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Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.

In dem dunkeln Gefängnis der Conciergerie erwarteten die Verurteilten des Tages ihr Schicksal. Es waren ihrer soviel wie Wochen im Jahr. Zweiundfünfzig sollten an jenem Nachmittage aus der Lebenströmung der Stadt hinausgetragen werden ins Meer der Ewigkeit. Bevor noch ihre Zellen sich geleert hatten, waren schon neue Bewohner dafür bestimmt; bevor ihr Blut mit dem gestern vergossenen zusammenfloß, hatte man schon diejenigen wieder ausgelesen, deren Blut morgen sich mit dem ihrigen mischen sollte.

Vier Dutzend und vier waren abgezählt. Von dem siebzigjährigen Generalpächter, der mit all seinen Schätzen sich nicht sein Leben erkaufen konnte, bis zu der zwanzigjährigen Näherin, die nicht einmal in ihrer Armut und niedrigen Stellung einen Schutz fand. Wie leibliche Krankheiten, die den Lastern und der Nachlässigkeit der Menschen entspringen, ihre Opfer in allen Ständen suchen, so warf auch die schreckliche moralische Krankheit, die geboren ward aus unsäglichen Leiden, unerträglicher Bedrückung und herzloser Gleichgültigkeit, alles ohne Unterschied nieder.

Darnay schmeichelte sich, seit er aus dem Gerichtssaale zurückgekehrt war, in seiner einsamen Zelle mit keinen trügerischen Hoffnungen mehr. In jeder Zeile der Erzählung, die er mit angehört, hatte er sein Todesurteil vernommen. Er sah vollkommen ein, daß kein persönlicher Einfluß ihn zu retten vermochte. Die Millionen hatten ihn verurteilt! welche Macht konnten ihnen gegenüber die Einzelnen geltend machen?

Gleichwohl wurde es ihm, das Antlitz des geliebten Weibes noch in frischer Erinnerung, nicht leicht, sich in das Unvermeidliche zu finden. Er hing noch fest an dem Leben, und es wurde ihm schwer, sehr schwer, es aufzugeben. Wenn er sich alle Mühe gab, sich da loszumachen, so klammerte er sich dort um so fester an, und gewann er es über sich, seine Kraft nicht mehr länger nutzlos erschöpfen zu wollen, so schloß sich seine Hand unmittelbar darauf in neuem Krampfe. Auch war in allen seinen Gedanken ein Jagen, in seinem Herzen ein erhitztes, stürmisches Arbeiten, das keine Ergebung aufkommen ließ. Wenn er für einen Augenblick verzichtet zu haben glaubte, so schien sein Weib und sein Kind, die ihn überleben sollten, dagegen Protest zu erheben und ihn der Selbstsucht zu zeihen.

Doch so war es nur im Anfang. Bald gewann die Erwägung die Oberhand, daß das Schicksal, das ihm bevorstand, ihm nicht zum Schimpf gereiche; denn Scharen hatten vor ihm denselben Gang als Unschuldige angetreten und fügten sich Tag für Tag standhaft in ihr Los. Ein kräftigender Gedanke, dem sich noch die weitere Betrachtung anschloß, daß viel von dem künftigen Seelenfrieden seiner Lieben von der Seelengröße abhing, mit der er aus dem Leben schied. So gewann er allmählich eine ruhigere Stimmung die ihn befähigte, seinen Gedanken einen höheren Aufschwung zu geben und daraus Trost zu holen.

Eh' es noch am Abend nach seiner Verurteilung völlig dunkel geworden war, hatte er bereits diesen Sieg über sich davongetragen. Da er jetzt Licht und Schreibmaterialien kaufen durfte, so setzte er sich nieder, um zu schreiben, bis die Lichter im Gefängnis gelöscht werden mußten.

Er schrieb einen langen Brief an Lucie, in dem er ihr erklärte, daß er von ihres Vaters Einkerkerung nichts gewußt habe, bis er es von ihr selbst erfuhr, und daß er noch viel weniger von der Beteiligung seines Vaters und seines Onkels an diesem Elend unterrichtet gewesen sei, ehe jene Schrift in seiner Gegenwart verlesen wurde. Er habe ihr schon früher mitgeteilt, wie ihr Vater es zur Bedingung seiner Einwilligung in ihre Vermählung gemacht, daß er auch gegen sie den aufgegebenen Namen geheimhalte; dies sei die einzige Zusage gewesen, die er ihm am Morgen der Trauung abgenommen, und er sehe jetzt den Grund davon vollkommen ein. Er bitte sie, um ihres Vaters willen sich nie zu erkundigen, ob er das Vorhandensein jener Schrift ganz vergessen oder ob er dieser für den Moment sich erinnert habe bei der Geschichte vom Tower an jenem Sonntag unter der lieben Platane im Garten. Wenn er eine unbestimmte Erinnerung daran bewahrte, so könne es keinem Zweifel unterliegen, daß er vermutet habe, jene Schrift sei mit der Bastille zugrunde gegangen, weil keiner Erwähnung davon geschehen sei unter den von den Volkshaufen dort aufgefundenen Reliquien der Gefangenen, über die ja in alle Welt hinaus geschrieben worden war. Er ersuche sie – freilich brauche er ihr dies nicht erst ans Herz zu legen – ihren Vater dadurch zu trösten, daß sie in der möglichst schonenden Weise ihn überzeuge, wie er nichts getan hatte, worüber er sich mit Recht einen Vorwurf machen müßte, sondern im Gegenteil um ihrer beiden willen sein eigenes Ich der Vergessenheit überantwortet habe. Er versichere sie seiner dankbaren Liebe bis ans Ende und schicke ihr seinen Segen. Dabei beschwöre er sie, so wahr sie sich im Himmel wiederfinden würden, sich ihrem Kinde zu widmen und ihrem Vater zum Trost zu leben.

Auch ihrem Vater schrieb er in demselben Sinn und fügte an ihn bei, daß er sein Weib und sein Kind ausdrücklich seiner Obhut vertraue. Dies tat er in sehr kräftigen Ausdrücken, indem er hoffte, dadurch die Verzweiflung oder gefährliche Rückblicke in die Vergangenheit abzuwehren, in die der alte Mann, wie er fürchtete, wieder versinken konnte.

Mr. Lorry empfahl er seine Angehörigen, indem er ihm zugleich Aufschlüsse über seine Vermögensangelegenheiten gab. Nachdem er noch die Versicherungen dankbarer Freundschaft und warmer Anhänglichkeit beigefügt hatte, war er mit seiner Arbeit fertig. Cartons gedachte er mit keiner Silbe. Sein Herz war so voll von den übrigen, daß sich für diesen kein Platz mehr fand.

Er war mit seinen Briefen zustande gekommen, noch ehe die Lichter gelöscht werden mußten. Als er sich auf seine Streu niederlegte, tat er es unter dem Eindruck, daß er mit dieser Welt abgeschlossen habe.

Aber sie winkte ihm in seinem Schlafe wieder zurück und zeigte sich in den verlockendsten Gestalten. Frei und glücklich, leichten Herzens und auf eine unerklärliche Weise befreit, bewohnte er wieder das alte Haus in Soho, obschon dieses ganz anders aussah als sonst; Lucie befand sich an seiner Seite und erzählte ihm, es sei alles nur ein Traum und er nie fortgewesen. Eine Pause des Vergessens, und es kam ihm vor, er sei hingerichtet worden und wieder zu ihr zurückgekommen, tot zwar und voll Frieden, aber doch immer noch der alte. Abermals eine Pause des Vergessens, und er erwachte am trüben Morgen, ohne zu wissen, ob er war und was mit ihm vorgegangen, bis es plötzlich in seinem Geiste wieder klar wurde: »Dies ist der Tag deines Todes.«

So waren ihm die Stunden entschwunden bis zu dem Tag, an dem die zweiundfünfzig Köpfe fallen sollten. Und nun er dem Ausgang mit Fassung entgegensah und er ihn mit ruhigem Heldenmut bestehen zu können hoffte, begann in seinen wachen Gedanken eine neue Tätigkeit, die sich nur schwer bewältigen ließ.

Er hatte nie das Instrument gesehen, das seinem Leben ein Ende machen sollte. Wie hoch stand es vom Boden ab – wie viele Stufen führten zu ihm – wo stand es wohl – wie faßte man ihn an – waren die ihn berührenden Hände mit Blut befleckt – wie mußte er sein Gesicht drehen – wer kam zuerst, wer zuletzt an die Reihe? Diese und viele ähnliche Gedanken drängten sich ihm gegen seinen Willen wieder und wieder unzähligemal auf. Sie waren keine Folge der Furcht, – da er dieses Gefühl überwunden hatte, sondern nahmen eher ihren Ursprung in einem seltsamen Drange, zu wissen, wie er sich verhalten sollte, wenn die Zeit kam – allerdings ein Wunsch, der in einem riesigen Mißverhältnis stand zu den paar kurzen Augenblicken, auf die er sich bezog, und ihm eher von einem andern Geist als von seinem eigenen eingegeben zu sein schien.

Die Stunden entwichen, wahrend er auf und ab ging, und die Uhren verkündigten lauter Zahlen, die er nicht wieder hören sollte. Neun vorbei für immer, zehn vorbei für immer, elf vorbei für immer, und die letzte Zwölf stand bald bevor. Nach einem schweren Kampf mit der regellosen Gedankentätigkeit, die ihn so verwirrte, wurde er auch über sie Herr. Er ging auf und ab und sprach leise die Namen seiner Lieben vor sich hin. Das Ärgste war vorüber. Er konnte frei von den sinnberückenden Vorstellungen auf und ab wandeln und für sich und für sie beten.

Zwölf vorbei für immer.

Er hatte vernommen, daß drei die letzte Stunde sein werde, und wußte, daß man die Gefangenen etwas früher abzuholen pflegte, weil die Karren nur langsam und schwerfällig durch die Straßen holperten. Er nahm sich daher vor, sich zwei als die Zeit des Aufbruchs vorzuhalten und in der Zwischenzeit gehörige Kraft zu sammeln, um imstande zu sein, auch auf andere kräftigend einzuwirken.

Während er mit auf der Brust gekreuzten Armen regelmäßigen Schrittes und in ganz anderer Stimmung als in dem Gefängnis La Force auf und ab ging, hörte er ohne Überraschung in der Ferne eins schlagen. Die Stunde war ihm nicht kürzer vorgekommen als die meisten andern. Mit demütigem Dank für die wiedergewonnene Fassung dachte er: »Jetzt habe ich noch eine«, und fuhr in seinem Spaziergang fort.

Fußtritte auf der Steinflur draußen vor der Tür. Er blieb stehen.

Der Schlüssel wurde in das Schloß gesteckt und umgedreht. Ehe die Tür aufging, oder beim Öffnen derselben sagte ein Mann leise in englischer Sprache:

»Er hat mich nie hier gesehen; ich bin ihm stets ferngeblieben. Geht allein hinein; ich will in der Nähe warten. Verliert keine Zeit!«

Die Tür ging rasch auf und wieder zu, und nun stand Angesicht in Angesicht, ruhig, mit dem Licht eines Lächelns auf seinen Zügen Sydney Carton, der den Zeigefinger warnend auf die Lippe legte, ihm gegenüber.

Es war eine so merkwürdige Klarheit in seinem Äußeren, daß der Gefangene im ersten Augenblick ein Geschöpf seiner Einbildungskraft vor sich zu sehen glaubte. Aber er sprach, und es war seine Stimme. Er drückte dem Gefangenen die Hand, und es war ein wirklicher Druck.

»Von allen Menschen auf Erden habt Ihr wohl mich am wenigsten zu sehen erwartet?« sagte er.

»Ich konnte nicht glauben, daß Ihr es seid – kann es kaum jetzt glauben. Ihr seid doch nicht« – ein plötzlicher Argwohn stieg in ihm auf – »ein Gefangener?«

»Nein. Ich besitze zufällig Gewalt über einen von den Schließern hier, und diesem Umstand habe ich zu danken, daß ich vor Euch stehe. Ich komme von ihr – von Eurer Frau, mein lieber Darnay.«

Der Gefangene drückte ihm die Hand.

»Ich bringe Euch eine Bitte von ihr.«

»Die wäre?«

»Eine sehr ernste, dringende und flehentliche Bitte, die sie in den ergreifendsten Tönen ihrer Euch so wohlbekannten Stimme an Euch richtet.«

Der Gefangene wendete sein Angesicht halb ab.

»Ihr habt keine Zeit, mich zu fragen, warum ich der Überbringer sei und auf was sie abziele, wie denn auch mir die Zeit zum Antworten gebricht. Laßt's Euch genügen, wenn ich Euch sage: legt diese Eure Stiefel ab und zieht die meinigen an.«

Hinter dem Gefangenen stand ein Stuhl an der Wand der Zelle. Carton hatte mit Blitzeseile ihn darauf niedergedrückt und stand im Nu barfüßig vor ihm.

»Zieht meine Stiefel an. Hand angelegt; zieht herzhaft – hurtig!«

»Carton, von hier ist an ein Entrinnen nicht zu denken. Es geht nicht. Ich zöge Euch nur mit in den Untergang. Es ist Wahnsinn.«

»Es wäre allerdings Wahnsinn, wenn ich Euch zumuten wollte zu fliehen; aber tu ich dies denn? Wenn ich von Euch verlange, Ihr sollet zu jener Tür hinausgehen, dann mögt Ihr sagen, es sei Wahnsinn, und könnt dableiben. Tauscht Eure Halsbinde gegen die meinige. Euren Rock gegen den meinigen aus. Und während Ihr dies tut, will ich das Band aus Eurem Haar nehmen und Euer Haar so durcheinander werfen wie das meinige.«

Mit wunderbarer, fast übernatürlich scheinender Behendigkeit und Kraft des Willens sowohl als der Tat zwang er dem andern alle diese Veränderungen auf. Der Gefangene war in seinen Händen wie ein kleines Kind.

»Carton! Lieber Carton! Es ist Wahnsinn. Es kann nicht gelingen und ist nie gelungen; man hat es schon versucht, aber es ist immer mißglückt. Ich bitte Euch, macht mir den Tod nicht durch den Eurigen noch herber.«

»Verlang' ich denn von Euch, Ihr sollet zu der Tür hinausgehen, mein lieber Darnay? Wenn ich Euch dieses Ansinnen stelle, so ist es immer noch Zeit, Euch zu weigern. Ihr habt da Tinte, Feder und Papier auf Eurem Tisch. Ist Eure Hand stetig genug, um zu schreiben?«

»Sie war es, als Ihr hereinkamt.«

»So nehmt Euch wieder zusammen und schreibt, was ich Euch diktiere. Rasch, Freund, rasch!«

Die Hand an den wirren Kopf drückend, setzte sich Darnay vor dem Tisch nieder. Carton stand dicht neben ihm und hatte die rechte Hand in seiner Brust stecken.

»Schreibt genau, was ich sage.«

»An wen soll ich adressieren?«

»An niemanden.« Carton hatte noch die Hand in seiner Brust.

»Datum?«

»Kein«.«

Der Gefangene schaute bei jeder Frage auf. Carton stand mit der Hand in seiner Brust neben ihm und sah auf ihn nieder.

»›Wenn Ihr Euch der Worte erinnert‹«, sagte Carton diktierend, »›die vor langer Zeit zwischen uns fielen, so werdet Ihr diese Zeilen leicht verstehen, wenn sie Euch zu Gesicht kommen. Ich weiß, Ihr erinnert Euch ihrer. Es liegt nicht in Eurer Natur, etwas Derartiges zu vergessen.‹«

Er zog seine Hand aus der Brust; als der Gefangene zufällig verwundert von seinem Papier aufsah, fuhr die Hand zurück und schloß sich über etwas.

»Habt Ihr geschrieben ›zu vergessen?‹« fragte Carton.

»Ja. Was habt Ihr in der Hand? Eine Waffe?«

»Nein. Ich bin nicht bewaffnet.«

»Was habt Ihr sonst?«

»Ihr werdet's bald erfahren. Schreibt fort. Es sind nur noch wenige Worte.« Er diktierte wieder. »›Ich danke Gott, daß die Zeit gekommen ist, in der ich sie betätigen kann, und wenn ich es tue, so geschieht es ohne Leid und Bedauern.‹« Während er diese Worte, ohne seine Augen von dem Schreiber zu verwenden, sprach, bewegte sich seine Hand leicht und langsam gegen das Gesicht des Gefangenen hin.

Die Feder entsank Darnays Fingern, und er starrte ausdruckslos umher.

»Was ist dies für ein Geruch?« fragte er.

»Geruch?«

»Es ist mir etwas in die Nase gekommen.«

»Ich weiß von nichts. Ihr bildet Euch dies ein. Nehmt die Feder wieder auf, daß wir fertig werden. Rasch, rasch!«

Der Gefangene suchte, als sei sein Gedächtnis verwirrt oder sein Geist nicht in Ordnung, sich zu sammeln. Wahrend er mit umwölktem Blick und schwer gehendem Atem Carton ansah, schaute dieser, die Hand wieder in seiner Brust, stetig auf ihn nieder.

»Rasch, rasch!«

Der Gefangene beugte sich abermals über sein Papier.

»›Wäre es nicht so‹«, Cartons Hand stahl sich wieder sachte und behutsam nieder, »›so würde ich nicht die Gelegenheit dazu benutzt haben. Aber dann lastete wohl‹«, die Hand schwebte vor dem Gesicht des Gefangenen, »›noch manche schwere Verantwortung auf meiner Seele. Wäre es anders gewesen –‹«

Carton sah nach der Feder hin und bemerkte, daß sie träge nur noch unleserliche Zeichen hinkritzelte. Seine Hand bewegte sich nicht mehr nach der Brust. Der Gefangene sprang mit einem vorwurfsvollen Blick auf, aber Cartons Hand war dicht und fest an seinen Nasenlöchern, und dessen linker Arm hatte sich um seinen Leib geschlungen. Einige Augenblicke kämpfte er schwach gegen den Mann an, der gekommen war, um für ihn sein Leben zu opfern. Aber nach Ablauf einer Minute oder so lag er besinnungslos am Boden.

Hurtig und mit ebenso sicherer Hand wie mit treuem Herzen schlüpfte Carton in die Kleider, die der Gefangene abgelegt hatte, kämmte sich das Haar zurück und band es mit dem Band zusammen, das Darnay getragen hatte. Dann rief er leise: »So, jetzt herein!« und der Spion trat in die Zelle.

»Seht Ihr?« sagte Carton aufschauend, während er neben dem besinnungslosen Manne auf einem Knie lag und das Papier in dessen Brusttasche steckte: »lauft Ihr da große Gefahr?«

»Mr. Carton«, antwortete der Spion mit einem schüchternen Fingerschnippen, »bei der Menge des Geschäfts an diesem Platze liegt meine Gefahr nicht hierin, wenn Ihr nur der Übereinkunft im Ganzen treu bleibt.«

»Fürchtet nichts von mir. Ich werde treu sein bis in den Tod.«

»Dies müßt Ihr auch, Mr. Carton; denn an der Zahl Zweiundfünfzig darf nichts fehlen. Wenn Ihr in diesem Anzug auftretet, so werde ich nichts zu fürchten haben.«

»Seid unbesorgt. Ich werde bald da sein, wo ich Euch nicht mehr schaden kann, und so Gott will, sind die andern bald weit von hier. Legt Hand an und bringt mich nach der Kutsche.«

»Euch?« fragte der Spion ängstlich.

»Den, mit dem ich mich ausgewechselt habe, Mensch. Ihr geht wieder zu dem Tor hinaus, durch das Ihr mich hereingebracht habt?«

»Natürlich.«

»Ich war schwach und elend, als ich mit Euch herkam, und seitdem ist mir viel schlechter geworden. Der Abschiedsschmerz hat mich überwältigt. Solche Dinge sind hier schon oft, nur zu oft vorgekommen. Euer Leben steht in Eurer eigenen Hand. Geschwind, ruft Beistand herbei!«

»Ihr schwört, mich nicht zu verraten?« sagte der zitternde Spion, der noch im letzten Augenblick zögerte.

»Mensch, Mensch!« rief Carton mit dem Fuße stampfend, »habe ich nicht bereits das feierliche Gelübde getan, dies zu Ende zu bringen? Warum vergeudest du jetzt die kostbaren Augenblicke? Schafft ihn nach dem Hofe hinunter, setzt Euch selbst zu ihm in den Wagen, bringt ihn zu Mr. Lorry und sagt ihm, er brauche kein anderes Belebungsmittel als frische Luft; er soll meiner Worte und seiner Zusage von gestern nacht eingedenk sein und unverweilt fortfahren.«

Der Spion entfernte sich, und Carton nahm an dem Tisch Platz, die Stirne mit den Händen unterstützend. Bald darauf kehrte Barsad mit zwei Männern zurück.

»He, was ist dies?« sagte der eine, die hingestreckte Gestalt betrachtend. »So tief betrübt, daß sein Freund in der Lotterie der heiligen Guillotine einen Preis gewonnen hat?«

»Einem guten Patrioten«, bemerkte der andere, »wäre es kaum schwerer zu Herzen gegangen, wenn der Aristokrat eine Niete gezogen hätte.«

Sie hoben den Besinnungslosen auf, schoben ihn in eine Sänfte, die sie mit herausgebracht hatten, und schickten sich an, ihn fortzutragen.

»Die Zeit ist kurz, Evrémonde«, sagte der Spion mit warnender Stimme.

»Ich weiß es wohl«, antwortete Carton. »Ich bitte, nehmt meinen Freund in acht, und verlaßt mich.«

»So kommt, meine Kinder«, sagte Barsad. »Auf und fort!«

Die Tür schloß sich, und Carton war allein. Er lauschte so aufmerksam, als er konnte, ob sich nicht ein Ton vernehmen lasse, der Argwohn oder gar Entdeckung verriete. Nein. Schlüssel klirrten, Türen schlugen zu, und Fußtritte bewegten sich durch die fernen Gänge; aber aus keiner Richtung tönte ein Lärm oder Getöse, das als ungewöhnlich erscheinen konnte. Nachdem er eine Weile freier geatmet hatte, setzte er sich an den Tisch nieder und horchte aufs neue, bis die Glocke zwei schlug.

Nun begannen Töne hörbar zu werden, die er nicht fürchtete, da er ihre Bedeutung ahnte. Mehrere Türen wurden der Reihe nach geöffnet, endlich auch seine eigene. Ein Schließer mit einer Liste in der Hand sah bloß herein und sagte: »Folgt mir, Evrémonde.« Der Mann führte ihn weit weg nach einem großen dunkeln Saal. Es war ein trüber Wintertag, und bei dem Dunkel von innen und dem Dunkel von außen konnte er die andern, die man hergebracht hatte, um ihnen die Hände zu binden, nur undeutlich unterscheiden. Einige standen, andere saßen. Etliche, aber nur wenige, gingen unstet und jammernd hin und her. Die meisten verhielten sich still und hatten die Blicke auf den Boden geheftet.

Er stand in einem dunkeln Winkel an die Wand gelehnt, als nach ihm noch mehr von den zweiundfünfzig hereingebracht wurden. Ein Mann machte im Vorübergehen halt, um ihn als einen Bekannten zu umarmen. Furcht vor Entdeckung durchschauerte ihn. Aber der Mann ging weiter. Einige Augenblicke später erhob sich eine weibliche Gestalt mit mädchenhaften Zügen, ein liebliches, schmächtiges, leichenblasses Gesicht mit großen, weit offenen, geduldigen Augen von dem Sitze, wo er sie beobachtet hatte, und kam auf ihn zu, um ihn anzureden.

»Bürger Evrémonde«, sagte sie, ihn mit kalter Hand berührend, »ich bin die arme Näherin, die mit Euch in der Force saß.«

Er murmelte als Antwort:

»Richtig. Ich vergaß, wessen Ihr angeklagt seid.«

»Des Komplotts, obschon der gerechte Himmel weiß, daß ich so unschuldig bin wie nur irgendein Mensch. Wie wäre es auch möglich? Wer dächte ans Verschwören mit einem so armen, schwachen Geschöpf, wie ich bin?«

Das schmerzliche Lächeln, mit dem sie dies sprach, bewegte ihn so, daß ihm Tränen in die Augen traten.

»Ich fürchte mich nicht zu sterben, Bürger Evrémonde; aber ich habe nichts verbrochen. Ich sterbe gern, wenn die Republik, die den Armen so viel Gutes bringen soll, von meinem Tod einen Vorteil hat. Nur sehe ich nicht ein, wie dies möglich ist, Bürger Evrémonde. So ein armes, schwaches, kleines Geschöpf!«

Eine letzte Erdenregung – sein Herz schlug wärmer und voll Mitleid für das bejammernswürdige junge Wesen.

»Ich hörte, Ihr seid in Freiheit gesetzt, Bürger Evrémonde, und hoffte, es möchte wahr sein.«

»Es war so. Aber ich wurde wieder festgenommen und verurteilt.«

»Wenn ich auf Euren Wagen komme, Bürger Evrémonde, so erlaubt Ihr mir wohl, mich an Eurer Hand zu halten? Ich fürchte mich nicht; aber ich bin klein und schwach, und es würde mich ermutigen.«

Als sie ihre geduldigen Augen zu seinem Gesicht erhob, las er darin einen plötzlichen Zweifel und dann den Ausdruck des Erstaunens. Er drückte ihre magern, vom Hunger abgezehrten Finger und fühlte sie an seine Lippen.

»Ihr wollt für ihn sterben?« flüsterte sie.

»Und für sein Weib und sein Kind. Pst! Ja.«

»Und Ihr wollt mir erlauben, daß ich mich an Eurer Hand halte, edler Fremdling?«

»Pst! Ja, meine arme Schwester: bis ans Ende.«

* * *

Dieselben Schatten, die auf das Gefängnis niederfallen, lagern um dieselbe frühe Stunde des Nachmittags auf dem Gewühl, das draußen die Barriere umgibt. Eine Kutsche, die Paris verlassen will, kommt angefahren und wird visitiert.

»Wer kommt da? Wer ist drinnen? Papiere?«

Die Papiere wurden hinausgereicht und untersucht.

»Alexander Manette. Arzt. Franzose. Welcher ist es?«

Dieser hier, der hilflose, unverständlich vor sich hinmurmelnde, geistesschwache alte Mann.

»Es scheint, der Bürger Doktor ist nicht recht bei Sinnen. Das Revolutionsfieber wird ihm wohl zu stark gewesen sein.«

Jawohl; viel zu stark.

»Ha, es geht vielen so. Lucie. Seine Tochter. Französin. Welche ist's?«

Diese hier.

»Ja, die ist's augenscheinlich. Lucie, das Weib Evrémondes, nicht wahr?«

Ja.

»Ha, Evrémonde hat seinen Paß anderswohin visiert erhalten. Lucie, ihr Kind. Geborne Engländerin. Ist's diese?«

Sie und keine andere.

»Gib mir einen Kuß, Kind des Evrémonde. Na, du hast einen guten Republikaner geküßt, und das ist etwas Neues in deiner Familie. Vergiß es nicht. Sydney Carton. Rechtsanwalt. Engländer. Welcher ist's?«

Er liegt hier in der Wagenecke. Auch er wird besichtigt.

»Es scheint, der englische Advokat ist ohnmächtig?«

Man hofft, er werde sich erholen, wenn er in die frische Luft kommt. Er ist von schwächlicher Gesundheit und wurde von einem Freund getrennt, der sich das Mißfallen der Republik zugezogen hat.

»Sonst nichts? Das will nicht viel heißen. Viele ziehen sich das Mißfallen der Republik zu und müssen durch das kleine Fenster schauen. Jarvis Lorry. Bankier. Engländer. Welcher ist's?«

»Ich bin's natürlich; es ist sonst niemand mehr da.«

Jarvis Lorry ist's, der alle die früheren Fragen beantwortet hat. Er ist ausgestiegen und steht da, die Hand auf dem Kutschenschlag, um den Barrierewächtern Auskunft zu geben. Sie umwandeln gemächlich den Wagen und besteigen das Fußbrett, um das wenige Gepäck auf dem Dache zu untersuchen. Die Landleute lungern umher, drängen sich rechts und links an den Kutschenschlag und glotzen hinein. Ein Kind, das die Mutter auf den Armen trägt, streckt den kleinen Arm aus, um das Weib eines Aristokraten anzurühren, der zur Guillotine gegangen ist.

»Da habt Ihr Eure unterzeichneten Papiere, Jarvis Lorry.«

»Kann man abfahren, Bürger?«

»Man kann abfahren. Vorwärts, Postillione. Glückliche Reise!«

»Gott befohlen, Bürger. – Die erste Gefahr vorüber!«

Letztere Worte spricht Jarvis später, während er mit einem Blick nach oben die Hände faltet. Im Wagen herrscht Angst und Weinen, und der besinnungslose Reisende atmet schwer.

»Geht es nicht zu langsam? Kann man die Postknechte nicht bewegen, schneller zu fahren?« fragt Lucie, sich an den alten Mann anschmiegend.

»Es würde einer Flucht gleichsehen, meine Liebe. Wir dürfen sie nicht zu sehr drängen, um nicht Verdacht zu wecken.«

»Schaut zurück, schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden.«

»Der Weg ist frei, mein Kind. Bis jetzt kann ich noch nichts von einer Verfolgung wahrnehmen.«

Häuser zu zwei und drei ziehn an uns vorüber. Einzeln stehende Meiereien, verfallenere Gebäude, Gerbereien und dergleichen, offenes Land, Alleen mit laublosen Bäumen. Unter uns hartes unebenes Pflaster, zu beiden Seiten tiefer weicher Schmutz. Bisweilen geraten wir, wenn wir den rüttelnden Steinen ausweichen wollen, in spritzenden Schlamm, und bisweilen bleiben wir in den Pfützen und Geleisen stecken. Die Qual unserer Ungeduld wird dann so überwältigend, daß wir in wildem Schrecken aussteigen, davonrennen, uns irgendwo verstecken, kurz, alles tun wollen, nur nicht halten.

Aus dem freien Feld wieder zu verfallenen Gebäuden, einsamen Meierhöfen, Gerbereien und dergleichen, Häusern zu zwei oder drei und laublosen Alleen. Haben diese Männer uns getäuscht und bringen sie uns auf einem andern Weg wieder zurück? Sind wir nicht schon einmal hier gewesen? Gott sei Dank, nein. Ein Dorf. Schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden. Pst! das Posthaus.

Unsere vier Pferde werden gemächlich ausgespannt; die Kutsche bleibt träg und ohne Pferde in der engen Straße stehen, als wolle sie nie wieder fort. Langsam treten die neuen Rosse, eines um das andere, in ein sichtbares Dasein; in aller Muße kommen die neuen Postknechte nach und saugen und flechten an den Schmicken ihrer Peitschen. Gemächlich zählen die alten Postillione ihr Geld, verrechnen sich und kommen zu unbefriedigenden Resultaten. Und die ganze Zeit über klopfen unsere gepreßten Herzen mit einer Geschwindigkeit, als wollten sie den schnellsten Galopp der schnellsten Pferde, die je ihre Muskelkraft versuchten, überbieten.

Endlich sitzen die neuen Postknechte in ihren Sätteln, und die alten bleiben zurück. Wir haben das Dorf im Rücken. Es geht bergauf, wieder bergab und weiter in dem nassen Tiefland. Plötzlich geraten die Postillione in einen von lebhaften Gebärden begleiteten Wortwechsel; sie halten die Rosse an, daß sie sich bäumen. Wir werden verfolgt!

»Ho, ihr da drinnen im Wagen – hört ihr?«

»Was soll's?« fragt Mr. Lorry zum Fenster hinaussehend.

»Wie viele haben sie gesagt?«

»Ich verstehe Euch nicht.«

»Die andern Postknechte. Wie viele heut unter die Guillotine?«

»Zweiundfünfzig.«

»Ich sagt' es ja; eine hübsche Zahl. Mein Mitbürger da behauptet, sie hätten von zweiundvierzig gesprochen. Zehn Köpfe mehr sind schon der Mühe wert. Die Guillotine arbeitet wacker; sie gefällt mir. Hi, vorwärts!«

Die Nacht bricht herein mit ihrer Dunkelheit. Er bewegt sich stärker, beginnt wieder aufzuleben und unverständliche Worte zu stammeln. Er meint, sie seien noch immer beisammen, nennt ihn bei Namen und fragt ihn, was er in der Hand habe, O gütiger Himmel, erbarme dich unser und steh' uns bei! Schaut hinaus, und seht, ob wir nicht verfolgt werden!

Der Wind jagt uns nach, die Wolken fliegen uns nach, der Mond segelt hinter uns her, und die ganze wilde Nacht ist hinter uns her; aber bis jetzt werden wir von nichts anderm verfolgt.

*

 


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