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Einundzwanzigstes Kapitel.

»An diesem Tage soll nicht Einer denken,
Daß er zu Haus Geschäfte habe.«

König Heinrich VIII.

 

Das warme Wetter, welches stets ein wenig hinter dem der unteren Counties zurückblieb, war noch nicht in die Berge gedrungen, obschon die Jahreszeit bis in die erste Woche des Juli vorgerückt war. Das »Unabhängigkeitsfest«, wie der vierte dieses Monats von den Amerikanern genannt wird, war herangekommen, und die Templetoner boten wie gewöhnlich all' ihren Witz auf, um diese Feierlichkeit mit der üblichen verständigen und sittlichen Weihe zu begehen. Der Morgen begann mit dem Paradezug einiger uniformirten Kompagnien aus der Umgegend; in den Straßen wurden viele Pfefferkuchen nebst Sprossenbier consumirt, in den Gewürzläden ansehnliche Libationen von Whiskey gebracht, und in den Schenken erlitten alle Arten von Liqueuren, die zum Theil sehr ehrgeizige Namen trugen, dasselbe Schicksal.

Man hatte Mademoiselle Viefville längst auf die große amerikanische Fête oder auf das amerikanische Nationalfest aufmerksam gemacht; sie schmückte sich daher an diesem Morgen mit hellen Bändern und ihr leuchtendes seelenvolles Antlitz war für den Anlaß mit einem besonders freundlichen Lächeln ausgestattet. Zu ihrem Erstaunen jedoch schienen ihre Gefühle nirgends Anklang zu finden; als daher die Gesellschaft im Wigwam vom Frühstücke aufstand, ersah sie die Gelegenheit, Eva ein wenig bei Seite zu nehmen und sie um eine Erklärung zu bitten.

» Est-ce que je me suis trompée, ma chère?« fragte die lebhafte Französin; »ist heute nicht die Feier de votre indépendance

»Ihr irrt nicht, meine theure Mademoiselle Viefville, und ihr zu Ehren sind große Vorbereitungen getroffen worden. Wie ich höre, wird eine militärische Parade, eine öffentliche Rede, ein Mittagsmahl und ein Feuerwerk stattfinden.«

» Monsieur votre père?«

» Monsieur mon père ist kein Freund von lärmenden Lustbarkeiten, und genießt diese Jahresfreude so ziemlich wie ein kränklicher Mensch seinen Morgentrank.«

» Et monsieur Jean Effingham?«

»Ist stets ein Philosoph; von ihm darf man nicht viel Schaustellung erwarten.«

» Mais ces jeunes gens? Monsieur Bragg, Monsieur Dodge; même Monsieur Powis?«

» Se réjouissent en Américains. Vermuthlich wißt Ihr, daß Mr. Powis sich für einen Amerikaner erklärt hat.«

Mademoiselle Viefville blickte in die Straßen hinaus, durch welche mehrere große, düster aussehende Landleute mit Gesichtern, so kläglich, wie die der Stummen bei einem Leichenbegängnisse, und einer verzweifelten Freudigkeitsmiene dahin schlenderten; sie zuckte die Achseln und murmelte vor sich hin:

» Que ces Américains sont drôles!«

Zu einer späteren Stunde jedoch überraschte Eva ihren Vater und in der That die meisten anwesenden Amerikaner durch den Vorschlag, daß die Frauenzimmer auf die Straße hinuntergehen und das Fest mitansehen sollten.

»Mein Kind, dieß ist ein seltsamer Einfall von einer zwanzigjährigen Dame,« versetzte ihr Vater.

»Wie so, seltsam, lieber Vater – in Europa nahmen wir ja stets an den Dorffestlichkeiten Theil.«

» Certainement,« rief die entzückte Mademoiselle Viefville. » Cest de rigueur même.«

»Und hier ist's de rigueur, Mademoiselle Viefville, daß sich junge Damen davon fern halten,« bemerkte John Effingham. »Ich würde es sehr bedauern, wenn ich heute eine von euch dreien in den Straßen von Templeton sehen müßte.«

»Warum dieß, Vetter Jack? Haben wir Etwas von der Rohheit unserer Landsleute zu fürchten? Ich habe doch im Gegentheil stets gehört, daß in keinem anderen Theil der Welt das zweite Geschlecht so durchgängig mit Achtung behandelt werde, wie in dieser unserer Republik; gleichwohl muß ich aus allen diesen ominösen Gesichtern bemerken, daß es für ein Mädchen nicht gerathen ist, sich bei einer Festa den Straßen eines Dorfes anzuvertrauen.«

»Ihr habt nicht ganz Unrecht in dem, was Ihr jetzt sagt, Miß Effingham, aber auch nicht ganz Recht. Das weibliche Geschlecht wird im Ganzen bei uns gut behandelt; aber doch paßt es nicht für eine Lady, sich in dergleichen Scenen zu mischen, obgleich dieß in Europa recht wohl geschehen kann und auch geschieht.«

»Ich habe diesen Unterschied von der Thatsache ableiten hören,« bemerkte Paul Powis, »daß die Frauen in Amerika keinen gesetzlichen Rang haben. Unter Nationen, wo die Stellung einer Lady durch gesetzliche Verordnungen geschützt ist, kann sie ohne Gefährde einen Schritt der Herablassung thun; aber hier, wo Alles gleich vor dem Gesetz ist, verkennen so Viele die eigentliche Bedeutung ihrer Stellung in einer Weise, daß das Frauenzimmer genöthigt ist, sich von Denen fern zu halten, welche geneigt sein könnten, ihre Ansprüche falsch zu deuten.«

»Es ist mir nicht um eine nähere Berührung zu thun, Mr. Powis, ich möchte aber doch mit meiner Muhme und Mademoiselle Viefville durch die Straßen gehen, und mich an dem Anblick der ländlichen Belustigungen erfreuen, wie man ja auch in Frankreich und Italien, oder sogar in der republikanischen Schweiz zu thun pflegt, wenn Ihr durchaus ein republikanisches Beispiel haben wollt.«

»Ländliche Belustigungen!« wiederholte Aristobulus mit einer verstörten Miene; »das Volk würde es sehr übel nehmen, wenn es seine Belustigungen ländlich nennen hören müßte, Miß Effingham.«

»Sicherlich, Sir, kann das Volk in diesen Bergen kaum behaupten, daß ihre Belustigungen die einer Hauptstadt seien.«

»Ich will blos andeuten, Ma'am, daß der Ausdruck gewaltig unpopulär sein würde. Auch sehe ich nicht ein, warum Belustigungen in einer City« – Aristobulus war zu eigen in seinen Ansichten, als daß er einen Platz mit einem Mayor und Alderman hätte eine Stadt nennen mögen – »nicht eben so ländlich sein sollten, wie die in einem Dorfe: die gegentheilige Annahme verletzt den Grundsatz der Gleichheit.«

»Und entscheidet auch Ihr Euch gegen uns, lieber Vater?« fügte Eva mit einem Blicke auf Mr. Effingham bei.

»Ohne auf die Ursachen eingehen zu wollen, mein Kind, muß ich sagen, daß ich es für besser halte, wenn ihr Alle zu Hause bleibt.«

» Voilà, Mademoiselle Viefville, une fête Américaine.«

Ein Achselzucken war die einzige stumme Erwiederung.

»Indeß bist du von den Festlichkeiten nicht ganz ausgeschlossen, meine Tochter, denn nicht alle Galanterie hat das Land verlassen.«

»Eine junge Dame kann allein mit einem jungen Gentleman spazieren gehen, kann allein mit ihm ausreiten, allein mit ihm ausfahren, soll sich nicht ohne ihn blicken lassen dans le monde; mais sie darf nicht unter die Leute gehen, um une fête anzusehen avec son père!« rief Mademoiselle Viefville in ihrem unvollkommenen Englisch. » Je désespère vraiment, zu verstehen des habitudes Américaines

»Wohlan, Mademoiselle, damit Ihr uns nicht für ganz barbarisch haltet, sollt Ihr wenigstens den Genuß der Rede haben.«

»Du kannst's wohl die Rede nennen, Ned, denn ich glaube, die nämliche, oder jedenfalls der Entwurf derselben hat seit diesen sechzig Jahren jährlich einigen tausend Rednern dienen müssen.«

»Dieser Entwurf also soll den Damen zu gut kommen. Wie ich höre, bildet sich eben die Procession, und wenn wir uns hurtig bereit machen, so kommen wir noch zeitig genug, um gute Plätze zu erhalten.«

Mademoiselle Viefville war entzückt; denn nachdem sie's mit den Theatern, den Kirchen, einigen Bällen, der Oper und allen den zugänglichen Genüssen New-Yorks versucht hatte, war sie wider Willen zu dem Schluß gekommen, Amerika sei ein ganz treffliches Land pour s'ennuyer, aber für nicht viel Anderes. Hier stand doch wenigstens etwas Neues in Aussicht. Die drei Damen beendigten demgemäß ihre Vorbereitungen und trafen, von sämmtlichen Gentlemen begleitet, zu der bestimmten Stunde in der Assembly ein.

Der Redner, welcher wie gewöhnlich ein Rechtsgelehrter war, stand bereits auf der Kanzel, denn man hatte eine der Dorfkirchen zum Schauplatz der Ceremonieen gewählt. Er war ein junger, erst kürzlich in den Advokatenstand getretener Mann, sintemal es in der Regel ist, daß die Anfänger in der Rechtsgelehrsamkeit ihren Geist in der Rede des 4. Juli glänzen lassen müssen, wie früher der Musketier seinen Muth in einem Duell zu beweisen pflegte. Die Akademie, welche früher zu allen Zwecken der Oeffentlichkeit gedient hatte, indem sie für den Unterricht, für Bälle, Predigten und Town-Meetings benützt wurde, war dem Schicksal der meisten amerikanischen Holzgebäude unterlegen – sie hatte ihr Stündlein durchlebt und war abgebrannt. Aber auch das Volk, welches wir damals zu beschreiben Gelegenheit fanden, schien von der Erde verschwunden zu sein; denn, wenigstens dem Aeußern nach, war nichts den Personen, welche sich unter Mr. Grands Seelsorge zu versammeln pflegten, und ihren Nachfolgern weniger ähnlich, als diejenigen, welche sich nunmehr eingefunden hatten, um Mr. Writs Weisheit anzuhören. Ein Rock, wie er noch vor zwei Generationen üblich war, ließ sich nirgends mehr blicken, und man sah die neueste Mode, oder diejenige, welche man dafür hielt, von dem jungen Landwirth oder dem jungen Handwerksmann eben so pünktlich eingehalten, wie von den anerkannten Leitern des öffentlichen Geschmacks, den Rechtsstudenten und Dorfladendienern. Die rothen Mäntel waren längst bei Seite gelegt, um nachgemachten Merino-Shawls oder in Fällen der Mäßigung und Nüchternheit seidenen Mantillen Platz zu machen. Als Eva ihre Blicke umhergleiten ließ, bemerkte sie Florentinerhüte, bunte Frauenkopfbedeckungen mit Blumen, und Kleider von französischen Kattunen, wo man fünfzig Jahre früher nur Filzhüte und einfache englische Calicos gesehen haben würde. Allerdings war der Wechsel unter den Männern nicht ganz so auffallend, da ihr Anzug weniger Abwechslung zuläßt; aber an die Stelle des Halstuchs und der Bandana war die schwarze Kravatte getreten, statt der Fäustlinge sah man Glacéhandschuhe, und der schwere Kuhhautschuh war durch den kalbledernen Stiefel verdrängt worden.

»Wo sind denn die Landleute, die Milchmädchen – kurz, das Volk,« flüsterte Sir George Templemore Mrs. Bloomfield zu, nachdem sie ihre Sitze eingenommen hatten; »oder ist für diese die gegenwärtige Gelegenheit zu geistvoll und besteht die Versammlung nur aus der Elite?«

»Ihr seht hier das Volk – wenigstens, was die allgemeine Haltung und das Benehmen betrifft, eine sehr schöne Probe davon. Die meisten dieser Männer gehören den arbeitenden Klassen an, wie Ihr's in England nennen würdet, und die Frauen sind ihre Weiber, Töchter und Schwestern.«

Der Baronet schwieg eine Weile und sah sich mit neugierigen Augen um; dann aber wandte er sich wieder an seine Nachbarin.

»Was die Männer betrifft,« sagte er, »so erkenne ich jetzt die Wahrheit Eurer Worte, denn ein forschender Blick entdeckt bald die Merkzeichen ihrer Beschäftigungen; aber sicherlich müßt Ihr, was Euer eigenes Geschlecht anbelangt, im Irrthum sein. Ihre Gestalten und Gesichter sind zu zart, als daß sie der von Euch erwähnten Klasse angehören könnten.«

»Gleichwohl habe ich Euch nichts als die reine Wahrheit gesagt.«

»Aber betrachtet nur ihre Hände und Füße, meine theure Mrs. Bloomfield. Auch sehe ich französische Handschuhe, wenn ich nicht irre.«

»Ich will nicht gerade behaupten, daß französische Handschuhe wirklich zu einem Milchmädchen gehören, obschon ich sogar dieses Wunder erlebt habe; aber verlaßt Euch darauf, Ihr seht hier die passenden weiblichen Gegenstände der Männer – und man muß sagen, daß es für Personen ihrer Klasse auffallend zart gebaute und hübsche Frauenzimmer sind. Ihr erblickt hier das vor Euch, was man, wie mir Miß Effingham sagt, in England demokratische Rohheit und Gemeinheit nennt.«

Sir George lächelte; aber da die »Exercises,« wie man sie in Amerika zu nennen pflegt, eben ihren Anfang nahmen, so enthielt er sich einer weiteren Erwiederung.

Diese »Exercises« begannen mit Instrumentalmusik, die man sicherlich die allerschwächste Seite der amerikanischen Civilisation nennen kann. Diejenige, welche man bei der besagten Gelegenheit zu hören bekam, litt an drei wesentlichen Mängeln, die zureichend allgemein sind, so daß man sie wohl als einen nationalen Charakterzug betrachten kann. Erstlich waren die Instrumente an sich sehr schlecht, zweitens stimmten sie durchaus nicht zusammen, und drittens wußten die Musikanten nicht, wie sie dieselben spielen sollten. Wie in gewissen amerikanischen Cities – das Wort ist nämlich hier am gehörigen Orte – diejenige als die größte Belle betrachtet wird, die ihre Kinderstubengefühle mit der lautesten Stimme vorzutragen weiß, so galt auch in Templeton derjenige für den besten Tonkünstler, welcher einer falschen Note den größten Eclat geben konnte. Mit einem Worte, man verlangte nichts als Lärmmacherei, und was jenen richtigen Ordner aller Harmonieen, den Takt, betraf, so flüsterte Paul Powis dem Kapitän zu, die Weise, die sie so eben gehört hätten, gleiche dem sogenannten »Round Robin« der Seeleute oder jener bei den Matrosen beliebten eigentümlichen Art, Briefe zu unterzeichnen, bei welchen auch der sorgfältigste Beobachter nicht sagen könne, welches der Anfang oder welches das Ende sei.

Mademoiselle Viefville bedurfte ihrer ganzen Pariser Erziehung, um während dieser Ouvertüre ihren Ernst bewahren zu können, obschon ihre klaren, lebhaften Augen mit einem Ausdruck von Lust, der, wie Mr. Bragg gesagt haben würde, sie sehr populär machen mußte, über die Assembly hinschweifte. Von allen übrigen Insassen des Wigwams wagte es, mit Ausnahme des Kapitän Truck, Niemand, aufzusehen, denn sie hielten insgesammt ihre Blicke an den Boden geheftet, als ob sie sich in stillem Genuß der Harmonieen ergingen. Was den ehrlichen alten Seemann betraf, so lag für sein unausgebildetes Gehör in dem Heulen eines Sturmes eben so viel Musik, wie in irgend etwas Anderem; er sah deßhalb [keinen] großen Unterschied zwischen der Kunstleitung der Templetoner Musikbande und dem Seufzen des alten Boreas – und die Wahrheit zu sagen, die nautische Critik des Verfassers betrachtet den Gegenstand so ziemlich in ähnlichem Lichte.

Von der Rede brauchen wir kaum viel zu sagen, denn wie die menschliche Natur zu allen Zeiten und unter allen Umständen die gleiche ist, so läßt sich dieß auch von der Rede des 4. Juli behaupten. Man hörte die gewöhnlichen Anspielungen an Griechenland und Rom, deren Republiken mit der amerikanischen ungefähr dieselbe Aehnlichkeit haben, wie der Roßkastanienbaum mit einem kastanienbraunen Rosse, da sie in weiter nichts, als in der Assonanz der Worte und einer langen Liste von Nationalherrlichkeiten besteht, welche für alle Republiken des Alterthums und unserer Tage zureichen würden. Als jedoch der Redner von dem amerikanischen Charakter und insbesondere von der Einsichtsfülle der Nation sprach, – da wurde er in hohem Grade schwunghaft und machte die reißendsten Fortschritte in der Popularität. Seiner Darstellung der Sache zufolge besaß keine andere Nation auch nur den zehnten Theil von den Kenntnissen oder den hundertsten Theil von der Ehrlichkeit und Tugend derselbigen Gemeinschaft, die er anredete, und nachdem er sich zehn Minuten abgemüht hatte, um seine Zuhörer von dem zu überzeugen, was sie sammt und sonders bereits wußten, vergeudete er noch einige weitere Zeit auf den Versuch, sie zu bereden, daß sie weitere derartige Erwerbungen machten.

»Wie viel besser hätte sich all' dieß machen lassen,« sagte Paul Powis, als er nach der Beendigung der »Exercises« mit seinen Begleitern wieder nach dem Wigwam zurückkehrte, »wenn statt der nichtssagenden Lobhudeleien eine kurze einfache Belehrung über das Wesen und die Pflichten unserer Institutionen vorgetragen worden wäre. Nichts kann wohl eine größere schmerzliche Ueberraschung bereiten, als wenn man finden muß, daß in einem Lande, wo Alles von den Institutionen abhängt, so Wenige eine klare Vorstellung von ihren eigenen Verhältnissen haben.«

»Wir haben freilich keine derartigen Ansichten von uns selbst,« bemerkte Mrs. Bloomfield, »und doch sollte es sein. Ich bin weit entfernt, die gewöhnliche Bildung des Landes, welche im Durchschnitt hoch über der fast aller andern Völker steht, unter ihrem Werthe anzuschlagen, und gehöre ebensowenig unter diejengen, welche nach Maßgabe der unter den Europäern gangbaren Vorstellungen der Meinung sind, die Amerikaner seien weniger mit Verstand ausgestattet, als andere Menschen. In allem aber kann es nur eine Wahrheit geben, und diese wird nur von wenigen erfaßt. Außerdem sind die Amerikaner ein praktisches Volk, welches den Grundsätzen nur wenig Aufmerksamkeit schenkt und seine Zeit nicht mit Untersuchungen verträgt, die über den Bereich des gewöhnlichen Menschenverstands hinausführen; daraus folgt denn, daß sie nur wenig von dem wissen, was sich nicht stets im Alltagstreiben ihnen vergegenwärtigt. Was die Anwendung unserer Staatsverfassung betrifft, so steht diese wie überall unter dem Einflusse des Parteigeistes, welcher nie ein ehrlicher oder uneigennütziger Ausleger ist.«

»Seid Ihr dann nicht in einem schlimmeren Dilemma als Eure Nachbarn?« fragte Sir George.

»Unsere Nachbarn sind allerdings besser daran, als wir, aus dem einfachen Grunde, weil das amerikanische System, dieses mit ernster Erwägung aufgeführte Gebäude, welches noch obendrein das Ergebniß eines Vertrags ist, die Absicht hat, seine Theorie in die Praxis einzuführen, während in Ländern, wo die Institutionen eine Frucht der Zeit und der Umstände sind, Verbesserung nicht blos durch Neuerung gewonnen wird. Der Parteigeist lebt in ewigem Streit und schwächt die Kräfte. Wo die Macht im Besitze Weniger ist, kömmt die Masse durch das Wirken der Parteien in Vortheil; aber ist sie das gesetzliche Recht der Masse, so ernten blos Wenige den Nutzen. Nun hat aber der Parteigeist die kräftigsten Verbündeten in der Unwissenheit und in den Vorurtheilen, weßhalb ein richtiges Verständniß der Gesetzgebungsgrundsätze für eine Volksregierung weit wichtiger ist, als für jede andere. Es wäre gut, wenn an die Stelle der ewigen Lobhudeleien, die man in Amerika bei allen öffentlichen Anlässen über das Bestehende zu ergießen pflegt, eine einfache und klare Auseinandersetzung von Grundsätzen träte – oder vielmehr eine Entwicklung von Thatsachen in ihrer Ableitung aus dem Grundsatz.«

» Mais la musique, Monsieur,« unterbrach ihn Mademoiselle Viefville in drolliger Weise, so daß ein allgemeines Lächeln darauf erfolgte. » Qu'en pensez-vous?«

»Daß sie in der That keine Musik oder doch eine Musik ohne Grundsätze ist, meine theure Mademoiselle.«

»Sie beweist blos, Mademoiselle Viefville,« bemerkte Mrs. Bloomfield, »daß ein Volk frei sein und sich der Rede des 4. Juli erfreuen kann, ohne sonderlich richtige Begriffe von Harmonie oder Takt zu besitzen.«

»Aber sind jetzt unsere Lustbarkeiten zu Ende, Miß Effingham?«

»Durchaus nicht. Es bleibt noch etwas im Rückhalt für den Tag und ›alle, die ihn ehren‹. Dem Vernehmen nach soll der Abend, der hinreichend dunkel zu werden verspricht, mit einer für Templeton eigenthümlichen Fête schließen, die man den ›Feuerspaß‹ nennt.«

»Dieß ist ein ominöser Name, und die Sache sollte wohl eine brillante Ceremonie werden.«

Mit diesen Worten trat die ganze Gesellschaft in den Wigwam.

Der ›Feuerspaß‹ fand natürlich zu einer späten Stunde Statt. Sobald es dunkel geworden war, versammelte sich Alles in der Hauptstraße des Dorfes, welche sich durch ihre Breite und Gestalt vorzugsweise für die Belustigung des Abends eignete. Die Frauenzimmer befanden sich meist an den Fenstern oder auf anderweitigen erhöhten Standpunkten, so daß sie einen guten Ueberblick gewannen, und die Insassen des Wigwams hatten sich nach dem großen Balkon über der Piazza eines der ersten Ortswirthshäuser begeben.

Die Feier des Abends begann mit Raketen, von denen einige, welche dem Clima wie der Feuerwerkerkunst des Dorfs gleiche Ehre machten, steigen durften, sobald die Dunkelheit des Abends den Glanz derselben begünstigte. Dann folgten Feuerräder, Frösche und Schwärmer – alle in der primitivsten Art, wenn überhaupt etwas bei einer derartigen Vergnügung primitiv genannt werden kann. Hierauf kamen einige Ballons. Der »Feuerspaß« sollte die Belustigung schließen und war in Wirklichkeit mehr werth, als alle übrigen Erheiterungen des Tages, die Pfefferkuchen und das Sprossenbier miteingeschlossen.

Eine brennende Kugel, aus einer Ladenthüre geworfen, gab das Signal zum Beginne des »Spasses.« Sie war blos eine Kugel von gewöhnlichem Werg oder irgend einem andern ähnlichen Material, mit Harz getränkt, und brannte mit heller Flamme, bis sie verzehrt war. Sobald die ersten dieser feurigen Meteore in die Straße hinuntersegelten, verkündigte ein gemeinsamer Jubel von Seiten der Knaben, Lehrlinge und jungen Männer, daß die Lustbarkeit ihren Anfang nahm. Bald folgten weitere Kugeln, und nach einigen Minuten war die ganze Area eine einzige Glanzmasse. Das Ganze der Unterhaltung bestand darin, daß man die Feuerbälle keck schleuderte und ihnen gewandt auswich; auch mischte sich bald der Wetteifer in die Scene.

Die Wirkung war in hohem Grade schön. Gruppen dunkler Gegenstände wurden plötzlich erhellt, und da und dort sah man einen Theil des Gedrängs in einer Lichthelle, ähnlich der eines Freudenfeuers, während im Hintergrunde Personen und Gesichter durcheinander wogten, welche aus der Dunkelheit bald in's Licht traten, bald wieder von Finsterniß bedeckt wurden. Dann trat wieder ein plötzlicher Wechsel ein; das Licht verschwand, und eine Kugel stieg an einer Stelle auf, welche ganz der Nacht überlassen zu sein schien, um aufs Neue frohe Gesichter und regsame Gestalten zu erhellen. Der beharrliche Uebergang vom lebhaftesten Lichte bis zur tiefsten Dunkelheit mit all' den wechselnden Mengungen von Licht und Schatten bot den schönsten Zug in der ganzen Scene und erfüllte Alle auf dem Balkon mit Bewunderung.

» Mais c'est charmant!« rief Mademoiselle Viefville, welche ganz bezaubert war, als sie an den » tristes Américains,« welchen sie nie etwas der Art zugetraut hätte, so viel Lust und Heiterkeit entdeckte.

»Dieß ist die artigste Dorfbelustigung, die ich je mitangesehen habe,« sagte Eva, »obgleich sie etwas gefährlich sein dürfte. Es liegt etwas Erfrischendes darin, wie die Journalisten zu sagen pflegen, zu finden, daß eine von diesen unseren Miniaturstädten sich herabläßt, nach Dörflerart froh und glücklich zu sein. Was mir von dem amerikanischen Landleben am wenigsten gefällt, ist das ehrgeizige Streben, die Städte nachzuäffen, denn dadurch wird die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Dorfs in die Förmlichkeit und Steifheit umgewandelt, durch welche Kinder in den Kleidern erwachsener Leute so lächerlich abgeschmackt werden.«

»Wie!« rief John Effingham – »haltet Ihr es für möglich, einen freien Mann so tief herabzuwürdigen, daß Ihr ihm seine Stelzen absprechen möchtet? Nein, meine junge Dame; Ihr seid jetzt in einem Lande, wo Ihr Eurem Kleide nur zwei Reihen Falbeln anzusetzen braucht, um Euer Mädchen zu veranlassen, daß sie einen Ehrenpunkt darein setze, zu Handhabung des Gleichgewichts drei zu tragen. Dieß ist der edle Ehrgeiz der Freiheit.«

»Annette's schwache Seite besteht in ihrer Vorliebe für Falbeln, Vetter Jack, und Ihr habt dieses Bild dem Augenscheine, nicht aber Eurer Einbildungskraft entnommen. Man findet diesen Ehrgeiz, wenn man ihn so nennen kann, eben so gut in Frankreich, als in Amerika.«

»Mag es herrühren, woher es will, es ist Wahrheit. Habt Ihr nicht bemerkt, Sir George Templemore, daß die Amerikaner nicht einmal das Uebergewicht einer Hauptstadt ertragen können? Früher war Philadelphia, damals die größte Stadt im Lande, die politische Hauptstadt; aber man gönnte einer einzigen Gemeinschaft nicht die vereinte Berücksichtigung, welche dem Umfang und der politischen Stellung gebührt, und so setzte sich denn das ehrenwerthe Publikum in Thätigkeit, um eine Hauptstadt zu schaffen, zu deren Gunsten nichts sprechen sollte, als die nackte Thatsache, daß sie der Sitz der Regierung ist; auch glaube ich, man wird allgemein damit einverstanden sein, daß diese Maßregel bewundernswürdig gelang. Vermuthlich wird Mr. Dodge zugestehen, daß es ganz unerträglich sein würde, wenn das Land nicht auch Stadt, und eine Stadt zugleich auch Land wäre.«

»Wir leben in einem Lande der Rechtsgleichheit, Mr. John Effingham, und ich gestehe, daß ich nicht einsehe, welche Ansprüche New-York vor Templeton zum Voraus hätte.«

»Seid Ihr der Ansicht,« fragte Kapitän Truck, »daß eine Brigg ein Schiff und ein Schiff eine Brigg sei?«

»Dieß ist ein anderer Fall; Templeton ist in Wirklichkeit eine Stadt – oder nicht, Mr. Effingham?«

» Eine Stadt, Mr. Dodge, aber nicht Stadt. Der Unterschied ist wesentlich.«

»Dieß sehe ich nicht ein, Sir. Meiner Ansicht nach ist zum Beispiel New-York keine Stadt, sondern eine City

»Ah, da haben wir den kritischen Scharfsinn des Journalisten! Ihr solltet übrigens nachsichtig sein gegen uns Laien, Mr. Dodge, denn wir lesen unsere Ausdrücke blos aus dem Wandern durch die Welt oder vielleicht in der Kinderstube zusammen, während Ihr einer von den begünstigten Wenigen seid und durch den Umstand, daß Ihr in einer Verdichtung alles Provinzialen lebt, eine Sicherheit und Genauigkeit gewinnt, auf die wir nicht Anspruch machen können.«

Die Dunkelheit hinderte den Herausgeber des »Active Inquirer,« das allgemeine Lächeln zu entdecken; er blieb daher in glücklicher Ungewißheit über die Stimmung, welche John Effinghams Worte hervorgerufen hatten. Die Wahrheit zu sagen, hatten Mr. Dodges hauptsächlichste Lieblingssünden ihren Grund in einer provinzialen Erziehung und in provinzialen Ansichten, welche ihn unausbleiblich zu dem Wahne verleiteten, er habe immer Recht, während Alles, was ihm widerspreche, im Unrecht sei. Die wohlbekannte Zeile Popes, in welcher der Dichter fragt:

Geht aus dem Wissen nicht
Das Folgern der Vernunft hervor?

enthält das Princip der Hälfte unserer Schwächen und Fehler, und erklärt vielleicht in vollem Maaße jenen Antheil, der Mr. Dodge zugefallen war, desjenigen nicht zu gedenken, welcher einer nicht kleinen Anzahl seiner Landsleute auf Rechnung kömmt. Den Kenntnissen, dem Geschmack und den Angewöhnungen eines jeden Menschen sind Gränzen gesteckt, und da Jeder durch seine Verhältnisse bestimmt wird, so folgt daraus nothwendigerweise, daß sich Niemand weit über den Bereich seiner Erfahrungen erheben kann. Daß ein fernes einzeln stehendes Volk provinziell, oder, mit andern Worten, ein Volk von beschränkten und eigenthümlichen Gewohnheiten und Ansichten sein muß, ist eben so unvermeidlich, als daß aus ernstem Studium Gelehrsamkeit hervorgeht, obschon man in dem Falle Amerikas mit allem Rechte zu staunen hat, daß so augenfällige Ursachen eine nur so geringe Wirkung hervorbrachten. In Vergleichung mit der Masse der übrigen Nationen können die Amerikaner – trotz ihrer fernen, abgeschiedenen Lage – kaum provinziell genannt werden, und erst wenn man die höchste Entwicklung dieser Nation mit der von andern vergleicht, entdecken wir die große Mangelhaftigkeit, die wirklich stattfindet. Daß ein so weites moralisches Fundament nur einen so schmalen sittlichen Oberbau unterstützt, hat seinen Grund in dem Umstande, daß die Volksmeinung das Ruder führt, und da Alles von einer Masse entscheidender Personen abhängt, die der Natur der Dinge nach nur sehr beschränkte und oberflächliche Kenntnisse haben können, so darf es die Nachdenkenden wohl nicht wundern, wenn sich in dem Ergebnisse die Eigenschaften des Tribunals aussprechen. Man hat in Amerika den großen Fehler begangen, daß man glaubt, weil die Masse im politischen Sinne herrsche, so habe sie auch ein Recht auf Gehör und Gehorsam in allen andern Dingen – eine praktische Ableitung, die, selbst unter der vortheilhaftesten Anwendung der Macht, blos zu einer sehr bescheidenen Mittelmäßigkeit führen kann. Es steht zu hoffen, daß die Zeit nebst einer größeren Concentration von Geschmack, Freisinnigkeit und Wissen, als dieß von einer jungen zerstreut lebenden Bevölkerung erwartet werden kann, dieses Uebel wieder gut machen und unsere Kinder die Früchte des weiten intellektuellen Gebiets ernten werden, das wir selbst ausgesäet haben. Mittlerweile muß sich eben die gegenwärtige Generation gefallen lassen, was nicht leicht gehoben werden kann; namentlich hat sie sich, neben so vielen andern schlimmen Folgen, großentheils mit der sehr zweifelhaften Belehrung, mit den vielen falschen Grundsätzen und mit der leidigen engherzigen Bigotterie zu begnügen, welche durch Freiheitsapostel von Steadfast Dodge Esquires Gelehrsamkeit verbreitet werden.

Wir haben umsonst geschrieben, wenn es jetzt noch nöthig sein sollte, eine Menge von Dingen nachzuweisen, in welchen der erklärte Lehrer und Mentor des Publikums, der Herausgeber des »Active Inquirer,« eine falsche Schätzung von sich selbst sowohl, als von seinen Nebenmenschen gemacht hatte. Daß ein solcher Mensch unwissend sein mußte, ließ sich erwarten, da er nie eine Erziehung genossen hatte; der Dünkel ging aus eben dieser Unwissenheit hervor, und seine unduldsame Bigotterie war ein nothwendiges Resultat seiner beschränkten Provinzialgewohnheiten; daß es ihm aber gestattet war, periodisch seine Nebenmenschen in den Spalten einer Zeitung mit ekelm Gemische von Schaalheit, Unsinn, Bosheit, Neid und Ignoranz zu bewirthen, dieß lag in dem Zustande einer Gesellschaft, in welcher sich das gute Sprichwort, »daß aller Leute Sache Niemands Sache sei,« nicht nur täglich, sondern sogar stündlich in hundert andern Angelegenheiten von gleicher Wichtigkeit zeigt, obschon auch als ein mitwirkender Hebel der verderbliche Irrthum zu betrachten ist, welcher eine Gemeinschaft glauben läßt, was in ihrem Namen geschehe, geschehe auch zu ihrem Besten.

Da »der Feuerspaß« inzwischen seine meisten Schönheiten entfaltet hatte, so verließ jetzt die Gesellschaft aus dem Wigwam den Balkon und erging sich noch eine Weile, da der Abend mild war, auf den zu dem Gebäude gehörigen Grundstücken, wo sie sich natürlich in Gruppen theilten und die Vorfallenheiten des Tages, wie auch andere Gegenstände, die ihnen eben in den Sinn kamen, besprachen. Gelegentlich verbreitete noch eine Feuerkugel ihr Licht um sie her, während man hin und wieder eine funkensprühende Rakete in die Luft schießen sah, ähnlich dem Kielwasser eines Schiffes, wenn es bei Nacht durch den Schaum des Oceans dahin eilt.


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