Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.

Der ausgehungerte Saint Antoine hatte erst eine Jubelwoche durchgemacht, in der er seinen Bissen hartes bitteres Brot, so gut er konnte, mit dem Hochgenuß brüderlicher Umarmungen und Glückwünsche würzte, als Madame Defarge wieder wie gewöhnlich am Zahltisch vor ihren Kunden thronte. Sie trug keine Rose in ihrem Kopfputz, denn die große Brüderschaft der Spione war schon in dieser einen kurzen Woche so verschüchtert worden, daß sie es nicht wagte, sich der Gnade des Heiligen anzuvertrauen. Die Laternen in der Straße hatten einen gar zu bedeutsamen, elastischen Schwung.

Madame Defarge saß mit verschlungenen Armen in der heißen Morgensonne und betrachtete die Weinstube und die Straße. Da wie dort lungerten einige Gruppen schmutziger, erbärmlich aussehender Müßiggänger, jetzt augenscheinlich im Bewußtsein einer Gewalt, die sie ihrem Elend verdankten. Die zerlumpteste Nachtmütze, die der ungewaschenste Kopf schräg aufsitzen hatte, schien zu sagen: »Ich weiß, wie schwer es mir, dem Bedecker dieses, geworden ist, das Leben in mir zu erhalten; aber weißt du, wie es mir, dem Bedecker dieses, jetzt ein so Leichtes ist, das Leben in dir zu vernichten?« Jeder magere nackte Arm, der vorher ohne Arbeit war, hatte jetzt hinreichend Beschäftigung, wenn er nur zuschlagen wollte. Die Finger der strickenden Weiber waren boshaft lüstern geworden, seit sie wußten, daß sie zerreißen konnten. Saint Antoine sah anders als früher; das Bild, an dem seit Jahrhunderten gehämmert worden war, hatte durch die beendigenden Schläge der letzten Zeit mächtig an Ausdruck gewonnen.

Madame Defarge stand beobachtend da, und in ihren Zügen las man unterdrückten Beifall, wie sich dies von der Führerin der Weiber von Saint Antoine erwarten ließ. Eine aus ihrer Schar saß ihr strickend zur Seite. Diese, das kleine, gedrungene Weib eines verhungerten Krämers und Mutter von zwei Kindern, hatte sich als ihr Leutnant bereits den Ehrennamen »die Rache« erworben.

»Hör'!« sagte die Rache. »Was ist das? Wer kommt?«

Als ob eine von der äußersten Grenze des Saint-Antoine-Viertels bis zur Tür des Weinhauses gelegte Zündschnur plötzlich angezündet worden sei, wälzte sich ein rasch weiter greifendes Murmeln heran.

»Es ist Defarge«, sagte Madame. »Stille, Patriotinnen!«

Defarge kam, die rote Mütze in der Hand, atemlos heran und sah sich um.

»Aufgemerkt überall da!« sagte Madame. »Hört ihn!«

Defarge blieb keuchend im Vordergrunde der gierigen Augen und der weit offenen Mäuler stehen, die sich vor der Tür draußen gesammelt hatten, während sie in der Weinstube aufgesprungen waren.

»Rede, Mann. Was gibt es?«

»Neuigkeiten aus der andern Welt.«

»Wie das?« versetzte Madame verächtlich. »Aus der andern Welt?«

»Erinnert sich jemand hier des alten Foulon, der dem verhungerten Volke zurief, es solle Gras fressen – der da starb und zur Hölle fuhr?«

»Jeder!« antwortete es aus allen Kehlen.

»Die Neuigkeiten betreffen ihn. Er ist unter uns.«

»Unter uns?« klang wieder der allgemeine Ruf: »Tot?«

»Nicht tot. Er fürchtete uns so sehr – und zwar mit Recht –, daß er sich für tot ausgeben und zum Schein ein großartiges Leichenbegängnis halten ließ. Aber man hat ihn auf dem Land draußen versteckt lebend aufgefunden und hierher gebracht. Ich bin Zeuge gewesen, wie man ihn eben gefangen auf dem Stadthause ablieferte, und sagte ihm, daß er uns nicht ohne Grund fürchtete. Sprecht ihr alle – hatte er nicht Ursache dazu?«

Wenn es der unglückselige, mehr als siebzigjährige alte Sünder nie zuvor gewußt hätte, so würde ihn der auf diese Frage antwortende gemeinsame Ruf aufs gründlichste belehrt haben.

Dann folgte ein Augenblick tiefer Stille. Defarge und sein Weib sahen einander scharf an. Die Rache beugte sich nieder, und es erscholl der wilde Ton einer hinter dem Zahltische stehenden Trommel, die sie anschlug.

»Patrioten!« rief Defarge mit entschiedener Stimme, »sind wir bereit?«

Im Nu hatte Madame Defarge ihr Messer in dem Gürtel. Die Trommel scholl durch die Straßen, als seien sie und der Trommler herbeigezaubert worden; die Rache rannte unter furchtbarem Gezeter, die Arme wie vierzig Furien zumal über dem Haupte zusammenschlagend, von Haus zu Haus, um die Weiber aufzubieten.

Die Männer waren schrecklich, wie sie in ihrem blutgierigen Zorn zu den Fenstern herausschauten, nach der nächsten besten Waffe griffen und in die Straßen herausstürzten: aber die Weiber boten einen Anblick, der dem Kühnsten das Blut erstarren machen konnte. Von den Geschäften ihrer armen und kahlen Haushaltung, von ihren Kindern und von ihren Alten und Kranken hinweg, die nackt und verhungert auf dem Boden lagen, stürmten sie mit aufgelösten Haaren hinaus und erregten sich gegenseitig durch die wildesten Rufe und Handlungen bis zum Wahnsinn. »Der Schurke Foulon ist gefangen, Schwester! Der alte Foulon gefangen, Mutter! Der elende Foulon gefangen, Tochter!« Dann stürzte ein Dutzend anderer in ihre Mitte, die sich die Brust zerschlugen, das Haar zerrauften und in den Ruf ausbrachen: »Foulon noch am Leben! Foulon, der den verhungerten armen Leuten sagte, sie sollen Gras fressen! Foulon, der meinen armen Vater Gras fressen hieß, als ich ihm kein Brot zu geben hatte! Foulon, der meinem Kinde Gras zu saugen empfahl, als diese Brüste versiegt waren vor Mangel! O Mutter Gottes, dieser Foulon! O Himmel, unsere Leiden! Höre mich, mein totes Kind und mein vor Elend verkommener Vater – ich schwöre es auf meinen Knien, auf diesen Steinen, dich zu rächen an Foulon! Männer, Brüder, Jünglinge, wir verlangen das Blut, den Kopf Foulons! Gebt uns das Herz Foulons – gebt uns Foulon mit Leib und Seele! Reißt Foulon in Stücke und verscharrt ihn, daß Gras wachse aus seinem Leibe!« Unter solchem Geschrei rannten die Weiber wie toll umher und schlugen auf ihre eigenen Freunde los, bis sie im Übermaß ihrer Leidenschaft ohnmächtig zusammenbrachen und nur die zu ihnen gehörigen Männer sie retten konnten, daß sie nicht unter den Füßen zerstampft wurden.

Gleichwohl ging kein Augenblick verloren; kein Augenblick! Dieser Foulon befand sich auf dem Stadthause und konnte wieder befreit werden. Nie, solange Saint Antoine seiner Leiden und des erfahrenen Unrechts eingedenk war! Bewaffnete Männer und Weiber strömten so schnell aus dem Viertel hinaus und zogen selbst die letzten Reste mit solcher Anziehungskraft nach, daß in einer Viertelstunde außer einigen alten Weibern und winselnden Kindern kein menschliches Wesen mehr in Saint Antoine zu finden war.

Nein. Sie hatten inzwischen den Gerichtssaal, in dem sich der häßliche, boshafte alte Mann befand, gefüllt, und was nicht hineinging, hielt den anstoßenden freien Platz und die benachbarten Straßen besetzt. Die Defarge, Mann und Frau, die Rache und Jacques Drei standen im Gedränge vornan und in nicht großer Entfernung von dem Gehaßten.

»Seht!« rief Madame, mit ihrem Messer nach ihm hinweisend. »Seht den alten Schurken mit Stricken gebunden. Es war gut, daß man ihm ein Bund Heu auf den Rücken schnürte. Ha, ha! Sehr gut. Er soll es jetzt fressen!«

Madame steckte ihr Messer unter den Arm und klatschte mit den Händen wie im Schauspiel.

Die hinter Madame Defarge Stehenden erklärten den weiter rückwärts Befindlichen die Ursache dieser Beifallsäußerung, und so ging die Erklärung von Mund zu Mund, bis weit hinaus in die Straßen, wo jetzt bis an den Saum der Menschenmassen hinaus ein wütendes Klatschen erscholl. So vergingen schleppende zwei oder drei Stunden, und Madame Defarges häufige ungeduldige Kundgebungen über das Zeugengedresche wurden mit wunderbarer Schnelligkeit in die Ferne fortgepflanzt – um so schneller, als einige im Klettern wohlgeübte Männer nach den Fenstern hinaufgestiegen waren und, da sie Madame gut kannten, von hier aus zwischen ihr und dem Volke draußen Telegraphendienst leisteten.

Endlich stand die Sonne so hoch, daß ein freundlicher Strahl von ihr unmittelbar das Haupt des alten Gefangenen traf, als wolle sie ihn schirmen oder ihm Hoffnung einflößen. Dies war unerträglich mit anzusehen. Im Nu ging die Schranke wie von Sägmehl und Spreu, die überraschend lange bestanden hatte, in die Winde, und er befand sich in den Händen von Saint Antoine.

Es war schnell bekannt bis ans äußerste Ende der Volksmenge. Defarge hatte über ein Geländer und einen Tisch weggesetzt und den unglücklichen Elenden mit tödlicher Umarmung umschlungen. Madame Defarge, die ihm nachfolgte, machte sich alsbald mit einem der Stricke, die ihn gefesselt hielten, zu schaffen. Die Rache und Jacques Drei hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen, und die Männer in den Fenstern waren noch nicht wie Raubvögel auf ihre Beute in die Halle hinuntergestoßen, als schon von der ganzen Stadt her der Ruf zu erschallen schien: »Bringt ihn heraus! Heraus mit ihm an die Laterne!«

Mit dem Kopfe voran, hinab und hinauf über die Treppen des Gebäudes; jetzt auf den Knien, jetzt auf den Beinen und jetzt auf dem Rücken; geschleppt, gezerrt und von Heu- und Strohwischen fast erstickt, die Hunderte von Händen ihm ins Gesicht stießen; zerrissen, zerbeult, blutend und doch ohne Unterlaß flehentlich um Gnade bittend, jetzt in der vollen Beweglichkeit der Todesangst, wenn ein kleiner Raum um ihn her dadurch gebildet wurde, daß die Hinteren die Vorderen zurückzogen, um ihn besser sehen zu können, jetzt wie ein Scheit Holz durch einen Wald von Beinen gezogen – so brachte man ihn bis zu der nächsten Straßenecke, wo eine der verhängnisvollen Laternen stand. Madame Defarge ließ ihn los wie etwa die Katze eine Maus und betrachtete ihn still und ruhig, während die anderen sich bereit machten und er sie anflehte. Dabei schrien die Weiber ohne Unterlaß, und die Männer meinten allen Ernstes, man solle ihm so lange Gras in den Mund stopfen, bis er tot sei. Auf einmal ging es mit ihm in die Höhe. Der Strick riß, und sie fingen den Schreienden wieder auf. Zum zweitenmal wieder hinauf; abermals riß der Strick, und der Mann ward aufgefangen. Beim drittenmal war der Strick barmherzig und hielt. Bald nachher ragte sein Kopf auf einer Pike und hatte Gras genug im Munde, um ganz Saint Antoine zu jubelnden Tänzen zu veranlassen.

Doch das schlimme Werk des Tages war noch nicht zu Ende, Das Blut von Saint Antoine hatte sich bei dem Schreien und Tanzen so erhitzt, daß es wieder wild aufkochte, als abends sich die Kunde verbreitete, der Schwiegersohn des Hingeschlachteten, gleichfalls einer von den Feinden und Verächtern des Volkes, komme mit einer Bedeckung nach Paris, unter der sich nur von Kavallerie fünfhundert Mann befänden, Saint Antoine schrieb seine Verbrechen mit flammender Schrift nieder, bemächtigte sich seiner – würde ihn aus dem Herzen einer Armee herausgerissen haben, die sich dazu hergab, einen Foulon zu beschützen – steckte seinen Kopf und sein Herz auf Spieße und trug die drei Siegeszeichen des Tages in einer Wolfsprozession durch die Straßen.

Erst bei dunkler Nacht kamen die Männer und Weiber zu den brotlosen weinenden Kindern zurück. Nun wurden die ärmlichen Bäckerläden belagert, und sie warteten geduldig, bis die Reihe des Brotkaufens an sie kam. Während sie mit schwachem und leerem Magen harrten, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie einander umarmten und die Triumphe des Tages in ihrem Geplauder nochmals genossen. Allmählich wurden die Reihen des zerlumpten Volkes kleiner. Ärmliche Lichter begannen in den hohen Fenstern sich zu zeigen, und in den Straßen wurden dürftige Feuer angemacht, an denen die Nachbarn gemeinschaftlich das Nachtessen kochten, das sie in den Häusern verzehrten.

Ein elendes ungenügendes Nachtessen, bei dem von Fleisch oder von einer Soße für ihr grobes Brot keine Rede war. Doch goß geselliges Beisammensein einigen Nährstoff in steinharte Speisen und wußte denselben einige Funken Heiterkeit zu entlocken. Väter und Mütter, die unter den Schlimmsten des Tages gewesen waren, spielten sanft mit ihren abgezehrten Kindern, und Liebende liebten und hofften trotz einer Welt wie die vor ihnen und um sie her.

Es war fast Morgen, als Defarges Weinschenke ihre letzten Kunden entließ, und Monsieur Defarge sagte, als er die Tür schloß, in heiserem Ton zu Madame:

»Endlich ist es gekommen, meine Liebe.« »Nun ja«, entgegnete Madame. »Nahezu.«

Saint Antoine schlief, die Defarge schliefen, und sogar die Rache schlief mit ihrem verhungerten Krämer, und die Trommel hatte Ruhe. Die Stimme der Trommel war die einzige in Saint Antoine, die durch Blut und Schrecken nicht verändert worden war. Die Rache als Hüterin der Trommel konnte sie wecken, und sie klang dann wieder wie zu der Zeit, ehe die Bastille fiel oder der alte Foulon ergriffen wurde; nicht so war es mit den heiseren Tönen der Männer und Weiber im Schoß von Saint Antoine.

*

 


 << zurück weiter >>