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Die »Port Edes« schlug auf ihrer Fahrt über den Atlantischen Ocean den nördlichen Kurs ein, das heißt eine Richtung, die die Bank von New Foundland rechts liegen ließ und fast auf Kap Hatteras traf, wandte sich dann gegen den Golfstrom und segelte westlich der Bahamainseln in den Floridakanal. Sie hatte gutes Wetter gehabt, und trotz der Ungeschicklichkeit der Maschinisten betrug ihre durchschnittliche Geschwindigkeit zehneinhalb Knoten.
Auf einem vor dem Winde geschützten Platze des Verdecks saß Onslow auf einem Hängemattenstuhl mit einer Pfeife zwischen den Zähnen und Pierre Lotis »Fantôme d'Orient« auf den Knieen. Er dachte darüber nach, wie es wohl käme, daß das Spritzwasser einer so tiefblauen, durchsichtigen See so farblos und undurchsichtig sei, und indem sein Blick einem Haufen gelbgrünen Golfseetangs folgte, wurde seine Aufmerksamkeit auf zahlreiche kleine, graue Wasserstrahlen gelenkt, die von Walfischen herrührten, welche mit ihren Kälbern eine Sommerreise in die lauwarmen Gewässer des Südens unternommen hatten. Dahinter erblickte er mehrere Leuchttürme, womit die Regierung der Vereinigten Staaten die gefährliche Küste von Florida besetzt hat, und am fernen Gesichtskreise ragten die windgepeitschten Wimpel einiger Palmen empor. Hinter diesen Palmen lag die geheimnisvolle Zufluchtstätte der Everglades.
Ein Gedanke schoß durch Onslows Gemüt, ein Gedanke an das Trauerspiel, das sich in den nächsten Tagen im Schutze dieses Schlupfwinkels abspielen sollte, und seine Stirne zog sich in Falten, aber er verscheuchte den aufdringlichen Gesellen und wandte sich wieder seinem Roman zu. Im Buche des Schicksals stand jedoch geschrieben, daß er für jetzt nichts weiter lesen sollte.
Durchs Gitter des Maschinenraums drang ein Schreckensschrei, dem ein Gewirr von Stimmen folgte; dann kam ein längeres Rasseln, als ob eiserne Werkzeuge zu Boden geworfen würden, und das Geräusch von Schritten erschrockener Männer auf den Sprossen der Leitern.
Ein Lächeln huschte über Onslows Züge, als ob ihm etwas einfalle, machte aber sogleich einem Ausdruck der Besorgnis Platz. Er erhob sich von seinem Stuhle, schritt nach Backbord hinüber und blieb am Rande des Quarterdecks stehen. Hier trat der Kapitän, der aus dem Kartenhaus kam, zu ihm. Aus der unter ihnen liegenden Thür der Vorderkajüte strömte ein Haufen angsterfüllter Männer, der menschliche Inhalt des tiefsten Raumes. Kettle richtete den Blick auf den Obermaschinisten und redete ihn mit bitterem Hohne an: »Guten Nachmittag, Mr. Mac Fee. Schönes Wetter für diese Jahreszeit, he? Hat Ihre Bande vielleicht vergessen, daß sie bezahlt wird, diesen Dampfer den Mississippi hinauf bis zu einer Stadt Namens New Orleans zu bringen? Oder hat sie die andre Wache überredet, sie ein Weilchen abzulösen?«
»Großer Gott, Mann, machen Sie keine Scherze,« erwiderte der Obermaschinist. »Sie erinnern sich wohl noch, was der Kerl auf dem Kai in Liverpool sagte? Na, er hat Wort gehalten; wir haben schon eine Höllenmaschine gefunden.«
»So?« näselte Kettle ruhig.
»Mann! Wir können jeden Augenblick auf den Grund der See befördert werden!«
»Ach was! Sie alte Seegroßmutter!«
»Aber sehen Sie doch selbst, Herr. Wenn das nicht ein Heizer unter den Kohlen gefunden hätte, wären wir jetzt, Gott weiß, wo.«
»Zeigen Sie mal her,« befahl der Kapitän kurz, und der kräftige Oberheizer reichte dem Kapitän ein Kästchen, das so bemalt war, daß es wie ein Stück Kohle aussah.
»Als ich's aufhob, hörte ich's inwendig ticken,« sprach er dabei, »aber als ich's ein paarmal hin und her drehte, hörte das Ticken auf.«
Der Kapitän nahm den verdächtigen Gegenstand in die Hand, und das Ticktack, Ticktack wurde wieder hörbar, worauf die rußigen Männer auf dem Unterdeck die Köpfe zwischen die Schultern zogen, als ob sie sich auf einen Schlag vorbereiten wollten, und langsam nach dem Vorderdeck des Schiffes zu drängen begannen.
»Das kann vielleicht etwas Gefährliches sein, vielleicht auch nicht,« sprach Kapitän Kettle und warf das Ding über Bord. »Sah mir beinahe aus wie ein Spielzeug, um alte Weiber zu erschrecken. Nur einer von euch hat ein bißchen Courage im Leibe, und hier ist eine halbe Krone für ihn.«
Der Oberheizer, der die Höllenmaschine gebracht hatte, berührte seine Mütze mit seinen schwarzen, fettigen Fingern.
»Was euch andern anbetrifft, so müssen euch eure Mütter mit Hasenmilch aufgepäppelt haben. Eine Fliege kann euch ins Bockshorn jagen, ihr feigen Hunde! Wenn das Ding gefunden ist, na, dann ist's eben gefunden, und der da hat's an Deck gebracht, und damit holla! Wenn ihr mir noch die geringste Störung macht, werde ich dafür sorgen, daß keiner mehr eine Stelle findet, so lange es noch Wasser genug in der Welt gibt, worauf ein Schiff schwimmen kann. Darauf könnt ihr euch verlassen!«
Die Leute bewegten sich langsam nach der Thür der Vorderkajüte, wo sie die scharfe Zunge des Kapitäns nicht mehr erreichen konnte, und die Maschinisten faßten Mut und stiegen zuerst wieder in den Maschinenraum hinab. Einer von ihnen stieß zufällig mit dem Fuße gegen eine Schaufel, daß es rasselte. Unbewußt gehorchten die Kohlenzieher diesem gewohnten Zeichen und verschwanden in den Bunkern. Die Heizer folgten und das Manometer stieg wieder auf den vorschriftmäßigen Punkt, noch ehe der Gang der Maschine fühlbar langsamer geworden war. Der ganze Vorfall hatte kaum fünf Minuten gedauert.
Kettle schlenderte mit Onslow übers Verdeck nach dem Platze, wo die Stühle im Schatten des Sonnensegels standen.
»Eine nette Bande, wie?« meinte der Kapitän der ›Port Edes‹.
»Ich glaube, sie sind gerade so, wie es unsern Zwecken entspricht. Eine beherzte Bemannung, die sich in den Kopf setzte, im Augenblick der Gefahr bei uns auszuharren, könnte uns gar nicht passen.«
»Na, da brauchen Sie keine Angst zu haben,« erwiderte Kettle. »Hasenherzig wären sie ohnehin gewesen, aber dieses bißchen Uhrwerk, das Sie da zwischen die Kohlen geschmuggelt haben, hat ihnen den letzten Rest von Mut genommen. Jetzt sind sie so, wie wir sie haben müssen. Wenn's zum Bindriemen kommt, wird's heißen: ›Jeder ist sich selbst der nächste.‹ O, sie werden ausreißen wie Schafleder.«
Kettle brach plötzlich ab und starrte düster über den Golfstrom. Ein fliegender Fisch erhob sich aus dem Wasser und schoß wie eine silberne Ratte über die gekräuselten Wellen, ein Schwarm von Delphinen spielte um den Stern des Dampfers und große Flächen ineinander verschlungenen Seetangs schwammen vorüber wie Riffe brauner Korallen.
»Lesen Sie manchmal Gedichte?« fragte der Kapitän plötzlich.
Onslow wandte langsam den Kopf und starrte den Kapitän an. Die Vorstellung, daß dieser kleine Wilde mit dem essigsauren Gesicht von Gedichten sprach, hätte ihn fast veranlaßt, in ein lautes Gelächter auszubrechen.
»Manchmal,« antwortete er jedoch ruhig.
»Das freut mich. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe bisher nicht den Mut gehabt, Sie danach zu fragen, Mr. Onslow, allein jetzt gefallen Sie mir um so besser. Wir haben nun ein gemeinsames Interesse, worüber wir reden dürfen, ohne daß wir uns zu schämen brauchten. Die andre Sache, die uns miteinander verbindet, können wir nicht besprechen und gleichzeitig unsre Achtung voreinander bewahren.«
»Sehr richtig! Die Macht der Verhältnisse hat uns zum Seeraub verbündet, aber ich habe immer Lust, mich zu ohrfeigen, wenn ich daran denke. Unser beabsichtigtes Verbrechen ist keineswegs vom Schimmer der Romantik umgeben.«
»Nicht im geringsten. Byron hat etwas über Seeräuberei geschrieben, aber Byron war kein Seemann und er wußte nicht, was es heißt, einer Schiffsmannschaft den Daumen aufs Auge zu drücken. Ein Dieb wird auf der ganzen Welt als schmutziger Geselle betrachtet, und ein Dieb auf hoher See, der mit dem Abschaum der Erde zu thun hat, muß sich zum grausamsten Vieh der Welt erniedrigen, wenn er Erfolg haben will. Das ist es, glaube ich, was mir Byron verleidet hat. Nein, Mr. Onslow, ich ziehe einen Landdichter vor, der von blumigen Wiesen, Primeln, murmelnden Bächen und solchen Sachen schreibt, die er versteht. Wenn ich so was lese, fühle ich mich vielleicht klein, aber das schadet gar nichts, wenn man das manchmal thut. Sehen Sie, Mr. Onslow, eine Balgerei mit einer meuterischen Besatzung ist Nektar und Ambrosia für mich; so weit ist's mit mir gekommen, Mr. Onslow.«
Sie plauderten und sonnten sich während des Restes des Tages, während die beiden dienstfreien Steuerleute Eisenteile anstrichen und die dienstfreie Mannschaft brummte und rauchte oder im schwülen Vorderkastell schlief. So kam die Stunde des Kajütenthees. Der Kapitän, der am oberen Ende des Tisches saß, beobachtete ein mürrisches Schweigen, während Onslow und die Steuerleute auf dem Fuße steifer Höflichkeit miteinander verkehrten, und dann begaben sich der Kapitän und Onslow zu ihren Stühlen unter dem Sonnensegel auf dem Quarterdeck zurück.
Der Golfstrom rauschte im Kielwasser des Dampfers und die kleinen Wellen einer von keinem Winde bewegten See bespülten die Rostflecken seiner Seiten. Der helle, warme Tag hatte der Dämmerung Platz gemacht, das strahlende Kobaltblau des Himmels war verblaßt und die silberne Sichel des Mondes schwebte wie in mattviolettem Aether, der im Westen noch vom Nachglanz der Sonne durchleuchtet war.
Da, wo sich Gesichtskreis und Himmel trafen, war etwas sichtbar, das wie der Rauch eines Dampfers aussah, was aber, wie sich bei genauerer Betrachtung durchs Fernrohr herausstellte, der Rauch eines Feuers aus der unsichtbaren, niedrigen Küste von Florida war. Es konnte das Lagerfeuer von Fischern auf einer der kleinen, der Küste vorgelegenen Inseln, die Keys genannt werden, sein, oder auch ein Feuer jagender Seminolen jenseits des Waldgürtels, der die Küste umgibt, inmitten des unbekannten Wirrsals von Bäumen, schilfartigen Gräsern und Lagunen, den Everglades selbst.
»Eine solche Stunde kann einem das Leben lebenswert erscheinen lassen, Mr. Onslow,« sprach Kettle, nachdem sie lange schweigend dagesessen hatten, bis die laue Nacht herabgesunken war und die Sterne zu funkeln begannen.
Der andre nickte und sog an seiner erloschenen Pfeife.
»Kein Dichter hat jemals so etwas zu Papier zu bringen vermocht,« fuhr Kettle fort, »wahrscheinlich, weil sie es niemals selbst gesehen haben. Ich hab's mal versucht, aber es ist nichts Gescheites daraus geworden.«
»Was? Sie, Sie sind Dichter?« stieß Onslow, über die Maßen überrascht, hervor.
»So dann und wann werfe ich einen Vers aufs Papier,« antwortete der Schiffer gelassen. »Gewöhnlich kommt mir die Stimmung dazu unter Umständen, wie heute, wenn ich die Mannschaft schlecht behandelt habe, und es folgt dann eine Stunde der Ruhe und des Nachdenkens hinterher.«
»Ich verstehe: die Wirkung des schroffen Gegensatzes,« sprach Onslow. Er dachte bei sich, diese Gedichte müssen zur blutigen Art gehören und beinahe ans Tragische streifen, allein er hätte mit dieser Vermutung kaum weiter am Ziele vorbeischießen können. Kettle zog ein in der Mitte zusammengefaltetes Schreibbuch aus der Tasche, errötete unter seiner braunen Wetterfarbe und reichte Onslow das Buch. Dieser strich den Bruch glatt und fing an beim Lichte, das durchs Fensterchen des Kartenraumes schien, leise für sich zu lesen. Zu seiner großen Ueberraschung waren es lauter Sonette und Balladen, wie sie ein überspanntes Schulmädchen hätte schreiben können.
Kein Wort von der See, worauf doch der Verfasser sein Leben verbracht hatte, oder von Dingen, die sich auf die See beziehen, worum sich seine ganze Thätigkeit drehte, kam darin vor. Darauf verstand er sich zwar wie wenige, aber sie erschienen ihm gewöhnlich und gemein. So kam es, daß er den Frühling, den er niemals am Lande geschaut, in einer Ode besungen und Liebeslieder an Damen gedichtet hatte, denen er nirgends begegnet war als in den Blättern billiger Romane und Novellen. Alles war Einbildung, und zwar ungeschulte, zügellose Einbildung.
Das Ergebnis war, daß Onslow die Gedichte zum Totlachen fand und von einem wahnsinnigen Verlangen erfüllt war, herauszuplatzen, aber während der rotbärtige kleine Wilde ihn erwartungsvoll anstarrte, schien es ihm doch nicht geraten, auch nur den Schatten eines Lächelns in seinen Mundwinkeln sichtbar werden zu lassen. Er mußte schweigend ausharren und genießen.
In einem der Gedichte, offenbar einem Stück aus dem Leben des Verfassers, sprach dieser von sich als von »der schüchternen, flinken Gazelle«, in einem andern legte er seine Worte einer »züchtigen, girrenden Turteltaube« in den Mund, die zu einer »Jungfrau, wie eine Sylphe schön und stolz«, sprach, welche zur Zeit, wo die Begegnung gedacht war, die »bezaubernde, entzückende Gebieterin in eines andern Ritters Schloß« war. Eine »Ode an den Unerreichten«, die mit den Worten anhob: »Braunhaariger Alfred, Bruder-Barde«, war augenscheinlich an einen Zeitgenossen gerichtet, und das Altertum war in »Kleopatra, ein Klagelied« verherrlicht, das, wie eine Anmerkung besagte, nach der Melodie zu »Grönlands eisige Felsenhöhen« gesungen werden konnte.
Inzwischen rückte der Dichter unruhig auf seinem Stuhle hin und her. Er hatte das Lampenfieber, das der Anfänger empfindet, wenn er vor die Oeffentlichkeit tritt, noch nicht überwunden, er schmachtete nach Beurteilung, womöglich günstiger. Endlich faßte er den Mut, darum zu bitten.
»Sie sind ein wunderbarer Mann,« antwortete sein Gefährte aufrichtig, »und wenn ich diese Gedichte nicht mit meinen eigenen Augen gelesen hätte, würde ich Sie nicht für fähig gehalten haben, sie hervorzubringen.«
Der Dichter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und war im Begriffe, den Gegenstand weiter zu verfolgen, als etwas an sein Ohr schlug, das seinen Gedanken eine andre Richtung gab.
»Wahrhaftig! Die Maschine stoppt ab! Was nun wieder los ist, möchte ich wissen?«
Er sprang auf und beugte seinen Kopf lauschend vor. Das Trampeln schwerer Stiefel wurde auf den Treppen des Maschinenraumes hörbar, dann folgten Stimmengemurmel und Schritte vom Vorderkastell, und bald darauf begann ein Strom von Männern die Treppen des Quarterdecks zu ersteigen. In dem zunehmenden Stimmengewirr wurden Sätze verständlich, die sich aufs Gold bezogen: »Eine halbe Million Goldfüchse, Jungen!« und unverkennbare Drohungen wie: »Wir wollen den Ollen schon Mores lehren, oder er fliegt über Bord!«
Nach offenbar getroffener Abrede versammelten sich die Leute an der Backbordseite des Quarterdecks.
»Meuterei, das ist los!« bemerkte Kettle halblaut.
Er war kalt wie Eis und im Augenblick über das zu befolgende Verfahren klar.
»Mr. Onslow, holen Sie sich Ihre Pistole aus dem Kartenraum; meine habe ich in der Tasche. Wir sind unser zwei gegen die ganze Bande, aber wir werden schon mit ihnen fertig werden. Irren Sie sich ja nicht, es wird eine rote Nacht geben, aber wir wollen ihnen eine Todesangst beibringen, woran sie bis an ihr Ende denken sollen, das heißt, die, die dann noch übrig sind. Holen Sie Ihre Pistole rasch und reiben Sie sich die Augen, daß Sie zum Schießen bereit sind.«