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Zwölftes Kapitel.
Am Zaunthor

Am 30. August, einem Sonnabend, kehrte Hauptmann Kinloch wieder im »Weißen Hund« ein, wo Whiting, der Jagdpächter, schon in größter Behaglichkeit saß und ihn herzlich willkommen hieß.

»Gott sei Dank, daß ich wieder hier bin,« bemerkte Whiting bei Tisch. »Ich bin halb tot aus der Londoner Tretmühle hervorgegangen; nichts als Diners und musikalische Abende, Bälle und abermals Bälle und musikalische Abende und Diners und nicht einmal hübsche Frauen – Schönheit scheint aus der Mode zu sein.«

»Wenn's Ihnen aber keinen Spaß macht, weshalb machen Sie denn das Zeug mit?« fragte Kinloch verwundert.

»Wie das so geht – macht man überhaupt etwas mit, muß man viel mitmachen. Ich habe in der That zu viele Bekannte und noch nicht den Mut, die einen oder andern abzuschütteln und mich selbst in Vergessenheit zu bringen. Das nächste Jahrhundert, das ja alle Schäden heilen soll, wird uns hoffentlich die vortreffliche Einrichtung des Stellvertreters bringen, denn weshalb sollte ich nicht irgend einen unbemittelten Mann anstellen, der meine Pflichtbesuche macht, unverdauliche Diners für mich ißt, Besuche vom Land in die Bildergalerieen führt und mit ihnen ins Theater geht?«

»Und welche gesellschaftlichen Leistungen würden Sie sich vorbehalten?«

»Stellen Sie keine so verfänglichen Fragen, junger Freund,« versetzte Whiting lachend. »Sagen Sie mir lieber, da wir heute noch so gemütlich unter uns sind – morgen kommen zwei weitere Schützen – was denn mit dem Goring los ist? Wird er das Mädchen heiraten oder nicht?«

»Darüber weiß ich gar nichts,« erwiderte Kinloch mit kühler Abwehr.

»So? Ich dachte, Sie müßten's doch wissen. Ehrlich gesagt, mache ich mir nicht viel aus dem Burschen, so einnehmend sein Aeußeres und sein Benehmen auch sind. Ich habe ihn in London in etwas auffallender Begleitung gesehen, habe ihn auch in Gesellschaften getroffen und den Eindruck gehabt, daß er ein maßloser Egoist ist, der alles mitnimmt, was er kriegen kann, und sein Lächeln für eine genügende Erwiderung hält. Hier habe ich erfahren, daß er seither mehrmals im Ort war – nicht um zu angeln! Frau Banner hat dunkle Andeutungen über Fräulein Peggy fallen lassen, ich stellte mich aber taub ...«

»In welcher Richtung äußerte sich Frau Banner?«

»Wörtlich weiß ich's nicht mehr,« versicherte Whiting vorsichtig, »aber sie möchte wissen, ob's dem Hauptmann wohl ›ernst‹ sei. Können Sie sich Goring als Ehemann denken? Ich nicht!«

»Selbstverständlich hat er die Absicht, Fräulein Summerhayes zu heiraten.«

»Natürlich, so hoffe ich wenigstens. Sie ist ja auch ein so hübsches, prächtiges Geschöpf! Nun, Sie kennen ja beide und sind jetzt hier, könnten Sie da nicht etwas – etwas nachhelfen?«

»Nein,« sagte Kinloch herb. »Ich dürfte mir nicht anmaßen, mich in Fräulein Summerhayes' Angelegenheiten zu mischen.«

»Nicht? Auch nicht mit einem Wink – einer Frage?«

»Das wäre eine Taktlosigkeit. Ich weiß, daß sie verlobt sind, und wüßte nicht, wie ich dazu käme, mich einzumischen.«

»Kinloch, Kinloch! Ich sehe, Sie sind erst Offizier und dann Mensch – mir wäre es umgekehrt lieber.«

»Sie müssen mich leider nehmen, wie ich bin. – Entschuldigen Sie, ich muß nach meinem Hund sehen.«

Whiting und Kinloch gingen andern Tags zur Kirche, vermieden aber, ohne sich darüber ausgesprochen zu haben, den Travenorschen Kirchenstuhl. Kinloch sah Peggy vor der Orgel, erkannte sie aber mit Sicherheit nur an ihrem Hut; selbst auf diese Entfernung schien sie merkwürdig verändert. Sobald der Gottesdienst zu Ende war, eilte er hinaus, um vor der Kirchenthüre die Travenors zu erwarten. Zuerst kam der pater familias, noch vierschrötiger und bärbeißiger dreinschauend als sonst, nicht unähnlich einem Stier, der jeden, der ihm in den Weg tritt, auf die Hörner nehmen will, dann folgte seine Frau, recht blaß und kränklich, mißvergnügter denn je. Kinloch trat freundlich auf das Paar zu, wurde aber nur mit einer steifen Verbeugung und saurer Miene begrüßt. Peggy aber, die nun nachkam, blieb stehen und reichte ihm die Hand.

»O, Herr Kinloch, wie ich mich freue, daß Sie hier sind.«

»Sehr liebenswürdig,« war alles, was er herausbrachte, denn im hellen Tageslicht und in unmittelbarer Nähe war ihr Anblick so erschreckend, daß es ihm fast den Atem benahm. Die fröhlichen, leuchtenden Augen waren matt und eingesunken, das Gesicht fast verzerrt, der kindlich weichen Rundung beraubt, die frischen Farben in fahle Blässe verwandelt – kurz, er sah ein Mädchen vor sich, dem bange Ungewißheit den Schlaf geraubt und viel heiße Thränen erpreßt hatte und in dem die jugendfrische, kindliche Peggy kaum wieder zu erkennen war.

Seine Gedanken mochten sich auf seinen Zügen abgespiegelt haben, denn Peggy wandte sich hastig von ihm ab und eilte, ohne ein weiteres Wort an ihn zu richten, den Ihrigen nach. Was war mit ihr vorgegangen? Was hatte er den Travenors zuleide gethan? Ward er als Freund des treulosen Goring einfach mit Verachtung behandelt?

Diese Fragen beschäftigten Kinloch, während er mit Whiting dem Gasthaus zuschritt. Dieser schwieg unterwegs, aber vor der Hausthüre fragte er: »Haben Sie je einen Menschen in so kurzer Zeit so erschreckend verändert gefunden?«

»Nie,« versetzte Kinloch einfach.

»Ich muß sagen, mir hat ordentlich der Atem gestockt, als ich das weiße Gesichtchen und diese trostlosen Augen sah,« fuhr Whiting fort. »Keine Schönheit hält den Qualen eines so feinfühligen, hochgestimmten Gemüts stand, und wenn's mit der Schönheit vorbei ist, so ist's mit Freund Goring auch aus und vorbei. Würde mich gar nicht wundernehmen, wenn er einfach verduftete!«

Kinloch erwiderte nichts darauf; er kannte den Wert des Schweigens.

»In dieser Ruhe und Stille hier wird man selbst still und regt sich weniger leicht auf, aber ich sage Ihnen, dieses Mädchens Augen mit ihrem Blick getäuschter Hoffnung verfolgen mich förmlich! Meiner Treu – ich hätte gute Lust, selbst in die Bresche zu treten!«

»Das wäre zwecklos,« sagte Kinloch trocken, »und Sie thun besser, sich den Verdruß über einen Korb zu ersparen. Fräulein Summerhayes wird keinen andern als Goring weder lieben, noch heiraten.«

»So? Sie scheinen ja erstaunlich eingeweiht zu sein.«

»So viel weiß ich jedenfalls.«

»Um so beklagenswerter ist sie, denn ob Goring sie heiraten wird, das ist eine andre Frage!«

Damit begab sich Whiting auf sein Zimmer und Hauptmann Kinloch erlebte nach dem zweiten Frühstück die Ueberraschung, daß »der Fuchs« ihm auflauerte und ihm geheimnisvoll ein Briefchen zusteckte, das von Frau Travenor kam.

»Geehrter Herr Hauptmann!« schrieb sie. »Wollen Sie die große Güte haben, mich heute abend um neun Uhr an dem grünen Thor unsrer Weide zu erwarten. Ihre ergebene Hanna Travenor.«

»Ein Stelldichein! Seine erste Regung war, nein zu sagen – weshalb sollte er sich in diese leidige Geschichte mischen? Dann trat ihm Peggys Bild vor die Seele, ihre herzliche Freude bei seinem Anblick, und er fühlte, daß er sich nicht weigern dürfe, ihr zu Hilfe zu kommen. Rasch sagte er dem auf Antwort wartenden Boten: »Sagen Sie, meine Antwort sei ›Ja‹.«

»Und die Bezahlung?« quiekste der Troddel.

Kinloch warf ihm einen halben Schilling zu.

»Was der andre Herr Hauptmann ist,« bemerkte er, die Münze umständlich in seinem Beutel bergend, »der gibt mir immer einen ganzen Schilling und manchmal sogar noch ein Glas Bier.«

Darauf watschelte er grinsend auf seinen Plattfüßen die staubige Landstraße entlang.

Als Kinloch abends neun Uhr an das grüne Thor kam, stand Frau Travenor, ein Tuch um den Kopf geschlungen, schon in banger Erwartung an der Innenseite.

»Wie gut von Ihnen!« rief sie, ihm die abgezehrte Hand entgegenstreckend. »Ich hätte gewiß nicht gewagt, Sie in dieser Weise um eine Unterredung zu bitten, wenn ich Sie in mein Haus laden dürfte; sprechen muß ich Sie aber unbedingt.«

»Und darf ich bitten, warum nicht in Ihrem Haus?«

»Weil Sie Hauptmann Gorings Freund sind, ihn uns vorgestellt haben und weil sein Name in Gegenwart meines Mannes nicht mehr genannt werden darf.«

»Was hat er denn angestellt?« fragte Kinloch mit scheinbarer Gelassenheit.

»Es handelt sich um das, was er nicht thut,« lautete die Antwort. »Sie wissen ja, daß er sich vor vier Monaten mit Peggy verlobt hat. Seither schreibt er ihr, schickt ihr Bücher und Blumen, ist sehr häufig von Sonnabend bis Montag im ›Weißen Hund‹, besucht uns aber nie, hat nie bei mir oder meinem Mann um sie angehalten, kurz, benimmt sich, als ob wir gar nicht auf der Welt wären! Er veranlaßt das arme Kind, ihn im Schloßgarten zu treffen, man sieht sie miteinander und die Dorfleute klatschen, fassen alles gemein auf und verlästern mein Schwesterchen ...«

Bei diesen Worten verlor sie die Fassung, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte so bitterlich, daß ihr ganzer Körper bebte. Sie raffte sich aber plötzlich wieder auf und fuhr mit heiserer, gepreßter Stimme fort: »Meinem Mann drückt die Schande das Herz ab. Er, der sein Haupt so hoch trug und den Menschen so wohl wollte, scheut sich jetzt, einen Markt, einen landwirtschaftlichen Verein zu besuchen aus Angst vor Fragen, Anspielungen, Witzen, Spottreden. Wenn die Sache so fortgeht, sagt er, muß Peggy aus dem Haus ... mit Hans ist nicht zu spaßen ... was er einmal gesagt hat, geschieht ... o, was soll dann aus mir werden ...«

»Aber Frau Travenor, weshalb machen Sie keinen Gebrauch von ihren mütterlichen Rechten?« fragte Kinloch, der eine hohe Meinung von der Disziplin auch in der Familie hatte. »Weshalb lösen Sie das Verhältnis nicht auf und verbieten Fräulein Summerhayes diese Zusammenkünfte?«

»Ach, Herr Hauptmann, wie wenig kennen Sie das Mädchen! Wenn die einmal einen Entschluß gefaßt hat, rüttelt niemand daran und sie steigt wie eine Nachtwandlerin über alle Hindernisse hinweg. Sie streitet nicht, sie macht keine Scenen, sie thut einfach, was sie will, ob sich's nun darum handelt, ein Hühnchen vom Schlachten zu retten, eine Katze aus dem Wasser zu ziehen oder mit Goring zusammenzukommen – es geschieht.«

»Dann würde ich an Goring schreiben und ihm mitteilen, daß Sie den Verkehr mit Ihrer Schwester nicht dulden können, wenn er sich nicht über seine Absichten ausspreche.«

»Das habe ich gethan – zwei- oder dreimal. Mit unsäglicher Mühe, denn ich wollte ihn nicht verletzen und doch bestimmt auftreten.«

»Und was erfolgte darauf?«

»Nichts. Goring scheint dem weit verbreiteten Glauben zu huldigen, daß Briefe sich selbst beantworten.«

»Dann würde ich die Schwester aus dem Weg schaffen.«

»Leichter gesagt, als gethan – wir haben keine Verwandten.«

»Auf welche Weise verabredet Goring die Zusammenkünfte?«

»Der Fuchs bringt ein Briefchen, und dann geht Peggy ab, strahlend, sieghaft, glücklich! Ich kann Gorings Ankunft in Nieder-Barton immer von ihrem Gesicht ablesen. Dann gehen sie unter den alten Bäumen auf und ab, bis es dunkelt – und auch im Dunkeln – und ich sitze daheim hilflos, machtlos!«

»Ich beklage Sie aufrichtig, Frau Travenor!«

»Und das Furchtbarste für mich ist, daß ich mich so schuldig fühle ... ach! Herr Hauptmann, ich allein bin schuldig ...«

»Ich wüßte nicht, wie das zuginge!«

»Nicht? Nun, dann will ich's Ihnen sagen! Sie wissen ja, daß ich immer unzufrieden war mit diesem versumpfenden Dasein, diesem freilich sorgenlosen, aber auch freud- und ereignislosen Leben. Mein persönliches Sehnen und Streben kam allerdings zur Ruhe durch körperliche Krankheit, aber als Peggy so schön heranwuchs, da packte mich neuer Ehrgeiz – für sie. Sollte sie ungewürdigt hier verblühen und die Frau irgend eines kleinen Gutspächters werden, für den's die nächste Beste auch thäte? Als ich Sie und Goring zum erstenmal traf, keimte ein Plan in mir – am Sonntag darauf in der Kirche sah ich Goring das Mädchen mit den Augen verschlingen – ich überlegte mir's wohl, ich betete inbrünstig, Gott möge mir den rechten Weg weisen, und als der Gottesdienst vorüber war, hatte ich den Vorsatz gefaßt, nicht einzugreifen. Als ich aber dann den langweiligen Sonntagnachmittag daheim saß, stand Goring immer wieder vor mir und sein enttäuschter Blick bei unserm kurzen Abschied. Hatte ich mit der Gartenthüre den Zugang zu Peggys Glück verschlossen? So zog ich mich denn hastig an, veranlaßte Peggy sogar, den neuen Hut aufzusetzen, denn – von meinem Schlafzimmer aus sah ich die beiden Herren herankommen, und es war kein Zufall, daß wir gerade aus dem Garten traten!«

»Beruhigen Sie sich darüber, Frau Travenor! Goring hätte auch ohne Sie Mittel und Wege gefunden, das hübsche Mädchen wiederzusehen!«

»Das bezweifle ich, denn an dem Blumenfest und dem Tanz hätte ich sie unter gewöhnlichen Umständen nicht teilnehmen lassen, und sie würde vielleicht nicht mehr an ihn gedacht haben, wenn ich unselige Thörin nicht sein Lob gesungen hätte! Das benützt sie jetzt als Waffe gegen mich! Ich, ich habe meiner Schwester Leben zerstören helfen, denn sie hängt an ihm mit der ganzen Gewalt einer ersten Liebe – wenn er sie verläßt, wird sie's das Leben kosten!«

»Beste Frau, Sie übertreiben wohl ein wenig!«

»Haben Sie denn nicht gesehen, wie verändert sie ist?«

Kinloch schwieg, denn er wußte nichts dagegen zu sagen.

»Wenn die Briefe ein paar Tage ausbleiben, geht sie umher wie eine Sterbende, ißt nicht, schläft nicht, hat keinen Augenblick Ruhe; kommt dann ein Brief, so lebt sie auf wie eine Blume, die am Verdorren war. Es ist empörend, daß dem Mann überhaupt die Macht verliehen ist, ein Mädchen so elend oder so glücklich zu machen!«

»Als ob Frauen nicht dieselbe Macht über Männer ausübten!«

»Ueber Sie gewiß nicht,« bemerkte Frau Travenor, ihn fest ansehend. »Und nun – ich wollte Sie ja fragen, ob Sie nicht mit Goring sprechen könnten? Wir sind in seinen Augen gewöhnliche Bauersleute, die man als Luft behandeln kann, Ihnen aber müßte er Rede stehen. Peggy glaubt bedingungslos an ihn – er kann kein Unrecht thun, aber wir, und in mich hat sie kein Zutrauen mehr, weil ich erst für ihn sprach und jetzt gegen ihn bin. Sie sagt, sie werden sich schon heiraten, Eile habe es ja nicht, und er habe sich bei uns nur darum nicht ausgesprochen, weil wir ihm nicht angenehm seien – das ist in ihren Augen ein vollkommen stichhaltiger Grund!«

Sie schwieg eine Weile und setzte dann hinzu: »Mein Mann hat gehört, daß Goring ein Spieler sei und durchaus kein wünschenswerter Freier für ein unschuldiges Mädchen.«

»Wenn er sie wirklich liebt, wird sie ja vielleicht ... Einfluß auf ihn gewinnen,« brachte Kinloch mühsam heraus.

»Gott gebe es! O können Sie mir denn nicht helfen?« sagte die vergrämte Frau mit flehentlich ausgestreckten Händen.

»Frau Travenor, Sie wissen ja, es ist immer eine böse Sache, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen – ich sage fremde, denn Freunde sind Goring und ich nicht. Hat er wirklich die Absicht, Ihre Schwester zu heiraten, so läßt sich nichts dagegen einwenden, da sie ihn ja haben will, ist ihm dagegen das Verhältnis nur ein Zeitvertreib, dann – dann werde ich Mittel und Wege finden, ihn für immer zu entfernen ... verlassen Sie sich darauf!«

Mit diesem ritterlichen Gelöbnis schied er von der verängstigten Frau und der erste Mensch, auf den er im Flur des »Weißen Hunds« stieß, war – Hauptmann Goring!


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