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Die Jagd

Meriem gingen in ihrer neuen Heimat die Tage rasch dahin. Anfangs war sie recht unruhig gewesen und hatte Korak in der Dschungel suchen wollen, doch Bwana – sie nannte ihren Wohltäter nie anders – hatte ihr stets eindringlich von jedem Versuch abgeraten, der nur mit Mißerfolg und Schlimmerem enden konnte. Der Weiße hatte aber einen bewährten Eingeborenen mit einem kleinen Trupp gewandter Leute nach Kovudoos Dorf ausgeschickt, wo sie aus dem alten Häuptling herausbekommen sollten, wie das weiße Mädchen in seine Hände gelangt sei, und was er sonst etwa über sie und ihre Herkunft aussagen könne. Dem Führer gab Bwana den besonderen Auftrag, Kovudoo nach dem seltsamen Wesen zu fragen, das von dem Mädchen Korak genannt wurde, und gegebenenfalls dem »Affenmenschen« nachzuspüren, wenn sich irgendwo und irgendwie auch nur die geringsten Anzeichen für das wirkliche Vorhandensein eines derartigen Geschöpfes zeigen sollten.

Bwana war im Grunde völlig überzeugt, daß Korak nichts weiter als ein dem überreizten Hirn dieses Mädchens entsprungenes Phantasiegebilde sein könne. Die Schrecken und Qualen der Gefangenschaft und die damit verbundenen Vorstellungen von den Kannibalengelüsten der Schwarzen, sowie die kaum minder bösen Erfahrungen, die sie mit den beiden Schweden gemacht, mußten ihren Verstand aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Doch als er das Mädchen mit der Zeit besser kennen lernte und sie unter normalen Verhältnissen in der Ruhe und Abgeschlossenheit seines afrikanischen Landsitzes beobachten konnte, mußte er sich zu der Überzeugung bekennen, daß das, was sie erzählte, gar nicht so verwirrt und haltlos klang. Es war nicht einzusehen, warum Meriem nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten sein sollte.

Die Gattin des Weißen, die von Meriem immer noch »My Dear« gerufen wurde, weil Bwana sie bei der ersten Begrüßung so genannt, nahm nicht allein deshalb an dem Mädchen herzlichen Anteil, weil es sonst keine Freunde und keine Heimat hatte; sie fühlte sich vielmehr durch das sonnig-heitere Wesen und die offene lebhafte Art dieser »Tochter der Dschungel« selbst erfrischt und verjüngt. Meriem ihrerseits tat die Nähe und Fürsorge dieser so gütigen gebildeten Dame nicht minder wohl.

Ein Monat verging, ehe der Schwarze von seinem Streifzug zurückkehrte, und in dieser Zeitspanne hatte sich die wilde, halbnackte kleine Tarmangani in ein feines Mädchen in schmuckem Rock und Mieder verwandelt und so auch am eigenen Leibe Bekanntschaft mit den Äußerlichkeiten der Zivilisation gemacht. Ihre Fortschritte in der schwierigen englischen Sprache wurden von Tag zu Tag erfreulicher, zumal Bwana und seine Frau nicht mehr arabisch mit ihr sprachen und auch von ihr nur auf Englisch angeredet sein wollten.

Das, was der Schwarze zu berichten wußte, stimmte Meriem sehr traurig. Er hatte das Dorf Kovudoos völlig verlassen und zerstört gefunden und trotz aller Bemühungen weit und breit in der Umgebung nicht einen einzigen Eingeborenen getroffen. Einige Tage hatte er noch hier und da in der Nähe des Dorfes auf der Lauer gelegen und dann im ganzen Umkreis alles systematisch nach Korak oder wenigstens nach einer Spur dieses rätselhaften Geschöpfes abgesucht, doch vergeblich. Weder Großaffen noch ein Affenmensch oder etwas Ähnliches waren ihm zu Gesicht gekommen. Meriem wollte von neuem in ihre Dschungel zurück, um endlich selbst ihren Korak aufzuspüren, doch Bwana wußte sie abermals geschickt zum Abwarten zu bewegen. Er versicherte ihr, daß er, sobald er nur Zeit hätte, sich selbst aufmachen wolle, und damit gab sich Meriem zufrieden, wenn sie auch monatelang alle Tage ihre trüben Stunden hatte, in denen sie schwermütig ihres Koraks gedachte, ohne daß sie ihren neuen Freunden gegenüber noch davon sprach.

Sie war jetzt sechzehn Jahre alt, und doch hätte sie jeder leicht für neunzehn gehalten. Köstlich war diese schlanke, blühende Mädchengestalt mit dem tiefschwarzen Haar, der straffen braunen Haut und in all dem Liebreiz und all der Frische ihrer jugendlichen Unschuld.

Meriem sprach bald gut englisch, und auch das Lesen und Schreiben machte ihr keine zu großen Schwierigkeiten mehr. Eines Tages warf die Lady mitten in der Unterhaltung zum Spaße einmal ein paar französische Fragen dazwischen. Sie war nicht wenig überrascht, als das Mädchen auf Französisch antwortete. Langsam zwar und leicht stockend, aber gleichwohl klang es auffallend echt, wenn auch die Ausdrücke im allgemeinen über den Wortschatz, über den gewöhnlich ein Kind verfügt, nicht hinausgingen. Die beiden trieben deshalb täglich auch ein wenig Französisch, und die Ältere staunte von einem Male zum anderen immer mehr, wie spielend leicht, ja wie verblüffend leicht Meriem in die Geheimnisse dieser Sprache eindrang. Anfangs hatte das Mädchen immer die feingeschwungenen Augenbrauen nachdenklich nach oben gezogen, als ob sie sich dazu zwingen wolle oder könne, die Bedeutung von Worten, die sie einmal gekannt, aus dem Gedächtnis wieder hervorzuholen.

Du hast zweifellos im Duar deines Vaters ab und zu jemanden französisch sprechen hören, meinte die Lady und das schien auch die merkwürdigen französischen Kenntnisse des Mädchens am ehesten verständlich zu machen.

Meriem schüttelte indessen den Kopf.

Mag sein, antwortete sie, aber ich könnte mich wirklich nicht entsinnen, je einen Franzosen bei meinem Vater gesehen zu haben. Er haßte sie auch ganz schrecklich und wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß ich bisher nie ein französisches Wort zu hören bekommen habe, und wenn mir jetzt doch beinahe alles so vertraut erscheint, so kann ich es selbst einfach nicht begreifen.

Da hast du recht. Ich verstehe das auch nicht, stimmte die Ältere ohne weiteres zu. –

Es war eben in diesen Tagen, als auf der Farm ein Brief eintraf, dessen Inhalt Meriem nicht vorenthalten wurde, wenn er sie auch begreiflicherweise zunächst beunruhigen mußte: Besuch meldete sich an – und das bedeutete eine ungewohnte Veränderung der bisherigen Tageseinteilung und des ganzen zurückgezogenen Lebens. Einige Damen und Herren aus England hatten eine Einladung der Lady angenommen und wollten sich nun für etwa einen Monat in der Farm einnisten, um die Jagd und die anderen Freuden der tropischen Wildnis zu genießen. Meriem war voll banger Erwartung, zumal sie sich nicht das geringste Bild von den Fremden machen konnte. Ob sie wohl auch so freundlich und gut wie Bwana und seine Frau zu ihr sein würden? Oder ob sie wie die anderen Weißen waren, die sie nur als grausam und rücksichtslos kennen gelernt hatte? Doch die Lady beruhigte Meriem und versicherte, daß die Gäste alle freundliche, gebildete und prächtige Menschen seien, die ihr nichts zuleide tun würden.

»My Dear« wunderte sich, daß Meriem nach dieser Erklärung gar nicht mehr argwöhnisch war, wie sie es sonst bei der eigenartigen, in der Wildnis an Mißtrauen gewöhnten Natur des Mädchens schon oft beobachtet hatte. Im Gegenteil: Sie sah dem Erscheinen des unbekannten Besuchs mit gesteigerter Neugier, ja mit großem Vergnügen entgegen. Noch mehr: Man hatte den Eindruck, daß sie sich wie jede junge Dame ihres Alters mit einer gewissen fieberhaften Spannung auf die angesagte Feriengesellschaft freute.

Und eines Tages war der Besuch endlich da. Drei Herren und zwei Damen, diese die Gattinnen der beiden älteren Herren. Der dritte und jüngste Herr war ein gewisser Mr. Morison Baynes, Mann von Welt und äußerst wohlhabend, der alles, was die Metropolen Europas an Vergnügungen und Genüssen bieten konnten, zur Genüge ausgekostet hatte und nun den Abstecher nach einem anderen Kontinent und die damit verbundenen Ablenkungen und Abenteuer mit Freuden begrüßte.

An sich schien ihm zwar alles »unmöglich«, was nicht in Europa lebte, aber anderseits war er nicht abgeneigt, wilde Landstriche kennen zu lernen.

Die Natur hatte ihm einen vollendeten Körper verliehen, er war hübsch und obendrein klug genug, um sich durch diese Vorzüge seiner Person nicht zu jenem verderblichen Hochmut hinreißen zu lassen, der die Herzen der Menge für ihn alles andere als gewonnen hätte. Kein Wunder, daß er auf diese Weise immer in dem Ruf stand, ein durchaus freimütig gesinnter und liebenswürdiger Mitbürger und Mensch zu sein. Und er war auch in der Tat liebenswürdig. Der leichte Schatten einer gewissen Selbstgefälligkeit, der nur selten offen bemerkt werden konnte, wirkte jedenfalls nicht so, daß ihn seine Mitmenschen als eine Art Belästigung empfunden hätten. Damit dürfte dieser verehrte Mister Morison Baynes, der sich zur Abwechslung mitten aus dem Luxus der europäischen Verhältnisse nach Zentralafrika zurückgezogen hatte, in kurzen Strichen so geschildert sein, wie er war. Freilich, wie er sich dort entwickeln würde, ließ sich vorerst nicht ahnen.

Meriem war anfangs recht scheu, so oft sie den Fremden begegnete. Ihre Wohltäter hatten es für richtig gefunden, über ihre Vergangenheit zu schweigen und sie einfach als ihr Mündel ausgegeben. Da man den Namen ihrer Eltern nicht genannt und auch sonstige nähere Angaben nicht gemacht hatte, rührte niemand an diesem Punkt, der anscheinend taktvolle Zurückhaltung heischte. Die Gäste konnten das Mädchen gut leiden, ja sie waren erstaunt, wie sich Bescheidenheit, Frohsinn und sprühende jugendliche Frische in dem schönen Kind so glücklich vereinten. Obendrein lauschten sie stets gern und mit Interesse den schier unerschöpflichen Erzählungen der Kleinen, die ihnen Zauber und Schrecken der Dschungel so seltsam klar und packend vor Augen führte.

Oft war Meriem im vergangenen Jahr mit Bwana und »My Dear« ausgeritten. Sie kannte die Lieblingsplätze der Büffel im Sumpf und im Schilfdickicht unten am Fluß. Sie wußte ein Dutzend oder mehr Verstecke der Löwen und kannte jede Tränke zwanzig Meilen im Umkreis in dem trockeneren Gelände abseits vom Flusse. Mit unfehlbarer Sicherheit – den Fremden war es beinahe schon unheimlich – konnte sie die kleinsten wie die größten Dschungeltiere in ihren Unterschlupfen aufspüren, und was am meisten verblüffte: Sie wußte stets genau, ob Raubtiere in der Nähe waren oder nicht; mochten die anderen Augen und Ohren noch so sehr anstrengen, sie wären so und so oft ins Unglück hineingetappt, weil ihnen diese besondere geheime Beobachtungsgabe, die das Mädchen besaß, abging.

Mr. Morison Baynes hatte schon am ersten Tage ein Auge auf Meriem geworfen und fand, daß dieses hübsche Kind für ihn eine famose Gefährtin während der Dauer dieses afrikanischen Zwischenspiels sein würde. Er hatte sich allerdings nicht träumen lassen, daß ihm eine derartige Überraschung auf den weltfernen Besitzungen seiner Londoner Freunde geboten werden würde.

Meriem – des Umganges mit Männern vom Schlage dieses Baynes völlig ungewohnt – war bald ganz in seinem Bann, insofern sie sich für seine Schilderungen des bunten Lebens und Treibens in den Großstädten Europas geradezu begeisterte und aus dem Staunen kaum herauskam. Und wenn Mr. Morison überdies bei allem, was er zu erzählen wußte, selbst recht sehr im Mittelpunkt stand, so betrachtete Meriem dies als eine ganz natürliche Folge seiner hervorragenden Eigenschaften, ja sie meinte schließlich, daß Morison immer und überall die Heldenrolle spielen müsse.

Mit dem Auftauchen dieses jungen Engländers und der sich langsam anspinnenden guten Kameradschaft mußte freilich Koraks Bild allmählich verblassen. Hatte sie ihren Dschungelgefährten bisher immer deutlich vor Augen gehabt, so änderte sich dies jetzt merklich: Korak wurde mehr und mehr eine Erinnerung, gleichsam wie ein lieber Gedanke, von dem man sich zwar nicht trennen mag, über den aber doch die warme, lebensvolle Wirklichkeit sieghaft lachend hinwegschreitet.

Meriem war seit der Ankunft der Gäste niemals mehr mit auf die Jagd gegangen; die Jagd als Sport und mit dem Endzweck, nur möglichst viele und stattliche Exemplare zur Strecke zu bringen, war ihr zuwider. Da waren doch ihre Streifzüge, auf denen sie den Dschungelbewohnern nur nachspürte und sich an der Beobachtung ihrer Eigenheiten ergötzte, etwas anderes; nein, dies bloße Töten, um zu töten, kam ihr häßlich vor – und dabei war sie doch selber ein kleines, wildes Dschungelgeschöpf gewesen und war es sogar auch jetzt noch bis zu einem gewissen Grade. Bwana hatte sie natürlich immer gern begleitet, wenn er die Dschungel durchstreifte, um den Fleischbedarf für die Farm zu beschaffen. Jetzt war aber das schöne Weidwerk gleichsam entartet, wenn auch der Gastgeber sich bemühte, die Versessenheit seiner Gäste auf möglichst viele Trophäen – mochten es nun Köpfe, Geweihe, Felle und dergleichen sein – einzudämmen.

Meriem blieb also zurück; sie saß mit »My Dear« auf der schattigen Veranda oder ritt auf ihrem Lieblingspony in die Ebene hinaus oder hinüber zum Waldessaum. Dort schwang sie sich aus dem Sattel und ließ das zahme Tier unangebunden warten, indessen sie oben in den nächsten Bäumen eine Art Wiedersehen mit der wilden körperlich-freien Dschungelnatur feierte, in der sie einst so glückliche Tage verlebt.

Oft geschah es dann, daß Koraks Bild ihr wieder lebendig wurde, und daß sie sich, müde vom Klettern und Springen und Schweben, auf einem breiten Ast behaglich bettete und – träumte.

Auch heute lag sie wieder auf luftigem Baumnest und schaute im Traum ihren Korak von einst; doch dann war es, als zerflössen die Züge und Umrisse Koraks und als verschmölzen sie mit einem anderen Bild: Aus dem braunen halbnackten Tarmangani wurde ein Engländer im Khakianzug – und der saß dazu auf einem Pony, wie man sie zur Jagd ritt.

Sie fuhr in die Höhe – und just im gleichen Augenblick vernahm sie ganz schwach in der Ferne das Blöken eines geängsteten Lammes. Der Leser und ebensowenig ich würde gewußt haben, was dieser erbarmenheischende Hilfeschrei zu bedeuten hatte und von wem er herrührte, wenn wir ihn überhaupt gehört hätten. Doch Meriem war sofort im Bilde: Ein harmloses Lamm war in Not, irgendeine Bestie mußte in der Nähe sein, und das Tier sah keinen anderen Ausweg mehr, als den Rachen seines Feindes.

Korak hatte es oft Vergnügen gemacht, Numa nach Möglichkeit um seine Beute zu betrügen, und Meriem hatte aufgejauchzt, so oft es gelang, dem König der Tiere seinen Leckerbissen gleichsam aus den Pranken zu reißen. Und als jetzt dieser Verzweiflungsschrei aus der Ferne an ihr Ohr drang, standen mit einem Male all die schauerlich-schönen Kämpfe um Numas Beute wieder deutlich vor ihr. Sie war plötzlich wieder Feuer und Flamme für das große Wagen, für das prickelnde Versteckenspielen mit dem Tode.

Rasch entledigte sie sich ihres Reitrocks. Er flog beiseite, denn er mußte ihr auf Schritt und Tritt im Wege sein. Sie hatte ohnedies ein regelrechtes Hindernisrennen vor sich, wenn sie noch rechtzeitig zu Hilfe kommen wollte. Schuhe und Strümpfe folgten, denn ihr bloßer Fuß glitt auf der trockenen und selbst auf der feuchten Baumrinde im Gegensatz zu der harten ungelenkigen Schuhsohle auf keinen Fall aus. Am liebsten hätte sie auch die alberne Reithose verabschiedet; allein sie gedachte der mütterlichen Ermahnungen von »My Dear«, wonach es sich absolut nicht schickte, nackt im Walde herumzulaufen.

Im Gürtel steckte ein Jagdmesser. Ihr Gewehr hatte sie im Behälter beim Pony zurückgelassen; ihren Revolver hatte sie überhaupt nicht mitgenommen.

Das ängstliche Blöken des jungen Tieres drang noch immer herüber, als Meriem aufbrach. Sie wußte genau die Richtung, die sie einzuschlagen hatte. Die »Unglücksstätte« war sicher die ihr bekannte Tränke da drüben, wo sich früher die Löwen mit Vorliebe ein Stelldichein gegeben hatten. Seit längerer Zeit waren dort freilich Raubtiere nicht mehr gesichtet worden, aber Meriem hatte trotzdem die Überzeugung, daß jetzt ein Löwe oder mindestens ein Leopard sein grausames Spiel mit seinem hilflosen Opfer abhielt.

Nun, sie würde bald Klarheit haben, denn sie kam rasch vorwärts. Es war nur verwunderlich, daß die Jammerlaute des zu Tode erschreckten Tieres immer aus genau derselben Richtung herüberhallten. Warum nur das Tier nicht einfach fortrannte? Doch da war ja das unglückliche Geschöpfchen: Drüben jenseits der Tränke war es an einem Pfahl festgebunden!

Meriem wartete einen Augenblick oben im Geäst eines Baumriesen und spähte rasch und mit scharfem Kennerblick über die Lichtung. Wo mochte der Jäger stecken? Bwana und seine Leute waren solche lächerliche Scherze nicht gewohnt, das wußte sie genau. Wem war es eingefallen, das arme kleine Tier als Köder für Numa in diese qualvolle Lage zu bringen? Bwana duldete derartige Jagdmethoden überhaupt nicht, und was er einmal wünschte, das war Gesetz, und alle im Umkreis, soweit seine Besitzungen reichten, wagten es nicht, ihm nicht zu parieren.

Eingeborene von irgendwoher vielleicht, die ziellos durch die Wälder streiften? Aber wo waren diese Leute dann? Sie hatte gewiß gute Augen, doch sie vermochte niemanden zu entdecken. Und wo blieb Numa und weshalb hatte er sich nicht längst schon auf die so wehrlose leckere Beute gestürzt? Er war nicht weit, das sagte ihr das anhaltende erbarmungswürdige Schreien des Lammes. Ah ... da also! Das dichte Gebüsch da unten, ein paar Meter rechts von ihr, hatte er sich zum Versteck ausgesucht! Das Lamm bekam den Wind und damit die ganze Schreckenswitterung in die Nase.

Es hieß jetzt rasch handeln. Sie mußte die andere Seite der Lichtung zu gewinnen suchen, wo die Bäume weiter an das gefesselte Tier heranreichten. Ein Sprung, und sie würde unten sein und das Tier befreien. Alles dann das Werk eines Augenblicks – aber der würde Numa zum Angriff genügen. Sie würde zweifellos kaum genug Zeit haben, sich mit Müh' und Not wieder in die sicheren Baumregionen hinaufzuschwingen ... allein, es mußte gelingen. Da war sie doch schließlich früher schon unzählige Male viel schlimmer in der Klemme gewesen.

Einen Augenblick zögerte sie freilich noch. Nicht, daß ihr vor Numa gebangt hätte. Aber die unsichtbaren Jäger konnten gefährlich werden. Waren es Schwarze, dann konnte es sein, daß sie ihren Speerhagel, der eigentlich Numa gelten sollte, ohne viel Federlesen auch auf den herniedersausen lassen würden, der sich erdreistete, sie um den Köder und wahrscheinlich auch um die fast sichere Beute zu betrügen.

Das Lamm zerrte und zappelte wieder verzweifelt an seinen Fesseln. Nein, dies jämmerliche Schreien mußte einem das Herz rühren, und so entschloß sich Meriem, alle Bedenken endgültig fallen zu lassen und sich in den Bäumen um die Lichtung herumzuschleichen. Nur auf Numa hieß es dabei aufpassen. Sie mußte sehen, daß er nicht vorzeitig auf sie aufmerksam wurde; das war die Hauptsache.

Nun war sie drüben. Noch einen Blick zu dem großen Löwen, und das Wagnis sollte beginnen. Doch da sah sie auch schon, wie der königliche Riese sich langsam zu seiner vollen Größe aufrichtete ... Er brüllte laut auf ... das hieß: er war bereit!

Meriem griff nach dem Messer und sprang zu Boden. Ein kurzer Anlauf – und sie war neben dem Lamm. Numa sah sie ... sein Schweif peitschte wütend die lohfarbenen Flanken ... er brüllte abermals auf und noch schrecklicher – aber er ... stürzte nicht vor, zweifellos für den ersten Augenblick völlig verblüfft durch diesen so plötzlichen und in dieser Form wohl nie dagewesenen Eingriff in seine Jagdrechte.

Und noch ein paar andere Augen hefteten sich auf Meriem, und in ihrem Erstarren lag nicht weniger Überraschung, als sich in den gelbgrünen Augenkugeln des verdutzten Raubtierfürsten widerspiegelte. Ein Weißer war es, der sich mitten im schützenden Wall seines Dornenzaunes halb aufrichtete, als ein junges Mädchen mit einem Male aus den Bäumen jenseits der Lichtung auf das Lamm zustürzte. Er sah, daß Numa zögerte. Er legte an und zielte. Es mußte ein Blattschuß werden ... das Mädchen ... jetzt blitzte das Messer ... der kleine Gefangene war frei und stob blökend in die Dschungel davon. Das Mädchen wandte sich blitzschnell zum Rückzug. In die Bäume hinauf, in das rettende Blätterdach, aus dem sie eben so jäh aufgetaucht war.

Wie sie sich umdrehte, sah der Jäger ihr Gesicht. Die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, denn das war ja ... Allein der Löwe forderte jetzt die ganze Aufmerksamkeit: Das getäuschte Tier raste wütend zum Angriff. Der Weiße hatte noch immer die Büchse im Anschlag. Die todbringende Mündung zeigte noch immer auf Blattschuß – doch warum löste er nur nicht die Kugel, die den grimmen Angreifer zusammensinken lassen mußte? Das Mädchen! ... Er zögerte noch immer. Wollte er sie überhaupt nicht retten? Oder fürchtete er etwa, dann von ihr entdeckt zu werden, und war ihm das so unangenehm?

Wie ein Adler, der auf seine Beute herabschießt, folgte der Weiße mit Augen und Büchse dem Löwen. Ein Rennen um Leben und Tod hatte das Mädchen zu bestehen. Kaum vier Sekunden konnten verstrichen sein, seit der Löwe sich aus seiner Versteinerung aufgerüttelt hatte und zum Todesreigen vorgestürmt war. Auch als die lohfarbene Majestät rasch ein wenig nach rechts abbog, zeigte die Visierlinie haarscharf aufs Herz der Bestie. Unmöglich schien es, daß das Mädchen dem Verfolger entrann – der entscheidende letzte Augenblick war da, der Weiße krümmte den Finger am Abzug ... doch halt, vielleicht ...

Und richtig, das tollkühne Mädchen hatte im Bruchteil einer Sekunde den Sprung nach oben getan und klammerte sich mit beiden Händen am rettenden Ast fest. Auch der Löwe schnellte in die Höhe – doch Meriem hatte sich schon blitzschnell nach oben gezogen, die Pranken Numas krallten ins Leere.

Der Jäger atmete auf und ließ das Gewehr sinken. Er sah, wie das Mädchen dem wutschnaubenden »Menschenfresser« noch ein paar unzweideutige Grimassen schnitt. Dann war sie auf einmal auf und davon, und nur ihr verklingendes Lachen hallte noch eine Weile aus der Dschungel zurück. Der Löwe blieb an der Tränke. Mindestens eine Stunde lang. Hundertmal hätte der Jäger ihn niederknallen können ... und doch tat er es nicht. Ob er befürchtete, der Schuß möchte das Mädchen von neuem herbeilocken?

Dann hatte es Numa offenbar satt, hier auf neue Beute zu warten, und trottete mürrisch davon. Der Jäger kroch aus seinem Dornengehege hervor, und schon nach einer halben Stunde betrat er ein kleines Lager, für das man mitten im Dschungelgestrüpp einen selten günstigen Platz gefunden hatte. Die paar Schwarzen im Lager schienen indessen von seiner Rückkehr kaum sehr erbaut zu sein, wenigstens war die Begrüßung alles andere als freundlich. Der große Jäger schritt sofort in sein Zelt – und als er nach einer halben Stunde wieder heraustrat, war sein langer blonder Vollbart verschwunden.

Die Schwarzen waren sprachlos und machten große Augen.

Ihr erkennt mich wohl gar nicht wieder? fragte der Weiße lachend.

Die Hyäne, die dich geboren hat, Bwana, würde nicht wissen, daß sie dich vor sich hat, meinte einer bissig.


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