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Sechstes Kapitel.
Antisemitismus im allgemeinen, Juden-Emanzipation, Judennot, Zionismus.

Johannes Scherr sagt in seiner »Deutschen Kultur- und Sittengeschichte«: » Das Grundmotiv der Judenschlächtereien war, wir wiederholen es, zweifelsohne der religiöse Wahn.« Und dieser religiöse Wahn dauert immer fort. Hören Sie nur einen Aufruf, den wir als Beispiel herausgreifen, um zu sehen, welcher Mittel sich die rumänischen Antisemiten bedienen, um nicht mehr erstaunt zu sein, welche Früchte sie ernten. Dieser Aufruf wurde an den Mauern des kleinen rumänischen Städtchens Alexandria angeschlagen und ist gezeichnet: ›Das Antisemiten-Komitee‹. Er lautet: ›Christliche Brüder von Alexandria! Wenige Tage trennen uns von dem Zeitpunkte, wo die Juden Jesus Christus, unseren Gott, gerichtet haben. Wir alle wissen, wie die Juden es verstanden haben, unseren christlichen Gott zu verhöhnen, wie sie ihn geplagt und gequält haben, damit er ihnen den Weg der Gerechtigkeit zeige, weil er ihre schwindelhaften Kaufleute verurteilt hat, weil er es nicht zugelassen, daß sie ihren schamlosen Handel im Hause des Herrn weiter betreiben, weil er sie schließlich mit der Peitsche aus den Kirchen vertrieben, welche sie zu Schänken verwandeln wollten. Nachdem die Juden stets unsere Religion verlacht haben und dies noch heute tun, warum sollen wir ihnen Freundschaft entgegenbringen und ihnen den Vorzug in unserem Lande geben? Warum sollen wir ihnen unsere christlichen reinen Hände darbieten? Es ekelt uns, ihre Hände zu berühren, die noch von dem Blute unseres heiligen Jesus Christus triefen. Vergessen wir nicht, daß es ihre Hand war, die mit Hammer und Nägeln unseren christlichen Gott ans Kreuz geschlagen, demzufolge sie dazu verdammt wurden, von Aussatz befallen zu werden. Darum, Brüder von Alexandria, bei unserer christlichen Ehre beschwören wir euch, euch vor allen Juden zu hüten, eure Kinder zu belehren, daß sie keine jüdische Schänke besuchen und ihre Kleider und andere Bedarfsartikel nicht mehr bei ihnen kaufen. Es wäre eine Schande, wenn die Stoffe dieser Kleider, in welchen ihr in den Kirchen niederkniet, von den Händen dieser krätzigen Juden entweiht würden. Belehret eure Kinder schon in ihrer Jugend, die Juden zu meiden, nichts, selbst nicht das geringste, sich von diesem verfluchten Volke schenken zu lassen. Denn nur dann werdet ihr wahre Christen, gute Rumänen sein.‹ «

Ein gründliches Studium des Alten Testaments von Eduard Reuß wäre ein radikales Heilmittel für Christen und Juden. Aber gerade der orthodoxe Jude wird am schnellsten herbeispringen, dem Forscher die Fackel aus der Hand zu schlagen, denn er glaubt, daß nur durch den Glauben an die Thora und durch die Befolgung des Gesetzes das Heil, das messianische Reich herbeigezaubert werden kann. Also ist die Krankheit unheilbar! Daß dem so ist, daran tragen Juden und Christen in gleicher Weise Schuld. Ein gläubiger Jude darf nicht einmal am selben Tische mit einem Nicht-Juden essen, gläubige Juden und gläubige Christen können keine Ehe eingehen, mensa, connubium negatur. Was folgt daraus? ... Wahr aber ist, daß die Juden ein Volk für sich sind, das notgedrungen zusammenhalten muß und das derart malträtiert worden ist, daß es unmöglich ist, zu erwarten, daß, solange es einen jüdischen und einen christlichen Glauben gibt, die Juden das verzeihen könnten, was die Christen ihnen angetan. Hierin liegt allerdings eine große Gefahr. Der Antisemitismus hat auf riesigen Umwegen das Gute geleistet, die Christen und Juden auf die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze aufmerksam zu machen, solange beide an ihrem Glauben festhalten.

Der Antisemitismus hat ferner zur Folge gehabt, daß es der nichtjüdischen Bevölkerung nun einmal klar werden mußte, daß sie, um mit den Juden konkurrieren zu können, vor allem so nüchtern, fleißig und sparsam werden müsse, wie diese. Der Antisemitismus hat insofern auch als heilsamer Sporn gewirkt. Niemand wird es Christen verübeln, wenn sie dort, wo Juden sich zusammentun, Geschäftszweige monopolisieren und Ringe bilden, diese auf das energischeste mit denselben Mitteln bekämpften. Aus diesem Kampfe folgt jedoch nicht, daß man sie hasse, verachte und jeden gesellschaftlichen Umgang mit ihnen meide.

Die beste Bezeichnung für die Juden bleibt noch immer, sagt der große Schopenhauer, der Begriff Nation. Eine Nation bleibt bestehen auch dann, wenn, wie dies selbstverständlich immer der Fall ist, Mitglieder derselben in noch so großer Zahl dieselbe verlassen und sich anderen Nationen anschließen; sie bleibt, wenn auch noch so viele neue Elemente in sie aufgenommen werden. Zwar fehlt bei den Juden das zur Nation gehörende Moment der Sprache, denn es gibt keine lebende, den Juden gemeinsame Sprache. Sie reden überall die Sprache der Völker, unter denen sie wohnen oder gewohnt haben, namentlich Deutsch, Spanisch und Arabisch. Aber die Sprache ihrer heiligen Schriften treten für diesen Mangel ein, und die sind Hebräisch und Aramäisch. Hierzu kommen noch als weitere Momente gemeinsame Sitten und Gebräuche, die wieder in ihrer Religion ihren Ursprung haben. Gemeinsame Charaktereigenschaften lassen sich jedoch bei den Juden nur sehr wenige nachweisen wegen der großen Verschiedenheit der einzelnen, uns bekannten jüdischen Gruppen, und diese Charaktereigenschaften entspringen aus ihrer Religion. Zwischen dem spanischen und arabischen Juden – den Sephardim – und den deutschen und polnischen Juden – den Aschkenazim, – zwischen den Trümmern der chinesischen Judenschaft, die sich noch in Honan vorfinden, und den schwarzen und weißen Juden von Cochin an der indischen Malabarküste, dann wieder zwischen diesen allen und den jüdischen Falaschas in Abessynien dürfte der eifrigste Antisemit verzweifeln, gemeinsame von der Religion unabhängige Charaktereigenschaften zu entdecken und nachzuweisen. Der deutsche und polnische Jude ist bekannt für seinen Schacher und Handelsgeist. Ganz anders die Sephardim im Orient und die arabischen, indischen, chinesischen und abessynischen Juden. Wer von den Antisemiten will das Kunststück probieren, alle diese Juden unter eine Haube zu bringen? Ich bitte, es zu versuchen. Nehmen wir an, obwohl es nicht zugegeben werden kann, daß alle jene schlechten Charaktereigenschaften und Schändlichkeiten, welche die Antisemiten den Juden vorwerfen, wahr wären, nämlich alles, was in jenem Kapitel des Antisemiten-Katechismus steht, das ich auf Seite 17 ff. zitiert habe, so beträfe dies nur die polnischen und deutschen Juden, also nur einen Teil der Juden, nicht das Ganze, nicht das Judentum. Das ist derart klar und selbstverständlich, daß es als logischer Truism nicht erwiesen zu werden braucht. Wenn aber die Antisemiten mir dies nicht zugeben wollen, sondern müssen, so frage ich, woher der Unterschied, und warum sind die Juden, welche Jahrhunderte im Islam und in nichtchristlichen Ländern gelebt haben, von den Juden denn gar so verschieden, die immer in christlichen Ländern geblieben sind? Der geehrte Leser fühlt wohl, daß der Brennpunkt der Frage gerade hier steckt. Woher dieser Unterschied zwischen den verschiedenen Zweigen der Judenschaft, woher der Unterschied und die Verschiedenheit der Juden in den verschiedenen Epochen der Geschichte?

Die Juden sind heute großenteils das, was die Völker, unter denen sie lebten, aus ihnen gemacht haben. Hatten sie einst gute und große Eigenschaften, die sie heute nicht mehr besitzen, haben sie Laster und Gewohnheiten angenommen, die sie früher nicht hatten, so ist dies die Wirkung des Einflusses, den jene Völker auf sie ausgeübt.

Was sind denn eigentlich die Juden? Die Juden sind eine künstliche Nation, bestehend aus einer Mischung zahlreicher Nationalitäten, die eine Religionsgesellschaft bildet, entstanden sowohl durch freiwillige Abschließung, als auch durch gewaltsame Ausschließung von den anderen Völkern und durch das Verbot der Mischehen, was alles die Folge von religiösen Grundsätzen gewesen ist. Diese Aus-, respektive Abschließung, verbunden mit einer ganz bestimmten durch ihre Religion vorgeschriebenen Lebensweise (Beschneidung, Ehe-, Speisegesetze usw. usw.), und der Zwang, in welchem sie lebten, sich nur nach einer bestimmten Richtung hin entwickeln zu dürfen (Handel, Schacher, Wucher usw. usw.), haben dieser Nation einen ganz bestimmten physischen und moralischen Typus aufgeprägt. Die Definition der Juden würde somit lauten: »Eine durch religiöse Bestimmungen geschaffene, aus zahlreichen Rassenelementen zusammengesetzte künstliche Nation

Diese Definition paßt für alle jüdischen Gruppen, für die polnischen Juden wie für die Falaschas, für die indischen wie für die chinesischen; sie allein erklärt die angeblichen jüdischen Charaktereigenschaften und den von uns verschiedenen physischen Typus. Seit ungefähr 1000 Jahren hat allerdings das Judentum fast keine fremden Elemente mehr in sich aufgenommen; dagegen sind seit dieser Zeit infolge von Bekehrungen ganze Ströme jüdischen Blutes in die christlichen Nationen geflossen. Renan sagt ausdrücklich, daß es mehrere jüdische Rassen gibt. Daß es eine jüdische Rasse nicht gibt, habe ich bereits im ersten Kapitel nachgewiesen. Wer durchaus den Begriff Rasse auf die Juden anwenden will, kann dies nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt tun, mit diesem Worte jene aus zahlreichen Rassen gebildete künstliche Nation bezeichnen zu wollen, die angefangen hat zu existieren mit dem Augenblicke des Aufhörens des jüdischen Proselytentums (Chazarenbekehrung) und sich seit dieser Zeit infolge des Verbotes der Mischehen, der Aus- und Abschließung usw. rein erhalten hat. Diese Nation ist bloß zum sehr geringen Teil mit dem alten Volke Israel blutverwandt, mit der verhältnismäßig ungeheuren Masse fremden Blutes, die sie in sich aufgenommen hat. Nehmen wir nun den kleinen Bruchteil altjüdischen Blutes aus der heutigen Judenheit weg und fragen wir, was dann übrig bleibt, so ist die Antwort: nichts weiter als eine Religionsgesellschaft, die sich seit ca. 1200 Jahren infolge religiöser Satzungen zu mehreren neuen Rassen ausgebildet hat. Wer von einer jüdischen Rasse redet, denkt jedoch immer an die auf dem Wege der Zeugung entstandenen Sprößlinge aus dem Stamme Juda und Benjamin, denn die anderen zehn Stämme sind ja schon seit dem Sturze des israelitischen Reiches 722 v. Chr. spurlos verschwunden, das heißt in den anderen Völkern aufgegangen, geradeso, wie die Hunderttausende im Laufe der Zeiten zwangsweise zum Christentum und Islam bekehrter Juden. Spricht man also von einer jüdischen Rasse, so kann dieser Begriff nur dann einen Sinn haben, wenn man das Wort »jüdisch« nicht im ethnographischen und anthropologischen Sinne auffaßt, sondern unter demselben die mosaische Konfession versteht, durch welche diese neue Rasse geschaffen worden ist. Man bedenke stets, daß schon zur Zeit Christi die Zahl der nichtjüdischen Anhänger des Judentums größer war als die Zahl der dem Blute nach echten Juden, und daß unter Titus und Hadrian vielleicht die Hälfte, wenn nicht mehr sämtlicher palästinensischen Juden ausgerottet worden ist. Aus dem Gesagten folgt, daß die Masse jüdischen Blutes, welche in den christlichen und mohammedanischen Völkern Europas, Westasiens und Nordafrikas steckt, größer ist als jene, die in den Adern der heutigen Juden rollt.

Die Emanzipation der Juden durch die französische Revolution, eine Maßregel, die bald auch von den meisten anderen europäischen Staaten nachgeäfft wurde, scheint sich immer mehr als ein Fiasko für beide Teile zu entpuppen. Dr. Herzl hat in einer Rede am Zionisten-Kongreß in Basel sehr richtig bemerkt:

»Ich muß das schmerzliche Wort aussprechen: die Völker, die die Juden emanzipierten, haben sich einer Selbsttäuschung über ihre Gefühle hingegeben. Um ihre volle Wirkung zu üben, mußte die Emanzipation im Gefühl vollzogen sein, ehe sie im Gesetz ausgesprochen wurde. Das war aber nicht der Fall. Das Gegenteil war der Fall. Die Geschichte der Judenemanzipation ist eins der merkwürdigsten Hauptstücke der Geschichte des europäischen Denkens. Die Judenemanzipation ist nicht die Folge der Einsicht, daß man sich an einem Stamme schwer vergangen, daß man ihm Entsetzliches zugefügt habe und daß es Zeit sei, tausendjähriges Unrecht zu sühnen; sie ist einzig die Folge der geradlinig geometrischen Denkweise des französischen Rationalismus im 18. Jahrhundert. Dieser Rationalismus konstruierte sich mit der bloßen Logik, ohne Rücksicht auf das lebendige Gefühl, Grundsätze von der Bestimmtheit eines mathematischen Axioms und bestand darauf, diese Gebilde der reinen Vernunft in der Welt der Wirklichkeiten zur Geltung zu bringen. ›Eher sollen die Kolonien umkommen als ein Grundsatz!‹ lautet der bekannte Ausruf, der die Anwendung der rationalistischen Methode auf die Politik zeigt. Die Judenemanzipation stellt eine andere gleichsam automatische Anwendung der rationalistischen Methode dar. Die Philosophie Rousseaus und der Encyklopädisten hatte zur Erklärung der Menschenrechte geführt. Aus der Erklärung der Menschenrechte leitete die starre Logik der Männer der großen Umwälzung die Judenemanzipation ab. Sie stellten eine regelrechte Gleichung auf: jeder Mensch hat von Natur bestimmte Rechte; die Juden sind Menschen: folglich haben die Juden die Menschenrechte. Und so wurde in Frankreich die Gleichberechtigung der Juden verkündet, nicht aus brüderlichem Gefühle für die Juden, sondern weil die Logik es erforderte. Das Volksgefühl sträubte sich sogar dagegen, aber die Philosophie der Umwälzung gebot, die Grundsätze über die Gefühle zu stellen. Man verzeihe mir den Ausdruck, der keine Undankbarkeit in sich schließt: die Männer von 1792 emanzipierten uns aus Prinzipienreiterei

Ich glaube hinzufügen zu dürfen, daß jene Emanzipation größtenteils durchgeführt wurde, um die Kirche zu ärgern, die sich heute über den komischen Ausgang dieser Tat ins Fäustchen lachen darf. »Die Juden sind Menschen«, sangen die Liberalen der Emanzipationsepoche, »das heißt so zu sagen«, ertönt heute der Refrain der Antisemiten. »Die Juden haben die gleichen Rechte, wie alle anderen Staatsbürger«, so lautet das Gesetz, »das heißt auf dem Papier«, ist die Antwort unserer aufgeklärten Zeit. Denn tatsächlich schlagen die Amtschefs, wo sie nur können, die Türen vor den Nasen der jüdischen Kandidaten zu, und die Berufszweige, die einem Juden offen stehen, werden immer weniger zahlreich.

Die Emanzipation ist zu einer Zeit gekommen, wo es schon zu spät war. Als die emanzipierenden Staaten die Tore des Ghettos sprengten und die Gleichberechtigung sämtlicher Staatsbürger proklamierten, jubelte ganz Israel. Glückselig stürzten sich die Juden in die christliche Gesellschaft; ein großer Teil von ihnen, die Assimilanten, taten von Herzen, was sie konnten, um ihren christlichen Mitbürgern in Kleidung, Sitten, Gebräuchen, Manieren und Passionen so ähnlich als möglich zu werden. Es ward für sie eine Frage der Ambition, in Gesellschaft nicht für Juden gehalten zu werden; sie schämten sich ihres Stammes, ja viele von ihnen wurden selbst Antisemiten, jüdische Antisemiten, so ziemlich das nec plus ultra der Gemeinheit!

Wie sind sie aber aufgesessen! Heute gibt man ihnen deutlich zu verstehen, daß getauft oder nicht, korrekt Deutsch redend oder jüdelnd, sie doch immer verachtete Juden sind und bleiben, mögen sie reich sein oder arm, gute Reiter, gute Tänzer, gute Schützen oder Philister – ganz gleich, »Jud bleibt Jud! ihr gehört nicht in unsere Gesellschaft«.

Die liberalen Christen waren einstmals vollkommen gewillt, die Juden in ihre Gesellschaft aufzunehmen. Warum sind sie es heute nicht mehr? Der Jude wurde dem Christen, sogar dem liberalsten außerordentlich unsympathisch. Wie ist das nun zu erklären?

Infolge beiderseitiger religiöser Vorurteile hatten Juden und Christen jahrhundertelang in vollständigster Trennung voneinander gelebt. Wegen dieser Abgeschlossenheit – ein Resultat der Religionsverschiedenheit! – entstand im Ghetto ein bestimmter jüdischer gesellschaftlicher Typus, d. h. eine Kaste mit ganz spezifisch eigentümlichen Gewohnheiten, Dialekten, Gesten, Bewegungen, Manieren, Sitten und Gebräuchen, mit verschiedenen Begriffen von Ehre und Takt; infolge der jüdischen Speise- und Reinheitsgesetze, sowie durch das Zusammengepferchtsein in schmutzigen Ghettos und die sitzende Lebensweise bildete sich auch ein von den Christen physisch vielfach verschiedener jüdischer Typus aus. Die Assimilanten unter den Juden glaubten anfangs, sie brauchten bloß zu wollen und könnten mit einem Schlage das jüdische Wesen des Ghettos abstreifen und mit dem Wesen der christlichen Gesellschaft vertauschen.

Hierin täuschten sie sich aber gewaltig. Das äußere Wesen eines Kulturkreises läßt sich nicht wie ein Überzieher ausziehen und mit dem eines anderen vertauschen. Im Ghetto sprachen die Juden einen eigenen Jargon. Diesen Akzent behielten natürlich alle, die ihn in ihrer Kindheit gesprochen, und nur jene Juden verloren ihn, die entjudet, d. h. von Kindheit auf in nichtjüdischen Kreisen aufwuchsen und erzogen wurden. Die Ausmerzung des Jargons verlangte neue Generationen, – wenigstens zwei – also mehrere Jahrzehnte – und die Trennung von den jüdischen Stammesgenossen in der Kindheit. Ähnlich verhält es sich bezüglich des Gestus. Den Juden wurden im Ghetto gewisse Gesten, Hand- und Fingerbewegungen angeboren und anerzogen, die, wie dies fast immer der Fall ist, mit der Lebensweise und Kleidung in innigster Beziehung standen. Es ist kein Zweifel, daß bei diesen Gesten auch Vererbung und Atavismus eine Rolle spielen. Man kann sie nicht willkürlich ablegen und fremde dafür annehmen. Alles muß gelernt werden, bekanntlich auch das Stehen, Gehen, Sitzen, sich Setzen, Grüßen, die Art in eine Gesellschaft einzutreten, die Art sich zu entfernen, die Art zu essen, zu trinken – mit einem Worte alle unzähligen Nuancen des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens. Wer viel in islamitischen Ländern und in Ostasien gelebt hat, weiß, wieviel Mühe es kostet, die Sitten und Manieren eines fremden Kulturvolkes sich anzueignen. Die graziöse Art des japanischen Grußes wird ein Europäer wohl nie vollkommen nachmachen können; auch gehört das japanische Kleid dazu, um ihn graziös ausführen zu können. Im europäischen Anzüge wäre er grotesk und lächerlich. Sich in arabischer Kleidung wie ein Muslim zu benehmen, erfordert eine Übung von Jahren. Dasselbe gilt von der chinesischen und der ihr so ähnlichen koreanischen Etikette. Chinesen und Koreaner halten die Europäer ihrer Manieren und Gesten wegen für Flegel, obwohl sie sich selbst in Gesellschaft und sogar während der Mahlzeit Dinge erlauben, die wieder in Europa für den Kulminationspunkt der Flegelei angesehen werden. Ähnliches sehen wir im islamitischen Oriente. Die Juden nun hatten in ihren Ghettos ihre eigenen Regeln für ihr gesellschaftliches Benehmen. Dieses Benehmen war ein durchaus asiatisches, würdevolles. Ich habe selbst wiederholt Gelegenheit gehabt, es zu beobachten in den Häusern und als Gast von orthodoxen Juden in Bosnien und in der Bukowina. Die dortige Etikette, das Benehmen der Kinder gegen die Eltern, der Untergebenen gegen die Vorgesetzten, der Jüngeren gegen die Älteren, war ein sehr würdevolles, zeremonielles und anständiges, jedoch total verschieden vom Benehmen in modernen christlichen Häusern.

Nun fielen die Tore der Ghettos. Die Juden traten mit ihren Gewohnheiten in die christlichen Gesellschaften ein. Ein Teil von ihnen, jedenfalls der bessere und klügere, behielt die jüdische Kleidung und das würdevolle asiatische Auftreten, das ihnen jedoch vielfach für Kriecherei ausgelegt wurde. Der andere Teil trachtete es der christlichen Bevölkerung nachzumachen. Sie nahmen die christliche Kleidung an und kopierten, so gut sie es konnten, auch die Manieren und das Benehmen. Selbstverständlich gelang dies der ersten emanzipierten Generation nicht, der zweiten nur in sehr geringem Maße und wieder nur jenen wenigen, die von Kindheit auf wie die christlichen Mitbürger erzogen und herangebildet werden konnten. Gerade wie ein Europäer, der im arabischen, chinesischen, japanischen Kostüm sich bemüht, die Manieren des betreffenden fremden Volkes nachzumachen, bei diesem eine außerordentlich lächerliche Figur spielt, so erging es auch den Juden. Sie zogen sich zunächst sehr schlecht und geschmacklos an, griffen begeistert zu den Zylinderhüten der unglaublichsten Gestalt, kurz, sie kleideten sich so unmalerisch als nur möglich, ihre Bewegungen und Gesten, die zum langen Kaftan gut passen mochten, behielten sie beim Gehrock und Frack bei und übten dadurch einen widerwärtigen Eindruck auf ihre christlichen Mitbürger aus. Namentlich ist es die bei den Juden so oft vorkommende tänzelnde Bewegung der Füße, das Erheben der nach außen gekehrten Handfläche mit ausgespreizten Fingern zur Schulterhöhe und die vielfach gebeugte Haltung, welche die Indogermanen aus der Fassung bringt.

Es ist eine leicht zu machende Beobachtung, daß sehr häufig Leute, welche nicht wissen wie sie sich in Gesellschaft benehmen sollen, in große Verlegenheit geraten und, um diese Verlegenheit zu maskieren, unverfroren, naseweis und keck werden. So erging es häufig auch den Juden bei dem ersten Eintritt in die christliche Gesellschaft. Sie trafen anfangs fast nie den rechten Ton, und woher hätten sie denn denselben auch kennen lernen können; doch nicht in ihrem Ghetto! Sie glaubten in Gesellschaft reden zu müssen und zwar von Dingen, welche die Gesellschaft, in der sie sich befanden, interessieren. Nun wußten sie häufig nicht, über was sie reden sollten, und stellten daher Fragen oder berührten Themata, welche den andern unangenehm und peinlich waren.

Bekanntlich gibt es in den verschiedenen Kulturkreisen mannigfache erlaubte und mißliebige Gesprächsstoffe. Im mohammedanischen Oriente gilt es als unhöflich, im Gespräche der weiblichen Familienmitglieder des Angesprochenen irgendwie zu erwähnen. In anderen Ländern ist ein Gespräch über das Staatsoberhaupt und das Aussprechen seines Namens verpönt usw. Neugierde zu zeigen über die v Familien- und Vermögensverhältnisse einer angeredeten Person, mit welcher man nicht sehr befreundet ist, gilt bei uns für unhöflich, bei den Chinesen für einen Akt der Höflichkeit. Das sind alles gesellschaftliche Nuancen in Takt und Benehmen, und dieselben variieren sogar bei den verschiedenen Völkern Europas. Wie verschieden sind das gesellschaftliche Leben, die Regeln des Anstandes, die Manieren in Rußland und England! Man kann sich nun denken, welche gesellschaftlichen Schnitzer die unglücklichen Juden begehen mußten, als sie zum ersten Male das Ghetto verließen und in die christliche Gesellschaft hineingelassen wurden.

Es ist zum Staunen, daß sie deren nicht mehr begingen und daß sie sich doch so weit zu assimilieren wußten, wie sie es getan. Heute freilich ist die junge Judengeneration, die außerhalb des Ghettos aufgewachsen und ganz in christlicher Weise erzogen worden ist, die das Turnen und die übrigen Sports betreibt, namentlich in England, Frankreich und Amerika, von den Christen fast gar nicht mehr zu unterscheiden. Noch eine, höchstens zwei Generationen hätten genügt, und das Judentum von West- und Zentral-Europa wäre wie Zucker im Wasser mit den christlichen Völkern zerschmolzen und in sie aufgegangen.

Doch das sollte nicht sein. Der Antisemitismus loderte plötzlich wieder auf, vertrieb die Juden aus der christlichen Gesellschaft und zwang sie mehr denn je, sich noch enger aneinander zu schließen.

Die Juden haben nun klar erkannt, daß man sie nicht haben will, daß man es ihnen verweigert, sie als Deutsche, Franzosen, Österreicher usw. anzuerkennen. Sie kehren daher zurück, von wo sie hergekommen und rufen den Christen zu: »Ihr wollt uns nicht als Stammesgenossen anerkennen, ihr ruft uns zu, daß wir Fremde und Juden sind; also gut. Seien wir es, seien wir Juden, wie ihr es von uns aussagt.« Der Antisemitismus hat den Zionismus zur notwendigen Folge. Beide Erscheinungen haben denselben Kern, dasselbe Wesen und sind nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, obwohl natürlich zwischen Zionisten und Antisemiten auch nicht der Schatten eines Einverständnisses bestehen kann. Fremd und kalt stehen sich beide Gruppen gegenüber, und gerade die Antisemiten halten den Zionismus für eine lächerliche Utopie; man vergleiche die interessante Schrift: »Rabbinismus und Zionismus« des gelehrten Antisemiten Professor Dr. Adolf Wahrmund. Hiermit aber erklärt auch die Judenemanzipation der französischen Revolution ihren vollständigsten Bankerott, und als Siegerin auf dem Platze bleiben die verschiedenen christlichen Kirchen, die sich nun zu Tode lachen können über die Blamage ihrer Gegner. – Vorläufig!

Da die meisten Antisemiten die fixe Idee haben, daß die Mehrzahl der Juden reich oder wohlhabend ist, ja mit dem Begriffe »Jude« stets die Vorstellung eines reichen jüdischen Geschäftsmannes oder eines Wucherers verbinden, so ist es von größter Wichtigkeit, die Lage der Majorität des Judenvolkes und zwar in unserer Zeit, in der Gegenwart, zu betrachten. Die Zeiten der blutigen Verfolgungen, die ich in einem früheren Kapitel geschildert, sind längst vorüber, und ich zweifle nicht, daß jeder Antisemit in Deutschland oder Österreich-Ungarn den Geist, der sie hervorgerufen, verflucht und verabscheut. Viele Antisemiten glauben ferner wirklich, daß die Juden aus religiösen Gründen heute nicht mehr verfolgt werden und daß der Antisemitismus mit der Religion nichts zu schaffen habe. Schuld daran ist die Unkenntnis des entsetzlichen Elends, in welchem die größere Mehrzahl der Juden nicht so sehr dahin lebt, als vielmehr dahin siecht.

Dieser Judennot seien nun die folgenden Zeilen gewidmet; sie sind, was Rußland betrifft, zum größten Teile entnommen dem Werke des Leo Errera, Universitätsprofessors in Brüssel: »Die russischen Juden, Vernichtung oder Emanzipation?«, das in Brüssel im Jahre 1893 erschien. Professor Th. Mommsen sagt in seiner Vorrede zu diesem Werke folgendes: »Es ist eine Pflicht, an der armen Menschheit nicht zu verzweifeln, aber diese Pflicht wird immer und immer schwieriger. Der Fanatismus ist unverbesserlich. Wir können nur hoffen, daß die Staatsmänner eines großen Kaiserreiches und ein Herrscher, der Schiedsrichter von Europa ist, nicht für immer der Verblendung eines auferstandenen Torquemada unterworfen sein werden.«

Bekanntlich lebt über die Hälfte der Juden in Rußland, und zwar bewohnten sie die Gebiete, in welchen sie sich heute befinden, schon lange vor der russischen Eroberung. Ihre heutigen 1900 (A. d. H.) bürgerlichen Verhältnisse wurden im Jahre 1882 durch das vom Grafen Ignatieff ins Leben gerufene Gesetz neu geregelt. In diesem Gesetze wurde bestimmt, daß die Juden innerhalb des ihnen zugewiesenen Territoriums sich in Zukunft nicht außerhalb der Städte und Marktflecken ansiedeln dürfen. Hiervon sind die bereits bestehenden jüdischen Kolonien ausgenommen, sowie jene Juden, die sich mit Ackerbau beschäftigen, und gewisse Privilegierte. Auch dürfen sie keinen Grund und Boden erwerben, an christlichen Sonn- und Feiertagen keinen Handel betreiben und müssen ihre Geschäfte an diesen Tagen schließen. Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr arg. Betrachten wir jedoch die Sache in der Praxis und sehen wir uns auch die gesetzlichen Verfügungen an, die im Nachhange zu diesem Gesetze getroffen worden sind. Zunächst sind ungefähr 150 000 fremde Juden, welche die russische Staatsbürgerschaft nicht hatten und Untertanen fremder Staaten waren, des Landes verwiesen worden. Ferner wurden sämtliche Juden innerhalb des Territoriums, welche nicht in Städten und Marktflecken, sondern in Dörfern wohnten, aus diesen ihren Wohnsitzen verjagt und in die Städte hineingedrängt. Die Juden außerhalb des Territoriums erhielten die Weisung, ihre Wohnsitze zu verlassen und in das Territorium einzuziehen. So wurden im Jänner 1892 bei einer Kälte von – 32° zweitausend Juden angewiesen Moskau zu verlassen. Bei dieser Gelegenheit sind kleine Kinder vor Kälte gestorben, eine Frau, welche vor vier Tagen niedergekommen und von sechs Kindern umgeben war, mußte halb tot in einem Waggon zurückgelassen werden. Zu den sogenannten privilegierten Juden, welchen das Recht zusteht, auch außerhalb des Territoriums zu wohnen, gehören auch die sogenannten »geschickten Handwerker«. Die Anerkennung dieses Charakters wurde sehr häufig verweigert, um den Unglücklichen das Herauskommen aus dem Territorium unmöglich zu machen. In vielen Fällen ist privilegierten Juden verboten worden, ihre Kinder bei sich zu behalten. Ein jüdisches Kind darf nach dem russischen Gesetze auch gegen den Willen der Eltern zum orthodoxen Glauben übertreten, wenn es das 14. Lebensjahr erreicht hat. Ferner wurde einer großen Zahl von Juden verboten, sich bestimmten ehrlichen Geschäften zu widmen. Als vor einigen Jahren der Staat die Eisenbahnstrecke von Libau ankaufte, wurden alle jüdischen Eisenbahnbeamten entlassen. Dem jüdischen Ingenieur Koiranski, welcher beinahe 26 Jahre bei dieser Gesellschaft diente, wurde zu wissen getan, daß er sich entweder taufen lassen oder demissionieren solle. Der Mann nahm sich das Leben. So wurden langsam sämtliche Juden aus ihren Stellen bei Eisenbahn- und Dampfschiffsgesellschaften verdrängt. Ferner wurde die Zahl jener Juden, welche Zutritt zu den Gymnasien und Universitäten haben dürfen, in grausamer Weise eingeschränkt. Hierzu kommen noch eine Menge staatlicher Abgaben, welche bloß die Juden treffen. Jüdinnen, die nicht zu den Privilegierten gehören, dürfen das Territorium nicht verlassen; dagegen darf die jüdische Prostituierte im ganzen Reiche zirkulieren. Im ganzen Rußland verfolgt und gehetzt, wird dieses unglückliche Volk von allen Seiten ins Territorium zurückgedrängt, aber selbst dort werden sie immer und immer in engere Räume, d. h. in die Städte und Marktflecken hineingepfercht. Auch dort wird es ihnen verboten, Grund und Boden zu kaufen oder zu pachten; man verbietet ihnen, ihren Wohnsitz zu ändern, vertreibt sie aus den Dörfern, jagt sie aus dem Lande, quetscht sie immer mehr und mehr in den Städten zusammen, wo sie ersticken und sich gegenseitig erdrücken. Die Ausübung ihres Kultus wird ihnen erschwert, man schließt ihre Schulen, man versagt ihnen, soweit tunlich, den Eintritt in die höheren Schulen, verschließt ihnen eine Menge ehrlicher Berufe, läßt ihnen nur einige Geschäftsbranchen übrig, denen sie sich noch widmen können. Alle diese Einschränkungen haben natürlich einen furchtbaren Konkurrenzkampf unter ihnen zur Folge gehabt, einen unaufhörlichen Kampf um das tägliche Brot. So ist denn auch begreiflicherweise das Elend unter ihnen entsetzlich geworden.

Ein berühmter noch lebender russischer Staatsmann, dem man dieses Elend schilderte, soll gesagt haben: »Was liegt daran. Ein Drittel wird auswandern, ein Drittel sich bekehren, ein Drittel sterben.« Bei der Besprechung des Motives dieser Verfolgung bemerkt Errera: » Die Zivilisation des 19. Jahrhunderts, welcher sich auch Rußland zum Teile angeschlossen hat, verhindert es offen zu bekennen, daß es seine Dissidenten als Häretiker verfolgt und daß sie ein Kind, das heute erst von jüdischen Eltern geboren wurde, verantwortlich macht für die Kreuzigung Christi. Die Regierung aber trägt Sorge, wie dies auch anderswo geschieht, ihrem Antisemitismus ein wirtschaftliches Mäntelchen umzuhängen.« Sehr wahr, sehr richtig! Die, Vorwürfe, die von Seite der russischen Antisemiten den Juden gemacht werden, sind dieselben, wie bei uns, und findet sich ihre Widerlegung an anderem Orte.

Die Antisemiten sind gewöhnt, immer nur auf die reichen Juden zu blicken, und bilden sich dann ein, daß Reichtum oder Wohlhabenheit unter den Juden die Regel bildet. Dies ist jedoch ein kolossaler Irrtum. Wenigstens die Hälfte der Juden besitzt, wie Dr. Theodor Herzl auf dem Baseler Kongreß sich ausdrückte, nicht einen Stein, wo sie ihr Haupt hinlegen, keinen Fetzen, mit welchem sie ihre Blöße bedecken kann. Auf diesem Zionistenkongreß, welcher Ende August 1897 in Basel zusammenkam, waren Juden aus aller Herren Ländern zusammengekommen, wovon viele Vorträge hielten über die Lage der Judenschaft in ihrem Vaterlande. Die Bilder schrecklichen Elends, die bei dieser Gelegenheit von den Berichterstattern entrollt wurden, sind entsetzlich.

In Galizien leben im ganzen 772 213 Juden, wovon 71 Prozent in Städten wohnen. Vor einigen Jahren wurde durch den Reichsrats-Abgeordneten Dr. Rappaport ein Hilfskomitee für die notleidenden Juden in Galizien ins Leben gerufen und eine Rundfrage über die ökonomische Lage der Juden an 126 Ortschaften gerichtet. Unter den 145 000 Juden dieser 126 Ortschaften waren, wie sich herausstellte, 74 000 Beschäftigungslose, oder richtiger gesagt, Bettler. Die Folge des Elends der galizischen Judenschaft ist ein bedeutendes Sinken ihrer Moralität. Die Behauptung des Antisemiten-Katechismus, daß der berüchtigte Mädchenhandel fast ausschließlich von Juden betrieben wird, ist wahr. Nur hätte er hinzufügen sollen: von galizischen, polnischen und rumänischen Juden. Es ist leider eine Tatsache, daß die verrufenen Häuser der großen Städte Südamerikas, Konstantinopels, der Levante, teilweise sogar in Indien, Sibirien, Ägypten, ja bis hinauf nach Singapore und Hongkong, von galizischen Jüdinnen bevölkert sind und daß polnische Juden diese Häuser von Europa aus mit lebendiger Ware – fast ausschließlich Jüdinnen – versehen. Betrachtet man jedoch die kolossale Armut der russischen und galizischen Judenschaft, bedenkt man, daß der Mädchenhandel zugleich mit dem Wucher die zwei charakteristischen Entartungen des Handels vorstellt, so wird sich das Entsetzen, welches man vor dieser Gattung des Handels empfindet, sehr abschwächen müssen durch das Mitleid für jene Unglücklichen, welche zu diesem Gewerbe gegriffen haben, weil sie sonst zu Hause verhungern.

Hierbei muß ich bemerken, was der Antisemiten-Katechismus verschweigt, daß noch im Jahre 1898 die Rabbiner Zadoc Kahn (Paris), Hildesheimer (Berlin), Hirsch (Hamburg), Horovitz (Frankfurt), Ehrenreich (Rom) und Güdemann (Wien) ein hebräisches Warnungsschreiben gegen den Mädchenhandel erlassen haben! Der Brief ist an alle Rabbiner und Rabbinats-Verweser in Galizien, Rumänien und Rußland gerichtet, denen zur Pflicht gemacht wird, doch alle Eltern darauf aufmerksam zu machen, daß sie ihre Töchter nicht Personen zweifelhaften Rufes anvertrauen, die sie durch Versprechungen von lukrativen Dienststellen an sich locken, um sie dann zu unsittlichen Zwecken nach Amerika oder Afrika zu transportieren. In dem Schreiben wird der Adressat aufgefordert, jeden, der sich mit Mädchenhandel beschäftigt, aus der Gemeinde zu stoßen, und schließlich die Zuversicht ausgesprochen, daß es auf diese Art gelingen werde, das Übel auszurotten.

In Algerien gibt es 45 000 Juden, wovon mehr als 30 000 im tiefsten Elende leben. In Rumänien und Bulgarien ist ihre Lage ebenfalls eine verzweifelte. Nicht besser geht es den Juden in der Bukowina. In Wien können von 25 000 jüdischen Haushaltungen 15 000 wegen ihrer Armut zur Kultussteuer nicht herangezogen werden. Gut geht es ihnen in England, Amerika, Italien, Frankreich, wo sie jedoch nur in geringer Zahl vorhanden sind; am besten wohl in Ungarn. Es ist jedoch sehr zu befürchten, daß auch in Ungarn der Antisemitismus unter der Asche glimmt und daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann seine Flammen auflodern werden. Diese Befürchtung hat sich inzwischen erfüllt! (A. d. H.)

In Frankreich und in Deutschland haben die Juden zwar zu leben, sind aber fortwährend Kränkungen und Ehrenbeleidigungen ausgesetzt. So ist denn die Not der Juden trotz der zahlreichen Millionäre, die sich unter ihnen befinden, eine sehr bittere.

Ein Kind höchster Not und edler Menschlichkeit ist auch die viel geschmähte Alliance Israélite Universelle, von den emanzipierten freien Juden gegründet, um ihren unterdrückten Brüdern überall, und namentlich in unfreien Ländern zu Hilfe zu kommen. Ihr ist es unter anderem gelungen, die abessinischen und chinesischen Juden dem Judentum zu erhalten.

Wir sehen auf der ganzen Welt ein Wiederaufflackern des religiösen, wie des nationalen Fanatismus, wir sehen den nationalen sich des religiösen Partikularismus bedienen – wie in der Los von Rom-Frage, dem Hußkult, den zahlreichen russischen Regierungsmaßregeln gegen Andersgläubige – und umgekehrt, die Religionsgesellschaften sich des Nationalitätenwahnes bedienen zur Erreichung ihrer Zwecke, wofür Frankreich und das Verhalten eines Teiles seiner Bevölkerung zur Dreyfusaffäre als Beispiel dienen kann. Sehr häufig ist es sogar schwierig zu unterscheiden, wer schiebt und wer geschoben wird, ob die Politik oder die Religion. Da aber, wo, wie dies in der Judenfrage der Fall, die Gegensätze nicht zu vereinigen, der Karren bereits derart verfahren ist, daß er aus dem Schlamme nicht mehr herausgezogen werden kann, der Haß und die Abneigung immer mehr zunehmen, trotz der Heilversuche, da ist Trennung das Beste für beide Teile. Diese Trennung beabsichtigt nun auch der sogenannte Zionismus, eine unter den Juden der ganzen Welt sich stets mehr und mehr verbreitende Bewegung, die den Zweck verfolgt, es den Juden aller Länder zu ermöglichen, auszuwandern, um in einem bestimmten Lande – Palästina oder Argentinien – eine einheitliche Nation, einen jüdischen Staat zu bilden. Dies ist das einzige radikale, das einzige vorläufig mögliche Rettungsmittel. Das oder keines; denn auf Erkenntnis und Frieden ist bei der geringen Aufklärung der heutigen Menschheit noch lange nicht zu rechnen. Hinaus mit den Juden! So erschallt es allenthalben aus den antisemitischen Lagern. Gut, aber wohin? Das ist nicht unsere Sache, rufen die Antisemiten, das ist Sache der Juden, sie sollen sich selbst darum kümmern, wo sie hinfallen, uns geht es nichts an. Aber es geht sie doch sehr viel an, denn der Nachbarstaat schreit auch: »Hinaus mit den Juden!«, und wenn ein Staat sie hinauswirft, dann wirft sie der Nachbarstaat wieder zurück und vielleicht seine eigenen Juden zum Teil mit eingeschmuggelt dazu, und dann ist man so weit wie früher! Es muß also ein jeder Staat doch daran denken, diese Frage »wohin mit ihnen?« zu lösen, und es lohnt sich, dies gemeinschaftlich zu tun und zu beraten. Hat man einmal ein Land gefunden, sind sämtliche Juden zu Bürgern dieses Landes erklärt worden, dann erst sind sie bei uns wirklich Fremde, dann kann man meinetwegen die gewünschten Ausnahmegesetze machen, ohne Fortschritt und Aufklärung, Humanität und Nächstenliebe mit Füßen zu treten, dann kann man, ohne grausam zu sein, sich gegen sie so benehmen, daß ihnen das Verbleiben in der Fremde verleidet wird, dann wird der Antijudaismus unklug, sicherlich engherzig, aber nicht mehr grausam sein. Aber namentlich sehr, sehr unklug. Denn man vergesse nicht, daß die Juden eine der genialsten und talentiertesten Nationen der Welt sind. Erstens infolge der bei ihnen so häufig vorgekommenen Kreuzung mit fremdem Blute, was fast immer eine talentiertere Progenitur zur Folge hat; zweitens, weil ihre Lage im Mittelalter sie gezwungen hat, ihren Intellekt aufs Höchste anzustrengen, um leben zu können, wodurch sich auf dem Wege der Vererbung und des Training eine oft stupende, intellektuelle Leistungsfähigkeit, zu welcher noch ihr Fleiß und ihre Nüchternheit hinzutreten, ausgebildet hat. Was haben doch die Juden trotz des auf ihnen lastenden Druckes für eine Schar großer und berühmter Männer in allen Lebensstellungen geliefert. Ich erwähne hier bloß in der Musik: Bizet, Halévy, Brüll, Meyerbeer, Mendelssohn, Offenbach, Rubinstein, Goldmark, Auer, Joachim, Reményi; in der Schauspielkunst; Sonnenthal, Sarah Bernhardt, Dawison, Ascher, Rothmühl, Robert; in der Malerei: Jacoby, Junker, Liebermann, Oppenheim, Sichel, Kaufmann, Possart, Horowitz; in der Dichtkunst: Heine, Börne, Auerbach; in der Literatur: Herzl, Nordau, Saphir, Wolff; in der Wissenschaft: Halévy, Derenbourg, Geiger, Goldziher, Grätz, Neander, Lazarus, Mendelssohn, Vambéry, Grünhut, Emin Pascha; in der Staatskunst und Politik: Lord Beaconsfield, Crémieux, Kuranda, Lasker, Marx, Lassalle. Unter den Juden, die inzwischen Weltruhm erlangt haben, befinden sich u.a. die Namen: Einstein, Bergson, Ehrlich, Trotzki, Mahler, Brandes, Freud usw. (A.d.H.) Dies ist jedoch nur ein verschwindend kleiner Teil der berühmten Juden unserer Zeit. Wer sich dafür interessiert, was jeder tun sollte, der über die Juden schreibt, dem empfehle ich das jetzt in 18 Lieferungen erscheinende Werk von Dr. Adolf Kohut: »Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit«.

Und solchen Mitbürgern will man die Tür weisen! Dann verliert ja der ausweisende Staat am meisten dabei, und es profitiert derjenige, welcher sie aufnimmt.

Ich aber bin überzeugt, daß das große und wunderbare Volk der Juden – das Reformjudentum natürlich, nie und nimmermehr das orthodoxe – der ganzen Menschheit noch einmal Heil und Segen bringen wird!

Die Judenverfolgungen und die Ausnahmsgesetze haben das jüdische Gehirn zur höchsten Leistungsfähigkeit entwickelt auf Kosten aller übrigen Organe, namentlich auf Kosten der körperlichen Leistungsfähigkeit. Aber dann sollten die christlichen Staaten doch wenigstens versuchen, von diesen von ihnen selbst gezüchteten Intellekten zu profitieren, sie einzuspannen für den Fortschritt des Landes, statt sie hinauszuwerfen, zu unterdrücken und dadurch noch mehr in die Handelsgeschäfte, wo sie, wie die Christen sagen, so verderblich wirken, hineinzudrängen.

An der Durchführung der Ziele des Zionismus sind 5/6 der gesamten Judenheit im denkbar höchsten Grade interessiert. 5/6 sämtlicher Juden der Welt sind heute bereit, sofort auszuwandern, um sich in den zu gründenden Judenstaat zu begeben. Es ist ein grober Irrtum, wenn von Seite der Antisemiten behauptet wird, die Juden würden nicht gehen, denn sie müßten sich dann gegenseitig betrügen, und das wollen sie nicht, weil sie dazu lieber Christen verwenden. So probieren Sie es doch, meine Herren, und arbeiten Sie für den Zionismus, und Sie werden sehen, wie die Juden und in welchen Massen sie abziehen werden. Freilich war, als der Gedanke zuerst auftauchte, ein bedeutender Teil der Judenheit noch dagegen, aber viele von den Widerstrebenden haben sich bekehrt. Erwähnt sei z.B. ein französischer Jude, J. Bahar, der erst im Jahre 1897 in einer »Restons« titulierten Broschüre den Zionismus aufs Eifrigste bekämpfte, heute aber für die Sache schon gewonnen ist. Nun wächst unter den Juden diese Bewegung immer mehr und mehr und sie muß zunehmen, denn mit der Verbreitung des Antisemitismus wächst das jüdische Massenelend auch immer mehr, und sie müssen zum Wanderstab greifen oder zugrunde gehen. Die Antisemiten können, wie die Dinge heute nun einmal stehen, den Juden nicht viel anhaben. Totschlagen kann man sie denn doch nicht mehr, ihnen ihr Vermögen wegnehmen wäre ein gefährliches Präzedens und hätte zur Folge, daß man anderen Reichen früher oder später auch ans Vermögen rücken würde. Wenn einmal das Eigentum angetastet wird, dann bricht auch unsere ganze soziale Ordnung zusammen. Und nähme man den reichen jüdischen Millionären ihr Geld auch weg, so blieben doch die jüdischen Millionen von Proletariern, und würde man das Geld der jüdischen Millionäre – sagen wir, es gäbe deren ein Tausend mit einem Gesamtvermögen von 10000 Millionen Kronen – an die 10 Millionen arme Juden verteilen, so bekäme jeder arme Jude 1000 Kronen und es gäbe dann bald nur mehr arme Juden, die der christlichen Wohltätigkeit zur Last fielen, und keine reichen Juden mehr, die den armen Juden helfen könnten. Das Elend wäre das gleiche geblieben, und die vielen Christen, welche in Diensten reicher Juden stehen, wären brotlos wie ihre Herren. Ausnahmegesetze, durch welche den Juden verboten würde, irgend ein Amt, einen Staatsdienst usw. usw. zu bekleiden, akademische Grade zu erwerben und irgend welchen Berufen sich zu widmen, die in keiner Beziehung zum Handel stehen, wie es die Antisemiten verlangen, würden die gesamte Masse der Juden nur noch mehr ins Handelsgewerbe hineintreiben, und da sie darin den Christen überlegen sind, würden sie noch reicher werden und ihr zunehmender Haß gegen ihre Peiniger sie veranlassen, ihr Geld zum Schaden der Christen zu verwenden. Wird der Zionismus nicht durchgeführt, dann stehen wahrscheinlich blutige Katastrophen bevor, von denen kein Mensch sagen kann, ob sie auf die Juden beschränkt bleiben werden. Der einmal losgelassene Pöbel wird nicht zwischen jüdischem und christlichem Kapital unterscheiden, und geht es den besitzenden Juden an den Kragen, dann werden es die Juden sein, die den Pöbel auch gegen Christen auslassen werden. Sie werden sagen, und wer kann es ihnen verübeln: »Wenn wir finanziell zugrunde gehen sollen, dann wollen wir nicht allein krachen; nein, die reichen Christen sollen nur mit uns krachen«, und sie werden schon wissen, wie sie das zu machen haben.

Mögen die Juden also fortziehen, wenn sie wollen, legen wir ihnen nur ja keine Hindernisse in den Weg und arbeiten wir für die zionistische Idee.

Tun wir dies nicht, machen wir ihnen in ihren Auswanderungsplänen Schwierigkeiten, versagen wir ihnen die nötige diplomatische Unterstützung, dann läßt sich nicht absehen, was bevorsteht. Die Verzweiflung, die Wut, die Riesenkraft verleiht, wird sich der Judenheit bemächtigen. Das könnte aber äußerst gefährlich werden, daher es Not tut, sich beizeiten umzusehen. Was würden wir von einem Menschen denken, welcher Flüchtlinge, die flehend und bittend zu ihm gekommen, in dumpfen Kellerräumen einsperren, jeden Verkehr mit ihnen abbrechen und sie zwingen würde, sich den gemeinsten, schmutzigsten und niedrigsten Beschäftigungen zu widmen, um ihr Leben zu fristen! Nach Jahren wären diese unglücklichen Eingepferchten physisch und moralisch ruiniert. Sie hätten sich einen lächerlichen Jargon angewöhnt, komische Gesten, ihre Kleidung wäre vernachlässigt, ihre Augen triefend, ihr Rückgrat krumm, ihre Bestrebungen niedrig und gemein geworden. Dieses Verbrechen wäre ein entsetzliches, aber es wäre immer noch durch die schlechte menschliche Natur erklärlich. Wenn aber die Peiniger die also künstlich Degenerierten jetzt mit Fußtritten behandeln, sich über ihre physischen und moralischen Gebrechen lustig machen und sie mit Spott und Hohn überhäufen würden, dann wäre diese Tat nicht mehr menschlich; sie wäre teuflisch. Aber das Allerhäßlichste am Antisemitismus ist, daß er ein Kampf ist gegen die eigene Mutter, nicht gegen Fremde.

Die Rassenantisemiten werden vielleicht der Meinung sein, daß kein Antisemit der Welt etwas dagegen haben wird, wenn die Juden ins gelobte Land zurückziehen. Wer aber das glaubt, irrt sich gewaltig. Daß die Juden keinen Staat mehr bilden werden, kein Szepter in Juda mehr erblühen, der Tempel nimmer mehr aufgebaut werden wird, ist beinahe ein Dogma aller gläubigen Christen. Rohling spricht diese Meinung der christlichen Theologie offen aus, wenn er schreibt:

»Bekanntlich sagt die Bibel, Israel werde als Volk bestehen bis zum Ende der Zeiten und sich dann auch in der Masse bekehren: eine stete Beglaubigung Christi ist also die Judenschaft vor unseren Augen, aber viele haben Augen und sehen nicht. Bei diesem Anlaß noch eine andere Bemerkung. Christus hat geweissagt, der jüdische Tempel zu Jerusalem werde für immer zerstört werden. Es würde sich für Juda der Mühe lohnen, was Julian der Apostat versuchte, noch einmal zu versuchen. Juda hat Macht, hat Geld, es regiert die Fürsten; auf also, bauet den Tempel, und wenn das Werk gelingt, so ist die Weissagung des Nazareners aufgehoben, seine Gottheit eitler Wahn und wir alle wollen Juden werden.«

Es dürfte nun viele Theologen geben, die insgeheim die Meinung hegen, der Tempel in Jerusalem könnte nun doch einmal wieder aufgebaut werden, was einem kolossalen Dementi der christlichen Lehre gleichkommen würde. Was werden sie nun tun? Alles, was in ihrer Macht liegt, um zu verhindern, daß die Juden je in eine Lage hineingeraten, in welcher sie das Kunststück des Wiederaufbaues probieren können. Sollte es je so weit kommen, daß alle Vorbereitungen zum Exodus getroffen erscheinen, und stellen sich dann über Nacht unerwartete Hindernisse ein, so werden die Juden wenigstens wissen, wo jene zu suchen sind, die die Riegel vorschieben.

Ist einmal das Gros der Juden weg, so werden sich die Christen mit den in Europa zurückgebliebenen Juden wegen deren geringer Zahl sehr gut vertragen, der Antisemitismus wird ausgelebt haben. Im Zionismus liegt das Heilmittel, die Befreiung, die Rettung für Juden; ihn durchzusetzen mit allen Mitteln sollte das gemeinschaftliche Ziel aller Juden und christlicher Philanthropen sein. Denn schimpfen, poltern, fluchen, beleidigen, verdächtigen bringt die Sache nicht vom Fleck; gehandelt muß werden, ruhig, überlegt, systematisch, konsequent, dann wird auch diese Frage leidlich gelöst werden können.


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