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Lieber Mr. Clennam!
Ich schreibe Ihnen aus meinem Zimmer in Venedig, in der Erwartung, daß es Sie freuen werde, von mir zu hören. Aber ich weiß, es kann Ihnen keine so große Freude bereiten, von mir zu hören, als mir, Ihnen zu schreiben; denn alles um Sie her ist, wie Sie es zu sehen gewohnt sind, und Sie vermissen nichts – wenn nicht mich, was nur auf Augenblicke und höchst selten der Fall sein mag –, während alles in meinem jetzigen Leben so fremdartig ist und ich so viel vermisse.
Als wir in der Schweiz waren, was mich jetzt schon dünkt, als wäre es vor Jahren gewesen, obgleich es nur wenige Wochen her ist, traf ich die junge Mrs. Gowan, die, wie wir, sich auf einem Bergausflug befand. Sie sagte mir, sie sei sehr wohl und sehr glücklich. Sie trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme danke und Sie nie vergessen werde. Sie sprach sehr vertraulich mit mir, und ich liebte sie beinahe im ersten Augenblick, als ich mit ihr sprach. Aber dabei ist nichts zu verwundern: wer müßte nicht ein so schönes und gewinnendes Wesen lieben! Ich würde über keinen erstaunen, der sie liebte. Nein, wahrhaftig nicht.
Es wird Ihnen hoffentlich keinen Kummer bereiten – denn ich erinnere mich, daß Sie sagten, Sie hätten das Interesse eines wahren Freundes für sie –, wenn ich Ihnen sage, ich wünschte, sie hätte einen Mann geheiratet, der besser für sie paßte. Mr. Gowan scheint sie zu lieben, und natürlich liebt auch sie ihn sehr, aber mir kam es vor, als wenn er es nicht ernst genug meinte, – ich meine nicht in dieser Hinsicht, ich meine im ganzen. Ich konnte mir's nicht aus dem Kopf bringen, daß, wenn ich Mrs. Gowan wäre (welcher Tausch würde das sein und wie müßte ich mich ändern, um ihr zu gleichen), ich mich allein und verlassen fühlen würde, weil mir jemand fehlte, der fest und beharrlich im Entschlusse wäre. Mir kam es sogar vor, als wenn sie diesen Mangel etwas fühlte, jedoch ohne es genau zu wissen. Aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen, denn sie war »sehr wohl und sehr glücklich«. Und sie sah außerordentlich hübsch aus.
Ich hoffe, sie in kurzer Zeit wiederzusehen und erwarte sie sogar seit einigen Tagen hier. Ich werde ihr stets so freundlich um Ihretwillen zugetan sein wie ich kann. Lieber Mr. Clennam, Sie werden wohl wenig daran denken, daß Sie mir ein Freund gewesen sind, wie ich keinen andern hatte (nicht daß ich jetzt welche hätte: denn ich habe keine neuen Freundschaften geschlossen), ich denke viel daran und kann es nicht vergessen.
Ich möchte wohl wissen – aber es ist am besten, wenn mir niemand schreibt –, wie sich Mr. und Mrs. Plornish bei dem Geschäft befinden, das ihnen mein lieber Vater gekauft, und ob der alte Mr. Nandy glücklich bei ihnen und seinen zwei Enkeln lebt und immer und immer wieder seine alten Lieder singt. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn ich an meine arme Maggy denke und die Leere, die sie anfangs ohne ihr Mütterchen gefühlt haben muß, so freundlich sie auch alle gegen sie sind. Wollen Sie sie besuchen und ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit meinen besten Grüßen sagen, daß sie unsere Trennung nicht inniger beklagt haben kann als ich? Und wollen Sie ihnen allen sagen, daß ich jeden Tag an sie gedacht habe, daß mein Herz treu an ihnen hängt, wie ich auch sein mag? Oh, wenn Sie wissen könnten, wie treu, Sie würden mich beinahe bemitleiden, daß ich so fern und so reich bin.
Sie werden sich gewiß freuen zu erfahren, daß mein lieber Vater sehr wohl ist und daß all diese Veränderungen sehr wohltätig auf ihn einwirkten, und daß er ganz anders ist als damals, da Sie ihn noch häufig besuchten. Auch mit meinem Onkel, glaube ich, ist eine Veränderung zum Bessern vorgegangen, wenn er sich auch früher nie beklagte und über das Jetzt nicht gerade in Entzücken gerät. Fanny ist sehr anmutig, lebhaft und gewandt. Es steht ihr ganz natürlich, die Lady zu spielen, sie hat sich an unser neues Glück mit wunderbarer Leichtigkeit gewöhnt.
Das erinnert mich daran, daß es mir nicht so leicht wird und daß ich bisweilen ganz daran verzweifle. Ich finde, daß ich das nicht lernen kann. Mrs. General ist immer mit uns, und wir sprechen Französisch und sprechen Italienisch, und sie gibt sich Mühe, uns auf mancherlei Weise zu bilden. Wenn ich sage, wir sprechen Französisch und Italienisch, so meine ich, sie tun's. Was mich betrifft, so bin ich so langsam, daß ich kaum weiter komme. Sobald ich Pläne zu entwerfen, nachzudenken und Versuche zu machen beginne – geht all mein Planentwerfen, Nachdenken und Versuchemachen in alten Geleisen, und ich fange wieder an, um die Kosten des Tages und um meinen Vater und meine Arbeit zu sorgen, und dann erinnere ich mich wieder, daß keine solchen Sorgen mehr existieren, und das ist mir an und für sich so neu und unwahrscheinlich, daß ich mich dem Grübeln ergebe. Ich hätte nicht den Mut, das gegen irgend jemanden als gegen Sie zu erwähnen.
Dasselbe ist mit all diesen neuen Ländern und wunderbaren Szenen der Fall. Sie sind sehr schön und setzen mich in Erstaunen, aber ich bin nicht gesammelt genug, nicht vertraut genug mit mir, wenn Sie verstehen können, was ich damit meine – all das Vergnügen aus ihnen zu schöpfen, das ich haben könnte. Was ich vor ihnen kennenlernte, vermischt sich überdies mit ihnen so seltsam. Zum Beispiel, als wir in den Bergen waren, war mir's oft (ich zögere, selbst Ihnen so lächerliche Geschichten zu erzählen, Mr. Clennam), als wenn das Marschallgefängnis hinter diesem großen Felsen sein müßte, oder als wenn das Zimmer von Mrs. Clennam, wo ich so manchen Tag gearbeitet und wo ich Sie zum ersten Male sah, jenseits dieses Schneefeldes sein müßte. Erinnern Sie sich jener Nacht, als ich mit Maggy nach Ihrer Wohnung in Covent Garden kam? Es war oft und häufig, als wenn ich jenes Zimmer vor mir sähe und es meilenweit neben unsrem Wagen herginge, wenn ich zum Fenster hinaus in die Dunkelheit sah. Wir waren jene Nacht ausgeschlossen und saßen an dem eisernen Tor und gingen umher bis zum Morgen. Ich sehe oft zu den Sternen empor, namentlich von dem Balkon dieses Zimmers aus, und glaube wieder in jener Straße zu sein, mit Maggy ausgeschlossen. Das gleiche ist mit den Menschen der Fall, die ich in England zurückgelassen. Wenn ich hier in einer Gondel umherfahre, überrascht es mich oft selbst, daß ich, in andre Gondeln blickend, sie zu sehen hoffte. Es würde mir eine unendliche Freude bereiten, sie zu sehen, aber ich glaube nicht, daß es mich anfangs sehr überraschen würde. In meinen träumerischen Stunden ist es mir, als wenn sie überall sein müßten; und ich meine ihre lieben Gesichter auf Brücken und Quais zu sehen.
Eine andre Schwierigkeit, die ich habe, wird Ihnen sehr seltsam erscheinen und erscheint mir sogar so: ich fühle oft das alte traurige Mitleid mit – ich brauchte das Wort nicht zu schreiben – mit ihm. Obgleich er in ganz andrer Lage ist, und so unaussprechlich glücklich und dankbar ich bin, daß ich das weiß, drängt sich das alte kummervolle Gefühl des Mitleids mir bisweilen mit solcher Heftigkeit auf, daß ich wünsche, ich könnte meinen Arm um seinen Hals schlingen, ihm sagen, wie ich ihn liebe, und einige Zeit an seiner Brust weinen. Ich würde dann wieder froh und stolz und glücklich sein. Aber ich weiß, daß ich das nicht tun darf, daß er es nicht gern sähe, daß Fanny ärgerlich würde und Mrs. General aufstaunen müßte, und so beruhige ich mich wieder. Aber wenn ich das tue, kämpfe ich mit dem Gefühl, daß ich eine Kluft zwischen mir und ihm entstehen sehen muß, und daß er mitten unter all seinen Dienern und Untergebenen verlassen ist und ich ihm fehle.
Lieber Mr. Clennam, ich habe viel von mir geschrieben, aber ich muß noch etwas mehr schreiben; denn das, woran mir am meisten lag, daß es in diesem schwachen Briefe eine Stelle finde, müßte sonst ausbleiben. Bei all diesen meinen törichten Gedanken, die ich so kühn war. Ihnen zu bekennen, weil ich weiß, daß Sie allein mich verstehen, wenn irgend jemand dazu imstande ist, und mehr Nachsicht gegen mich haben werden, als irgend jemand sonst, wenn Sie es nicht können – bei all diesen törichten Gedanken ist einer, der kaum je – nie – aus meinem Gedächtnis schwinden wird, und dieser ist, daß ich hoffe, Sie werden bisweilen in einem stillen Augenblick an mich denken. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in dieser Beziehung beständig, seit ich fort bin, eine Angst habe, die ich mir um jeden Preis vom Herzen zu schaffen wünsche. Ich fürchtete, Sie möchten mich in einem neuen Licht, als ein neues Wesen betrachten. Tun Sie das nicht – ich könnte es nicht ertragen – es würde mich unglücklicher machen, als Sie vermuten. Um was ich Sie bitten und ersuchen möchte, ist, daß Sie nie an mich als an die Tochter eines reichen Mannes denken; daß Sie nie an mich denken, als ob ich besser gekleidet wäre, besser lebte, denn da ich Sie zum ersten Male sah. Daß Sie sich meiner nur als des dürftig gekleideten Mädchens erinnern, das Sie mit so viel Zärtlichkeit beschützt, von dessen fadenscheinigem Kleid Sie den Regen abgehalten und dessen nasse Füße Sie an Ihrem Kamin getrocknet haben. Daß Sie an mich und meine wahre Liebe und innige Dankbarkeit (wenn Sie überhaupt an mich denken) immer und ohne Veränderung gedenken, als an
Ihr armes Kind
Klein-Dorrit.
PS. Besonders erinnern Sie sich, daß Sie wegen Mrs. Gowan nicht unruhig sein dürfen. Ihre Worte waren: »Sehr wohl und sehr glücklich.« Und sie sah außerordentlich hübsch aus.