Hintergrunde befand sich auf einer Erhöhung ein großes Wasserbassin, wo einige freigehende Pferde tranken, das Maul im Wasser versenkt. Von der Campagna kam jetzt eine ganze Schafherde auf die Tränke zu, mehrere Hunde an der Spitze, und der Hirte hinterher, sich wie eine schwarze Silhouette vom Horizont abhebend.
Viktor ließ seine Autohupe ertönen, und jetzt sahen sie Giacomo, Lucchettis rechte Hand, aus der Wagenremise kommen.
Er grüßte vergnügt, und kaum hatten sie das Auto verlassen, als Lucchetti selbst auf sie zugeeilt kam.
Viktor erkannte ihn zuerst nicht; den Vollbart hatte er allerdings wieder abgelegt, doch trug er die Tracht des Campagnabauern, – grau, lose, ohne Weste, das Hemd auf der Brust offen.
Er hob Teresa hoch und küßte sie auf beide Wangen; Viktor umarmte er wie einen Bruder, und kurz darauf standen sie unter der plumpen, geflickten Balkendecke, die vor Jahrhunderten quer durch die Rotunde gebaut worden war, um die Grabruine in zwei Stockwerke zu teilen.
Sie befanden sich in einem halbrunden Raum – durch eine Scheidewand war die Rotunde in zwei gleiche Zimmer geteilt –, an den Wänden hingen Kruzifixe, Madonnen und Heiligenbilder, in einer Ecke stand ein alter gemauerter Ofen mit einem Rauchfang, und ein langer Holztisch, das eine Ende, den Mahlzeiten vorbehalten, mit einem Stück Linoleum bedeckt, auf dem andern ein Tintenfaß und anderes Schreibmaterial.
An der runden Wand war eine Bank, und dahinter ein großes vergittertes Fenster, wo ein roter Kater in der Sonne lag. An der gegenüberliegenden geraden Wand und an beiden Tischenden standen strohgeflochtene Stühle, wie sie überall in Italien auf dem Lande in Gebrauch sind.
Ein Dunst von Gebratenem lag über dem Raum, und kaum hatte Giacomo den Neuangekommenen beim Ablegen geholfen, als er zu seinen Kochpflichten zurückeilte: ein Huhn prasselte an einem Spieß über dem Herdfeuer, das durch einen Rost glühte.
Teresa deckte den Tisch, unter Lucchettis Anleitung, – ein mächtiger Schrank enthielt Gläser, Teller, – alles, was sie gebrauchten.
Als das Essen fertig war, klopfte Giacomo an die Tür in der geraden Wand, und kurz darauf erschien der junge Farham. Er grüßte mit einer hochmütigen, blasierten Kopfbewegung.
Während er sich an den Tisch setzte, beobachtete Viktor ihn genau: das Haar war zurückgestrichen, blank, sorgfältig behandelt wie immer, – die farblosen Augen waren vielleicht etwas gelber im Weißen, sonst schien all das Ernste, was er erlebt hatte, – Gefangenschaft, Gustavs Selbstmord, Floras Verzweiflung, ihn nicht weiter berührt zu haben; sein Gesicht war so ausdruckslos wie je.
Lucchetti war glänzender Laune, spielte die Rolle des Osteriawirtes brillant und frischte alte Erinnerungen auf: in diesem Hause habe er seine Kindheit verlebt, – auf dem Platz, wo er jetzt thronte, am Tischende, auf dem Stuhl, der sich vor andern durch Armlehne und Holzsitz auszeichnete, habe sein Onkel gesessen, der nun schon lange tot sei, habe über die Ebene geblickt, Pferde und Schafe gezählt, auf das Federvieh achtgegeben und aus den Wolken, die vom nahen Meer über die Campagna her zogen, das Wetter vorausgesagt.
Er trank Viktor und Teresa immer wieder zu, sprach von Roma, freute sich über alles, was sie dort gemeinsam kannten, und staunte über Viktors Kenntnisse. Sie stellten fest, daß Viktor sogar längere Zeit als Lucchetti dort wohnhaft gewesen, er hatte von seinem dritten bis zu seinem neunzehnten Jahre dort gelebt, während Lucchetti in seinem siebten Jahre von den Eltern auf Korsika, hierher gekommen und bis zu seinem zwanzigsten geblieben war.