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Quis est pluviae pater? Vel quis genuit stillas roris?
Qui praeparat corvo escam suam, quando pulli ejus clamant ad Deum, vagantes, eo quod non habent cibos.
Job. C. XXXVIII, v. 28. 41.
Vor einigen Jahren wohnte ich noch in der lieblichen Gegend, in welcher ich meine Kinderjahre verlebt. Obwohl sehr jung, war ich doch nicht gefühllos für all' das Schöne, was mir die Natur bot: ich liebte die lachenden Blumen, die schattenreichen Bäume und die unbegrenzte blaue Luft: ich war der Freund des silbernen Wasserspiegels, der liederreichen Vögel und der bunten Schmetterlinge: aber mitten in diesem Reichthum geboren, hatte ich jedes Jahr denselben Genuß daraus geschöpft, ohne die Gründe meiner Freude oder das innere Leben der Gegenstände meiner Liebe zu untersuchen. Ich, die Schmetterlinge und die Blumen, wir waren alle Kinder der üppigen Natur, wir lebten sorgenlos mit einander von Sonnenstrahlen, reiner Luft und frischem Thau …
Zu jener Zeit hatte ich einen sonderbaren Nachbar, der meine Neugierde lange schon rege gemacht, ehe ich erfuhr, wer er war. Er wohnte nicht ferne von meines Vaters Hause auf einem kleinen Landguts, das von einer hohen Mauer umgeben war und lebte sehr zurückgezogen. Ohne Zweifel bestellte er selbst seinen Garten und bereitete sich ohne fremde Hülfe seine tägliche Nahrung, denn es wohnte weder Knecht, noch Magd bei ihm und so sehr vermied er es, Jemanden in seine Grenzmauern kommen zu lassen, daß er allwöchentlich den Fleischer und Bäcker vor der Thüre des Hofes bezahlte und seinen Vorrath in Empfang nahm, ohne ihnen einen Blick der Neugierde in seine Wohnung zu gestatten. Im übrigen weigerte er Niemanden Rede und Antwort, und war gegen Jedermann ausnehmend freundlich, obwohl er das Gespräch stets so kurz als möglich machte. Ich sah ihn beinahe jeden Tag durch die Felder wandern; aber ich wagte es nicht, ihn anzureden, denn seine grauen Haare, sein kahles Haupt und seine ungemein große Gestalt flößten mir tiefe Ehrfurcht ein; sein geheimnißvolles Leben und das Gerede der Nachbarfrauen machten mir seine Erscheinung etwas furchterregend. So oft ich ihm des Abends begegnete, – denn er wanderte zuweilen auch Nachts im Felde umher – kehrte ich mit klopfendem Herzen nach Hause zurück und träumte die ganze Nacht von unheimlichem Dingen.
So lange ich ein Kind war und gleichgültig durch die Felder schlenderte, hatte mir der alte Mann wenig Aufmerksamkeit geschenkt; er begnügte sich damit, mich im Vorübergehen zu grüßen.
Als ich älter wurde und das fünfzehnte Jahr erreicht hatte, bekam ich nach und nach eine ungemeine Lust, das, was mich umgab, zu untersuchen: ich las mit großer Begierde verschiedene Bücher über die Naturkunde und wandelte täglich durch die Felder, bald kleine Thierchen fangend, bald Blumen zergliedernd, um ihre Zusammensetzung und ihr Wesen zu ergründen. Da veränderte sich plötzlich das Benehmen des alten Mannes gegen mich. Er schien eine große Freude an meiner Wißbegierde zu finden, und blieb bisweilen neben mir stehen, um mir die Art und Lebensweise der Thierchen zu erklären, die er in meinen Händen sah. Ich lauschte mit athemloser Begierde seinen Worten, als redete Gott selbst mit mir. Denn nichts in der Schöpfung schien seinem Geiste verborgen. Während eines ganzen Jahres lauschte ich beinahe täglich seinem Unterricht, und da seine Begeisterung auf mich überging, wurde ich bald gefühllos gegen alles, was nicht mit der Naturwissenschaft in Verbindung stand. Es war nicht schwer zu errathen, daß der Mann mir nicht Alles sagte, was er wußte und in Anbetracht meiner Jugend und Unerfahrenheit viele Dinge verschwieg, obwohl ich alles kennen zu lernen wünschte.
Er erlaubte mir nicht, aus den Naturerscheinungen vielumfassende Folgerungen zu ziehen und gab sich alle Mühe, mich bei der besonderen Anschauung festzuhalten, statt mich in die Geheimnisse der Schöpfungsharmonie und des allgemeinen Lebens eindringen zu lassen. Im Lenz des zweiten Jahres jedoch begann er mir nach und nach zu zeigen, wie man in der Betrachtung der Natur vom Kleinen zum Großen, vom Theil zum Ganzen unbemerkt übergehe und wie auf diese Weise die allgemeinen Gesetze aus den besonderen Erscheinungen sich errathen lassen. Mein ungeduldiger und wißbegieriger Geist konnte sich jedoch nicht an die Bande der Gründe gewöhnen; ich eilte immer dem Unterrichte des Greises voraus und es schien mir, als hätte ich viele Geheimnisse errathen, ehe sie mir mein Meister mitzutheilen wünschte. In meinem Innern glühte ein Feuer der Wißbegierde und was ich bereits von den Wunderwerken des Schöpfers kannte, trieb mich unwiderstehlich zu neuen Entdeckungen fort …
Eines Tages, als die Sonne heller denn gewöhnlich schien und mir beinahe senkrecht über dem Kopfe stand, betrachtete ich in unsrem Garten mit unverwandtem Blicke eine Kreuzspinne, deren Netz ich in der Absicht zerrissen hatte, um zu sehen, wie sie es wieder herstellen würde. Ich wollte wissen, wie die Spinne ihre Fäden von einem Aste zum andern spänne, um den ersten Grund zu ihrem meßkundigen Gewebe zu legen. Ein so ausgezeichneter Weber, wie sie, konnte nicht lange rathlos bleiben. Sie begann mit ihren Füßen ein Hundert beinahe unsichtbarer Fädchen aus ihrem Körper zu winden und diese vereinigend bildete sie ein einziges starkes Garn daraus. Diesen Faden machte sie immer länger und überließ ihn dem Winde, der ihn rasch aufnahm und zum nächsten Aste trug, woran er kleben blieb. Dann zog die Spinne den Faden an sich, spannte ihn fest an und band ihn an den Ast, auf dem sie sich befand. Nun war die Brücke gemacht; die Spinne lief darüber, spannte mehre Fäden von der entgegengesetzten Seite kreuzweise über einander und begann mit unaufhaltsamem Fleiße ihr Netz zu weben. Verwundert sah ich sie den Abstand jedes Fadens abmessen, als ob sie begriffe, daß die Regelmäßigkeit ein Haupterforderniß der Stärke und Dauerhaftigkeit sei. Sie hatte zum Messen keine Elle, noch andres Werkzeug und doch wußte sie beinahe so genau wie unsre Hausfrauen, die an ihren ausgebreiteten Armen ein Stück Leinwand messen, die Länge eines Fadens und spannte ihre Füße auseinander, um die Abstandspunkte ihrer Fäden danach zu nehmen.
Sobald das Netz im Groben fertig war, näherte sich die Spinne einem der Aeste, faltete ein Blatt, wie ein Dach, und heftete überall Fäden daran, um ihm diese Form bleibend zu geben. Dies war ihre Schlafkammer, in der sie sich in kalten und feuchten Nächten aufhielt. Sie kroch einige Male ein und aus, um die Weite zu prüfen und machte sich dann wieder an die Verstärkung ihres Netzes.
Während die Spinne damit beschäftigt war, den letzten Faden zu befestigen, flatterte eine junge Biene in der Nähe auf den blühenden Blumen umher, die in ihrem geöffneten Kelche die süßesten Tränke darboten. Aber das üppige Thier verschmähte seine alten Freundinnen, selbst die liebliche Rose, um mit einer fremden Blume zu liebkosen.
Es stand unfern von dem Spinngewebe eine Fuchsia Die Fuchsia ist eine amerikanische Pflanze, welche wegen ihrer schönen Blume häusig in Töpfen gezogen wird. Sie hat die Form von chinesischen Glöckchen und ist stets roth mit blauem Innern. Alle Sorten enthalten viel Honig: die fuchsia fulgens unter Anderem läßt den Honig tropfenweise aus ihren hängenden Kelchen fallen., die mit ihren Hunderten von roth-blauen Glöckchen die Biene zu sich rief und den Honig verlockend in Tröpfchen herabträufelte. Das sorgenlose Bienchen folgte dem Rufe, kroch in das Innere der Blüthen und sog sich voll Honig, bis es satt war. Und als es nichts mehr trinken konnte, sagte es, wie ein ungetreuer Freund, der Fuchsia Lebewohl und schwang sich summend in die Luft. Aber hier war das Netz ausgespannt! Das Bienchen flog hinein und verwickelte sich; da veränderte es seinen Lustgesang in ein Klagelied und sah zitternd die gefährliche Spinne mit ihren langen Füßen heranlaufen. Das Bienchen war so muthig, als unbesonnen: es wollte sich nicht ohne Kampf übergeben und sein Leben theuer verkaufen: nun begann es mit seinem Stachel nach der Spinne zu stechen, aber diese kannte das Sprichwort: List geht über Macht. Sie warf von Ferne dem Bienchen eine Menge Fäden über den Leib und verwickelte es endlich so sehr, daß es sich nicht mehr bewegen konnte und einem traurigen Tode entgegen sah.
Während dessen setzte sich eine Schlupfwespe auf das Blatt einer Syringe Syringa vulgaris – unser spanischer Flieder. nieder: sie begann ihre Flügel zu reiben und blickte mit flammendem Auge auf die Spinne, die bald ihre Beute werden sollte. Die Spinne sah plötzlich das schreckliche Bild ihres Feindes in zwei von ihren vier Augen scheinen. Sie wollte sich flüchten und an einem Faden auf den Boden herablassen, aber die Schlupfwespe verließ das Syringenblatt und fiel mit offner Klaue wie ein Blitz auf die bebende Spinne, der sie auf den ersten Schlag die zwei Vorderfüße ausriß. Sie machte sich bereit, mit ihrem Schlachtopfer nach der Mördergrube zu fliegen, aber im selben Augenblicke schoß eine Schwalbe durch das Netz und nahm Biene, Spinne und Schlupfwespe mit sich in die Luft. – Der schreckliche Kampf war beendigt: ein großes Thier fraß drei kleine!
[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re für Gutenberg] Die Kreuzspinne, so genannt nach den kreuzförmigen Flecken ihres Rückens ist die Epeira diadema. Sie ist in unsern Gegenden sehr häufig und spinnt ein hängend Netz, das sich durch seine regelmäßige Schönheit auszeichnet. Um zu sehen, wie sie es macht, ihre Fäden von einem Baume zum andern zu spannen, braucht man nur die Kreuzspinne an das obere Ende eines Stockes in der Mitte eines stehenden Wassers zu setzen; man wird finden, daß sie einen langen Faden aus ihrem Körper windet und ihn in der Luft fliegen läßt, bis er irgendwo festklebt. Wenn die Spinne den Platz selbst zum Stellen ihres Gewebes nicht für günstig hält, so wird sie über den Draht wie über eine Brücke gehen und das Wasser verlassen. – Die Spinne weiß auch über die Art und Kraft ihrer Beute zu urtheilen: wenn eine Wespe oder ein anderes großes Insekt in ihr Netz fliegt und sie sie nicht überwinden zu können hofft, bricht sie selbst alle die Fäden los, welche das Insekt gefangen halten und gibt dem zu mächtigen Feinde seine Freiheit wieder. Große unbewaffnete und kleine mit Stacheln versehene Fliegen verwickelt sie in viele Fäden, um sie an aller Bewegung zu hindern: kleinere Insekten faßt sie unbarmherzig mit ihren Zangen.
Es gibt vielerlei Arten von Spinnen; man hat solche, die keine Netze spinnen und Wandelspinnen genannt werden. Andere dieser Art nennt man Wolfspinnen, weil sie ihre Beute wie ein Wolf verfolgen und sehr schnell laufen können; unter dieser ist die Gaucklerspinne ( Salticus Scenicus) eine der merkwürdigsten. Sommers sieht man sie gewöhnlich an einer nach Süden gelegenen Mauer oder im Sonnenschein ihre Nahrung suchen. Sie setzt sich auf ihre hintersten Füße, um in der Ferne umherzusehen. Sobald sie ein Thierchen gewahrt, kriecht sie langsam und listig bis auf einen gewissen Abstand von ihrer Beute. Dann springt sie in die Höhe und stürzt wie ein Adler auf ihr Schlachtopfer nieder. Diese Gaucklerspinne kann Jedermann im Sommer sehen; sie ist schwarz und an den drei weißen eckigen Streifchen zu unterscheiden, welche ihr unter den Bauch gehen. Die Spinnen haben viel von den Vögeln zu leiden; ihre besondern Feinde sind die Schlupfwespen, die auf sie niederstürzen und ihnen die Füße ausreißen, worauf sie sie in ihre Nester tragen, um sie den Jungen zur Speise zu geben.
Die Spinnen haben sechs oder acht Augen; diese sind unbeweglich und sehr sonderbar auf ihrem Kopf angebracht:
bei den Kreuzspinnen stehen sie so: | |
bei den Gaucklerspinnen | |
und bei den Wolfsspinnen |
Während ich selbstvergessen dieses Schauspiel beobachtete, hatte die glühende Sonne mein Blut in die Adern meines Gehirns getrieben; ich fühlte eine sonderbare Betäubung und eine unbeschreibliche Aufregung meiner Sinne. In diesem Zustand schienen sich meine Ohren zum ersten Male zu öffnen und ich war wie ein Taubgeborner, der das Gehör wieder bekömmt und die Klänge mit den Händen von seinen Ohren zu vertreiben sucht, als wäre es das Geräusch eines Körpers.
Die ganze Natur schien zu sprechen; ich hörte tausend wirre Stimmen in meine Ohren summen und die Luft schien mir eine große Welt, worin Millionen unsichtbarer Wesen sich durch einander bewegten – und alles brachte Töne hervor, die Freude, Schmerz, Liebe und Freundschaft ausdrückten. In der größten Verwunderung suchte ich einige der verwirrten Naturstimmen zu unterscheiden, aber es war nicht möglich: zu viel verschiedene Sprachen klangen mir zu gleicher Zeit in die Ohren, und ich konnte nicht verstehen, in welchen Worten sich die Naturwesen ausdrückten, noch was sie sagten. Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte mich: ich begann für meine Geisteskräfte zu fürchten und ich war nahe daran zu glauben, daß die Hitze der Sonne mein Hirn angegriffen und mich mit Wahnsinn geschlagen. Den Kopf schüttelnd und meine Augen reibend, verließ ich den Platz und lief aus dem Garten, um meiner Betäubung zu entfliehen.
Mein Unwohlsein verlor sich bald und mein Blut kühlte sich langsam ab, doch hörte ich noch immer die Stimmen, die mir verwirrt und tausendfältig in's Ohr klangen. Mit Freude sah ich von ferne meinen Nachbar stehen; denn ich hoffte, er werde mir gewiß meinen Zustand erklären können. Ich wollte sogleich zu ihm eilen: aber etwas, was ich nun zum ersten Male bemerkte, hielt mich zurück. Der alte Mann stand inmitten eines breiten Weges; die Sonne glänzte wie in einem Spiegel auf seinem bloßen Haupte, während ihre Strahlen seine weißen Haare wie Silberfäden färbten; er schien auf etwas zu horchen, lächelte, zuckte mit den Schultern, nickte ja und nein, als ob er mit Jemand gesprochen hätte. Ueber seinem Kopfe, auf dem Aste eines Ulmenbaumes saßen zwei Rothkelchen, die in klagenden Tönen den Verlust ihrer Jungen betrauerten. Deutlich genug sind die Klagen der Vögel, deren Nest man beraubt hat: das kleinste Bauernkind versteht diese Töne; aber mein Nachbar hörte gewiß viel mehr und konnte vielleicht die Formen und Wörter der Vogelsprache unterscheiden, da er die verschiedenen Töne der Rothkelchen auch durch verschiedene Zeichen beantwortete.
Jetzt begriff ich, daß meine Gefühle, die ich Verzückung genannt, vielleicht doch Wirklichkeit sein konnten und ich näherte mich dem Greise, um mir darüber Aufklärung zu verschaffen.
»Vater,« sprach ich, »schon so lange habe ich mich an der Betrachtung der Natur ergötzt, mit Glück unter Eurer Leitung einige ihrer Geheimnisse entdeckt; aber heute ist mir etwas Sonderbares begegnet. Es schien mir, als sei ein dichtes Fell von meinen Ohren gefallen, ich höre tausenderlei Stimmen und Sprachen aus allen geschaffenen Wesen dringen. Täusche ich mich oder ist es Wahrheit? Spricht jedes geschaffene Wesen seine eigene Sprache?«
Der alte Mann sah mich erstaunt an und antwortete:
»O Kind, bist du in der Ergründung des Buches der Schöpfung schon bis zu diesem Blatte vorgedrungen! Hast Du, noch so jung, ein Geheimniß errathen, das die weisesten Sterblichen kaum ahnen! O dann bist Du reif für tieferes Wissen, mein Sohn. Es ist nichts, ein Bewunderer der unendlichen Natur zu sein und alle Thierchen, wie klein sie auch sein mögen, bei dem Namen zu kennen, den ihnen die Menschen gegeben; es ist etwas, zu wissen, warum der niedrigste Grashalm, das kleinste Geschöpf besteht und lebt; es ist viel, zu wissen und zu ergründen, wie die Schöpfung von den unsichtbaren Wesen bis zu dem Menschen eine ununterbrochene Kette bildet, deren einer Ring zur Erhaltung aller andern Ringe dient, während alle andern Ringe zur Erhaltung des Einen dienen. Das »Warum« aller dieser Dinge zu vermuthen, ist in Anbetracht der menschlichen Schwachheit gewiß viel; aber das Geheimniß, das Du beinahe entdeckt, ist der höchste Gipfel der Naturwissenschaft. Ja, mein Sohn, jedes geschaffene Wesen, hat seine eigene Sprache, seinen eigenthümlichen Ausdruck, die die Geheimnisse der Größe Gottes verkünden; sowohl diejenigen, die uns ohne Leben scheinen, als die, welche sich vor Jedes Auge bewegen und ihren Standpunkt verändern. Das kleinste Sandkörnchen, das durch den Regen fortgerollt wird, das Atom, das auf den Flügeln des Windes eine Blume verläßt, um eine andre Blume zu befruchten; das unsichtbare Geschmeiß, das auf dem Leibe eines andern Thieres als auf seinem Erdballe lebt und stirbt, dies alles spricht so laut, wie der donnernde Orkan, die erbebende Erde, das brausende Wasser und das fallende Blatt! Du täuschest Dich, wenn Du glaubst, Dein äußeres Ohr vernehme die Sprache der Naturwesen. Diese Werkzeuge sind im Verhältnisse zur Schwere unsres Körpers gebaut und viel zu grob, um durch solch unvernehmliche Berührungen erschüttert zu werden. Durch die Ohren Deines Geistes vernimmst Du die Naturstimmen und durch die Anspannung Deiner Seelenkräfte erräthst Du, was noch außer dem Bereich Deiner Sinne steht. – Nur der Mensch hat die Gabe der Sprache von Gott empfangen; aber für ihn, der das Geschaffene im Geiste anschaut, gibt es auch Sprachen welche keiner Worte bedürfen, um verstanden zu werden. Wenn Du dies Eine begreifst, so wirst Du bald die Stimmen der Geschöpfe unterscheiden, – dann, wenn Du erst weißt, was sie thun und warum sie es thun, was ihre Bedürfnisse und ihre Begierden sind, zu welchem Zwecke sie geschaffen worden und was ihr Ende werden muß. Sobald Du dies weißt, kannst Du beinahe errathen, wie sie sprechen und was sie sagen müssen: Du würdest im Stande sein, ihnen eine Sprache zu leihen, wenn sie keine hätten und könntest sie also verstehen, da sie keine andere Sprache haben, als die, welche Du ihnen geben würdest.
»Betrachte dies Maaßliebchen Das Maaßliebchen ( Bellis perennis) schließt seine Blumen des Nachts und bei Tage, wenn die Sonne sich hinter düstere Wolken verbirgt. Offen ist seine Farbe nur weiß; verschlossen erscheint es schön roth, weil die Unterseiten seiner Blätter meist diese Farbe haben.: es läßt seine Blätter und Blüthen traurig hängen. Seine Blätter sind ganz verwelkt. Du weißt, was die Schuld ist, von wo die Ursache seiner Qual stammt, was es nöthig hat, um wieder aufzuleben, was die Folge der anhaltenden Trockenheit für dies Pflänzchen sein wird. Deßhalb wirst Du sicher auch die Sprache verstehen, die es spricht, da seine Klagen auf seinem Körper selbst geschrieben stehen … Hören die Ohren deines Geistes die Klänge der Blume nicht?«
Ich hörte in der That die leidende Blume seufzen und klagen, aber ihre Sprache war etwas dunkel für mich. Der alte Mann errieth dies aus meiner Miene und sprach:
»Höre aufmerksam auf die Stimme der Blume, während ich ihre Klagen wiederhole: dann wirst du sie auch verstehen! Höre, was sie sagt:
O böse Sonne warum strömst du so unbarmherzig dein verzehrend Feuer auf deine demüthige Freundin aus?
Habe ich dich nicht genug geliebt?
Oeffnete ich nicht sehnsüchtig meinen Kelch deinem Kommen?
Folgte ich nicht treulich deinem Gange durch die Himmelsbahn, um all' deine Strahlen in meinem Innern zu sammeln? Verschloß ich nicht mein Herz vor jedem andern Liebhaber, so oft eine neidische Wolke dein schönes Gesicht vor mir verbarg?
Hat meine Mutter mich nicht auf deine Bahn gesäet: als ob sie mich deiner Liebe schenken wollte?
O habe Mitleiden mit deiner Freundin, sie ist noch zu jung, um schon zu sterben.
Rufe eine Wolke vom Horizonte herauf. Ziehe einen Schleier über dein glühend Angesicht und laß mich noch leben, bis mich der Thau der Nacht erquickt.
Ich werde wieder grün werden und meine Blumen unter deinem Auge mit neuem Glanze ausbreiten.
Wie tödtlich deine Liebe auch sein mag, ich werde dich immer lieben, denn du bist so schön, so glanzvoll, und ohne deinen Anblick kann ich nicht leben …
Aber nein, du verschmähst das Bitten des armen Maaßliebchens, du sengst noch immer …
Schon haben deine Strahlen den Saft aus meinen Wurzeln gezogen.
Und nun, nun beug' ich das Köpfchen unter deiner Gewalt, das Leben entflieht und ich fühle, daß der unerbittliche Tod mich trifft …«
»Nun mein Sohn, hast Du gehört, daß dies die Stimme der Blume war?
Erstaunt antwortete ich, daß die Blume wirklich diese Klagen ausgestoßen, und daß ich sie gleichfalls vernommen.
Der Greis schien über meine Fortschritte in der Naturwissenschaft erfreut.
»Gestehst Du nun« sprach er lächelnd, »daß die Blumen auch eine Sprache haben und daß diese ohne Zweifel bei allen Wesen dieselbe ist? Du begreifst nun die Sprache der Blumen, weil Du die Blumen kennst und ahnst, wie sie leben, wodurch sie leben und warum sie leben. Aber Deine Kenntnisse sind noch nicht tief genug, um alle Sprachen der Natur zu verstehen. Sieh' hier zu Deinen Füßen einen kleinen Kiesel. Sagt dir dieser etwas?«
Wie sehr ich auch lauschte, der Kiesel schien mir sprachlos zu bleiben; ich machte ein verneinendes Zeichen und der Greis fuhr fort:
»Horch' auf, ich will den Kiesel sprechen lassen:
»Wehe mir armem Stein!
Ich ein Kind der himmelhohen Berge, ich liege hier getreten und verworfen wie ein elend Ding!
Vor Jahrhunderten bildete ich einen Theil eines ungeheuren Felsen in dem prachtvollen Ardennenwald.
Nichts glich meiner Kraft und Stärke; Orkane, Blitze und Donner prallten an mir ab.
Doch die unerbittliche Zeit, im Verein mit Regen, Luft und Kälte wußte einen Weg zu mir zu finden, riß mich von meiner Mutter los und warf mich in das Thal.
Damals war ich noch ein großer und ansehnlicher Stein und ich hoffte, bei meinem Geburtsort ruhen zu bleiben.
Aber ein Schlagregen machte aus dem Ort, wo ich lag, das Bett eines gewaltigen Stromes, der mich in einen breiten Fluß fortrollte.
Schon hatte ich durch das Anprallen an andere Steine viel von meiner Größe verloren; immer wurde ich durch den Strom fortgerollt und endlich zerrissen, abgeschliffen und gerundet in die weite See gestürzt.
Hier mußte ich den Bewegungen des Wassers folgen und verlor zugleich einen Theil meines Körpers, bis endlich während des Sturmes die See mich aus ihrem Busen auf den Strand warf.
Da lag ich noch zwei Jahrhunderte zwischen Sand und Muscheln.
Die See hatte sich nach und nach zurückgezogen und schon begannen seltene Kräuter mich vor dem Licht der Sonne zu verbergen, als der Mensch von dem Ort Besitz nahm, wo ich gelegen.
Nun wurde mein Loos schlimmer: der Pflug und der Spaten brachen jedes Jahr einen Theil von meinem Körper ab: ich wurde bald dem Wasser, bald dem Sonnenbrande, bald der Luft, bald dem Froste blosgegeben und verlor durch diese Veränderungen so viel, daß ich endlich ein sehr kleines und niedliches Steinchen geworden bin.
Wäre ich nicht von meinem Mutterberge losgerissen worden, so hätte ich noch Tausende von Jahren gelebt; nun werde ich wohl das Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr sehen und bald in unsichtbarem Staub vergehen!«
»Dies sagte der Stein zu mir, weil ich ihn kenne. Willst nun auch Du die Naturstimmen kennen lernen, so mußt Du nicht auf alle zugleich horchen: gib im Gegentheil nur auf das Acht, was Du hören und begreifen willst. Laß Deinen Geist bis in die höchsten Kreise der Betrachtung dringen, und Du wirst eine Anzahl neuer Welten entdecken, von welchen die menschliche Welt weder die größte, noch die wunderbarste ist.«
»Aber Vater,« sagte ich, »von wo kommen alle die verwirrten Töne, die mein Ohr wie tiefes Summen erfüllen? Es ist mir, als ob mich eine unbegreifliche Menge unsichtbarer Wesen umgäbe. Versteht Ihr die Sprache derselben, können Eure Augen sie sehen?«
»Ich sehe sie und verstehe theilweise ihre Sprache,« antwortete mein Lehrmeister.
»Sind Eure Augen denn nicht gemacht, wie die Meinen?« fragte ich.
»Wissen ist mit dem Geiste sehen,« sprach der alte Mann. »Aber Du kannst mich deßhalb auch noch nicht verstehen. Du willst die unsichtbaren Wesen kennen lernen? Wohlan, ich werde Dir für einen Augenblick das ›zweite Gesicht‹ leihen und Dich sehen lassen, woher die verwirrten Stimmen kommen. Schließe Deine äußeren Augen fest zu, daß selbst das Sonnenlicht nicht hineindringe; öffne dagegen die Augen Deines Geistes. Nun kehre in die Tiefe Deiner Seele ein und betrachte mit mir die Größe Gottes in der Unendlichkeit seines Werkes!«
Seit ich wie verzückt auf die Worte des Greises zu lauschen begonnen, schien es mir, als ob alles, was er sagte, mir begreiflich würde; schon hörte ich einige Naturstimmen, die mir klarer vorkamen und ich hoffte bald im Stande zu sein, alles, wie der Greis, zu verstehen und zu begreifen. Nun horchte ich mit geschlossenen Augen auf das, was er sagen wollte. Er ließ mich einige Zeit stehen, ohne zu sprechen, berührte meine Stirne und Augen mit dem Finger und begann dann mit langsamer Stimme:
»Das Weltall, mein Kind, ist ein Ring, in welchem Millionen Sonnen und Welten sich bewegen; dieser Ring ist grenzenlos in seinem Umfang, und von welchem Punkte man ihn auch messen würde, nie fände man ein Ende. Das Innerste des Ringes erfüllt der unerforschliche Gott mit seinem Wesen, und Er umschließt ihn wiederum mit seiner undenkbaren Größe. Wer die Allmacht des Schöpfers begreift und die Natur nicht nach der kleinen Gestalt des menschlichen Körpers und der geringen Ausdehnung des menschlichen Geistes berechnet, der begreift, ohne zu sehen, daß es nicht anders sein kann; denn die göttliche Macht hat keine Grenzen und so darf auch ihre Schöpfung keine Grenzen haben. Die menschliche Gestalt erscheint groß unter den geschaffenen Wesen; aber der Elefant ist größer und der Wallfisch übertrifft auch diesen noch; der Erdball ist ein großer Körper in der Schöpfung, aber der Planet Saturnus ist mehr als siebenhundert Mal größer, während der Planet Jupiter unsre Erde vierzehnhundertmal an Umfang übertrifft. Und was ist dies Alles im Vergleich zur Sonne, die beinahe anderhalb Millionen Mal größer, als die Erde ist? Aber glaube nicht, daß die Sonne in der Reihenfolge der unermeßlichen Körper das letzte Wort der Allmacht Gottes sei! Schon haben einige Astronomen geglaubt, beweisen zu können, daß gewisse Fixsterne unsre Sonne zwölftausendmillionen Mal an Größe übertreffen.
Der machtlose Mensch muß wirklich sehr vermessen sein, um solche Dinge bestimmen zu dürfen. Wenn aber die sichtbaren Sterne uns an solche unendliche Größe gemahnen, welcher Gedanke muß uns bei den unzählbaren Myriaden Sternen ergreifen, die durch ihre Entfernung und Mannigfaltigkeit wie ein Gemenge von weißen Punkten erscheinen und selbst dem bewaffneten Auge nur wie eine nebelhafte Spinnweb in dem Abgrund des Himmels zu hängen dünken?
Und welchen Raum brauchen die Himmelskörper nicht, um ihren Lauf zu vollbringen, den Gott ihnen vorgezeichnet hat! Der Gedanke ihres Abstandes von einander muß den Menschen allein schon zum Staunen hinreißen. Die Sonne ist zwanzig Millionen Meilen von unsrer Erde entfernt. Das ist ferne, nicht wahr, mein Kind? Aber der Fixstern, der am nächsten bei uns ist, ist sieben Milliarden Meilen von unserer Welt entfernt. Und wirklich, schriebest Du auch Dein ganzes Leben Zahlen neben einander, Du könntest doch nicht den tausendsten Theil von der Entfernung ausdrücken, die den letzten Stern von unsrem Erdball trennt? Der Abstand der Sterne von unsrer Erde ist selbst für die Einbildungskraft unbegreiflich. Ein starker Mann geht ziemlich schnell, doch der Vogel in der Luft zehnmal schneller; der Sturmwind ist zweimal schneller als der Vogel; der Schall zwanzigmal schneller als der Sturmwind; der Lauf der Erde um die Sonne neunzig mal schneller als der Schall, und der Schein des Lichtes durch den Raum zehntausendmal schneller als der Umlauf der Erde. Um von der Erde zu der Sonne zu gelangen, würde eine Kanonenkugel in vollem Fluge 25 Jahre brauchen: das Licht jedoch durchläuft diese Bahn in etwas mehr als acht Minuten. Man kann sich dadurch eine Vorstellung von der Entfernung des nächsten Fixsterns machen, wenn man weiß, daß das Licht, um von einem solchen Sterne zu uns zu kommen, mehr als sieben Jahre unterwegs bleibt. Daraus folgt auch, daß wenn ein Stern in der Tiefe des Himmels erscheint, er lange Jahre dastehen kann, ehe er von uns bemerkt wird und daß, wenn ein solcher verschwunden, wir ebensolange Jahre nachher sein Bild noch sehen würden. Was kann der sterbliche Mensch bei solcher Betrachtung denken und thun? Nichts, nichts, mein Kind, als niedersinken in dem Staub seines sich wälzenden Sandkorns und den Herrn in seinem unvergänglichen und grenzenlosen Werke anbeten! Knieen, sich auf die Brust schlagen, wie Einer, der seine Vermessenheit bereut, und rufen: »O Gott, ich bin klein, klein wie ein Wurm, und ich fühle mich zerschmettert unter Deiner unendlichen Größe!
Ebenso unmöglich ist es, die letzte Sprosse in der Leiter der Natur zu finden. Eine Fliege ist klein, aber sie dient einem andern Thiere, das auf ihrem Körper geboren wird, lebt und stirbt, zur Welt; dies Thierchen dient wahrscheinlich wieder andern Thieren zum Erdball, die sich mit seinen Haaren, seinem Schweiß und seinem Fleische nähren und so schreitet die Schöpfung in's Unendliche fort. Man kann behaupten, daß kein Gegenstand auf der Oberfläche der Erde ist, der nicht von lebendigen Wesen bewohnt wird, oder ihre Eier trägt. Alle Thiere und Pflanzen haben ihr Ungeziefer; Vierfüßer, Fische, Vögel, Insekten dienen alle zur Welt für Thierchen, die auf ihnen leben.
Schon haben die Naturforscher die Sonne gezwungen, ein blendend Licht auf ihre Vergrößerungsgläser zu werfen, und sie sind so weit gekommen, die unsichtbaren Wesen Millionen mal zu vergrößern; und doch gibt es noch immer Geschöpfe, die selbst durch dieses Mittel kaum gewahrt werden können.
Der Vater der mikroscopischen Beobachtungen, der berühmte Leeuwenhoeck hat lebendige Thiere entdeckt und beschrieben, von welchen zehn Millionen zusammengenommen, die Größe eines Sandkorns nicht übertreffen. Er vergleicht Thierchen, die er gefunden, mit andern Thierchen, die gleichfalls für das bloße Auge nicht sichtbar sind, und hält die Andern für sieben Millionen mal kleiner, als die Letzten. Um ein Bild von der Mannigfaltigkeit der lebendigen Wesen zu geben, welche unsrem Auge entgehen, werden wir noch eine Entdeckung Leeuwenhoecks mittheilen. Dieser geistvolle Naturforscher erzählt, (nachdem er gesagt, daß er Morgens gewöhnt sei, seine Zähne mit Salz zu reiben und seinen Mund sorgfältig auszuspülen), er habe eine Spitze zwischen seine Zähne gesteckt und bei Betrachtung des daran klebenden Stoffes eine Menge lebendiger Thierchen entdeckt, welche er in vier Klassen vertheilt und deren Abbildung er in seinen Werken mittheilt. Dieselbe Untersuchung habe er bei Jung und Alt vorgenommen und stets dieselbe Erfahrung gemacht: so kann man also gewiß sein, daß jeder Mensch in seinem Munde allein einige Tausend lebendiger Thiere trägt.
Ueberall ist Leben unter mannigfaltigen Gestalten; ganze Berge sind nichts anderes, als eine Aufhäufung der Schalen unendlich kleiner Wasserthierchen: das unendliche Weltmeer ist bis in seine größte Tiefe mit einem für das Auge unsichtbaren Infusionsleben erfüllt. Ja, an den Polen der Erde, in dem Wasser der geschmolzenen Eisklumpen hat man mehr als fünfzig Arten von Infusionsthieren entdeckt, deren Körper noch mit Eiern erfüllt war. – Am Erebusbusen hat man mit dem Senkblei Wasser aus einer Tiefe von 526 Ellen heraufgeholt; in demselben befanden sich 69 Arten von Thieren. Auch die See fand man von einem unbegreiflichen Infusionsleben erfüllt, überall, wo man dergleichen Untersuchungen angestellt. Millionen lebendige Wesen schwimmen fröhlich in einem Wassertropfen umher, wie viele muß das Weltmeer erst umfassen? Wer dürfte seinem Geiste solche Fragen stellen?
Du glaubst, daß ein Elephant unendlich viel größer sei, als eine Mücke; und doch ist ein weit bedeutenderer Abstand in der Größe zwischen dem kleinsten Infusionsthierchen und der Mücke, als zwischen der Mücke und dem Elephanten. Mein Kind, die Worte Größe und Kleinheit bezeichnen nichts in der Natur: ein Daumen, ein Fuß und hundert tausend Füße sind ja gleiche Theile der Unendlichkeit! … Wenn Du nun die Grenzenlosigkeit des Schöpfungswerkes nicht verstehst, sondern nur fühlst, wenn dies Gefühl Dir die Ueberzeugung gibt, daß es so und nicht anders sein kann, so öffne Deine äußeren Augen, daß sie Deinem Geiste die verfeinerten Anschauungen überbringen. Oeffne Deine Augen und Du wirst sehen und hören.«
Kaum hatte ich die Augen geöffnet, als meiner Brust ein Schrei entfloh und ich schloß sie erschrocken wieder. Ich hatte rund um mich her und selbst auf meinem ganzen Körper eine unzählige Menge Ungeziefer mit schönen und abschreckenden Gestalten fliegen, wimmeln und kriechen sehen.
Dies seltsame Gesicht hatte mir einen tiefen Widerwillen eingeflößt und nun schlug ich mit den Armen an Kopf und Körper, um das Ungeziefer zu vertreiben. Der alte Mann lachte laut und sprach:
»Nutzlose Mühe, mein Sohn, es ist die Luft, welche lebt! Deine Arme haben mit jedem Schlag einige hundert Thiere getödtet, doch nur um tausend andern Platz zu machen. Sage Dir, daß Du sie nicht mehr sehen willst, und Dein Auge wird sie nicht mehr gewahr werden. Denn wozu soll dies gut sein, während Dich überall Thiere umgeben und Du, mit der Luft, die Du einathmest, sie doch in ganzen Haufen einsaugst, und sie wieder todt, verstümmelt, lebendig oder verunstaltet dem Raume zurückgibst? Habe Muth und öffne Deine Augen; Du wirst bald an Deinen neuen Zustand gewöhnt sein!«
Ich wartete noch einen Augenblick, bis ich endlich mich gefaßt; dann öffnete ich die Augen und sah nicht ohne neuen Schreck in die wimmelnde Luft. Welche sonderbare Welt bot sich meinen Blicken dar! Millionen Arten von Thieren von allen Farben und Formen flogen schwirrend und singend durch die Luft oder krochen auf der Erde; ich sah ihre Liebkosungen, ihre Gefechte; ich hörte ihre Liebeslieder und ihre Trauergesänge. Jeder Augenblick war die Todesstunde für tausend Thierchen; ich sah welche geboren werden, wachsen, leben, sich fortpflanzen, alt werden und sterben. Mein Athem kostete bei jeder Senkung meiner Brust das Leben ganzer Schaaren dieser unzähligen Wesen; jedesmal, so oft die Luft aus meinen Lungen getrieben wurde, sah ich aus meinem Munde tausend Leichen auffliegen, wie wenn eine ganze Stadt durch Gewalt mit Pulver in die Luft gesprengt würde. Die armen Thiere fielen ferne von mir auf den Boden, weinten und klagten über die Kürze ihres Lebens und wurden ebenso rasch von andern Thieren verschlungen.
Der alte Mann verfolgte all' meine Gefühle, ohne zu sprechen. Ich durfte mich nicht bewegen, denn bei der geringsten Bewegung von Hand, Aug' oder Lippe beging ich eine Anzahl Morde.
Endlich sagte der Greis zu mir:
»Bis jetzt hast Du noch wenig gesehen, mein Sohn. Die Natur will nicht im Ganzen, sondern in ihren einzelnen Theilen betrachtet sein. Komm', was hindert Dich zu gehen?«
Ich stand verwirrt, wie ein Betrunkener da, und glaubte, mehr als mein Führer zu hören und zu sehen. Mit unruhiger Stimme antwortete ich:
»Was mich hindert weiter zu gehen? Seht Ihr denn nicht, daß der Boden überall von lebendigen Thieren wimmelt, und erscheint es Euch wunderbar, daß ich sie nicht ohne Mitleiden zertrete? Es ist mir in diesem Augenblick, als wäre ich hundert Ellen hoch und jeder meiner Füße bedeckte eine Ruthe Land. Ich darf nicht gehen, weil ich die Ueberzeugung habe, daß ich bei jedem Schritte unzählige Leben zerstöre. Seht, schon fließen unter meinen Füßen Ströme Blutes!«
Der alte Mann sprach lächelnd:
»Ha, du glaubst, ein berghoher Riese zu sein? Es ist so, mein Sohn: der Kleine ist erschrecklich groß unter noch Kleineren als er. Und dennoch ist Dein Mitleid mit den unzähligen Thierchen, die Du siehst, unbegründet. Wenn Du Tausende zertrittst, thust Du, was der Schöpfer gewollt. Vergiß nicht, daß die Gestaltsveränderung der Wesen ein Haupterforderniß für die allgemeine Wohlfahrt ist. Sieh! wie hier neben Deinem Fuße ganze Haufen Thiere träg und langsam fortkriechen; die Natur hat sie nicht mit raschen Gliedern begabt und doch sind sie bestimmt, flüchtige Thiere zu fressen. Jeden Augenblick sterben Hunderte von ihnen Hungers. Hebe Deinen Fuß auf und Du wirst alle andern von einem sichern Tode erretten. Siehst Du wohl, nun kriechen sie nach den zertretenen Thierchen und essen sich an den Leichen satt; nun haben sie Nahrung bis an das Ende ihres Lebens, das vielleicht nicht bis zum Sonnenuntergange dauert. Du nimmst somit durch Deine Bewegungen Vielen das Leben und gibst es einer gleichen Anzahl von Thieren zurück.«
Ein tiefer Schrecken malte sich auf meinem Gesichte, und kaum hörte ich, was der Greis mir sagte. Als er dies bemerkte, berührte er mit seiner Hand meine Stirne: – Die Welt der Infusionsthiere verschwand und ich sah nichts mehr. Mein Lehrmeister sprach einen Augenblick nichts, um mich ruhiger werden zu lassen, und fuhr dann fort:
»Ja, Du magst das Ungeziefer ohne Bangen zertreten, wenn Du dies nur nicht aus Bosheit thust: hüte Dich aber zu glauben, daß ein Thierchen, wie klein es auch sei, nicht als ein harmonischer Theil zur Schöpfung gehört. Es wäre gottlos, zu meinen, daß ein unsichtbares Infusionsthierchen, dessen Körper vollkommener, als das vernünftigste Menschenwerk ist, ohne Bestimmung geschaffen sein sollte. Im Gegentheil, jedes Wesen ist ein nothwendiger Ring der Naturkette. Wenn ein Geschlecht, ehe es nutzlos geworden, plötzlich verschwände, würde dies eine große Verwirrung verursachen. Du siehst, daß dies kleinste Thierchen die Nahrung eines anderen größeren Thierchens ist, das seinerseits wieder von einem noch größeren gegessen wird. So dient dies allerkleinste Thier zur ursprünglichen Nahrung für Thiere, die dem Menschen selbst zur Speise dienen, und würde es an den allerkleinsten mangeln, so müßten auch die größeren Thiere in einem bestimmten Nahrungskreise aus Mangel an Speise aussterben. Die Natur, mein Sohn, beruht auf allgemeinen Grundregeln, von welchen eine der offenbarsten ist: nichts ist umsonst geschaffen; alles, was Gott schuf, hat ein bestimmtes Ende und eine vorgeschriebene Bestimmung.
»Bedenke wohl, daß in der Schöpfung nie etwas von dem irdischen Stoffe verloren geht und daß Tod und Leben für unvernünftige Thiere und Pflanzen sich durch einen bloßen Gestaltswechsel begränzen. Der Mensch allein macht eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetze, weil er in seinem Körper das unveränderliche und unsterbliche Ebenbild seines Schöpfers trägt und seine Bestimmung sich weiter als auf diese Erde erstreckt. Es vergeht nichts, so lange das allmächtige Wort das Werk des Wortes nicht vernichtet. Heute besteht im Weltall kein Sandkörnchen, kein Tropfen Wassers mehr, als zur Stunde, da Gott den ersten Menschen aus dem Staube hervorrief. – Sand kann sich in einen harten Stein umbilden, aber der Stein wird sich wieder in Sand verwandeln. Erde, Wasser und Luftstoffe können zu einem Baume zusammenwachsen; aber der Baum wird einst vergehen – und Erde, Wasser und Luftstoffe in die Freiheit zurückkehren lassen, aus der sie einst zusammenkamen. Es ist sogar dem Menschen leicht möglich, durch die Kraft des Feuers oder durch auflösende Flüssigkeiten die Naturkörper zu trennen und zu mischen: aber niemals ist es ihm geglückt, ein einzig Sandkörnchen zu vernichten. Die Grundstoffe, aus denen die Dinge bestehen, entziehen sich stets seiner Macht; er kann sie weder machen, noch vernichten und all' seine Kunst hat ihm nur über einige Formen der zusammengesetzten Körper Macht gegeben. Wenn man die Unvertilgbarkeit der Körperstoffe ernstlich erwägen wollte, so würde aus dieser Wahrheit allein das Bestehen eines schaffenden Wesens wie aus einer Feuergluth dem Menschen in die Augen strahlen.
Unveränderlichkeit in ewigen Veränderungen ist das Räthselwort des wunderbaren Werkes Gottes. Betrachte den Boden, auf dem wir leben; in einer Tiefe von wenigen Fuß finden wir Tausende von Muscheln, deren Bewohner einst in der See ihre Nahrung fanden; Gerippe von ungestalteten Meerungeheuern ruhen seit Jahrtausenden unter unseren Füßen. Wären diese Ueberbleibsel nur in den Niederungen anzutreffen, so würde dies nicht bemerkenswerth sein; aber die höchsten Gebirge, selbst die, deren Spitze mit ewigem Schnee bedeckt ist, beweisen, daß die See ein oder mehremal den Boden bespült hat, wo sie nun stehen, weil ein Theil ihrer Felsen selbst aus Muscheln und Ueberbleibseln anderer Seethiere zusammengesetzt ist.
Versteinerte Ueberreste von Thieren und Pflanzen oder Spuren davon sind überall in den Gebirgslagen zu finden. Auf den Alpen und Pyrenäen findet man diese Ueberbleibsel bis zu einer Höhe von 12,000 Fuß über der Oberfläche des Meeres; in den Steinkohlenbergwerken von England noch 1000 Fuß tief unter der Erde.
Die Zahl der bekannten Versteinerungen von Thieren beläuft sich bereits auf 9000 Arten, nämlich 270 Säugethiere, 20 Vögel, 104 Reptilien, 400 Fische, 6000 Weichthiere, 200 Schalthiere, 250 Insekten, 240 Würmer, 400 Stachelhäuter und über 900 Pflanzenthiere. Gewiß
hat die Sündfluth, von der alle alten Völker in ihren Geschichtsbüchern melden, viel zur Wegführung der Seethiere beigetragen; doch ist sie nicht durch jenes Wunderwerk beendigt. Der Ocean ist eine unaufhörliche Bewegung und versetzt seine Grenzpfähle nach bestimmten Gesetzen, die jedoch von dem Menschen noch nicht erforscht sind. Viele Städte, die ehemals reiche Seehäfen waren, befinden sich jetzt einige Meilen von allen fahrbaren Wassern entfernt; andere feste Länder werden dagegen täglich durch den Ocean vermindert und ihre Küsten verschlungen.
Die Ortsveränderung des Wassers und der Zuwachs des festen Landes geschieht nicht regelmäßig genug, um von den Menschen unter ein bestimmtes Gesetz gebracht werden zu können. Man hat jedoch Gründe anzunehmen, daß die nordischen Länder sich über die See erheben. Das baltische Meer und der botnische Meerbusen verlieren alle hundert Jahre vierzig Zoll Tiefe, und um so viel erhebt sich der anliegende Theil von Schweden über die Oberfläche des Wassers. Dagegen haben die neuesten Wahrnehmungen bewiesen, daß Grönland jährlich mehr und mehr von der See verschlungen wird, und man befürchtet, daß dies feste Land, so weit man es kennt, ganz verschwinden werde. Auf den Küsten von Italien hat man noch sprechendere Beweise von der Ortsveränderung des Wassers. Der Serapistempel war von seinen Stiftern auf festen Grund gebaut. Ursprünglich stand er sonach auf trockenem Lande: später ist das Meer beinahe bis zu einer Höhe von sechszehn Fuß über dem Boden des Tempels gestiegen; denn die Säulen desselben sind in dieser Höhe von den Meerpholaden ganz zernagt und durchbohrt. Nun ist die See wieder gesunken, da die Säulen nur noch einen Fuß unter dem Wasser stehen. Solcher Beweise gibt es an allen Küsten unzählige und sie zeugen von dem stellenweisen Steigen und Sinken der Oberfläche des Meeres.
Es gab eine Zeit, mein Kind, wo Fische auf dem Boden der Alpen wohnten, und wenn es Gott gefällt, wird noch eine Zeit kommen, wo die See ihren tiefsten Schlund an der Stelle haben wird, wo der himmelhohe Montblanc seine stolze Krone in die Wolken taucht.
Es ist wunderbar, wie die Natur mit kleinen, und beinahe unsichtbaren Mitteln ihre Werke ausführt. Höre zu, ich werde Dir sagen, wie sie es macht, um den Montblanc
Der Montblanc, ein Theil der Schweizergebirge, ist der höchste Berg von Europa; sein Gipfel erhebt sich 14,764 Fuß über die Oberfläche des Meeres. Der höchste Berg in Asien ist der Dawalagiri, dessen Gipfel sich 25,183 Fuß über die Meeresfläche erhebt. In Amerika hat der höchste Berg 23,644 Fuß, in Afrika die Spitze in den Momisbergen 14,000 Fuß. Die höchste Pyramide von Egypten mißt 600 Fuß. Der Thurm der Liebfrauenkirche in Antwerpen hat 144 niederländische Ellen; der Thurm zu Straßburg 122 Ellen; die Kuppel der Peterskirche zu Rom 132 Ellen.
Die Menschenwerke scheinen im Vergleich zu den Werken der Natur stets wie eine unbedeutende Zwergarbeit. Man urtheile nur nach den obenangegebenen Maßstäben.
Herr Gay-Lüssac hat mit einem Luftballon die Höhe von 21,484 pariser Fuß erreicht. Herr von Humboldt ist bei der Ersteigung des Chimborazo in Amerika bis zu einer Höhe von 18,000 Fuß gelangt. So viel man weiß, sind diese beiden gelehrten Männer am höchsten über die Meeresfläche gestiegen. und alle andern Berge Sandkörnchen um Sandkörnchen in den Busen des Meeres zu stürzen. Die Sonne brennt über dem Gebirge, sie gibt den einzelnen Felsen durch ihre Hitze eine größere Ausdehnung, die Kälte der Nacht aber zwingt den Stein wieder, sich zusammenzuziehen; aus dieser täglichen Bewegung entstehen Risse und Spalten; das Wasser sickert dazwischen; die Wurzeln der Pflanzen und Bäume dringen als ebensoviele erweiternde Pflöcke hinein; das Licht bleicht die oberste Kruste und macht sie zu Staub vergehen. Während so beständig Ursachen daran arbeiten, die Theile des Gebirges loszureißen, saugt die Sonne aus dem Meere und aus der Erde die Feuchtigkeit, die in Dämpfen aufsteigt. Diese Dämpfe sammeln sich, wenn sie schwer geworden und bilden Wetterwolken, welche der Wind über die Gebirge führt. Hier bricht das Ungewitter los, der Orkan entwurzelt
die Bäume und reißt Felsenstücke mit sich. Der Blitz schießt seine unwiderstehlichen Pfeile gegen das seufzende Gebirge, Wasserfluthen stürzen aus dem Himmel, rauschen in Strömen nieder und reißen alles Lose mit sich; dort nehmen sie noch ein Stück Erde fort und führen, alles zerbröckelnd, zerstoßend und zerreibend, ihren Raub mit nach dem Bett eines großen Stromes, der mit Sand, Schutt, Baum- und Pflanzentheilen und rollenden Steinen überladen, seine dunkeln und schmutzigen Wasser nach dem Ocean, dem allgemeinen Stapelplatze der Schutthaufen unserer Erde, führt.
Man kann sich kaum eine Vorstellung von der Losreißung der obersten Theile der Gebirge machen, wenn man nicht eine große Bergkette gesehen. Die Reisenden, welche die Schweiz besuchten, bezeugen, daß sie ganze Thäler von vielen Stunden Länge mit Stücken bedeckt gefunden, welche von den umstehenden Bergen abfallen und durch die Regenströme fortgerollt werden. Der Boden von den meisten Thälern besteht aus Zerbröckelungen und Trümmern der Berge. Tausende von Strömen thun täglich in allen Welttheilen dasselbe. Die Schneefälle oder Lawinen, die Eisberge, die Meerbusen, die heftigen Froste und vor allem die Vulkane mit ihren schrecklichen Ausbrüchen tragen das Ihre dazu bei, die Felsen langsam zu zerbröckeln, oder neue Gebirge aus dem Schooß der Erde aufzuwerfen und so die Oberfläche unserer Welt zu verändern. Da Du weißt, daß diese Wirkungen niemals aufhören, so wirst Du auch leicht begreifen, wie das Meer sich die nöthigen Stoffe verschafft, um neue Länder für eine ferne Zukunft zu bilden.
Es wäre ein großer Irrthum, wenn man glauben wollte, der im Wasser schwimmende Sand, die Theile der Pflanzen und Thiere und der Schmutz sinken nur zufällig in die Tiefe des Meeres und setzen sich dort zusammen, ohne von besonderen Gesetzen beherrscht zu sein. Diese Schutthaufen gehorchen ihrerseits den Gesetzen der Körperschwere, der Kristallbildung und der Anziehungskraft gleichartiger Stoffe. Der Sand als das Schwerste, sinkt zuerst unter, vereinigt sich mit den Salzen des Wassers und den Ueberbleibseln der Schaalthiere und bildet Zusammensetzungen, die später wahrscheinlich verschiedene Arten von Kalksteinen und Feuersteinen werden; die Theile der Thiere und Pflanzen treiben weiter und sinken endlich an unbekannten Stellen der See unter, wo sie kohlenartige Steinlagen bilden; der feinste Koth, der aus Lehmtheilchen besteht, setzt sich an passenden Orten nieder und bereitet im Verlauf der Zeit die schieferartigen Steinlagen. Andere metallartige Kristallbildungen und Niederschläge haben wiederum ihre besonderen Ursachen.
Solche gährenden Lagen sind nie in Ruhe, und hätten sie es auch schon zu der äußersten Härte gebracht: es gibt unterseeische Feuerberge und selbst der Boden des Oceans ist Erderschütterungen und Umwälzungen unterworfen. Diese zwei Hebebäume arbeiten in den Geheimnissen des Abgrundes, heben die Tiefen zu Bergen, und von gewaltigen unterseeischen Strömen unterstützt, geben sie den noch unsichtbaren Ländern die Form, die sie haben sollen, wenn sie die Sonne zum ersten Male bescheint.
Wenn Deine Einbildungskraft vor der unberechenbaren Zeit erschrickt, die zu solchem Werke nöthig ist, so bedenke wohl, daß dies Wort Zeit etwas ausdrückt, was nicht endigt. Es gibt Thiere, für welche eine Minute ein langes Jahrhundert ist; in tausend Jahren verschwinden zwanzig Menschengeschlechter; aber was sind hunderttausend Jahre vor dem Auge der Gottheit? Sind ein Jahrhundert, ein Jahr, eine Stunde, eine Minute nicht gleiche Theile der Ewigkeit? Während Thiere und Menschen, Sterne, Sonnen und Planeten, beständige Veränderungen und Umwandelungen erleiden oder geboren werden, verschwinden und wieder aufleben, um noch verschiedene Male zu sterben, sammelt das unergründliche höchste Wesen die Millionen Jahre in sich, wie ein Riese, der die Sandkörner an dem Strande des Meeres zählt, deren jedes ein Jahrhundert bedeutet.
Nun, mein Kind, habe ich Dir genug gesagt, um Dich einige Naturgesetze errathen zu lassen und Deinem Geiste Stoff zum Nachdenken zu geben. – Ich muß nach Hause gehen. Morgen sehen wir uns wieder, mein Sohn …«
Mit diesen Worten ließ mich der alte Mann stehen und ging fort. Ich sah ihm sprachlos nach, bis er die Thüre seiner Wohnung geschlossen hatte, dann beugte ich den Kopf und versank mit geschlossenen Augen in eine tiefe Betrachtung.