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Selbstverständlich drang die Geschichte von Lord Fauntleroy und der schwierigen Lage Graf Dorincourts aus den englischen Zeitungen auch in die amerikanischen, sie war viel zu interessant, als daß man sie sich hätte entgehen lassen können, und dort wie hier bildete sie bald das Tagesgespräch. Der Lesarten waren allmählich so viele geworden, daß eine gewissenhafte Zusammenstellung derselben zum Kapitel der Mythenbildung einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geliefert hätte. Mr. Hobbs las so viel darüber, daß er zuletzt vollständig verwirrt und nahezu geistesgestört wurde. Die eine Zeitung schilderte seinen jungen Freund als ein hübsches Baby im Tragkleidchen, die andere als einen hoffnungsvollen Schüler der Universität Oxford, welcher dort die größten Auszeichnungen davontrug und namentlich ganz hervorragende Gedichte in griechischer Sprache verfaßte. Ein Blatt berichtete, daß er mit einer jungen Dame von auffallender Schönheit, der Tochter eines Herzogs, verlobt sei, ein andres, daß er sich vor kurzem verheiratet habe, und das einzige, was nirgends erzählt wurde, war, daß er ein kleiner Junge zwischen sieben und acht Jahren mit strammen, flinken Beinen und lockigem Haar war! Die eine Auffassung ging dahin, daß er überhaupt kein Verwandter, sondern ein kleiner Usurpator sei, der in New York Zeitungen verkauft und auf der Straße geschlafen habe, bis es seiner Mutter gelungen sei, den Anwalt des Grafen vollständig zu täuschen und für sich zu gewinnen. Dann kamen die Beschreibungen des neuerdings aufgetauchten Lord Fauntleroy und seiner Mutter. Einmal war sie eine Zigeunerin, das andre Mal eine Schauspielerin, das dritte Mal eine schöne Spanierin. Nur in dem einen stimmten alle Nachrichten überein, daß der Graf ihr Todfeind sei und alles daran setzen werde, die Ansprüche ihres Knaben nicht anerkennen zu müssen, und da sich in den Papieren, die sie vorweisen konnte, einige Ungenauigkeiten fänden, sei ein Prozeß mit Sicherheit zu erwarten, der an sensationeller Spannung alles bisher Dagewesene weit hinter sich lassen werde. Mr. Hobbs pflegte ganze Stöße Zeitungen durchzustudieren, bis ihm der Kopf brannte, und abends wurde dann alles mit Dick durchgesprochen. Allmählich ging dabei den beiden über die Bedeutung der Stellung eines Grafen Dorincourt ein Licht auf, und je genauer sie erfuhren, welch glänzendes Vermögen und welch herrliche Güter ein solcher besaß, desto höher steigerte sich ihre Aufregung.
»Man sollte eben etwas thun,« wiederholte Mr. Hobbs täglich. »So einen Besitz darf man doch nicht aus den Händen lassen – Graf hin, Graf her.« –
Leider konnten die beiden Freunde und Verbündeten nichts thun, als Briefe schreiben, in welchen sie Cedrik ihrer Teilnahme und Freundschaft versicherten, was denn auch jeder für seinen Teil redlich that, und Mr. Hobbs versicherte ihm noch überdies, daß, wenn es mit dem Grafen nichts sei, ihm jederzeit ein Anteil an dem Spezereigeschäft zu Gebot stehe und er ihn dereinst mit Vergnügen zu seinem Kompagnon nehmen werde.
»Dann hat er wenigstens bei uns sein gutes Auskommen,« sagte er zu Dick, nachdem sie sich gegenseitig ihre Briefe zu lesen gegeben hatten.
»So ist's,« bestätigte Dick sichtlich getröstet.
Am nächsten Morgen erlebte einer von Dicks Kunden eine große Ueberraschung. Es war ein junger Jurist, der eben als Anwalt zu praktizieren begann, so arm wie junge Juristen hier und da zu sein pflegen, aber ein begabter, energischer Mensch mit klarem Verstand und liebenswürdigem Humor. Er hatte sich ein ziemlich armseliges Bureau in der Nähe von Dicks Stand gemietet und war dessen allmorgendlicher Kunde, der immer ein freundliches Wort oder einen Scherz hatte, wenn auch der Zustand seiner Fußbekleidung für das Auge des Fachmannes nicht allezeit befriedigend war.
An diesem Morgen hielt der junge Gesetzeskundige, als er seinen Fuß auf das kleine Bänkchen setzte, eine illustrierte Zeitung in der Hand, ein auf der Höhe der Zeit stehendes Blatt, das ungesäumt seinen Lesern in großem Formate zum Anblicke der das Tagesgespräch bildenden Personen und Dinge verhalf. Er überflog rasch die Seiten, und als der zweite Stiefel in erwünschtem Glänze prangte, reichte er dem jungen Schwarzkünstler das Blatt.
»Da hast du was zu lesen, Dick,« sagte er, »kannst dir's zu Gemüt führen, wenn du bei Delmonico dein üppiges Mahl einnimmst. So sieht ein englisches Schloß aus und so eines englischen Grafen Schwiegertochter. Schöne junge Frau – eine Unmasse Haar – scheint aber da drüben viel Staub aufgewirbelt zu haben. Es ist sehr an der Zeit, daß du, vorwärts strebender Jüngling, dich mit einem hohen Adel und verehrten Publikum näher bekannt machst, hier kannst du mit dem erlauchtigsten Grafen Dorincourt und der ehrenwerten Lady Fauntleroy den Anfang, machen. Hallo, Bursch! Was ist denn los?«
Die Porträts, von denen er gesprochen hatte, befanden sich auf der ersten Seite und Dick starrte, Augen und Mund weit aufgerissen und kreideweiß, unverwandt auf eins derselben.
»Was bin ich schuldig?« fragte der Advokat. »Was in aller Welt ist dir denn in die Glieder gefahren?«
Dick sah allerdings aus, als sei er vom Blitze gerührt, und deutete, ohne ein Wort hervorbringen zu können, auf das eine Bild.
»Die Mutter des Prätendenten (Lady Fauntleroy)« stand darunter.
Das Bild zeigte eine hübsche Frau mit großen Augen und dicken, mehrmals um den Kopf gelegten schwarzen Haarflechten.
»Sie!« rief Dick endlich. »Die – die kenn' ich besser als Sie!«
Der junge Anwalt lachte.
»Wo hast du denn die interessante Bekanntschaft gemacht, Dick?« sagte er. »In New York? Oder vielleicht bei Gelegenheit deiner letzten Spritztour nach Paris?«
Dick hatte nicht Zeit, diesen Witz zu begrinsen. Er begann, seinen Putzapparat eilig zusammenzupacken, als ob es sich vorderhand um sein Geschäft ganz und gar nicht mehr handeln könnte.
»Einerlei,« sagte er, »ich kenn' sie! Und für heut ist ausgeschafft.«
Kaum fünf Minuten darauf eilte er im Sturmschritt an Mr. Errols ehemaligem Häuschen vorbei in den Laden an der Ecke. Mr. Hobbs wollte seinen Augen nicht trauen, als er, von seinem Pulte aufblickend, Dick mit der Zeitung in der Hand hereinstürmen sah. Der Junge war so außer Atem, daß er kaum sprechen konnte und nur das Blatt auf den Ladentisch warf.
»Hallo!« rief Mr. Hobbs. »Hallo! Was kommt denn da?«
»Ansehen!« keuchte Dick. »Die Frauensperson auf dem Bilde ansehen! Jetzt haben Sie's – ja die! Die, die ist keine Adlige – die wahrhaftig nicht,« rief er zornig auflodernd. »Die – einem Lord seine Frau fein? In Stücke reißen soll man mich, wenn's nicht Minna ist – Minna! Die würd' ich überall erkennen, so gut wie Ben! Fragen Sie nur den!«
Mr. Hobbs sank auf seinen Stuhl.
»Ich hab's ja gesagt, daß alles eine abgekartete Geschichte gewesen ist,« sagte er. »Ich hab's ja gewußt. Und das haben sie ihm angethan, weil er ein Amerikaner ist, einfach deshalb.«
»Welche ›sie‹ haben's ihm angethan?« brüllte Dick verächtlich. »Die da hat's gethan – die und kein andrer Mensch! Die hat immer voll Teufelei gesteckt, und ich will Ihnen auch sagen, was mir eingefallen ist, gleich im Augenblicke, wie ich das Bild sah! Da – in irgend so einer Zeitung hat's gestanden, etwas von dem Bengel, ihrem Sohne, und daß er eine Narbe am Kinne habe! Na, wenn der ihr Balg da ein Lord ist, dann bin ich auch einer! Bens Kind ist's – der Knirps, der die Narbe abgekriegt hat, wie sie den Teller nach mir hat schmeißen wollen.«
»Professor Dick Tipton« war von Natur ein kluger Junge, und sein Brot in den Straßen einer Großstadt verdienen schärft die Sinne und lehrt Kopf und Augen offen halten. Es muß übrigens zugegeben werden, daß für ihn die Aufregung und Spannung dieser Stunde eigentlich ein Hochgenuß war. Wenn der kleine Lord Fauntleroy an diesem Morgen einen Blick in den ihm so lieben Ladenraum hätte werfen können, so hätte ihn die Sache wohl sehr »'tressiert«, selbst wenn die Beratungen, die gepflogen, und die wunderbar kühnen Pläne, die geschmiedet wurden, sich mit dem Schicksal eines beliebigen andern beschäftigt hätten.
Das Gefühl seiner Verantwortlichkeit hatte für Mr. Hobbs etwas vollkommen Überwältigendes, während Dick von Energie und Leben übersprudelte. Er begann sofort, an Ben zu schreiben, und schnitt das Bild aus der Zeitung, um es ihm beizulegen, und Mr. Hobbs schrieb sowohl an Cedrik als an den Grafen selbst. Mitten in dieser angestrengten Thätigkeit kam Dick ein erleuchtender Gedanke.
»Hören Sie,« begann er, »der, der mir das Blatt gegeben hat, der ist A'v'kat. Den könnten wir fragen, was zu thun ist, A'v'katen wissen das alles.«
Auf Mr. Hobbs machte dieser Vorschlag und Dicks große Findigkeit überhaupt einen ungeheuren Eindruck.
»So ist's!« erwiderte er laut, »Die Sache schreit nach einem Advokaten.«
Der Laden ward einem Stellvertreter übergeben – in den Rock schlüpfen und sich auf den Weg machen, war das Werk weniger Minuten. Die Verbündeten marschierten in die Stadt hinunter und erschienen zum höchsten Erstaunen des jungen Mannes in Mr. Harrisons Bureau, wo sie ihre romantische Geschichte vortrugen.
Wäre dieser nicht ein sehr junger Anwalt mit thatendurstigem Gemüte und einer beneidenswerten Fülle von verfügbarer Zeit gewesen, so hätte es wohl etwas Mühe gekostet, ihm für diese überaus fabelhaft klingende, unklare Geschichte Interesse einzuflößen, da er aber zufällig ein brennendes Verlangen nach Arbeit hatte, und da er zufällig Dick kannte, und dieser Dick zufällig eine höchst lebendige, dramatische Darstellungsweise hatte, in welcher er sein Anliegen vortrug, so lief alles nach Wunsch ab.
»Und,« bemerkte Mr. Hobbs, »sagen Sie ungeniert, was Ihre Zeit zur Stunde wert ist, und nehmen Sie's gründlich – bezahlen werde ich, ich – Silas Hobbs, Ecke der Blankstreet, Gemüse- und Spezereihandlung.«
»Wenn sich die Sache wirklich bewahrheitet, so wie Dick sie auffaßt,« sagte Harrison, »so ist sie für mich nicht minder von Bedeutung als für Lord Fauntleroy selber, und keinesfalls können Nachforschungen irgend einem Teile Schaden bringen. Offenbar haben sich in bezug auf den Knaben einige zweifelhafte Punkte herausgestellt. Die Frau hat sich bei der Angabe seines Alters mehrfach widersprochen und dadurch Verdacht erregt. In erster Linie muß an Dicks Bruder und an den Anwalt des Grafen Dorincourt geschrieben werden.«
Ehe die Sonne unterging, waren zwei Briefe nach verschiedenen Himmelsrichtungen unterwegs. Der eine segelte mit einem englischen Postdampfer zum New Yorker Hafen hinaus, der andre brauste auf einem kalifornischen Postzug mit Windeseile dahin; der erstere trug die Adresse T. Havisham, Esqu., der andre war an Mr. Benjamin Tipton gerichtet.
Nachdem der Laden am Abend dieses denkwürdigen Tages geschlossen worden, saßen Mr. Hobbs und Dick noch bis nach Mitternacht in ernstem Gespräche und angelegentlicher Beratung bei einander.