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Eine der ersten und hauptsächlichsten unter den verschiedenen Gattungen der dramatischen Poesie ist das ›Literaturdrama‹ zwar in keinem einzigen Schrifttum gewesen. Heldenschicksale, Motive aus dem Kriegsleben der Völker haben bis auf den heutigen Tag dem dramatischen Dichter näher gestanden – aus leicht begreiflichen Gründen. Als dramatisch bewegter, ungestümer, schlagfertiger und darum wirkungsvoller und leichter zündend bei der Menge geben sich diese Stoffe aus der Geschichte allerdings, aus der Arena der Völkerkämpfe – diese Stoffe, die oft genug wohl mit feinem historischen Verständnis und geschichtsphilosophischem Tiefsinn aufgenommen und ausgestattet sind, oft genug auch den Bedürfnissen eines stolzen, edlen Nationalgeistes entsprochen und genügt haben, so manches Mal aber auch in den Dienst der Bestrebungen eines überspannten Chauvinismus gestellt worden sind.
Aus dem gesetzmäßigen Werden und Wachsen, dem kulturgeschichtlichen Lebensprozeß, den jedes Volk durchmacht, läßt sich mit ziemlicher Deutlichkeit ersehen und erweisen, warum in den einzelnen Nationen, in den einzelnen Epochen bestimmte dramatische Motive von den Dichtern aufgenommen und bearbeitet werden. Der aus der Geschichte entlehnte Stoff nimmt an allen Phasen der Entwicklung teil. Zwar bildet sich das spezifische Gefüge erst verhältnismäßig spät heraus – in Jugendtagen der Menschheit, wo Krieg immanentes Entwicklungsgesetz, Bedingung, Regel ist, Frieden aber Ausnahme, läßt sich das Volk, die Menge und vor allem die kampffähige Menge von den Gesängen der dröhnenden Schlachtenlyrik begeistern ... Die Dramatik wächst aus religiösen Aufführungen, Mysterienspielen hervor. Erst ganz allmählich gelingt es ihr, diese charakteristische religiöse Seite mehr und mehr abzustreifen und auf den Pulsschlag eines allgemeinen Staats- und Völkerlebens aufmerksam zu achten. Ich will dieses Moment hier nicht weiter ausführen. Das – unsere Tage kennzeichnende – Schlußglied aber dieser Ausführung würde das Ergebnis sein, daß ein historisches Drama schlechterdings nicht mehr an der ›Tagesordnung‹ ist, d. h. daß es zu den instinktiven Bedürfnissen des gesamten Volkes eben als eines organisch Ganzen nicht mehr gehört. Wir leben in einer vorwiegend sozialen Epoche. Und stündlich verschärft sich dieser Charakter der Zeit, tritt er klarer, bestimmter und – drohender hervor. Dem Dichter, der, wenn anders er eben ein wahrer und echter ist, wie kein zweiter auf der Höhe der Zeit steht, die Bildungselemente aller früheren Epochen in sich vereinigt, muß es ja nach wie vor unbenommen bleiben, mit verständnisvollem Sinn für historische Symbolik geschichtliche Motive in den Rahmen seines Schaffens aufzunehmen ... Der Dichter hat eben das Recht, sich alle Zeiten künstlerisch anzueignen. Ja! diese Fähigkeit ist eines seiner ersten Wesensmomente. Und doch wird er wenig auf die Teilnahme seiner Zeitgenossen, der Mitlebenden, zu hoffen haben, wenn er nicht dem Wort und Form gibt, was sie aus ihrer Zeit heraus im Innersten bewegt! Der echte Dichtergeist wird diese Bedürfnisse unschwer verstehen. Ein anderes ist es allerdings, ob es ihm möglich ist, sie gerade mit seinem besten Können zu befriedigen.
Historische Dramen werden auch nach wie vor noch geschrieben werden. Aber ihre Wirkungskraft ist abgestumpft. Und naturgemäß mindert sich auch die aufrichtige Teilnahme, die ungekünstelte Aufnahmefähigkeit der ›Besten eines Volkes‹ für sie. Die gewaltigen Wehen der kreißenden Zeit sind eben zu fühlbar. Das ›Literaturdrama‹ ist ein Stückchen historisches Drama und auch in gewissem Sinne wieder nicht. Es wird von einem gleichen Schicksal ereilt. Was ist uns Hekuba? Und was ist uns das unglückliche Poetenschicksal eines Christian Günther, Tasso, Reinhold Lenz oder Christoph Marlowe? Elementare Lebensfragen, die unmittelbar bis zu dem Mittelpunkt unserer Persönlichkeit hin wichtig und für das Fortbestehen unserer Existenz einschneidend werden, beschäftigen Herz und Hirn ganz anders ..
Eine sehr interessante Spezialität bedeutet das ›Literaturdrama‹ aber immerhin. Indem es seine Motive aus dem engeren Stoffkreise der Literaturgeschichte nimmt, ordnet es sich dem großen, allgemeinen Geschichtsgebiete ein und stellt sich doch zugleich in einen gewissen Gegensatz zu ihm. Seine Keimstätte ist räumlich beschränkter, möchte ich sagen, doch gedanklich weiter, umfangreicher. Denn indem es sich der Enkel angelegen sein läßt, doch zumeist das tragische Schicksal seines altvorderischen ›Kollegen in Apoll‹, beispielsweise eines Günther oder Chatterton, darzustellen, kommt es ihm verhältnismäßig weniger darauf an, den Untergang seines Helden aus dem besonderen Charakter der Zeit, in der er gelebt und zu schaffen gesucht, zu erklären, als vielmehr den Dichter in den Kampf mit jenen Elementen zu führen, die ihm schlechterdings eben immer oder wenigstens doch in der Regel widerstreben werden. Diese Art von Literaturdrama baut sich auf allgemeineren Gesichtspunkten auf, berücksichtigt Momente, die schlechthin im Wesen der gesamten Menschheit liegen und in ähnlichen Konstellationen immer wiederkehren ... Weist auch das Schicksal eines Günther – die jüngste dramatische Ausgestaltung seines Lebens rührt von Max Grube her, dem hochbedeutenden Schauspieler, der auch dichterisch reich beanlagt – eine Fülle von Unterscheidungsmaterial auf auch gegenüber dem eines Chatterton: es ist doch schließlich hier wie dort dasselbe Grundmotto – der Kampf des Unglücklichen mit den einfachsten Verhältnissen des realen Lebens.
Das Literaturtrauerspiel wird fast immer Charaktertragödie im strengen Sinne dieses ästhetischen Terminus sein, in den seltensten Fällen Prinzipientragödie. Wenn in dem Wildenbruchschen ›Christoph Marlowe‹ der englische Dichter des ›Faust‹ und des ›Tamerlan‹ zusammenbricht, weil er von einem höheren – Shakespeare – übertrumpft wird, so ist das zwar keine ausgemachte poetische Inkonsequenz, aber immerhin ein psychologischer Fehler, weil es durchaus nicht im Charakter Marlowes liegt, sich positiv einem Höheren unterzuordnen, wenn er ihn auch noch so sehr als solchen erkannt hat. Im übrigen ist ›Christoph Marlowe‹, wie es die Natur des Stoffes erfordert, reinste Charaktertragödie.
Das Motiv ›Chatterton‹ ist am meisten vollendet von Alfred de Vigny bearbeitet worden. Es ist begreiflich – Vigny war ehrgeizig und fand im ganzen wenig dichterischen Ruhm.
Als Übergang vom weiteren Gebiete des allgemeineren historischen Dramas zum engeren des literaturhistorischen möchte ich das Luther-Drama bezeichnen. Martin Luther wird zwar in allen dichterischen Bearbeitungen von Zacharias Werners ›Weihe der Kraft‹ – noch heute unübertroffen! – bis auf Lindner, Henzen und Herrig, vorwiegend als Reformator gefeiert. Aber das Moment des geschichtlichen Heros, des Befreiers vom Joche eines despotischen Kirchenregiments, und das des revolutionären Schriftstellers, sind in dieser imposanten Gestalt so eng verknüpft, daß man ihre dramatische Ausgestaltung wohl als einen Übergang vom allgemeinen historischen zum speziellen literaturhistorischen Stoffgebiete bezeichnen darf.
Eine dem Luther-Drama ähnliche Stellung nehmen die Bearbeitungen verwandter historischer Motive ein, z. B. die des Kopernikus, wie sie u. a. von dem Polen Szymanowski in seinem ›Die letzten Augenblicke des Kopernikus‹ aufgefaßt ist, oder die Giordano Brunos ... Am großartigsten ist diesem Stoffe wohl Adolf Wilbrandt gerecht geworden. Nicht unerwähnt mag hier das Schauspiel ›Ambrosius‹ des dänischen Dichters Molbach bleiben. Indem es zum Helden den unglücklichen dänischen Poeten Ambrosius Stub nimmt, erinnert es stark an Günther und Chatterton.
Eine ganz andere Physiognomie tragen natürlich Literaturdramen wie Gutzkows ›Königsleutnant‹ oder Laubes ›Karlsschüler‹ oder Mels ›Heines junge Leiden‹ ... Sie bedeuten meist eine kulturgeschichtliche Paraphrase, eine interessante Spielerei, eine mehr oder weniger pikante Variation zu einem bekannten Thema ... Sie tragen auch mehr dem durch die Zeit und die Verhältnisse bedingten Sonderkolorit Rechnung ... Sie atmen in einer weniger allgemeinen Sphäre – ja! erst die peinlich sorgfältige und zugleich liebevoll zärtliche Berücksichtigung kulturgeschichtlich charakteristischer Einzelheiten verleiht ihnen tieferen Gehalt und edlere Wärme, intimeres Leben und feinere Reize. –
Die jüngste Blüte des Literaturdramas bietet uns Karl Bleibtreu in seinen beiden Byrondramen, welche allerdings den Gegensatz des Dichtertums zur realen Welt in neue eigenartige Beleuchtung rücken.
Eine gewaltigere, in allen Tiefen des gesamten Volkslebens hineinwirkende Bedeutung hat das Literaturdrama nie gehabt, weder das allgemeinere, tragische, die Tragödie großen Stils, noch das besondere, kulturgeschichtlich charakteristische, das geistvoll pointierte Literaturschauspiel ... Der Hauptgrund liegt in der inneren Natur der Motive, deren eigentliche, treibende und bewegende Kräfte sich kaum dem Verständnis der meisten, geschweige denn aller Teile eines Volkskörpers erschließen können ...
Das Literaturdrama bedeutet – wenn ich diesen Ausdruck einmal gebrauchen darf, mit dem ich hier natürlich durchaus kein Moment des Tadels verbunden wissen will – das eigentliche Schauspiel für die Clique, für die Kollegenschaft im weiteren wie im engeren Sinne ... es appelliert in erster Linie an die Instinkte, die feinere Teilnahme der Künstlerwelt selbst, aus deren Sphäre es herausgeboren ist ...
Und so ist es nur naturgemäß, daß das Literaturdrama in einer Zeit, wo die Verhältnisse, die Massen immer mehr die Einzelbedeutung und Sonderwirkung des Individuums unterdrücken und einschränken, wo das soziale Moment immer mehr das individuelle in den Hintergrund schiebt, gemach absterben und selbst das winzige Interesse, das ihr engere Kreise bisher noch entgegengebracht, allmählich mehr und mehr verlieren muß – gerade wie die gesamte, in Künstler- und Gelehrtenkreisen spielende Novellistik von Stunde zu Stunde an Reizen einbüßt ... Den Tag werden wir wohl noch erleben, der uns meinetwegen die Literaturtragödie ›Heinrich von Kleist‹ bringt, vielleicht auch den, der sie auf irgendeine Hofbühne bringt – aber vergebens wird ihr Dichter bei seinem Volke um eine tiefere Teilnahme für sein Schaffen werben .. An dem Erzpanzer einer ausschließlichen Herrschaft sozialer Interessen wird sein Ringen um Anerkennung seiner künstlerisch individuellen Bedeutung ohnmächtig abprallen ...
Wir stehen eben auf dem Übergang zu der Zeit, wo die naturbedingte ›Evolution‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse in das dritte Stadium ihrer Wesensäußerungen tritt: ›in die innige Verknüpfung oder Gliederung der besonderen zum Ganzen integrierten Stoff- und Bewegungsmassen‹ (Schäffle, ›Bau und Leben des sozialen Körpers‹.) In dieser glorreichen Epoche wird die Kunst vielleicht nicht mehr ›nach Brot‹ zu gehen brauchen, einfach deshalb, weil sie in ihrer innersten Natur – vernichtet ist. – Und damit wird sie selbst wieder – zum tragischen Motiv.