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Mr. Shelf hatte seine Pläne für einen Abgang de luxe gemacht und schmeichelte sich mit der Hoffnung, sie ohne Schwierigkeiten ausführen zu können. Er wußte genau, wann die Polizei kommen würde, um ihn in seinem Hause in Park Lane zu verhaften, und war in seinem eigenen Brougham so zeitig von dort abgefahren, daß er einen genügenden Vorsprung hatte. In Newport war er aus dem Eisenbahnwagen gestiegen, während sich die Behörden in der süßen Einbildung wiegten, er sei noch auf der Reise nach Liverpool. Hierauf war er mit George und einer kleinen ledernen Handtasche über die schmale Laufbrücke geschritten, die die »Gazelle«, einen seiner eigenen Dampfer, noch mit dem Quai verband.
»Ihre Koffer sind alle da,« sprach der Kapitän, als Shelf ihn begrüßte.
»Und der Wein?«
»Neun Kisten sind in der Vorratskammer der Kajüte verstaut, und mein Steward hat alles andre, was Sie bestellt haben, besorgt. Zum Koch ist es mir gelungen, einen Mann zu bekommen, der früher auf einem großen Cunarddampfer in Dienst gestanden hat, natürlich gegen entsprechende Bezahlung, aber Sie hatten mich ja angewiesen, darauf nicht zu sehen.«
»Ganz recht, Kapitän Colson, ganz recht. Geld darf nicht in Betracht kommen, wenn es sich um die Gesundheit handelt, und meine ärztlichen Ratgeber versichern mir, daß es geradezu gefährlich für mich wäre, noch länger in England zu bleiben. Ist alles zur Abfahrt bereit?«
»Vor einer Stunde schon sind wir mit dem Einnehmen der Kohlen fertig geworden. Wir haben nur noch auf Sie gewartet.«
»Dann entziehen Sie mir keine Minute meiner sauer verdienten Ruhetage mehr,« entgegnete Shelf mit einem zufriedenen Lächeln. »Schwingen Sie Ihren Zauberstab und entrücken Sie mich den Geschäftssorgen und dem Kohlenstaub von Newport so rasch Sie können. Ich will jetzt hinuntergehen und etwas zu schlafen versuchen, und wenn ich wieder erwache, wird mich hoffentlich die reine Seeluft des Kanals von Bristol begrüßen.«
Der Kapitän war ein praktischer Mann, auf den diese überschwengliche Sprache keinen Eindruck machte.
»Schön, Herr,« sagte er, »ich werde auf die Kommandobrücke gehen, und dann soll das Schiff bald unterwegs sein.«
Shelf ging mit George hinab, entkleidete sich und legte sich zu Bett, und während der Dampfer den Hafen verließ und durch die rötlichen Wellen der weiten Flußmündung hinabfuhr, schlief er friedlich.
Als er wieder erwachte, begann er sogleich, alles zu thun, was nötig war, sich von seinem bisherigen Leben zu lösen. Sein gewöhnlicher Alltagsanzug, die steife, schwarze Kleidung, worin er zu predigen, im Unterhause seine Reden zu halten und seine Geschäfte in der City zu besorgen pflegte, lag in einem unordentlichen Haufen auf dem Fußboden seiner Koje. Er öffnete das Fensterchen und ließ ein Stück nach dem andern in die sonnigen Wogen fallen, die draußen vorbeischossen. Dann entnahm er seinem Koffer einen Anzug von leichtem, auffallend gemustertem Stoff, braune Stiefel und einen kecken Strohhut, und in zehn Minuten war er ein andrer Mann. Das gleisnerische Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, und zwischen seinen Lippen steckte eine ausgezeichnete Cigarre. Seit fünfzehn Jahren hatte er nur heimlich geraucht, und als der blaue, wohlriechende Dampf jetzt emporstieg, war es ihm, als bringe er seiner neu gewonnenen Freiheit ein Dankopfer.
Ein ehrerbietiger Steward klopfte an seine Thür und meldete, das Frühstück sei aufgetragen. Shelf trat in die Hauptkajüte und warf seine Cigarre weg. Der Kapitän und der zweite Steuermann speisten mit ihm, und man sah ihnen am Gesicht an, daß sie sich der auserlesenen Speisefolge gegenüber, die der Koch anstatt des gewöhnlichen Thees und kalten Aufschnitts heraufschickte, nicht zu Hause fühlten. Aber Shelf übernahm die Führung, er ließ Champagner kommen, um auf eine glückliche Reise anzustoßen, und entwickelte sich als so liebenswürdiger Wirt, daß sie ihre Befangenheit bald verloren. Ein neuer Geist schien in den Mann gefahren zu sein. Er war witzig, spaßhaft, frivol und erzählte Geschichten, die selbst in den Zügen des Kapitäns ein bedenkliches Grinsen hervorriefen; mit einem Wort, er zeigte sich im Lichte einer so unverhohlenen Sündhaftigkeit, daß Colson, der schon viele Jahre in seinen Diensten stand, nicht umhin konnte, die Kraft, womit er diese bisher niederzuhalten und zu verheimlichen gewußt hatte, zu bewundern.
George saß auf dem gepolsterten Deckel einer Kiste und freute sich über Shelfs verändertes Wesen, denn Shelf war Georges ganze Welt. Er war ein sehr verderbter Hund.
Allein die heitere Stunde sollte plötzlich gestört werden. Während Shelf seine neuen Freunde darüber belehrte, wie wohlthuend und gesund ein feines Schnäpschen nach dem Frühstück sei, wurde das Ruder des Dampfers hart Backbord gelegt, um einer Fischersmack auszuweichen, und während er sich eine Cigarette aus seiner schönen silbernen Dose auswählte, hielt die Dampfsteuervorrichtung den geeigneten Augenblick für gekommen, in Unordnung zu geraten, und ehe er sich das zierliche Röllchen noch angezündet hatte, saß der Dampfer auf einem der Insel Lundy vorgelagerten Riffe fest.
Der dienstthuende Offizier auf der Kommandobrücke that sein Möglichstes, das Schiff mit Gegendampf abzubringen, allein es war infolge seiner großen Fahrgeschwindigkeit zu fest aufgerannt.
Shelfs Wörterbuch zeigte eine ganz überraschende Reichhaltigkeit. Sein Fluchtplan drohte zu mißlingen, die Furcht vor Schlimmerem als dem Tode überkam ihn, und er wünschte den Steuermann, den Dampfer und alles, was darin war, zu allen Teufeln. Der Kapitän meinte, die Schuld treffe den Lotsen, der noch an Bord war und das Schiff führte, und nun verwünschte Shelf auch diesen in mehr ausdrucksvoller, als gewählter Sprache, mit einem Wort, er war in einem geradezu krankhaften Zustande fassungsloser Wut und Leidenschaft.
Nach und nach beruhigte er sich jedoch, und als sich die Aufregung an Bord etwas gelegt hatte, nahm er den Kapitän beiseite, um vertraulich mit ihm zu sprechen.
»Wann können Sie das Schiff losbekommen?« fragte er.
»Wenn ich wollte, mit der nächsten Flut, aber ich will nicht. Der erste Offizier ist unten im Raum gewesen und hat mir gemeldet, daß ein halbes Dutzend Platten losgerissen ist. Es thut mir leid, Mr. Shelf, aber wir müssen zurück und docken.«
»Mann!« unterbrach ihn Shelf leidenschaftlich, »Sie müssen mit der nächsten Flut loskommen und die Reise fortsetzen. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Großer Gott, Kapitän Colson, Sie haben doch Pumpen! Wozu sind denn die Pumpen, wenn sie so ein kleines Leck nicht unschädlich machen können?«
Der Kapitän sah ihn groß an.
»Sie scheinen die Sache nicht vollständig begriffen zu haben,« sprach er. »Dies ist kein neues Schiff, und es sind wenigstens drei von den wasserdichten Abteilungen eingedrückt worden. Das Schiff ginge unter wie eine offene Blechbüchse, wenn es in tiefes Wasser käme. Natürlich könnten wir das Schiff ja Schiff sein lassen und in den Booten zurückkehren, aber da Sie selbst an Bord sind, wäre es doch möglich, daß die Versicherungsgesellschaft Verdacht schöpfte und sich weigerte, zu zahlen.«
»Mann!« rief Shelf und umklammerte den Arm des Kapitäns, »wir müssen auf jede Gefahr hin weiter, und wenn es nur nach Spanien, nach Frankreich ist.«
»Was soll das heißen?« fragte der Kapitän und sah Shelf befremdet an.
»Ich wage nicht, nach England zurückzukehren.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe Unglück im Geschäft gehabt, Kapitän, und es ist von der größten Wichtigkeit, daß ich einen Monat oder sechs Wochen im Auslande bleibe, bis sich die Aufregung etwas gelegt hat.«
»Oho!« entgegnete Kapitän Colson, »pfeift der Wind aus dem Loche? Und in welchen Geschäften sind Sie unglücklich gewesen?«
»Was kommt denn darauf an? In mehreren. – Kapitän, Sie verlieren die Zeit.«
»So eilig ist die Sache nicht. Darf ich fragen, ob die ›Genossenschaftliche Dampfschiffahrtsgesellschaft‹ auch zu den verunglückten gehört?«
»Ich, hm, ich fürchte, sehr gut steht sie nicht,« entgegnete Shelf.
»Verkracht?« fragte der Kapitän.
»Zum Teufel, ja, wenn Sie es denn wissen wollen. Warum fragen Sie denn so?« brüllte Shelf.
»Weil ich dreihundert Pfund in der Gesellschaft stecken habe.«
»O,« antwortete Shelf in einem andern Tone, »das ist freilich schlimm. Aber,« fuhr er mit einem bezeichnenden Kopfnicken fort, »es ist mir gelungen, bei dem allgemeinen Zusammensturz eine Kleinigkeit für mich beiseite zu schaffen, und wenn Sie mich in Sicherheit bringen, will ich Ihnen Ihre paar Aktien zu fünfhundert Prozent abkaufen.«
»Nein,« versetzte Kapitän Colson, »ich will verflucht sein, wenn ich das thue. Die dreihundert Pfund sind fast mein ganzes Vermögen, aber sie sind ehrlich verdient, und ich werde sie nicht unehrlich retten.«
»Wollen Sie damit sagen,« fragte Shelf mit wachsender Angst, »daß Sie mir nicht forthelfen wollen?«
»Darauf wird's wohl hinauslaufen.«
»Großer Gott, Mann! Die Polizei wird mich festnehmen, und dann gibt es eine Untersuchung, und alles, was ich gethan habe, wird entstellt und mißverstanden werden! Ich komme ins Zuchthaus und bin auf ewig entehrt!«
»Ihre Sache, wenn Sie das verdient haben.«
»Sie Dummkopf!« schrie Shelf von neuem wütend, »sehen Sie denn nicht, daß Sie sich selbst bestehlen? Wenn Sie mich ausliefern, verlieren Sie ihre lumpigen dreihundert Pfund, wenn Sie mich retten, gebe ich Ihnen fünfzehnhundert. Zum Henker, Mann, ich will Ihnen dreitausend geben!«
»Sie sagten, Sie hätten etwas aus dem allgemeinen Zusammenbruch beiseite geschafft und führten es bei sich,« antwortete der Kapitän. »Nun, das werden, wenn die Zeit da ist, diejenigen kriegen, denen es von Rechts wegen zukommt, und ich werde meinen Anteil mit den andern erhalten. Ich kenne zwanzig ehrliche Leute, die alles, was sie besitzen, in Ihre faulen Gründungen gesteckt haben, und ich würde es für schäbig halten, mein eigenes Schäfchen ins Trockene zu bringen, während sie bis auf die Haut ausgeplündert werden. Ich muß Sie ersuchen, Mr. Shelf, meinen Arm loszulassen, oder ich schlage Ihnen die Zähne ein.«
»Dann will ich ein Boot nehmen,« rief Shelf verzweifelt, »und in den Kanal rudern, wo mich vielleicht ein nach auswärts fahrender Dampfer aufnimmt.«
»Das werden Sie gefälligst bleiben lassen,« versetzte der Kapitän. »Dort kommt ein Schleppdampfer, um uns beizustehen. Damit werde ich Sie unter Aufsicht meines ersten Offiziers nach Bideford schicken. Wenn Sie ungemütlich werden, kann es Ihnen blühen, daß Sie die Reise mit einem Paar rostiger Handschellen geschmückt machen. Ich werde,« fügte der Kapitän mit einem bitteren Lachen hinzu, »als der Mann berühmt werden, der Sie abgefaßt hat, als Sie schon fast entwischt waren.«
»Hören Sie mich doch an, nur eine Minute,« flehte Shelf.
»Ihr Gerede kann alles nichts nützen,« entgegnete der Kapitän fest, »und da ist auch schon das Boot im Wasser. Machen Sie, daß Sie hinunterkommen, oder ich lasse Sie von ein paar Mann hineintragen. Sie gehen an Bord des Schleppdampfers, und der erste Offizier wird dafür sorgen, daß Sie in Bideford landen. Was Sie dann weiter thun, ist mir gleichgültig, aber die Polizei wird Sie wohl bald am Kragen haben.«
Shelf betrat das Land in Bideford als ein freier Mann, und ein freier Mann blieb er auch noch für die Nacht und am nächsten Morgen, da noch kein Haftbefehl dort eingetroffen war. Aber die ganze Stadt kannte seinen Namen, und große Menschenmengen umstanden den Gasthof, worin er sich aufhielt. Die Ortspolizei erwartete, er werde sich das Leben nehmen, und in der That drehten sich die Gedanken des Elenden fortwährend um Selbstmord; allein er konnte seinen Mut nicht aus die dazu erforderliche Höhe hinaufschrauben. Mit krankhafter Genauigkeit las er die Zeitungsberichte über den Zusammenbruch und betäubte seine geängstete Seele mit Cognac.
Ueber seine Reise nach London und die neugierigen Menschenmengen an jedem Haltepunkt brauchen wir weiter nichts zu berichten, ebensowenig über die wütenden Versuche, ihn zu lynchen, die ein Haufe seiner Opfer am Bahnhofe von Paddington machte, auch nicht über die allgemeines Aufsehen erregende Gerichtsverhandlung und die furchtbare Armut, worein der größte Teil seiner Opfer geriet. Das alles wurde in der Tagespresse ausführlich besprochen, und die Erinnerung daran ist noch frisch und schmerzhaft genug. Ein andrer kurzer Blick auf ihn muß für jetzt genügen.