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Nachdem Mr. Hobbs von seinem jungen Freunde Abschied genommen hatte und nun von Tag zu Tage mehr zur Erkenntnis kam, daß der Atlantische Ozean zwischen ihm und dem kleinen liebenswürdigen Kameraden lag, fing es in der »gemischten Warenhandlung« an trübselig auszusehen. Mr. Hobbs gehörte weder zu den hervorragenden Intelligenzen, noch zu den gesellschaftlichen Umgangsmenschen und hatte mit seiner schwerfälligen Art nie viele Verbindungen anzuknüpfen verstanden. Er war viel zu phlegmatisch, um sich auf irgend eine Weise an Vergnügungen zu beteiligen, und seine einzige Unterhaltung bestand im Studium der Zeitung, während seine geistige Arbeit sich auf seine nicht gerade korrekte Buchführung beschränkte. Letztere hatte ihre Schwierigkeiten, denn das Addieren langer Zahlenreihen war des würdigen Mannes Stärke eben nicht, und zuweilen dauerte es sehr lange, bis er damit ins reine kam. In der schönen, nun für immer dahingeschwundenen Zeit ihrer Freundschaft hatte der kleine Lord Fauntleroy, der ganz nett auf der Schiefertafel rechnen konnte, hier und da ausgeholfen und das saure Werk gefördert, und dann war er ein so geduldiger aufmerksamer Zuhörer gewesen und hatte sich für alles, was in den Zeitungen stand, aufrichtig »'tressiert,« und wie gläubig hatte er Mr. Hobbs' Ansichten über die Revolution und die Engländer, die Präsidentenwahl und alle Parteifragen entgegengenommen – kein Wunder, daß er in dem Leben des würdigen Krämers eine gähnende Lücke hinterlassen hatte. Anfangs war es dem vereinsamten Freunde vorgekommen, als ob Cedrik gar nicht so weit weg sei und stündlich wiederkehren könnte, als ob es nicht anders sein könnte, als daß er eines Tages, von seiner Schreiberei aufblickend, den kleinen Burschen unter der Ladenthür stehen sehen würde, in dem weißen Anzug mit den roten Strümpfen, den Hut im Nacken sitzend, und mit seinem hellen Stimmchen das bekannte: »Hallo, Mr. Hobbs! Heißer Tag heute – nicht?« rufend. Aber als ein Tag um den andern verging und dieses erfreuliche Ereignis nicht eintrat, da wurde es Mr. Hobbs traurig und unheimlich ums Herz. Nicht einmal an seiner Zeitung fand er den rechten Genuß, und oft und viel legte er das Blatt, nachdem er es durchgelesen, auf den Schoß und blickte lange in Wehmut und trübselige Gedanken versunken auf die hohen gespreizten Beine des Stuhles an seiner Seite, deren Anblick ihn noch weicher und melancholischer stimmte. Trugen diese hohen Stuhlbeine doch tiefe Eindrücke von den kleinen Schuhen des edlen Lord Fauntleroy, künftigen Grafen Dorincourt, dessen blaues Blut ihn merkwürdigerweise nicht abgehalten hatte, im Eifer des Gespräches mit den Beinen zu baumeln und die Absätze kräftig gegen das Stuhlbein zu schlagen. Wenn Mr. Hobbs lange genug auf diese geweihten Fußspuren geblickt hatte, dann zog er wohl die goldne Uhr aus der Westentasche, öffnete sie und las die Inschrift: »Mr. Hobbs von seinem ältesten Freunde, Lord Fauntleroy. Die Uhr, sie spricht, vergiß mich nicht,« worauf er sie mit lautem Knacksen zudrückte, tief aufseufzte und unter die Ladenthür trat, von wo er in geschmackvoller Umrahmung durch Kartoffelsäcke und Aepfelkisten die Straße entlang blickte. Abends, wenn das Geschäft geschlossen war, zündete er dann wohl seine Pfeife an und spazierte wuchtigen, bedächtigen Schrittes bis an das kleine Haus, das Cedrik bewohnt hatte, und das mit seinem weißen Zettel: »Zu vermieten« gar öde und unwohnlich dreinschaute, sah dran hinauf, schüttelte den Kopf, paffte mächtige Rauchwolken aus seiner Pfeife und wandelte gepreßten Herzens wieder nach Hause.
So gingen zwei oder drei Wochen dahin, ehe ein neuer Gedanke in ihm aufdämmerte. Mr. Hobbs' Gedanken hatten stets einen gründlichen, langwierigen Entwickelungsprozeß durchzumachen, und wenn einmal wirklich einer ins Leben getreten war, pflegte er ihn so unbequem zu finden, wie ein Paar neuer Stiefel. Nachdem sich aber sein Gemütszustand in dieser Zeit eher verschlimmert, als gebessert hatte, gedieh ein ganz nagelneuer Plan schließlich zur Reife. Er wollte Dick aufsuchen. Es war gut, daß er den Tabak seinem eignen Geschäft entnehmen konnte, denn er mußte unzählige Pfeifen rauchen, bis er zu diesem festen Entschlüsse gelangte. Er wollte Dick aufsuchen, Cedrik hatte ihm viel von dem Freunde erzählt, und es lebte ein unbestimmtes Gefühl in ihm, daß er vielleicht in Dick einigen Ersatz und einige Erleichterung für sein Mitteilungsbedürfnis finden konnte.
Als Dick eines Tages mit größter Energie die Gehwerkzeuge eines Kunden bearbeitete, ereignete es sich, daß ein untersetzter, stämmiger Mann mit einem runden Kopfe und spärlichen Haaren auf dem Trottoir stehen blieb und unverwandt Dicks Schuhputzerzeichen anstarrte und die Inschrift:
Professor Dick Tipton, Schwarzkünstler
studierte, was endlich Dicks Interesse lebhaft erregte, und ihn, nachdem der erste Kunde einstweilen im Besitze spiegelblanker Stiefel abgezogen war, zu der Frage veranlaßte: »Stiefel wichsen, Sir?«
Mit entschlossener Miene trat der Mann vor und setzte den Fuß auf die kleine Bank.
»Ja,« sagte er bestimmt.
Während Dick sein Kunstwerk mit Eifer begann, sah der breitschulterige Mann bald ihn, bald das Schild aufmerksam an.
»Woher haben Sie das Ding?« fragte er.
»Von einem Freunde von mir,« erwiderte Dick, »von einem Knirps. Hat mir die ganze Einrichtung geschenkt. War der beste kleine Kerl, den's gibt. Ist in England jetzt. Soll so ein – so ein Lord werden da drüben.«
»Lor – Lord?« fragte Mr. Hobbs mit bedeutsamer Langsamkeit. »Lord Fauntleroy, hm? Künftiger Graf Dorincourt?«
Um ein Haar hatte Dick die Bürste fallen lassen.
»Donnerwetter,« rief er, »Sie kennen ihn?«
»Ich habe ihn gekannt,« versicherte Mr. Hobbs, sich die feuchte Stirn trocknend, »seit er überhaupt auf der Welt ist. Jugendfreunde – ja, Jugendfreunde sind wir gewesen.«
Es verursachte ihm wirklich eine gewisse Gemütsbewegung, von seinem Freunde zu sprechen. Er zog die prachtvolle goldne Uhr aus der Tasche, klappte den Deckel auf und wies Dick die Inschrift.
»Das war's, was er mir als Andenken gab vor der Abreise. ›Ich will nicht, daß Sie mich vergessen,‹ so hat er Wort für Wort gesagt. Hätt' ihn auch nicht vergessen, meiner Seel'!« fuhr er kopfschüttelnd fort, »wenn er mir auch kein Andenken gegeben hätte, und wenn ich auch mein Lebtag nichts mehr von ihm zu sehen kriegte. Den vergißt keiner.«
»Der netteste Bursche war er,« stimmte Dick bei, »den die Sonne je gesehen hat. Und Grütze im Kopf. Hab' mein Lebtag nicht so viel Grütze bei so einem Knirps gesehen. Habe große Stücke auf ihn gehalten, das ist wahr, wir sind auch Freunde gewesen, so auf eine Art, das will ich meinen. Seinen Ball habe ich ihm unter einer Kutsche vorgeholt und das, das hat er mir nie nicht vergessen, der kleine Kerl! Und da ist er heruntergekommen zu mir mit seiner Mutter oder seiner Mamsell und dann schrie er: »Hallo, Dick,« als ob er ein sechs Fuß hoher Bengel wäre und gerade der rechte Kamerad für mich, und dabei war der Guck in die Welt nicht so hoch wie mein Kasten und steckte noch im Mädelsrocke. Ein fideles kleines Haus war es, und wenn es einem einmal schief ging, that es einem gut, mit ihm zu diskutieren.«
»So ist's,« bestätigte Mr. Hobbs, »und Sünd' und Schand' ist's, aus dem einen Grafen zu machen. Der hätt's zu was gebracht in der Spezereibranche oder auch im Ellenwarengeschäft – aus dem hätte sich was machen lassen,« und er schüttelte sein massives Haupt mit tiefem, ehrlichem Bedauern.
Es zeigte sich bald, daß die neuen Bekannten so viel miteinander zu besprechen hatten, daß die Sache sich nicht auf der Straße abmachen ließ, und so wurde verabredet, daß Dick am folgenden Abend sich bei Mr. Hobbs im Geschäft einfinden sollte, was dem jungen Manne außerordentlich einleuchtete. Er war ein Kind der Straße von klein auf, aber in ihm lebte von jeher eine gewisse Sehnsucht nach einer ehrbaren, bürgerlichen Existenz. Seit er sein Gewerbe allein betrieb, hatte sich seine Einnahme so ansehnlich gesteigert, daß er sich ein Nachtlager unter Dach und Fach gönnen konnte, und keine Haustreppen mehr als solches zu benutzen gezwungen war, und allmählich gestattete er sich auch den Luxus, Pläne zu schmieden und nach noch Höherem zu streben. Die Einladung zu einem so umfangreichen, ansehnlichen Manne, der einen eignen Laden und sogar Wagen und Pferde zur Beförderung seiner Waren besaß, war ein bedeutender Schritt auf dem Wege zu einer höheren Lebensstellung.
»Ist Ihnen über Grafen und Schlösser vieles bekannt?« erkundigte sich Mr. Hobbs. »Ich möchte gern mehr Einzelheiten über diese Sachen wissen.«
»In der Penny Story Gazette kommt eine Geschichte, wo sich's um vornehme Leute handelt. Sie heißt: ›Das Verbrechen einer Krone‹ oder ›Die Rache der Gräfin May.‹ Kurioses Zeug ist's, aber ganz famos. Ein paar von uns lesen's.«
»Bringen Sie mir das Blatt mit, ich will's bezahlen,« erklärte Mr. Hobbs mit Würde. »Bringen Sie mir alles, wo ein Graf drin vorkommt, und wenn's kein Graf ist, so thut's auch ein Marquis oder ein Herzog, obwohl er allerdings immer nur von einem Grafen gesprochen hat. Ueber Grafenkronen haben wir uns auch unterhalten, gesehen habe ich aber nie welche. Denk' mir, hier herum sind keine zu haben.«
»Wenn's einer hätte, wär's Tiffany,« sagte Dick, »weiß aber nicht, ob ich sie kennen würde, wenn ich eine zu sehen kriegte.«
Mr. Hobbs fand es nicht für nötig, zu gestehen, daß er selbst auch keine Vorstellung von der Beschaffenheit eines solchen Dings habe, sondern schüttelte nur bedächtig den Kopf und bemerkte: »Vermutlich keine Nachfrage nach dem Artikel bei uns,« womit die tiefsinnige Frage ihre Erledigung gefunden hatte.
Damit war der Anfang zu einer Freundschaft gemacht, die für den einen Teil auch ihre materiellen Vorteile hatte, denn Mr. Hobbs nahm seinen neuen Bekannten mit großer Gastfreundschaft auf. Er stellte ihm einen Stuhl nahe an die Thüre in der unmittelbaren Nachbarschaft des großen Apfelfasses, und nachdem der Besucher Platz genommen, sagte er mit einer einladenden Handbewegung: »Versehen Sie sich.«
Er besah sich dann die mitgebrachten Blätter mit dem Grafenroman, sie lasen einen Teil der Geschichte miteinander und besprachen die Verhältnisse der englischen Aristokratie mit großer Sachkenntnis. Mr. Hobbs dampfte sein edles Kraut dabei und schüttelte sehr häufig das rundliche Haupt, am häufigsten, als er dem mitfühlenden Dick die denkwürdigen Scharten an den hohen Stuhlbeinen vorwies.
»Die kommen von seinen Füßchen,« sagte er nachdrücklich. »Ich sitze oft stundenlang da und seh' mir sie an. Ja, ja, in dieser Welt geht's bald auf, bald ab mit uns. Da saß er und knabberte Biskuits aus der Büchse und Aepfel aus dem Faß und warf das Kerngehäus auf die Straße 'naus, und jetzt sitzt er in einem Schlosse und ist ein Lord. Die Scharten da an dem Stuhl haben eines Lords Stiefel geschlagen! Manchmal, wenn ich daran denk', muß ich immer wieder sagen: Da will ich mich doch gleich räuchern lassen.«
Diese Betrachtungen und Dicks Besuch schienen seinem Gemüt eine große Wohlthat zu gewähren. Ehe Dick sich empfahl, ward in dem kleinen Ladenstübchen eine Mahlzeit, bestehend aus Biskuits, Käse, Sardinen und einigen andern Artikeln der Handlung abgehalten und Mr. Hobbs öffnete nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit eine halbe Weinflasche und goß die Gläser voll.
»Sein Wohl!« sprach er, »und er soll denen drüben was zu raten aufgeben – den Grafen und Marquisen und wie das Volk heißt.«
Von da an ward der Verkehr fleißig fortgesetzt, und Mr. Hobbs fühlte sich nun weit weniger vereinsamt und verlassen. Sie lasen die Penny Story Gazette und vieles andre miteinander und nahmen sichtlich zu an Verständnis für die vornehme Welt, und zwar in einer Weise, welche für die verhaßten Aristokraten manches Ueberraschende gehabt haben würde. Eines Tages raffte sich Mr. Hobbs sogar zu einem richtigen Bücherkauf auf und setzte den in der Buchhandlung thätigen jungen Mann durch seine Frage nach einem Buche über Grafen in einiges Erstaunen. Nachdem lang über ein derartiges litterarisches Erzeugnis hin und her geredet worden war und verschiedene Mißverständnisse sich aufgehellt hatten, trat Mr. Hobbs im Besitz von »Der Tower von London von Mr. Harrison Ainsworth« hochbefriedigt den Rückweg an.
Sobald Dick erschien, machten sie sich über die neue Erwerbung her, und es zeigte sich, daß es ein höchst wunderbares und spannendes Buch war, welches in der Zeit der sogenannten »Blutigen Maria« spielte. Als sie nach und nach daraus ersahen, wie sehr es zu den Liebhabereien dieser englischen Königin gehört hatte, den Leuten die Köpfe abzuhacken und sie lebendig zu verbrennen, geriet Mr. Hobbs in große Unruhe.
Freilich hatten seine Zeitungen, soviel er sich erinnern konnte, aus unsrer Zeit derartige Dinge nicht gemeldet, aber was ließ sich nicht erwarten von einem Land, das einmal eine solche Königin hervorgebracht hatte, und das auch jetzt wieder unter der Oberhoheit eines weiblichen Wesens stand, was Mr. Hobbs in seiner Eigenschaft als überzeugter Junggeselle ohnehin nicht billigen konnte? Was ließ sich erwarten von einem Volk, das, wie Mr. Hobbs »hatte sagen hören«, nicht einmal den vierten Juli feierte!
Mehrere Tage trug Mr. Hobbs bange Sorge im Herzen, und erst als Fauntleroys Brief eintraf, wurde ihm etwas leichter zu Mut. Er las ihn mehrmals, für sich allein und mit Dick, und auch den Brief, welchen Dick um dieselbe Zeit erhielt, studierte er gründlich. Beide waren sehr glücklich im Besitz dieser Schriftstücke, deren Inhalt und Wortlaut sie eingehend miteinander besprachen. Die Antworten nahmen Tage in Anspruch und wurden fast ebenso oft überlesen und überlegt, wie die kürzlich empfangenen Briefe.
Für Dick war es ohnehin kein leichtes Stück Arbeit, einen Brief zu schreiben. Was er von den Geheimnissen der Lese- und Schreibekunst sein eigen nannte, hatte er in ein paar Monaten, in denen er eine Abendschule besuchen konnte, erworben – es war zu der Zeit gewesen, als er mit seinem älteren Bruder zusammenlebte. Er war ein aufgeweckter Bursche und hatte diese einzige Gelegenheit, sich zu bilden, wohl zu benutzen gewußt und sich von da an durch anfangs äußerst mühsames Zeitungslesen weitergeholfen: das Schreiben aber konnte nur durch gelegentliche Versuche mit einem Kreidestücke auf Mauern oder Trottoir fortgesetzt werden. Er erzählte Mr. Hobbs vieles von seinem Leben und dem älteren Bruder, der nach Kräften gut gegen ihn gewesen war, nachdem er als kleiner Kerl schon Vater und Mutter verloren hatte. Der Bruder hieß Ben und hatte sich des Kleinen angenommen, soviel er eben konnte, bis Dick alt genug war, um Zeitungen in der Straße feilzuhalten. Sie hatten sich nie getrennt, und Ben hatte sich ganz ordentlich durchgearbeitet und schließlich einen anständigen Posten in einem Laden errungen.
»Und dann,« rief Dick, noch in der Erinnerung empört, »muß ihn der Teufel reiten, daß er heiratet. Einfach verrückt wird er über ein Mädel und mir nichts dir nichts wird geheiratet! Und eine nette Sorte war's, der aufgelegte Feuerteufel. Wenn die in Wut kam, schlug sie einfach alles zusammen, und wütend war sie schier den ganzen Tag. Ihr Kind – gerade so! Der Balg plärrte Tag und Nacht. Und wenn ich ihn nicht 'rumschleppen wollte und das Ding quiekste – brr! da flog mir's an den Kopf. Einmal war's ein Teller, der traf aber nicht mich, sondern den Jungen und hat ihms Kinn zerschnitten, daß es zum Erbarmen war. ›Die Narbe behält er sein lebenlang‹ hat der Doktor gesagt. Ne kuriose Mutter war die! Zum Henker! Haben wir ein Höllenleben gehabt alle drei, Ben und ich und das Wurm. Ueber Ben ging's den ganzen Tag los, weil er nicht mehr zusammenbrachte: schließlich wollt' er's mit was anderm im Westen probieren, mit Viehhandel. Kaum ist er eine Woche fort und ich komm' abends heim vom Zeitungsverkaufen – wupp, sind die Stuben leer, die Frau im Hause aber sagt mir, Dame Minna sei mir nichts dir nichts auf und davon – hast du nicht gesehen! Irgendwer hat behauptet, sie sei übers Wasser, um bei einer Dame Kindsfrau zu werden – nett für die! Fort und verschwunden war sie und weder Ben noch ich hörten mehr was von ihr. Ich an seiner Stell' war froh gewesen, die los zu sein, aber er war's nicht; du lieber Himmel, war der verliebt bis über die Ohren, wenigstens im Anfang. Na, sauber war sie, wenn sie aufgeputzt war und gerad' nicht in Wut. Ein Paar pechschwarze Augen im Kopfe und schwarzes Haar bis zu den Knieen, das hat sie zu einem Strick gedreht, dick wie mein Arm, sag' ich Ihnen, und um den Kopf 'rum gelegt, weiß nicht, wie oft, Herr, und die Augen, wen sie so damit anblitzen wollte! Es hieß, sie sei halb italienisch – ihre Eltern kamen von dort, drum sei sie so schief gewickelt. Das war eine Person – na so was!«
Ben schrieb seinem Bruder hie und da aus dem Westen. Lang war es ihm schlecht genug ergangen, und er hatte viel umherwandern müssen, schließlich aber hatte er sich in Kalifornien auf einer Farm, wo die Viehzucht im großen betrieben wurde, festgesetzt und hatte um die Zeit, als Dicks Beziehungen zu Mr. Hobbs angeknüpft wurden, seinen regelmäßigen Verdienst.
»Das Weib, das hat ihn um seine fünf Sinne gebracht,« sagte Dick. »Mir hat der arme Teufel oft leid gethan.«
Sie saßen eben miteinander unter der Ladenthüre, und Mr. Hobbs stopfte seine Pfeife.
»Er hätte nicht heiraten sollen,« sprach er orakelhaft, während er aufstand, um sich ein Zündhölzchen zu holen. »Weiber – ich für mein Teil hab' nie begreifen können, zu was die gut sein sollen.«
Während er das Zündhölzchen bedächtig aus der Schachtel nahm, warf er einen Blick auf sein Pult.
»Zum Kuckuck!« rief er, »da liegt ja ein Brief! Hab' den vorhin gar nicht gesehen. Der Briefträger hat ihn wohl nur so hingelegt, oder hat die Zeitung drüber gelegen?«
Er nahm ihn auf und studierte die Adresse.
»Der ist ja von ihm!« lautete seine Ansicht. »Von ihm und von keinem andern!«
Die Pfeife war vergessen; ganz aufgeregt setzte er sich wieder, zog sein Taschenmesser heraus und schnitt mit liebevoller Vorsicht das Couvert auf.
»Will nur sehen, was er diesmal Neues weiß,« bemerkte er.
Dann entfaltete er das Blatt und las seinem neuen Freunde folgendes vor:
Schloß Dorincourt.
»Mein lieber Mr. Hobbs. ich schreibe das in großer Eile weil ich ihnen etwas wunderliches zu sagen habe worüber sie sich ser erstaunen würden mein lieber Freund wenn sie es hören, es ist alles ein irtum und ich bin kein Lord und ich mus nie ein Graf werden weil eine Dame da ist die war mit meinem Onkel Bevis ferheirathet der jetz tod ist und sie hat einen kleinen son und der ist Lord Fauntleroy denn so ist es in England das der kleine son von dem eltesten son des Grafen Graf wird wenn alle andern tod sind ich meine wenn sein fater und Großvater tod sind, mein Großvater ist nicht tod aber mein Onkel Bevis und deshalb ist sein son Lord Fauntleroy weil mein fater der jüngste son gewesen ist und meine nahme ist Cedrik Errol ganz wie früher in New York und alles gehört dem andern Knaben, im Anfang habe ich gedagt, ich müsse im auch meinen Pony und meinen wahgen geben aber mein Großvater hat gesagt das müsse ich nicht und meinem Großvater tut es ser leid und ich glaube er hat die Dame gar nicht ser gerne aber filleicht denkt er das herzlieb und ich traurig sein weil ich kein Graf werde ich würde jetz fiel lieber ein Graf werden als im anfang weil dis ein schönes schlos ist und ich alle leute lieb habe und wenn man reich ist kann man so fieles tun. und bin jetz nicht reich weil mein Papa nur der jüngste son ist und der jüngste son ist nie ser reich ich wil deshalb arbeiten lernen damit ich für herzlieb sorgen kann ich habe mit Wilkins gesprochen filleicht kan ich reitknecht werden oder kutscher weil ich die ferde ser lieb habe.
Die Dame hat iren kleinen son in das schlos gebracht und mein Großvater und Mr. Havisham haben mit ir gesprochen ich glaube sie ist ser böse geworden und hat ser laut gesprochen und mein Großvater ist auch ser böse geworden und forher habe ich in nie böse gesehn ich habe gedagt ich will es inen und Dick nur schnel erzälen weil es sie ser tressiren wird. Herzlich grüst
ir alter Freund
Cedrik Errol (nicht Lord Fauntleroy).«
Mr. Hobbs sank in seinen Stuhl zurück, der Brief zitterte in seiner Hand, Federmesser und Couvert glitten an die Erde.
»Da bin ich doch gleich geräuchert worden,« stieß er hervor.
So groß war sein Schreck, daß sein Lieblingsausspruch eine andre Form annahm. Vielleicht war er auch geräuchert in dieser Stunde, kein Mensch kann so etwas wissen.
»Na,« sagte Dick, »da wäre also die ganze Herrlichkeit futsch – nicht?«
»Futsch!« wiederholte Mr. Hobbs mit Grabesstimme. »Und eine abgekartete Geschichte ist's von dem britischen 'ristokratenvolk, den Jungen auszuräubern, weil er ein Amerikaner – das ist meine Meinung. Die Kerls haben einen Haß gegen uns von der Revolution her, und an ihm lassen sie's aus. Hab' ich's Ihnen nicht gesagt, als wir von der Wirtschaft von den Königinnen da drüben lasen? – Der Junge ist da nicht sicher – na, da haben's wir ja. Vermutlich steckt die ganze Regierung dahinter, und 's ist eine Verschwörung, um dem Jungen sein Recht zu nehmen.«
Die Aufregung war groß. Anfangs hatten ihm die veränderten Lebensumstände seines jungen Freundes keineswegs eingeleuchtet, neuerdings hatte er sich mehr mit dem Gedanken befreundet, und nach Empfang von Cedriks Brief hatte sich sogar eine geheime Genugthuung über dessen Standeserhöhung fühlbar gemacht. Ueber Grafen konnte man ja denken, wie man wollte, aber daß der Reichtum seine Vorzüge hat, wird sogar in Amerika anerkannt, und wenn so großer Besitz zu dem Titel gehörte, so war es doch schwer, denselben wieder abzutreten.
»Plündern wollen sie ihn ganz einfach!« rief er, »und wer das Geld hätte, müßte ohne weiteres nach ihm sehen und ihm zu Hilfe kommen.«
Bis tief in die Nacht hinein zog sich diesmal Dicks Besuch hin, und schließlich gab ihm Mr. Hobbs noch das Geleit bis an die Ecke der Straße, wo er dann eine Weile stehen blieb und auf das wehmütige, immer noch vorhandene Plakat: »Zu vermieten« hinstarrte, bis er endlich in tiefer Bekümmernis seine Pfeife zu Ende rauchte.