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Die Familie war ein bis zwei Monate in Venedig gewesen, als Mr. Dorrit, der viel unter Grafen und Marquis verkehrte und nur wenig übrige Zeit hatte, sich vornahm, eine Stunde an einem besondern Tage zu dem Zweck zu erübrigen, um eine Konferenz mit Mrs. General zu halten.
Als die Zeit, die er sich in Gedanken reserviert hatte, gekommen war, schickte er Mr. Tinkler, seinen Kammerdiener, nach Mrs. Generals Zimmer, (das ungefähr ein Dritteil der Grundfläche des Marschallgefängnisses eingenommen haben würde), um dieser Dame seine Empfehlung zu sagen und sie wissen zu lassen, daß er wünsche, sie möge ihm die Gefälligkeit einer Unterredung mit ihr gönnen. Da es die Zeit des Vormittags war, in der die verschiedenen Glieder der Familie auf ihren besondern Zimmern Kaffee tranken, etwa zwei Stunden, ehe man sich in einer verblichenen Halle, die ehemals prächtig gewesen, nun aber die Beute wässriger Dünste und steter Melancholie war, zum Frühstück versammelte, so konnte der Kammerdiener bei Mrs. General vorkommen. Der Abgesandte fand sie auf einem kleinen viereckigen Teppich, der so außerordentlich winzig war im Vergleich mit dem Umfang ihres steinernen und marmornen Fußbodens, daß es aussah, als ob sie ihn ausgebreitet, um eine Paar neuer, im Laden gekaufter Schuhe darauf anzuprobieren, oder als wenn sie in den Besitz des bezauberten Stückes Teppich gekommen, der von einem der drei Prinzen in Tausend und eine Nacht für vierzig Beutel gekauft worden war, – und nun auf ihren Wunsch hin, in diesem Augenblick, auf demselben in einen Salon eines Palastes getragen wäre, der in gar keiner Beziehung zu ihr stand.
Da Mrs. General dem Abgesandten, die leere Kaffeetasse niedersetzend, antwortete, sie beabsichtige sich augenblicklich nach dem Zimmer von Mr. Dorrit zu begeben, um ihm die Mühe, zu ihr zu kommen, zu ersparen (was er ihr in seiner Galanterie vorgeschlagen), so stieß der Abgesandte die Tür auf und begleitete Mrs. General zu seinem Herrn. Es war wirklich ein weiter Weg über geheimnisvolle Treppen und Gänge von Mrs. Generals Zimmer nach Mr. Dorrits Gemach: ersteres wurde durch eine enge Seitenstraße, mit einer niedern finstern Brücke, und kerkerartige gegenüberliegende Häuser verdunkelt, deren Mauern mit Tausenden von abwärts gehenden Flecken und Streifen beschmiert waren, als wenn jede baufällige Öffnung in denselben Tränen von Rost seit Jahrhunderten in das Adriatische Meer geweint hatte: das letztere hatte so viel Fenster wie eine ganze englische Hausfront, die Aussicht auf herrliche Kirchtürme, die aus dem Wasser, das sie widerspiegelte, in den klaren blauen Himmel emporstiegen, und man hörte das gedämpfte Gemurmel des großen Kanals, der die Torwege umspülte und auf dem die Gondoliere auf einen Befehl harrten, indem sie träge zwischen dem kleinen Wald von Pfählen hin und her schwammen.
Mr. Dorrit, der einen glänzenden Morgenrock und eine elegante Mütze trug – die schlafende Raupe, die so lange ihre Zeit unter den Kollegen ausgehalten, hatte sich in einen seltenen Schmetterling verwandelt –, erhob sich, um Mrs. General zu empfangen. Einen Stuhl für Mrs. General. Einen bequemeren Stuhl, Sir; was tun Sie, was machen Sie, was wollen Sie? Nun, verlassen Sie uns!
»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »ich nahm mir die Freiheit –«
»Nicht doch!« warf Mrs. General ein. »Ich stand ganz zu Ihrem Befehl. Ich hatte meinen Kaffee getrunken.«
»Ich nahm mir die Freiheit«, wiederholte Mr. Dorrit, mit der vornehmen Selbstgefälligkeit eines Mannes, der über jede Verbesserung erhaben ist, »mir die Gunst einer kleinen Privatunterhaltung mit Ihnen zu erbitten, – weil mir meine – ha – meine jüngere Tochter ziemlich viel Sorge macht. Sie werden einen großen Unterschied im Temperament zwischen meinen zwei Töchtern bemerkt haben, Madame?«
Mrs. General antwortete, indem sie die behandschuhten Hände ineinanderlegte (sie war nie ohne Handschuhe, und diese waren nie schmutzig und immer sehr anliegend): »Es ist allerdings ein großer Unterschied.«
»Darf ich Sie um die Gefälligkeit ersuchen, mir Ihre Ansicht darüber mitzuteilen?« sagte Mr. Dorrit mit einer Herablassung, die mit majestätischer Ruhe wohl vereinbar war.
»Fanny«, versetzte Mrs. General, »hat Charakterstärke und Selbstvertrauen; Amy beides nicht.«
Nicht? Oh, Mrs. General, fragen Sie die Steine und Gitter des Marschallgefängnisses. Oh, Mrs. General, fragen Sie die Putzmacherin, die sie nähen lehrte, und den Tanzmeister, der ihre Schwester im Tanzen unterwies. Oh, Mrs. General, Mrs. General, fragen Sie mich, ihren Vater, was ich ihr schuldig bin; und hören Sie mein Zeugnis über das Leben dieses schwächlichen, kleinen Geschöpfes von ihrer Kindheit an!
Keine solche Beschwörung kam Mr. Dorrit in den Sinn. Er blickte Mrs. General an, die in ihrer gewöhnlichen aufrechten Haltung auf ihrem Wagensitz hinter ihren Anstandsgefühlen saß, und sagte in gedankenvoller Weise: »Richtig, Madame.«
»Merken Sie wohl«, sagte Mrs. General, »ich möchte nicht so verstanden werden, als wollte ich sagen, es sei nichts an Fanny zu tadeln. Es ist vielleicht nur zuviel Material vorhanden.«
»Wollen Sie so freundlich sein, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »sich etwas – ha – deutlicher auszusprechen. Ich verstehe nicht ganz, was das heißen soll, es sei bei meiner älteren Tochter zuviel Material vorhanden. Was für Material?«
»Fanny«, versetzte Mrs. General, »bildet sich gegenwärtig zuviel Meinungen. Vollendete Erziehung bildet keine und ist nur demonstrativ.«
Damit er nicht in Verdacht käme, als mangelte ihm die vollendete Erziehung, beeilte sich Mr. Dorrit zu erwidern: »Ganz gewiß, Madame, Sie haben recht.« Mrs. General antwortete in ihrer apathischen und ausdruckslosen Weise: »Ich glaube wenigstens.«
»Aber Sie wissen, meine liebe Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß meine Töchter das Unglück hatten, ihre tief beweinte Mutter zu verlieren, als sie noch sehr jung waren; und daß sie infolge des Umstandes, der mich erst spät in den Besitz meines rechtmäßigen Erbes setzte, bei mir, einem verhältnismäßig armen, wenn auch immerhin stolzen Gentleman, ein – ha – zurückgezogenes Leben geführt!«
»Ich lasse diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen«, sagte Mrs. General.
»Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, »wegen meiner Tochter Fanny habe ich, solange sie unter der gegenwärtigen Leitung steht und solch ein Beispiel beständig vor Augen hat –«
Mrs. General schloß ihre Augen.
»– keine Besorgnisse. Fanny besitzt einen bildungsfähigen Charakter. Aber meine jüngere Tochter, Mrs. General, flößt mir vielfache Besorgnisse ein und quält meine Gedanken. Ich muß Ihnen sagen, daß sie immer mein Liebling war.«
»Diese Vorliebe«, sagte Mr«. General, »kommt nicht in Anrechnung.«
»Ha – nicht«, stimmte Mr. Dorrit zu. »Nicht. Nun macht es mir aber Verdruß, daß ich bemerken muß, daß Amy sozusagen nicht zu den Unsrigen zählt. Es liegt ihr nichts daran, mit uns umherzugehen; sie existiert für die Gesellschaft, die wir hier haben, gar nicht; unser Geschmack harmoniert offenbar nicht mit dem ihrigen. Was«, sagte Mr. Dorrit, mit richterlicher Feierlichkeit summierend, »kurz so viel heißen will, als ob etwas nicht richtig sei bei – ha – Amy.«
»Sollen wir nicht zu der Vermutung hinneigen«, sagte Mrs. General mit einem leichten Pinsel voll Firnis, »daß der Neuheit der Lage einige Rechnung zu tragen ist?«
»Entschuldigen Sie, Madame«, bemerkte Mr. Dorrit ziemlich lebhaft. »Die Tochter eines Gentleman, wenn er auch – ha – zu einer Zeit verhältnismäßig weit entfernt vom Überfluß war – verhältnismäßig – und sie selbst in – hm – großer Zurückgezogenheit aufwuchs, muß diese Lage nicht so unbedingt neu finden.«
»Richtig«, sagte Mrs. General, »richtig.«
»Deshalb, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »nahm ich mir die Freiheit«, (er legte ein großes Gewicht auf diese Phrase und wiederholte sie, als wollte er sich mit höflicher Bestimmtheit ausgebeten haben, daß ihm nicht abermals widersprochen werde), »ich nahm mir die Freiheit, Sie um diese Unterredung zu bitten, um Ihnen die Sache vorzutragen und Ihren Rat zu vernehmen.«
»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, »ich sprach zu verschiedenen Malen, seit wir hier wohnen, mit Amy im allgemeinen über die Bildung des Betragens. Sie drückte mir ihr großes Staunen über Venedig aus. Ich sagte ihr, daß es besser sei, nicht zu staunen. Ich deutete darauf hin, daß der berühmte Mr. Eustace, der klassische Tourist, nicht viel davon hielt und daß er den Rialto, sehr zu dessen Nachteil, mit den Westminster- und Blackfriars-Brücken verglich. Ich brauche, nach dem, was Sie selbst gesagt, nicht hinzuzufügen, daß ich mit meinen Argumenten keinen großen Erfolg erzielte. Sie erzeigen mir die Ehre, mich um meinen Rat zu befragen. Es erscheint mir immer (sollte es eine grundlose Annahme sein, so bitte ich um Entschuldigung), als wenn Mr. Dorrit gewöhnt gewesen wäre, Einfluß auf den Willen anderer zu üben.«
»Hm – Madame«, sagte Mr. Dorrit, »ich stand an der Spitze einer – ha – einer beträchtlichen Gesellschaft. Sie haben recht, wenn Sie vermuten, daß ich an eine einflußreiche Stellung gewöhnt bin.«
»Ich bin glücklich«, versetzte Mrs. General, »meine Ansicht so bestätigt zu sehen. Ich möchte deshalb mit um so größerer Zuversicht raten, daß Mr. Dorrit selbst mit Amy spreche und ihr seine Beobachtungen und Wünsche mitteile. Da sie überdies sein Liebling ist und ohne Zweifel sehr an ihm hängt, so wird sie auch um so sicherer seinem Einflusse offen stehen.«
»Ich hatte Ihren Wink geahnt, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »war jedoch nicht sicher – ha –, ob ich nicht – hm – dadurch Übergriffe –«
»Auf mein Terrain machen, Mr. Dorrit?« sagte Mrs. General freundlich. »Sprechen Sie nicht davon.«
»Dann, Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, indem er seinem Kammerdiener läutete, »dann will ich sogleich nach ihr schicken.«
»Wünscht Mr. Dorrit, daß ich bleibe?«
»Vielleicht, wenn Sie nichts anderes zu tun haben, werden Sie mir eine oder zwei Minuten schenken –«
»Gewiß.«
Tinkler, der Kammerdiener, wurde beauftragt. Miß Amys Mädchen zu suchen und diesem untergeordneten Wesen zu sagen, daß sie Miß Amy davon in Kenntnis setze, Mr. Dorrit wünsche, sie in seinem Zimmer zu sprechen. Mr. Dorrit sah Tinkler streng an, während er ihm diesen Auftrag erteilte, und hatte einen argwöhnischen Blick auf ihn geheftet, bis er zur Türe hinaus war; denn er mißtraute ihm, er möchte etwas, was der Familienwürde Eintrag tun könnte, im Sinne haben; er möchte von einem kollegialen Scherz Wind bekommen haben, ehe er in seinen Dienst kam, und nun im gegenwärtigen Augenblick zu seinem Hohn die Erinnerung wieder auffrischen. Hätte Tinkler zufällig gelacht, wenn auch noch so flüchtig und unschuldig, würde doch Mr. Dorrit bis zu seiner Todesstunde nichts davon haben überzeugen können, daß dies nicht der Fall gewesen. Da Tinkler jedoch zufällig, und zu seinem großen Glück, gerade ein ernstes und ruhiges Gesicht machte, so entging er der geheimen Gefahr, die ihm drohte. Und da er bei seiner Wiederkunft – als Mr. Dorrit ihn ansah – Miß Amy meldete, als käme sie zu einem Leichenbegängnis, so machte er auf Mr. Dorrit den allgemeinen Eindruck eines ordentlichen Jungen, der im Studium seines Katechismus von seiner verwitweten Mutter erzogen worden.
»Amy«, sagte Mr. Dorrit, »du warst gerade der Gegenstand einer Unterredung zwischen mir und Mrs. General. Wir sind beide der Ansicht, daß du dich hier nicht heimisch fühlst. Ha – wie kommt das?«
Eine Pause.
»Ich glaube, Vater, ich brauche etwas Zeit.«
»Papa ist eine bessere Anredeweise«, bemerkte Mrs. General. »Vater ist etwas gewöhnlich, meine Liebe. Das Wort Papa gibt überdies den Lippen eine hübsche Form. Papa, potatoes, poultry, prunes und prism sind lauter gute Worte für die Lippen: namentlich prunes und prism. Sie werden es für die Bildung Ihres Benehmens sehr zweckdienlich finden, wenn Sie bisweilen in Gesellschaft, zum Beispiel beim Einritt in ein Zimmer, vor sich hin sagen: Papa, potatoes, poultry, prunes und prism.«
»Bitte, mein Kind«, sagte Mr. Dorrit, »höre auf die Vorschriften von Mrs. General.«
Die arme Klein-Dorrit versprach, mit einem ziemlich flüchtigen Blick auf die große Lackiererin, es zu versuchen.
»Du sagst, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, »daß du Zeit zu brauchen glaubst. Zeit, wozu?«
Ein zweite Pause.
»Um mich an mein neues Leben zu gewöhnen, das war alles, was ich meinte«, sagte Amy, indem ihr liebevoller Blick auf ihrem Vater ruhte, den sie in ihrem Eifer, Mrs. General zu folgen und ihm zu Gefallen zu sein, nahe daran gewesen, als poultry, wenn nicht gar als prunes und prism anzureden.
Mr. Dorrit krauste die Stirn und schien nichts weniger als erfreut. »Amy«, versetzte er, »es scheint mir, offen gesagt, als wenn du reichlich Zeit gehabt hättest. Ha – du setzest mich in Erstaunen, du enttäuschst meine Erwartungen. Fanny hat all die kleinen Schwierigkeiten überwunden, und – hm – warum du nicht auch?«
»Ich hoffe, es wird bald besser gehen«, sagte Klein-Dorrit.
»Ich hoffe auch«, versetzte ihr Vater. »Ich hoffe wahrhaftig recht von Herzen, Amy. Ich schickte nach dir, um dir zu sagen, – hm – dir recht eindringlich, und zwar in Gegenwart von Mrs. General, der wir alle zu so großem Danke verpflichtet sind, daß sie bei dieser und ähnlichen Gelegenheiten zugegen ist«, Mrs. General schloß ihre Augen, »zu sagen, daß ich – hm – gar nicht zufrieden mit dir bin. Du machst Mrs. Generals Arbeit zu einer sehr undankbaren. Du – ha – setzt mich in große Verlegenheit. Du warst stets (wie ich Mrs. General mitgeteilt habe) mein Liebling; ich habe dich immer – hm – als Freundin und Gesellschafterin um mich gehabt: dafür bitte ich – ha – bitte – ha – ich dich, daß du dich besser den – hm – Umständen anbequemst und pflichtgetreuer tust, was – deine Stellung verlangt.«
Mr. Dorrit sprach sogar noch etwas abgebrochener als sonst, da ihn der Gegenstand aufregte und er einen besonderen Nachdruck in seine Worte legen wollte.
»Ich bitte dich«, wiederholte er, »daß du dies im Auge behältst und dir ernstlich Mühe gibst, dich in einer Weise zu benehmen, die einerseits für deine Stellung als – ha – Miß Amy Dorrit paßt, anderseits mir und Mrs. General Befriedigung gewährt.«
Diese Dame schloß die Augen wieder, als sie abermals sich erwähnen hörte; dann, sie langsam öffnend und aufschlagend, fügte sie diese Worte hinzu:
»Wenn Miß Amy Dorrit auf die Bildung einer standesgemäßen Außenseite bedacht sein und meine arme Unterstützung dabei annehmen will, so wird Mr. Dorrit fortan keinen Grund zu Besorgnissen mehr haben. Darf ich diese Gelegenheit ergreifen zu bemerken, daß es zum Beispiel nicht sonderlich fein ist, Vagabunden solche Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich es eine mir sehr liebe junge Freundin tun sah? Man sieht solche Leute nicht an. Man sollte überhaupt nie etwas Unangenehmes ansehen. Namentlich da eine solche Gewohnheit einer anmutigen Gleichmütigkeit des Gesichtsausdrucks im Wege steht, die mehr als alles ein Zeugnis guter Erziehung ist, scheint es kaum mit feiner Bildung vereinbar zu sein. Ein wirklich feingebildeter Geist wird immer den Anschein haben, als ob er gar nichts von der Existenz von Dingen wüßte, die nicht vollkommen schön, gefällig und angenehm sind.« Nachdem Mrs. General diesen erhabenen Gedanken zum besten gegeben, machte sie eine rauschende Verbeugung und verließ das Zimmer mit einem Ausdruck des Mundes, als ob auf ihren Lippen die Worte prunes und prism schwebten.
Klein-Dorrit mochte sprechen oder schweigen, sie behielt ihren ruhigen Ernst und ihren liebevollen Blick. Er hatte sich bis jetzt, mit Ausnahme eines flüchtigen Augenblicks, noch nicht umwölkt. Aber nun, da sie allein mit ihrem Vater war, bewegten sich die Finger ihrer leicht gefalteten Hände etwas unruhig, und in ihrem Gesicht lag eine unterdrückte Aufregung.
Nicht ihr selbst galt diese. Sie mochte sich wohl leicht verwundet fühlen, aber ihre Sorge galt nicht ihr selbst. Ihre Gedanken richteten sich wie immer auf ihn. Eine schwache Ahnung, die, seit sie reich geworden, auf ihr gelastet, daß sie selbst jetzt nie mehr die Freude haben sollte, ihn zu sehen, wie er ehedem vor den Toren des Gefängnisses wartete, hatte mit der Zeit Gestalt bekommen. Sie fühlte, daß in dem, was er soeben zu ihr gesagt, und in seinem ganzen Benehmen gegen sie der wohlbekannte Schatten der Mauern des Marschallgefängnisses auf ihm ruhe. Er nahm jetzt eine neue Gestalt an, aber es war der alte traurige Schatten. Sie begann sich schmerzlich ungern einzugestehen, daß sie nicht stark genug sei, die Furcht von sich fernzuhalten, daß kein noch so langer Zeitraum im Menschenleben jenes Vierteljahrhundert hinter den Gefängnisriegeln zu verwischen vermöge. Sie konnte ihm darob keinen Vorwurf machen; kein Tadel drängte sich auf ihre Lippen, kein andres Gefühl lebte in ihrem treuen Herzen als innige Teilnahme und grenzenlose Zärtlichkeit.
Das war der Grund, weshalb sie, selbst jetzt, da er vor ihr auf seinem Sofa saß, in dem glänzenden Lichte eines herrlichen italienischen Tages, – draußen die wundervolle Stadt und drinnen die Pracht eines alten Palastes – ihn in dem wohlbekannten Dunkel seiner Marschallgefängniswohnung zu erblicken glaubte und ihren Sitz neben ihm einzunehmen und ihn zu trösten und wieder voll Zutraulichkeit gegen ihn und voll Dienstbarkeit für ihn zu sein wünschte. Wenn er ahnte, was in ihren Gedanken vorging, so standen die seinen nicht im Einklang damit. Nachdem er sich auf seinem Sitz mehrmals hin und her bewegt, stand er auf und ging mit sehr unzufriedenem Ausdruck im Gesicht auf und ab.
»Willst du mir noch irgend etwas anderes sagen, lieber Vater?«
»Nein, nein. Nichts sonst.«
»Ich bedaure sehr, daß du nicht mit mir zufrieden bist. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht mit Kummer an mich. Ich will mir mehr denn je Mühe geben, mich, wie es dein Wunsch ist, an meine Umgebung anzupassen – denn ich habe wahrhaftig die ganze Zeit her mir alle Mühe gegeben; es ist mir freilich, ich weiß es, nicht gelungen.«
»Amy«, versetzte er, sich plötzlich nach ihr umwendend. »Du – ha – verletzt mich fort und fort.«
»Ich dich verletzen, Vater! Ich!«
»Es gibt einen – hm – einen Punkt«, sagte Mr. Dorrit, indem er dabei an der ganzen Decke umhersah und dem aufmerksamen, schmerzlich bewegten und doch klaglosen Gesicht keinen Blick gönnte, »einen peinlichen Punkt, eine Reihe von Erlebnissen, die ich – ha – gänzlich aus dem Gedächtnis gelöscht wissen möchte. Deine Schwester hat dies begriffen und eingesehen und dich bereits darüber in meiner Gegenwart zur Rede gestellt; dein Bruder hat es eingesehen. Jedermann – ha, hm – hat es eingesehen, wer nur irgend Zartgefühl und Takt besitzt, nur du – ha – es tut mir leid, daß ich es sagen muß – nur du willst es nicht begreifen. Du, Amy, – hm – du allein und nur du – rührst diesen Punkt beständig wieder auf, wenn auch nicht gerade in Worten.«
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie tat nichts weiter. Sie berührte ihn sanft. Die zitternde Hand sagte vielleicht mit einigem Ausdruck: »Denke an mich, bedenke wie ich arbeitete, denke an meine vielen Sorgen!« Aber sie selbst sagte nicht eine Silbe.
Es lag in dieser Berührung der Hand ein Vorwurf, den sie nicht geahnt, sonst würde sie sie zurückgezogen haben. Er begann sich zu rechtfertigen: in einer erhitzten, unbeholfenen und ärgerlichen Weise, die doch nichts besagen wollte.
»Ich war all diese Jahre dort. Ich war – ha – allgemein als die wichtigste Person jenes Platzes anerkannt. Ich – hm – war Ursache, daß du dort Ansehen genossest, Amy. Ich – ha, hm – gab meiner Familie dort eine Stellung. Ich verdiene Erkenntlichkeit. Ich verlange Erkenntlichkeit. Ich sage, tilge es von der Oberfläche der Erde und beginne ein neues Leben. Ist das viel? Ich frage, ist das viel?«
Er sah sie nicht einmal an, während er sie in dieser Weise quälte, gestikulierte dabei jedoch in der leeren Luft herum, als wenn er's mit Gespenstern der Vergangenheit zu tun hätte.
»Ich habe viel gelitten. Ich weiß wahrscheinlich besser als irgend jemand, was ich gelitten, ha – ich sage, mehr als irgend jemand. Wenn ich das von mir wälzen kann, wenn ich die Male meiner Wunden vertilgen kann und mich vor die Welt als ein – ha – flecken- und makelloser Gentleman hinzustellen vermag –, so läßt sich doch wohl mit vollem Recht erwarten – ich sage es noch einmal, mit vollem Recht erwarten –, daß meine Kinder – hm – dasselbe tun und diese verwünschte Erfahrung von der Oberfläche der Erde vertilgen!«
Trotz seines erhitzten Zustandes sprach er all diese ungehaltenen Worte mit sorgfältig gedämpfter Stimme, damit der Kammerdiener nichts höre.
»Wie sich's gebührt, tun sie es. Deine Schwester tut es. Dein Bruder tut es. Du allein, mein Liebling, die ich zur Freundin und Gesellschafterin meines Lebens machte, als du noch ein – hm – bloßes Kind warst, du tust es nicht. Du allein sagst, du könntest es nicht tun. Ich versehe dich mit der besten Stütze, um es tun zu können. Ich gebe dir eine vollendete und außerordentlich fein erzogene Dame – ha – Mrs. General, zur Gesellschaft, um dies zu ermöglichen. Ist es zu verwundern, daß ich ungehalten bin? Soll ich mich gar noch entschuldigen, daß ich mein Mißvergnügen darüber ausspreche? Nein!«
Trotzdem fuhr er fort, sich zu entschuldigen, ohne daß sich jedoch seine Hitze gelegt hätte.
»Ich bin stets dafür besorgt, ehe ich mein Mißfallen ausdrücke, zuvor die Bestätigung bei dieser Dame einzuholen. Natürlich – hm – apelliere ich innerhalb bestimmten Grenzen, sonst – ha – würde ich dieser Dame zu lesen ermöglichen, was ich ausgewischt zu wissen wünsche. Bin ich egoistisch? Beklage ich mich um meiner selbst willen? Nein. Nein. Vornehmlich um – ha, hm – deinetwillen, Amy.«
Diese Worte schienen in der Art, wie er sie vorbrachte, erst in diesem Augenblick in seinem Innern aufgestiegen zu sein.
»Ich sagte, ich sei verletzt worden. Das bin ich auch. Ja, ich – ha – bin entschlossen, es zu sein, was auch für das Gegenteil vorgebracht worden. Es verletzt mich, daß meine Tochter, die in dem – hm – Schoß des Glückes sitzt, in stiller Zurückgezogenheit sich ihren Träumereien hingibt und damit sagt, daß sie der hohen Stellung ihres Vermögens und Rangs nicht gewachsen sei, Es verletzt mich, daß sie – ha – systematisch das wieder auffrischt, was die andern aus der Erinnerung getilgt, und daß sie – ich hätte beinahe gesagt, ängstlich darauf bedacht scheint, der reichen und vornehmen Welt zu offenbaren, sie sei an einem Orte – ha – geboren und aufgewachsen, den zu nennen mir zuwider ist. Aber es ist kein Widerspruch darin, nicht der geringste, wenn ich mich verletzt fühle und mich doch vornehmlich deinetwegen beklage, Amy. Ich beklage mich, ich wiederhole es. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir unter den Auspizien von Mrs. General eine – ha – Außenseite bildest. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir – ha – eine echt gesellschaftliche Bildung erwirbst und (um mit den treffenden Worten von Mrs. General zu sprechen) allem fremd bleibest, was nicht schön, angenehm und gefällig ist.«
Den letzten Passus seiner Rede hatte er ruckweise wie einen schlecht geordneten Alarm zu Tag gebracht, Amys Hand lag noch immer auf seinem Arm. Er schwieg; und nachdem er noch einmal eine Zeitlang an der Decke umhergeschaut, blickte er wieder auf sie herab. Ihr Kopf hatte sich gesenkt, und er konnte ihr Gesicht nicht sehen: aber die Berührung ihrer Hand war zärtlich und ruhig, und in dem Ausdruck ihrer gebeugten Gestalt lag kein Vorwurf –, sondern nur Liebe. Er begann zu weinen wie in jener Nacht im Gefängnis, wo sie später bis zum Morgen an seinem Bette gesessen; dann rief er, er sei eine arme Ruine, ein armer, unglücklicher Mann inmitten seines Reichtums und umschlang sie mit seinen Armen. »Ruhig, ruhig, mein lieber Vater! Küsse mich!« war alles, was sie sagte. Seine Tränen waren bald getrocknet, viel rascher als bei jener früheren Gelegenheit, und er benahm sich im nächsten Augenblick sehr hochfahrend gegen seinen Kammerdiener, um sich dafür zu rächen, daß er welche vergossen hatte.
Mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die an ihrem Platze erwähnt werden wird, war dies von dem Tage ab, da er frei und reich ward, das einzige Mal, daß er zu seiner Tochter Amy von vergangenen Zeiten sprach.
Aber nun war die Stunde des Frühstücks herangerückt; und mit ihr erschienen Miß Fanny, die aus ihrem Zimmer kam, und Mr. Edward, der von seinem Zimmer kam. Diese beiden vornehmen Personen waren wegen der späten Stunde etwas schlimmer daran. Miß Fanny war das Opfer der unersättlichen Manie, immer, wie sie es nannte, »in Gesellschaft zu gehen«, und wäre zu jedermann zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hingegangen, wenn ihr so viele Gelegenheiten zu Gebote gestanden hätten. Auch Mr. Edward hatte ausgebreitete Bekanntschaften und war gewöhnlich den größten Teil der Nacht (meist in Spielklubs und andern ähnlicher Art) in Anspruch genommen. Dieser Gentleman hatte nämlich, als seine Vermögensverhältnisse sich veränderten, den großen Vorteil, daß er bereits für die höchsten Gesellschaften vorbereitet war und wenig zu lernen brauchte: so viel verdankte er dem glücklichen Umstand, der ihn mit dem Pferdehandel und Billardmarkieren bekannt gemacht.
Beim Frühstück erschien auch Mr. Frederick Dorrit. Da der alte Gentleman den höchsten Stock des Palastes bewohnte, wo er sich im Pistolenschießen hätte üben können, ohne daß die andern Bewohner des Hauses es auch nur bemerkt hätten, so hatte seine jüngere Nichte den Mut gefaßt, den Vorschlag zu machen, man solle ihm seine Klarinette zurückgeben, die Mr. Dorrit zu konfiszieren befohlen, die sie jedoch aufzubewahren gewagt. Trotz einiger Einwendungen von Miß Fanny, daß es ein gemeines Instrument sei und daß sie den Ton desselben verabscheue, wurde doch die Konzession gemacht. Aber man machte auch die Entdeckung, daß er des Instrumentes satt war und es nie spielte, nun da es nicht länger das Mittel für ihn war, sein Brot damit zu erwerben. Er hatte unmerklich eine neue Liebhaberei bekommen: nämlich in die Gemäldegalerien zu schlendern: dabei hatte er immer seine zusammengedrückte Papiertüte mit Schnupftabak in der Hand (zum großen Unwillen von Miß Fanny, die den Vorschlag gemacht, ihm eine goldene Dose zu kaufen, damit die Familie nicht in Mißkredit gerate, die er jedoch entschieden zu tragen ausgeschlagen hatte, als sie gekauft war). Er brachte ganze Stunden vor den Bildern berühmter Venezianer zu. Es blieb unentschieden, was seine geblendeten Augen in denselben sahen; ob er ein Interesse an ihnen als bloß Gemälden hatte, oder ob er sie unklar mit einer Herrlichkeit identifizierte, die vorüber war wie die Stärke seines eignen Geistes. Aber er machte ihnen mit großer Pünktlichkeit seine Aufwartung und schöpfte offenbar Vergnügen aus diesem Treiben. Nach den ersten wenigen Tagen nahm Klein-Dorrit zufällig an einem dieser Besuche teil: und es mehrte seinen Genuß so sichtlich, daß sie ihn später oft begleitete, und das größte Vergnügen, für das sich der alte Mann seit seinem Ruin empfänglich zeigte, erwuchs ihm aus diesen Gängen, bei denen er ihr gewöhnlich einen Stuhl von Bild zu Bild trug und trotz aller Einwendungen hinter ihr stand, und sie schweigend den edeln Venezianern vorstellte.
Bei diesem Familienfrühstück erwähnte er zufällig, daß er am vorhergehenden Tage in einer Galerie die Dame und den Herrn gesehen hatte, die sie auf dem St. Bernhard getroffen. »Ich vergesse den Namen«, sagte er. »Du wirst dich wohl derselben erinnern, William? Oder du, Edward?«
»Ich erinnere mich ihrer allerdings sehr gut«, sagte der letztere.
»Ich begreife das«, bemerkte Miß Fanny, mit einem Schütteln ihres Kopfes und einem Blick auf ihre Schwester. »Aber sie wären nicht wieder in unserem Gedächtnis aufgetaucht, glaube ich, wenn Onkel nicht über sie gestolpert wäre.«
»Meine Liebe, was für ein seltsamer Ausdruck«, sagte Mrs. General. »Ihnen nicht unvermutet begegnet oder – sie zufällig erwähnt hätte, wäre besser.«
»Ich danke Ihnen, Mrs. General«, versetzte die junge Dame, »nein, ich bin aber anderer Meinung. Überhaupt ziehe ich meinen eigenen Ausdruck vor.«
Dies war immer die Art, wie Miß Fanny eine Verbesserung von Mrs. General hinnahm. Aber sie bewahrte sie stets sorgfältig in ihrem Gedächtnis und brachte sie bei einer andern Gelegenheit an.
»Ich würde unsre Begegnung mit Mr. und Mrs. Gowan erwähnt haben, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »auch wenn Onkel es nicht getan hätte. Ich habe euch seit der Zeit, wie ihr wißt, kaum gesehen. Ich meinte beim Frühstück davon gesprochen zu haben, weil ich Mrs. Gowan einen Besuch zu machen und näher mit ihr bekannt zu werden wünsche, wenn Papa und Mrs. General nichts dagegen einzuwenden haben.«
»Wahrhaftig, Amy«, sagte Fanny, »es sollte mich freuen, wenn du zuletzt noch den Wunsch aussprächest, mit allen Leuten in Venedig näher bekannt werden zu wollen. Es bleibt freilich eine Frage, ob Mr. und Mrs. Gowan sehr wünschenswerte Bekanntschaften sind.«
»Ich sprach von Mrs. Gowan, meine Liebe.«
»Allerdings«, sagte Fanny. »Aber du kannst sie, soviel ich weiß, nicht ohne einen Akt des Parlamentes von ihrem Manne trennen.«
»Glaubst du, Papa«, fragte Klein-Dorrit mit schüchternem Zögern, »daß sich irgend etwas gegen meinen Besuch bei Mrs. Gowan einwenden lasse?«
»Nein«, versetzte er. »Ha – ich – was ist Mrs. Generals Ansicht?«
Mrs. Generals Ansicht war, daß, sofern sie nicht die Ehre habe, die Dame und den Herrn zu kennen, sie auch nicht in der Lage sei, diese Angelegenheit zu firnissen. Sie könne nur die Bemerkung machen, als einen Grundsatz, der bei allem Firnissen beobachtet werden müsse, daß sehr viel davon abhänge, von welcher Seite die genannte Dame an eine Familie empfohlen werde, die eine so hervorragende Nische im sozialen Tempel einnehme wie die Familie Dorrit.
Bei dieser Bemerkung verfinsterte sich das Gesicht von Mr. Dorrit bedeutend. Er war bereits im Begriff (da die Empfehlung mit einer aufdringlichen Persönlichkeit namens Clennam in Verbindung stand, deren er sich nur unklar aus einer früheren Zeit erinnerte), dem Namen Gowan eine schwarze Kugel zu geben, als Edward Dorrit, Esquire sich, das Glas im Auge, in die Unterhaltung mischte und die vorläufige Bemerkung: »Ich sage – he da! Geht hinaus, nicht wahr?« zum besten gab. Diese Bemerkung war an zwei Männer gerichtet, die die Tische herbeitrugen, und konnte als eine höfliche Aufforderung gelten, ihre Dienste für einen Augenblick zu suspendieren.
Nachdem die Diener der Aufforderung Genüge geleistet, fuhr Edward fort:
»Vielleicht ist es eine Klugheitsmaßregel, euch alle wissen zu lassen, daß Mrs. und Mr. Gowan – für die, oder wenigstens für welch letztern ich sehr eingenommen zu sein nicht in den Verdacht geraten kann – mit Leuten von Bedeutung in Verbindung stehen, wenn das einen Unterschied macht.«
»Das, möchte ich behaupten«, bemerkte die schöne Firnisserin, »gibt den bedeutendsten Ausschlag, Die fragliche Verbindung, wenn es wirklich Leute von Bedeutung und Ansehen sind –«
»Was das betrifft«, sagte Edward Dorrit, »so will ich Ihnen die Mittel an die Hand geben, selbst zu urteilen. Sie kennen vielleicht den berühmten Namen Merdle?«
»Den großen Merdle?« rief Mrs. General.
»Den Merdle!« sagte Edward Dorrit, Esquire. »Sie sind mit ihm bekannt. Mrs. Gowan – ich meine die Witwe, meines höflichen Freundes Mutter – ist die intime Freundin von Mrs. Merdle, und ich weiß, diese beiden stehen auf ihrer Besuchsliste.«
»Wenn dem so ist, bedarf es keiner bessern Garantie mehr«, sagte Mrs. General, indem sie ihre Handschuhe erhob und ihr Haupt senkte, als ob sie irgendeinem sichtbaren geschnitzten Bilde ihre Huldigung darbrächte.
»Ich bitte meinen Sohn zu fragen, aus Gründen der – ha – Neugier«, bemerkte Mr. Dorrit mit einer entschiedenen Änderung in seinem Wesen, »wie er in den Besitz dieser – hm – rechtzeitigen Kenntnis kommt?«
»Es ist keine lange Geschichte, Sir«, versetzte Edward Dorrit, Esquire, »und Sie sollen es auf der Stelle erfahren. Erstens ist Mrs. Merdle die Dame, mit der Sie die Unterredung hatten, in, wie heißt es nur?«
»Martigny«, warf Miß Fanny mit unendlich matter Miene ein.
»Martigny«, bejahte ihr Bruder, mit einem leichten Nicken und einem leichten Blinzeln: Miß Fanny wurde darüber etwas verlegen, lachte und errötete.
»Wie ist das möglich, Edward?« sagte Mr, Dorrit. »Du teiltest mir doch mit, daß der Name des Herrn, mit dem du verhandelt, Sparkler sei. Wahrhaftig, du zeigtest mir ja seine Karte. Hm. Sparkler.«
»Allerdings, Vater; aber daraus folgt ja nicht, daß seiner Mutter Name der gleiche sein muß. Mrs. Merdle war bereits früher verheiratet, und er ist ihr Sohn. Sie ist jetzt in Rom, wo wir wahrscheinlich mehr von ihr erfahren werden, da du den Winter über dort zu bleiben gedenkst. Sparkler ist soeben hier angekommen. Ich brachte die letzte Nacht in Gesellschaft von Sparkler zu, Sparkler ist im ganzen ein sehr guter Junge, obgleich in einer Beziehung ein langweiliger, unausstehlicher Mensch: denn er ist schrecklich verliebt in eine gewisse junge Dame.« Bei diesen Worten sah Edward Dorrit, Esquire, Miß Fanny durch sein Monokel über den Tisch hinüber an, »Wir tauschten zufällig diese Nacht gegenseitig Bemerkungen über unsere Reise aus, und ich erhielt auf diese Weise die Kunde von Sparkler, die ich euch soeben mitgeteilt habe.« Hier brach er ab, beobachtete jedoch Miß Fanny unaufhörlich durch sein Glas, wobei sich sein Gesicht, nicht gerade zur Vermehrung seiner Schönheit, teilweise durch das Festhalten des Glases im Äuge, teilweise durch die große Schlauheit seines Lächelns bedeutend verzog.
»Unter diesen Umständen«, sagte Mr. Dorrit, »glaube ich ebensosehr die Gefühle von – ha – Mrs, General als meine eigenen auszudrücken, wenn ich sage, daß kein Hindernis vorhanden ist, sondern – ha, hm – gerade das Gegenteil obwaltet, deinem Wunsche zu entsprechen, Amy, Ich glaube sogar – ha –, diesen Wunsch freudig begrüßen zu müssen«, sagte Mr. Dorrit, mit ermutigendem und vergebendem Ton, »und zwar als ein günstiges Omen. Es ist ganz hübsch, wenn du diese Leute kennst. Es ist ganz passend. Mr. Merdle ist ein – ha – weltberühmter Name. Mr. Merdles Unternehmungen sind außerordentlich. Sie bringen ihm so große Summen Geldes, daß sie als – hm – Nationalwohltaten betrachtet werden. Mr. Merdle ist der Mann unsrer Zeit. Der Name Merdle ist der Name des Jahrhunderts. Bitte, erweise um meinetwillen Mr. und Mrs. Gowan alle Artigkeiten, denn wir wollen – ha – wir wollen sie mit Aufmerksamkeit behandeln.«
Dieses großartige Zugeständnis von Mr. Dorrits Anerkennung machte der Sache ein Ende. Man hatte nicht bemerkt, daß der Oheim seinen Teller weggestoßen und sein Frühstück vergessen hatte; aber man achtete überhaupt wenig auf ihn, nur Klein-Dorrit tat es. Die Diener wurden hereingerufen, und das Mahl ging seinem Ende zu. Mrs, General stand auf und verließ den Tisch. Klein-Dorrit stand auf und verließ den Tisch. Als Edward und Fanny über denselben hinüber plaudernd zusammen sitzenblieben und Mr. Dorrit, Feigen essend und eine französische Zeitung lesend, gleichfalls sitzenblieb, zog der Onkel plötzlich die Aufmerksamkeit von allen dreien auf sich, indem er sich erhob, mit seiner Hand auf den Tisch schlug und ausrief: »Bruder! Ich protestiere dagegen!«
Wenn er in einer unbekannten Sprache eine Rede gehalten und dann auf der Stelle den Geist aufgegeben, er hätte seine Zuhörer in nicht größeres Erstaunen setzen können. Die Zeitung entfiel Mr. Dorrits Händen, und er saß, eine Feige nach dem Mund führend, wie versteinert da.
»Bruder«, sagte der alte Mann, indem er seiner zitternden Stimme eine überraschende Energie verlieh, »ich protestiere dagegen! Ich liebe dich! Du weißt, ich liebe dich von Herzen. Seit vielen Jahren war ich dir niemals auch nur mit einem einzigen Gedanken untreu! So schwach ich bin, würde ich jeden, der je schlecht von dir gesprochen, zu Boden geschmettert haben. Aber Bruder, Bruder, Bruder, ich protestiere dagegen!«
Es war merkwürdig zu sehen, welch heftigen Ausbruchs von Eifer dieser gebrochene Mann fähig war. Seine Augen funkelten, sein graues Haar stand zu Berge, Spuren von Willen, die seit fünfundzwanzig Jahren verschwunden waren, traten wieder auf Gesicht und Stirn hervor, und in seiner Hand lag eine Energie, die ihre Aktion kraftvoll machte.
»Mein lieber Frederick!« rief Mr. Dorrit matt. »Was ist nicht recht? Was gibt es denn?«
»Wie kannst du das wagen?« sagte der alte Mann, indem er sich zu Fanny hinwandte. »Hast du denn kein Gedächtnis? Hast du kein Herz?«
»Onkel!« rief Fanny erschrocken und in Tränen ausbrechend, »warum greifst du mich in dieser grausamen Weise an? Was habe ich getan?«
»Getan«, versetzte der alte Mann, auf ihrer Schwester Platz deutend, »wo ist deine liebevolle, unschätzbare Freundin? Wo ist dein aufopfernder Schutzengel? Wo ist die, die dir mehr als Mutter war? Wie kannst du es wagen, ein Vorrecht gegenüber all diesen in deiner Schwester vereinigten Eigenschaften geltend zu machen? Schäme dich, falsches Mädchen, schäme dich!«
»Ich liebe Amy«, rief Fanny schluchzend und weinend, »ich liebe sie wie mein Leben – mehr als mein Leben. Ich verdiene nicht, daß man mich so behandelt. Ich bin so dankbar gegen Amy und habe Amy so lieb, wie es menschenmöglich ist. Ich wollte, ich wäre tot. Doch nie wurde so schlimm mit mir umgegangen. Und nur, weil ich für den Ruf der Familie besorgt bin.«
»Zum Teufel mit dem Ruf der Familie!« rief der alte Mann mit größter Wut und Entrüstung. »Bruder, ich protestiere gegen jeden von uns hier, der erfahren hat, was wir erfahren und gesehen, was wir gesehen, und sich doch etwas erlaubt, was Amy auch nur einen Moment nachteilig sein oder sie nur einen Moment kränken könnte. Wir müssen wissen, daß es eine schlechte Anmaßung ist, da sie diese Wirkung hat. Es müßte ein Gericht über uns herbeiführen. Bruder, ich protestiere dagegen im Namen Gottes!«
Die Art, wie er seine Faust emporhob und auf den Tisch fallen ließ, war die eines Grobschmieds. Nach einer kurzen Pause trat wieder seine gewöhnliche Mattigkeit ein. Er ging in seinem bekannten schlürfenden Schritte zu seinem Bruder hin, legte die Hand auf seine Schulter und sagte in milderem Ton: »William, mein Lieber, ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen; vergib mir, denn ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen!« und dann verließ er in seiner gebeugten Haltung die Palasthalle, gerade wie wenn er das Marschallgefängnis verließe.
Die ganze Zeit über hatte Fanny geschluchzt und geweint und tat dies noch. Edward hatte nur einen Augenblick voll Erstaunen den Mund geöffnet und dann die Lippen geschlossen: er begnügte sich, die Sprechenden anzustarren. Mr. Dorrit fühlte sich ebenfalls sehr mißgestimmt und ganz außerstande, sich irgendwie zu verteidigen. Fanny war die erste, die das Wort ergriff.
»Ich wurde nie, nie so behandelt!« schluchzte sie. »Es ist mir noch nichts so Unfreundliches und Ungerechtfertigtes, so abscheulich Heftiges und Grausames vorgekommen! Die liebe, gute, ruhige, kleine Amy selbst, was würde sie fühlen, wenn sie ahnen könnte, daß sie das unschuldige Mittel gewesen, mich so grausam zu behandeln! Aber ich werde es ihr nie sagen. Nein, das gute Ding, ich werde es ihr nicht sagen!«
Das veranlaßte Mr. Dorrit, sein Schweigen zu brechen.
»Meine Liebe«, sagte er, »ich – ha – billige deinen Entschluß. Es wird – ha, hm – weit besser sein, nicht davon mit Amy zu sprechen. Es möchte – ha, hm – sie betrüben. Ha. Gewiß, es würde sie sehr betrüben. Es ist klug und billig, das zu vermeiden. Wir wollen es bei uns behalten.«
»Aber die Grausamkeit des Onkels!« rief Miß Fanny. »Oh, ich kann die mutwillige Grausamkeit des Onkels nie vergeben!«
»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, indem er seinen gewöhnlichen Ton wiederfand, obwohl er ungewöhnlich blaß blieb, »ich muß dich bitten, nicht in diesem Ton zu sprechen. Du mußt dich besinnen, daß dein Onkel nicht mehr ist – ha –, was er früher war. Du mußt dich erinnern, daß der Zustand deines Onkels – hm – große Nachsicht von unsrer Seite verlangt, große Nachsicht.«
»Ich bin überzeugt«, rief Fanny traurig, es ist nicht mehr als billig, daß man annimmt, es muß etwas nicht richtig bei ihm sein, sonst könnte er nicht gerade mich von allen Leuten so angegriffen haben.«
»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit in äußerst brüderlichem Ton, »du weißt, was dein Onkel bei allen seinen unzähligen guten Eigenschaften für ein – hm – Wrack ist: und ich bitte dich, bei der Liebe, die ich für ihn hege, und bei der Treue, die ich ihm, wie du weißt, stets gezeigt habe, deine Schlüsse für dich zu ziehen und meine brüderlichen Gefühle zu schonen.«
Damit endigte die Szene; Edward Dorrit hatte während der ganzen Zeit nicht ein Wort gesprochen, sondern nur immer verblüfft und unschlüssig die Sprechenden angestarrt. Miß Fanny verursachte ihrer Schwester an jenem Tage mannigfache liebevolle Unbehaglichkeit, indem sie den größten Teil dieses Tages in heftige Umarmungen ausbrach, ihrer Schwester Broschen schenkte und wünschte, sie selbst wäre tot.