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Während Sydney Carton und das Gefängnisschaf im anstoßenden Stübchen sich so leise miteinander besprachen, daß keine Silbe von ihnen gehört wurde, betrachtete Mr. Lorry seinen dienstbaren Landsmann mit der Miene großen Zweifels und Mißtrauens. Die Art, wie der ehrliche Geschäftsgehilfe die Musterung seines Dienstherrn aufnahm, flößte kein Vertrauen ein; er wechselte das Bein, auf dem er stand, so oft, als hätte er fünfzig solche Glieder und wolle alle der Reihe nach probieren; dann betrachtete er mit einer sehr verdächtigen Aufmerksamkeit seine Fingernägel, und sooft sein Blick dem des Mr. Lorry begegnete, wurde er von jenem eigentümlichen kurzen Husten befallen, der des Vorhaltens einer hohlen Hand bedarf und selten oder nie als das Gebreste eines vollkommen offenen Charakters gefunden wird.
»Jerry«, sagte Mr. Lorry. »Kommt einmal her.«
Mr. Cruncher entsprach der Aufforderung seitlings, die eine Schulter voran.
»Was habt Ihr außer dem Ausläuferdienst sonst noch getrieben?«
Nach einigem Besinnen, wobei Mr. Cruncher seinen Schutzherrn bedenklich ansah, kam ihm der lichtvolle Gedanke, zu antworten:
»Ackerbau.«
»Ich fürchte, ich fürchte«, sagte Lorry, streng den Zeigefinger gegen ihn schüttelnd, »daß Ihr das achtbare und große Hau Tellsons nur als Aushängeschild gebraucht und nebenher ein unerlaubtes, schimpfliches Gewerbe betrieben habt. Ist dies der Fall, so wartet nicht, daß wir gute Freunde bleiben, wenn wir nach England zurückkommen. Auch dürft Ihr nicht hoffen, daß ich Euer Geheimnis bewahre. Tellsons dürfen nicht hintergangen werden.«
»Ich hoffe«, bat der beschämte Mr. Cruncher, »daß ein Gentleman wie Ihr, dem ich so allerlei zu besorgen die Ehre hatte, bis ich grau geworden bin, sich zweimal besinnen wird, etwas zu meinem Schaden zu tun, selbst wenn es so wäre – ich sage nicht, daß es so ist, sondern nur, wenn es so wäre. Man müßte wohl ins Auge fassen, daß jede Sache ihre zwei Seiten hat. Es gibt vielleicht zur Stunde noch Medizindoktoren, die Guineen einnehmen, wo ein ehrlicher Gewerbsmann sich um Farthinge abmühen muß – um Farthinge? nein, es langt noch zu keinen halben, noch zu keinen Viertelfarthingen. Die fegen vorbei wie Rauch bei Tellsons, blinzeln dem Gewerbsmanne mit ihren medizinischen Augen zu und steigen in ihren Equipagen ein und aus – ah, wieder wie Rauch. So etwas macht dann sogar bei Tellsons Eindruck. Aber will man die Gans, so muß man auch den Gänserich haben. Und da ist denn Mrs. Cruncher, oder war's wenigstens in England drüben und wird's morgen wieder sein, wenn sich Gelegenheit dazu gibt – die plumpst hin gegen das Geschäft, daß es ruiniert ist, rein ruiniert. Die Weiber der Medizindokters aber tun das nicht – fällt ihnen nicht ein, oder wenn sie's tun, so plumpsen sie hin um Patienten, und wie kann man das eine haben ohne das andere? Dann sind wieder die Leichenbestatter, die Kirchspielküster, die Privatwächter, lauter habsüchtiges Volk, die sich auch damit zu schaffen machen; was kann ein armer Schelm dabei gewinnen, wenn's auch so wäre? Was ein geringer Mann da erwirbt, reicht doch nicht weit bei ihm, Mr. Lorry; es tut nicht gut bei ihm, und er möcht' wohl wieder aus der Geschichte heraus sein, wenn er nur, einmal drin, einen Ausweg sehen könnte – ich meine natürlich, wenn's so wäre.«
»Pfui!« rief Mr. Lorry, aber gleichwohl in etwas milderer Stimmung, »Euer Anblick ist mir ein Greuel.«
»Na, ich möcht' Euch wohl ein bescheidenes Angebot machen, Sir«, fuhr Mr. Cruncher fort, »für den Fall, daß es so wäre, obschon ich's nicht zugestehe –.«
»Keine Verdrehung«, sagte Mr. Lorry.
»Nein, gewiß nicht«, entgegnete Mr. Cruncher, als sei ihm nie etwas Derartiges zu Sinn gekommen – »obschon ich's nicht zugestehe, so möcht' ich an Euch ein demütiges Ersuchen stellen. Auf jenem Stuhl dort vor dem Bankhause sitzt mein Junge, dazu erzogen, ein Mann zu werden, der Euch Botengänge tut und Aufträge besorgt, bis er, wenn Ihr's befehlt, sich die Füße abgelaufen hat. Wenn es so wäre, obschon ich nicht sage, daß es so ist, denn ich will vor Euch nichts verdrehen, Sir – so laßt dem Jungen seines Vaters Platz, daß er für seine Mutter sorgen kann. Straft nicht im Sohne den Vater – tut dies nicht – sondern erlaubt, daß der Vater sich dem Geschäft der regelmäßigen Totengräberei widme und das Ausgraben – von Toten, wenn ers getan hat – wieder gutmache durch freiwilliges Eingraben mit der guten Meinung, sie künftig in Sicherheit zu erhalten. Das ist's, Mr. Lorry«, sagte Mr. Cruncher, indem er sich die Stirne mit dem Ärmel abwischte zum Zeichen, daß er bei dem Schluß seiner Rede angelangt war, »worum ich Euch achtungsvoll gebeten haben möchte. Du mein Himmel, wenn man sieht, wie schrecklich es hier zugeht und wie das Köpfen kein Ende nimmt, so daß das Geschäft nicht einmal den Trägerlohn einbringt, so kommen einem wohl ernste Gedanken über die Sache. Und so möcht' ich, wenn es so wäre, Euch bitten, dessen eingedenk zu sein, was ich eben gesagt habe, und auch nicht zu vergessen, daß ich mit meinem Sprechen einer guten Sache diente, während ich recht wohl hätte schweigen können.«
»In dieser Beziehung wenigstens habt Ihr recht«, sagte Mr. Lorry. »Darum nichts mehr davon. Möglich, daß ich doch Euer guter Freund bleibe, vorausgesetzt, daß Ihr durch die Tat, nicht bloß in Worten Eure Reue an den Tag legt. Des Geschwätzes ist jetzt genug.«
Mr. Cruncher rieb sich eben mit den Knöcheln die Stirne, als Sydney Carton mit dem Spion aus der Nebenstube wieder zurückkam.
»Adieu, Mr. Barsad«, sagte der erstere. »Wenn Ihr es so einrichtet, habt Ihr von mir nichts zu fürchten.«
Er nahm dann, Mr. Lorry gegenüber, seinen Sitz am Herd ein. Sobald sie allein waren, fragte ihn Mr. Lorry, was er ausgerichtet habe.
»Nicht viel«, versetzte Carton. »Doch habe ich mir für den Fall, daß es schlimm gehen sollte, zu dem Gefangenen den Zutritt gesichert.«
Mr. Lorry machte ein langes Gesicht.
»Es ist alles, was ich auswirken konnte«, fuhr Carton fort. »Eine zu große Zumutung würde den Kopf des Mannes unters Beil bringen, und er hat recht, wenn er sagt, daß er bei einer Denunziation nichts Schlimmeres zu erfahren hätte. Seine Lage ist augenscheinlich nur schwach. Da läßt sich nicht helfen.«
»Aber wenn es vor dem Tribunal schlimm ausfällt, so wird ihn dieser Zutritt nicht retten«, sagte Mr. Lorry.
»Ich habe dies auch nicht behauptet.«
Mr. Lorrys Augen senkten sich gegen das Feuer; die Teilnahme für seinen Liebling und der schwere Schlag dieser zweiten Verhaftung hatten sie allmählich geschwächt. Er war jetzt ein alter Mann, erschöpft von den Ängsten der letzten Zeit, und seine Tränen wollten sich nicht mehr zurückhalten lassen.
»Ihr seid ein wackerer Mann und ein treuer Freund«, sagte Carton in verändertem Ton. »Entschuldigt, daß ich von Eurer Bewegung Notiz nehme. Ich könnte nicht gleichgültig dasitzen, wenn ich meinen Vater weinen sähe, und vermöchte Euer Leid nicht mehr zu achten, selbst wenn Ihr mein Vater wäret. Nun, dieses Unglück wenigstens lastet nicht auf Euch.«
Obgleich er die letzteren Worte mit einem Anflug von seinem gewöhnlichen Wesen sprach, so lag doch in seiner ganzen Rede so viel echtes Gefühl und eine solche Ehrerbietung, daß Mr. Lorry, der ihn nie von seiner besseren Seite gekannt hatte, davon betroffen wurde. Er gab ihm die Hand, und Carton drückte sie sanft.
»Um auf den armen Darnay zurückzukommen«, sagte Carton. »Ihr müßt gegen sie nichts von dieser Begegnung und unserer Übereinkunft verlauten lassen, weil sie dann vielleicht nicht imstande wäre, ihn zu besuchen. Sie könnte glauben, es handle sich im schlimmen Fall darum, ihm die Mittel zu liefern, dem Urteilspruch zuvorzukommen.«
Lorry hatte daran nicht gedacht und blickte rasch auf Carton, um zu sehen, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Carton erwiderte den Blick, den er zu verstehen schien.
»Sie könnte auf tausenderlei Gedanken kommen«, fuhr Carton fort, »und damit nur ihren Jammer vergrößern. Sagt ihr daher nichts von mir. Wie ich schon bei meiner Ankunft bemerkte: es ist besser, wenn ich ihr nicht begegne, denn ich kann auch ohnedem ihr die kleine Hilfe leisten, die in meinen Kräften steht. Ihr geht hoffentlich zu ihr? Sie muß heute abend ganz trostlos sein.«
»Ja; ich bin eben im Begriff.«
»Das freut mich. Sie hat eine so große Anhänglichkeit an Euch und erkennt in Euch eine Stütze. Wie sieht sie aus?«
»Bekümmert und unglücklich, aber sehr schön.«
»Ah!«
Es war ein langer schmerzlicher Ton wie ein Seufzer – fast wie ein Schluchzen. Lorry blickte wieder auf Carton, dessen Gesicht dem Feuer zugekehrt war. Ein Licht oder ein Schatten (der alte Gentleman vermochte dies nicht zu unterscheiden) flog so rasch darüber hin, wie an einem wildschönen Tag ein zwischen Wolken hervorbrechender Strahl die Bergwand streift, und er lüpfte den Fuß, um eines der flammenden Scheitchen zurückzuschieben, das niederfallen wollte. Er trug den damals modernen weißen Reitrock und Stulpenstiefel, und der Widerschein des Feuers ließ sein Antlitz unter dem langen, wild niederhängenden braunen Haar ungemein blaß aussehen. Dabei benahm er sich so gleichgültig gegen das Feuer, daß Mr. Lorry es ihm verwies; denn sein Stiefel ruhte noch auf der Glut des brennenden Scheites, nachdem dieses unter dem Gewicht seines Fußes schon zusammengebrochen war.
»Ich vergaß es«, sagte er.
Mr. Lorry blickte wieder in sein Gesicht. Das verstörte Wesen, das die von Natur schönen Züge umwölkte, erinnerte ihn aufs lebhafteste an den Gefangenen, mit dem sein Gast wieder eine merkwürdige Ähnlichkeit hatte.
»Ihr seid jetzt mit Euren Geschäften hier zu Ende?« fragte Carton.
»Ja. Wie ich Euch gestern abend sagte, als Lucie so unverhofft hierherkam, ist endlich alles geschehen, was sich hier tun ließ. Ich hoffte, sie in Sicherheit zurücklassen zu können, wenn ich nach London heimkehre. Mein Paß ist bereits im Hause, und ich war zum Aufbruch vorbereitet.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Ihr könnt auf eine schöne Reihe von Jahren zurückschauen?« sagte Carton gedankenvoll.
»Ich stehe im achtundsiebenzigsten.«
»Und seid Euer ganzes Leben über nützlich gewesen, stets beschäftigt, geachtet, ein Mann des Vertrauens?«
»Ich war Geschäftsmann von der Zeit an, daß ich mich als Mann weiß – ja, ich könnte fast sagen, von meinen Knabenjahren an.«
»Seht, welch einen Platz Ihr einnehmt im achtundsiebenzigsten. Wie viele Leute werden Euch vermissen, wenn Ihr ihn räumt!«
»Ein unverheirateter alter Mann«, entgegnete Mr. Lorry, den Kopf schüttelnd. »Mir weint niemand nach.«
»Wie mögt Ihr so reden? Wird nicht sie um Euch weinen? Wird es nicht ihr Kind tun?«
»Ja, ja, Gott sei Dank! Ich habe es nicht gerade so gemeint, wie ich es sagte.«
»Das ist wohl eine Sache, für die man Gott dankbar sein darf; meint Ihr nicht?«
»Gewiß, gewiß.«
»Wenn Ihr diesen Abend mit Wahrheit zu Eurem einsamen Herzen sagen müßtet: ›Ich habe mir von keinem menschlichen Wesen Liebe und Anhänglichkeit, Dank oder Achtung erworben; ich habe in keinem Herzen Eingang gewonnen und nie etwas Gutes oder Nützliches getan, um dessentwillen man meiner gedenken möchte,‹ meint Ihr nicht, daß Euch dann Eure achtundsiebenzig Jahre achtundsiebenzig schwere Flüche wären?«
»Ihr habt recht, Mr. Carton; ich glaube, sie wären es mir.«
Sydney wandte seine Blicke wieder dem Feuer zu und fuhr nach einer Pause fort:
»Ich möchte Euch noch fragen, ob Euch Eure Kindheit fernab zu liegen scheint. Kommt Euch die Zeit sehr lange vor zwischen heute und jener, als Ihr Euch noch an den Schoß der Mutter anschmiegtet?«
Dieser weicheren Stimmung entsprechend, antwortete Mr. Lorry:
»Vor zwanzig Jahren, ja; aber jetzt nicht mehr. Denn man wandert in einem Kreise, und je näher und näher es dem Ende geht, desto näher und näher rückt man wieder dem Anfang zu. Auf solche Weise wird uns der Weg sanft und eben gemacht. Mein Herz fühlt sich oft bewegt bei Erinnerungen, die lange geschlafen haben; wenn ich zum Beispiel, der ich so alt bin, meiner hübschen jungen Mutter gedenke und mir die Tage vergegenwärtige, in denen das, was wir Welt nennen, nicht so sehr in mir zur Wirklichkeit geworden und meine Fehler nicht so starr mit mir verwachsen waren.«
»Ich verstehe dies Gefühl!« rief Carton, und eine lebhafte Glut überflog sein Antlitz. »Und Ihr empfindet dabei eine sittliche Erhebung?«
»Ich hoffe es.«
Carton brach das Gespräch jetzt ab und stand auf, um dem alten Mann in seinen Mantel zu helfen.
»Aber Ihr«, sagte Mr. Lorry, auf den Gegenstand zurückkommend, »Ihr seid jung.«
»Ja«, versetzte Carton. »Ich bin nicht alt; aber der Weg meiner Jugend war nicht der Weg zum Alter. Genug von mir.«
»Und natürlich von mir auch«, sagte Mr. Lorry. »Wollt Ihr ausgehen?«
»Ich werde Euch bis an ihr Tor begleiten. Ihr kennt meine unstete, unruhige Lebensweise. Laßt es Euch nicht anfechten, wenn ich lange in den Straßen herumstreiche. Ich werde morgen schon wieder zum Vorschein kommen. Geht Ihr morgen in die Gerichtshalle?«
»Ja, leider.«
»Ich werde auch dort sein, aber nur im Gedränge der Zuschauer. Mein Spion wird schon einen Platz für mich auftreiben. Nehmt meinen Arm, Sir.«
Mr. Lorry entsprach der Einladung, und sie gingen miteinander die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus. Nach einigen Minuten hatten sie Lorrys Bestimmungsort erreicht. Carton verließ jetzt seinen Begleiter, zögerte aber in einiger Entfernung, kehrte nach dem Torschluß wieder zurück und berührte den Griff.
»Hier ist sie herausgekommen«, sagte er umherschauend, »und diesen Weg hat sie eingeschlagen. Sie muß diese Steine oft betreten haben; ich will ihren Fußstapfen folgen.«
Es war nachts zehn Uhr, als er vor dem Gefängnis La Force an der Stelle stand, wo sie hundertmal gestanden hatte. Ein kleiner Holzspalter, der seinen Schuppen geschlossen hatte, stand rauchend vor seiner Haustür.
»Gute Nacht, Bürger«, sagte Sydney Carton; denn der Mann betrachtete ihn neugierig.
»Gute Nacht, Bürger.«
»Was macht die Republik?«
»Ihr meint die Guillotine? Die macht's nicht übel. Dreiundsechzig heute. Wir werden bald zum Hundert aufsteigen. Samson und seine Leute beklagen sich bisweilen über zu viel Arbeit. Ha, ha, ha! Er ist so possierlich, dieser Samson. Welch ein Barbier!«
»Seht Ihr ihn oft –«
»Rasieren? Immer. Jeden Tag. Der kann's. Habt Ihr ihn noch nicht arbeiten sehen?«
»Nein.«
»So geht hin und seht zu, wenn er einen ordentlichen Haufen zu bedienen hat. Macht Euch eine Vorstellung davon, Bürger: er rasierte heute die dreiundsechzig in weniger als zwei Pfeifen. In weniger als zwei Pfeifen – auf Ehre.«
Als das grinsende Männlein die Pfeife, die er eben rauchte, ausstreckte, um zu erklären, wie er die Zeit der Hinrichtungen maß, hätte ihn Carton in seiner Entrüstung gerne tot niedergestreckt. Er wandte ihm den Rücken zu.
»Aber Ihr seid kein Engländer, obschon Ihr einen englischen Anzug tragt?« sagte der Holzspalter.
»Doch«, antwortete Carton über seine Schulter zurück.
»Ihr sprecht wie ein Franzose.«
»Ich habe hier studiert.«
»Aha! Ein vollkommener Franzose. Gute Nacht, Engländer.«
»Gute Nacht, Bürger.«
»Aber vergeßt nicht, hinzugehen und den possierlichen Kerl anzusehen«, rief ihm der kleine Mann nach. »Nehmt auch eine Pfeife mit.«
Sobald Sydney ihn aus dem Gesicht verloren hatte, machte er in der Mitte der Straße unter einer flimmernden Laterne halt und schrieb mit dem Bleistift etwas auf einen Papierstreifen. Dann ging er mit dem sicheren Schritte eines Menschen, der seinen Weg gut kennt, durch verschiedene dunkle und schmutzige Gassen – sie waren schmutziger als früher, denn selbst die Hauptstraßen blieben in jenen Schreckenstagen ungereinigt – und machte vor einem Apothekerladen halt, den der Inhaber eben eigenhändig schließen wollte. Es war ein kleiner, finsterer, winkliger Laden, der in einem krumm und aufwärts verlaufenden Bogengange lag, und die Gestalt des Apothekers stand ganz im Einklang mit seinem Geschäftslokale.
Carton wünschte auch diesem Bürger gute Zeit und legte seinen Papierstreifen auf den Ladentisch.
»Hei!« pfiff der Apotheker leise vor sich hin, als er das Blättchen las. »Hi, hi, hi!«
Sydney Carton achtete nicht darauf. Der Apotheker fragte:
»Für Euch, Bürger?«
»Ja.«
»Ihr werdet aber die Ingredienzien sorgfältig geschieden halten, Bürger? Ihr kennt die Folgen, wenn man sie untereinander bringt?«
»Vollkommen.«
Es wurden einige kleine Pakete gemacht und ihm übergeben. Er steckte eines nach dem andern in die Brusttasche seines inneren Rocks, berichtigte die Forderung des Chemikers und verließ bedächtig den Laden.
»Vor morgen gibt es nichts mehr zu tun«, sagte er, zu dem Mond aufblickend. »Aber ich kann nicht schlafen.«
Diese Worte, die er unter den schnellsegelnden Wolken laut vor sich hin sprach, trugen nicht den Ausdruck eines unbekümmerten oder verdrossenen Wesens, sondern klangen so entschieden, als kämen sie aus dem Munde eines Mannes, der lange irregegangen ist, endlich aber seinen Weg wiedergefunden hat und dessen Ende absieht.
Vor langer Zeit – er zeichnete sich damals noch als hoffnungsvoller Jüngling unter seinen Altersgenossen aus – war er seinem Vater zu Grabe gefolgt. Seine Mutter hatte schon einige Jahre früher das Zeitliche gesegnet. Die feierlichen Worte, die bei der Bestattung seines Vaters verlesen wurden, tauchten in seinem Geiste wieder auf, während er, den Mond und die segelnden Wolken hoch über sich, im nächtlichen Schatten die dunkeln Straßen entlang ging. »Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebet und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben.«
In einer von dem Beil beherrschten Stadt, in der Einsamkeit der Nacht, bei dem natürlichen Schmerz um die im Laufe des Tages geopferten Leben und bei dem Hinblick auf die in den Gefängnissen schmachtenden Opfer, die morgen, übermorgen und so fort ihr Urteil erwarteten, war die Anknüpfungskette, die jene Worte wie einen rostigen alten Schiffsanker aus der Tiefe herausholte, leicht gefunden. Er hatte sie nicht gesucht, sprach sie aber vor sich hin, als er seiner Wege ging.
Mit einer ernsten Teilnahme für die beleuchteten Fenster, hinter denen Menschen sich zur Ruhe niederlegten, um auf einige Stunden die Schrecken ihrer Umgebung zu vergessen – für die Türme der Kirchen, in denen keine Gebete mehr gen Himmel stiegen; denn das Volk war nach dem langen Druck und Trug auch für das Heilige erstorben – für die fernen Begräbnisplätze, die, wie die Aufschriften ihrer Tore sagten, nur noch dem ewigen Schlafe dienen sollten – für die überfüllten Gefängnisse und für die Straßen, durch die die sechzig einem Tode entgegenfuhren, der so gemein und materiell geworden war, daß aus all dem Arbeiten der Guillotine nicht einmal ein Schauergeschichtchen von einem spukenden Geiste mehr auftauchen mochte – kurz, mit einer ernsten, feierlichen Teilnahme für das ganze Leben und Sterben in der Stadt, in deren Wut die Nacht eine kurze Pause machte, ging Sydney Carton wieder über die Seine den helleren Straßen zu.
Es ließen sich nur wenige Kutschen blicken; denn die Benutzung von Kutschen machte verdächtig, und die Vornehmen zogen rote Mützen über ihre Ohren und trabten in groben Schuhen zu Fuß ihrer Wege. Aber die Theater waren gefüllt, und wie er vorbeiging, strömte das Volk lustig heraus und begab sich unter Plaudern nach Haus. An einer der Theatertüren stand ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter und sah sich nach einer leidlichen Übergangsstelle in der schmutzigen Straße um. Er trug das Kind hinüber und ließ sich von ihm, ehe der schüchterne Arm sich von seinem Nacken losmachte, einen Kuß geben.
»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«
Die Straßen waren jetzt still, die Nacht rückte vor, und er vernahm die Worte in der Luft, in dem Widerhall seiner Füße. Vollkommen fest und ruhig lieh er ihnen bisweilen selbst einen Laut, indem er sie beim Gehen vor sich hin sprach; aber in seinen Ohren klangen sie stetig.
Auch die Nacht nahm ein Ende, und wie er auf der Brücke stand und auf das Plätschern des Wassers horchte, das die Ufermauern der Insel Paris mit ihrem hell im Mondschein daliegenden malerischen Gewirr von Häusern und Kirchen bespülte, kam der Tag kalt wie das Gesicht einer Leiche am Himmel herauf. Bleich wandte sich die Nacht mit Mond und Sternen ab und verschied; es hatte für eine Weile den Anschein, als sei die Schöpfung der Herrschaft des Todes überliefert.
Aber als die herrliche Sonne aufging, schien sie mit ihren langen, glänzenden Strahlen jene Worte, den Refrain der Nacht, gerade und warm in sein Herz zu bringen. Und mit ehrfurchtsvoll beschatteten Augen ihnen folgend, glaubte er zwischen sich und der Sonne eine Lichtbrücke ausgespannt zu sehen, unter der funkelnd der Fluß dahinströmte.
Der mächtige Strom, so geschwind, so tief, so sicher, nahm sich in der Morgenstille wie ein gleichgestimmter Freund aus. Er ging den Fluß entlang weit über die Häuser hinaus und ließ sich endlich am Ufer von der hellen warmen Sonne in Schlaf lullen. Als er erwachte und wieder aufstand, zögerte er noch eine Weile und sah einem zwecklos sich drehenden Wirbel zu, bis die Strömung ihn mit fortriß und dem Meere zuführte. – »Wie mich!«
Ein Frachtboot mit einem Segel von der gedämpften Farbe des welken Laubes tauchte auf, kam an ihm vorbei und verschwand wieder. Nachdem die Kielspur sich auf dem Wasser verwischt hatte, schloß er das Gebet, das aus den Tiefen seiner Seele um barmherzige Nachsicht mit seiner Blindheit und seinen Verirrungen flehte, mit den Worten: »Ich bin die Auferstehung und das Leben.«
Mr. Lorry war bereits ausgegangen, als er in dessen Wohnung anlangte, und es ließ sich leicht denken, welchen Weg der gute alte Mann eingeschlagen hatte. Sydney Carton genoß nur ein wenig Kaffee und etwas Brot, wusch sich dann, um sich zu erfrischen, und begab sich nach der Gerichtstätte.
Dort war alles schon voll Regsamkeit und Gesumm. Das schwarze Schaf, vor dem viele furchtsam zurückwichen, verhalf ihm in dem Gedränge zu einer dunkeln Ecke. Mr. Lorry war da und Doktor Manette; auch sie war zugegen und saß an der Seite ihres Vaters.
Als ihr Gatte hereingebracht wurde, warf sie ihm einen Blick zu, einen Blick, so kräftigend, so ermunternd, so voll inniger Liebe und zärtlicher Teilnahme, dabei selbst so mutig um seinetwillen, daß er ihm das gesunde Blut ins Gesicht trieb, seine Miene aufhellte und sein Herz neu belebte. Hätte jemand auf den Einfluß geachtet, den jener Blick auf Sydney Carton übte, so würde er an diesem eine gleiche Wirkung wahrgenommen haben.
Jenes ungerechte Tribunal wußte nur wenig oder nichts von Ordnung in seinem Verfahren und war nicht in der Lage zu bewirken, daß ein Angeklagter nur vernünftig angehört wurde. Zu einer solchen Revolution hätte es nie kommen können, wenn nicht alle Gesetze, Formen und Zeremonien früher so kläglich mißbraucht worden wären, daß die selbstmörderische Rache des Umsturzes alles miteinander in die Winde streuen zu dürfen meinte.
Jedes Auge war den Geschworenen zugewendet. Dieselben entschiedenen Patrioten und guten Republikaner wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen. Unter ihnen ragte ein Mann hervor mit einem hungrigen Gesicht und einem stetigen Fingerspiel vor seinen Lippen; sein Anblick bereitete den Zuschauern große Befriedigung. Ein nach Leben lechzender, kannibalisch aussehender, blutdürstiger Geschworner, der Jacques Drei von Saint Antoine. Das ganze Schwurgericht glich einer Jury von Hunden, zusammengebracht, um das Reh zu richten.
Jedes Auge suchte nun die fünf Richter und den öffentlichen Ankläger auf. Von dieser Seite her war heute nichts Gutes zu hoffen; die Sache schien schon zum voraus schnöde, unerbittlich und mörderisch abgetan zu sein. Dann wandten sich diese Augen anderen im Gedränge zu und funkelten beifällig danach hin; und Köpfe winkten einander nickend, ehe sie in die Haltung gespannter Aufmerksamkeit übergingen.
Charles Evrémonde, genannt Darnay. Gestern in Freiheit gesetzt; gestern wieder angeklagt und aufs neue verhaftet. Anklageakte ihm gestern abend zugefertigt. Verdächtig und angeklagt als Feind der Republik, Aristokrat, Angehöriger einer Familie von Tyrannen, einer geächteten Rasse, die ihre jetzt abgeschafften Vorrechte zur schändlichen Bedrückung des Volkes mißbraucht hatte. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kraft jener Ächtung absolut tot vor dem Gesetz.
Dies, oder vielleicht in noch kürzerer Fassung, der Vortrag des öffentlichen Anklägers.
Der Präsident fragte, ob der Angeschuldigte öffentlich oder im geheim angezeigt worden sei.
»Öffentlich, Präsident.«
»Von wem?«
»Von drei Personen. Ernst Defarge, Weinschenk in Saint Antoine.«
»Gut.«
»Therese Defarge, sein Weib.«
»Gut.«
»Alexander Manette, Arzt.«
Ein großes Getümmel brach jetzt in dem Gerichtshofe los, und mitten in demselben sah man Doktor Manette blaß und zitternd von seinem Sitze sich erheben.
»Präsident, ich erkläre Euch voll Entrüstung, daß dies Betrug und Fälschung ist. Ihr wißt, der Angeklagte ist der Gatte meiner Tochter. Meine Tochter und diejenigen, die ihr teuer sind, achte ich höher als mein Leben. Wo und wer ist der falsche Verschwörer, der sagt, ich klage den Gatten meines Kindes an?«
»Bürger Manette, seid ruhig. Wenn Ihr es an Unterwürfigkeit gegen das Gericht fehlen ließet, würdet Ihr selbst dem Gesetze verfallen. Und wenn Ihr etwas höher achtet als Euer Leben, so kann einem guten Bürger nichts so teuer sein wie die Republik.«
Lauter Zuruf zollte diesem Verweis Beifall. Der Präsident rührte die Klingel und fuhr mit Wärme fort:
»Wenn die Republik von Euch Euer Kind selbst verlangen sollte, so wäre es Eure heiligste Pflicht, es zum Opfer zu bringen. Hört, was kommen wird, und verhaltet Euch inzwischen still.«
Abermals tobender Beifallsruf. Doktor Manette setzte sich; seine Lippen bebten, und seine Augen schauten umher, während er seine Tochter inniger an sich zog. Der hungrige Mann unter den Geschworenen rieb sich die Hände und fuhr mit den Fingern wieder nach seinem Munde.
Sobald es im Gerichtssaale ruhig genug geworden war, um jemanden verhören zu können, wurde Defarge vorgeladen. Er erzählte in Kürze die Geschichte der Gefangennehmung des Doktors, bei dem er als bloßer Knabe in Dienst gestanden, wie derselbe endlich befreit und in welchem Zustande er ihm überliefert worden. Darauf folgte ein kurzes Verhör, denn der Gerichtshof machte rasche Arbeit.
»Ihr habt bei der Erstürmung der Bastille gute Dienste geleistet, Bürger?«
»Ich glaube es.«
Aus dem Gedränge ließ sich jetzt ein aufgeregtes Weib mit kreischender Stimme vernehmen:
»Ihr seid an jenem Tage einer der besten Patrioten gewesen. Warum sagt Ihr dies nicht? Ihr seid an der Kanone gestanden und waret unter den ersten Stürmenden, als die fluchwürdige Veste fiel. Patrioten, ich spreche die Wahrheit!«
Es war die Rache, die unter warmen Lobeserhebungen der Zuhörer in solcher Weise die Verhandlung zu fördern suchte. Der Präsident rührte die Klingel; aber die Rache war durch den gespendeten Beifall warm geworden und rief aufs neue: »Ich frage nichts nach Eurer Klingel!« – eine Erklärung, die ihr einen neuen Beifallssturm eintrug.
»Erzählt dem Gerichtshof, was Ihr an jenem Tage in der Bastille getan habt, Bürger.«
»Ich wußte«, sagte Defarge, auf sein Weib nieder schauend, das am Fuße des Gerüstes stand, auf dem er seine Angaben machte, und kein Auge von ihm verwandte, »ich wußte, daß der Gefangene, von dem ich spreche, in der Zelle Hundertundfünf, Nordturm, eingesperrt gewesen war. Ich hatte dies aus seinem eigenen Munde. Ja, er kannte sich nur unter dem Namen Hundertundfünf, Nordturm, als er unter meiner Obhut Schuhe machte. Während ich an jenem Tage mein Geschütz bediente, faßte ich den Entschluß, wenn die Veste fiele, jene Zelle zu untersuchen. Sie wurde erstürmt. Ich steige, von einem Gefängniswärter geführt, mit einem Mitbürger, der dort unter den Geschworenen sitzt, nach der Zelle hinauf und stelle sorgfältige Nachforschungen an. In einem Kaminloch, in das ein ausgebrochener Stein wieder eingesetzt ist, finde ich ein beschriebenes Papier. Hier ist es. Ich habe mir's angelegen sein lassen, mir einige Proben von Doktor Manettes Handschrift zu verschaffen. Dies ist von Doktor Manette geschrieben. Ich übergebe hiermit die eigenhändige Schrift des Doktor Manette dem Präsidenten.«
»Man lese sie vor.«
Es trat eine Totenstille ein. Der Angeklagte warf einen liebevollen Blick auf Lucie, die den ihrigen nur von ihm abwandte, um ängstlich auf ihren Vater zu schauen. Der Doktor verwandte kein Auge von dem Vorleser; Madame Defarge hielt ihren Blick auf den Gefangenen geheftet, und Defarges Auge haftete wie festgebannt auf seinem sich an dem Schauspiel weidenden Weibe. Die Blicke aller andern waren dem Doktor zugekehrt, der aber keinen Sinn für seine übrige Umgebung hatte. Die Schrift lautete, wie folgt.
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