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Es war ein glücklicher Umstand für mich, daß ich (soviel dies in meiner Macht lag) Vorsichtsmaßregeln für die Sicherheit meines gefürchteten Gastes zu treffen hatte; denn dieses Bewußtsein drängte, als ich unter seinem Drucke erwachte, eine wirre Masse anderer Gedanken in den Hintergrund.
Es verstand sich von selbst, daß ich ihn unmöglich bei mir in meinem Logis versteckt halten konnte. Es war geradezu unausführbar, und der Versuch, es dennoch zu thun, mußte unfehlbar Verdacht erregen. Es ist wahr, daß ich jetzt keinen Rächer mehr in meinem Dienste hatte, aber ich stand unter der Obhut eines aufbrausenden alten Weibes und eines zerlumpten Geschöpfs, das sie ihre Nichte nannte, und der Versuch, ihnen den Zutritt zu einem unserer Zimmer zu verwehren, würde ihre Neugier und Klatscherei zur Folge gehabt haben. Sie hatten Beide schwache Augen, die ich lange Zeit einer chronischen Angewohnheit, durch Schlüssellöcher zu sehen, zugeschrieben hatte, und waren stets zur Hand, wenn man ihrer nicht bedurfte; ja, es war dies das Einzige, worauf man sich bei ihnen verlassen konnte, außer der Dieberei. Um daher vor diesen Leuten kein Geheimniß zu haben, beschloß ich, ihnen, wenn sie morgens kommen würden, anzukündigen, daß mein Onkel unerwarteter Weise aus der Provinz angekommen sei.
Für dieses Verfahren entschied ich mich, während ich im Finstern nach dem Feuerzeuge umhertappte, um Licht anzuzünden. Da ich dasselbe jedoch nicht finden konnte, war ich genöthigt, nach dem Portierhäuschen hinunter zu gehen, und mir den Nachtwächter mit seiner Laterne zu holen. Als ich aber im Finstern die Treppe hinunter tappte, stolperte ich über Etwas, und dieses Etwas war ein Mann, der in einem Winkel kauerte.
Da der Mann mir nicht antwortete, als ich ihn fragte, was er dort zu thun habe, sondern schweigend meinem Griffe auswich, lief ich nach dem Portierhäuschen, und forderte den Nachtwächter auf, schnell mit mir zurückzukommen, und unterrichtete ihn dann auf dem Rückwege von dem, was mir soeben auf der Treppe begegnet. Der Wind tobte noch immer mit gleicher Gewalt, und wir mochten daher das Licht unserer Laterne nicht in Gefahr setzen, indem wir die erloschenen Treppenlampen wieder anzündeten, sondern untersuchten alle Treppen von oben bis unten und fanden Niemand. Es fiel mir dann die Möglichkeit ein, daß der Mann in meine Zimmer geschlüpft sei; deshalb zündete ich mein Licht an dem des Nachtwächters an, den ich an der Thür stehen ließ, und hielt dann in allen meinen Zimmern, dasjenige mit eingeschlossen, in welchem mein fürchterlicher Gast schlief, sorgfältige Nachsuchung. Doch war Alles still und sicherlich kein anderer Mann in jener Wohnung.
Es beunruhigte mich, daß gerade in dieser Nacht, von allen Nächten des Jahres, Jemand auf unserer Treppe gelauert hatte, und ich fragte deshalb den Nachtwächter, als ich ihm an der Thür einen Trunk reichte, in der Hoffnung beruhigende Auskunft von ihm zu erhalten, ob er etwa Herren zum Thore hereingelassen, bei denen es sehr auffallend bemerkbar geworden sei, daß sie in einer Abendgesellschaft gewesen. Er sagte: Ja, Drei, zu verschiedenen Zeiten in der Nacht. Der eine wohne in Fountain-Court und die anderen Beiden in dem Gäßchen, und er habe sie Alle nach Hause gehen sehen. Der einzige andere junge Mann, welcher in dem Hause wohnte, von welchem meine Wohnung einen Theil ausmachte, war seit einigen Wochen verreist gewesen; und er konnte nicht in der Nacht zurückgekehrt sein, denn wir hatten, da wir die Treppe heraufkamen, gesehen, daß sein Siegel noch unerbrochen auf seiner Thüre sich befand.
»Da es eine so böse Nacht ist, Sir,« sagte der Nachtwächter, mir das Glas zurückgebend, »sind heute ungewöhnlich wenig Leute zu meinem Thore hereingekommen. Außer jenen drei Herren, die ich Ihnen genannt habe, entsinne ich mich Niemandes mehr seit elf Uhr, wo ein Fremder kam und nach Ihnen fragte.«
»Mein Onkel,« murmelte ich; »ja wohl.«
»Sie haben ihn gesehen, Sir?«
»Ja. O ja.«
»Und auch den Mann, der mit ihm kam?«
»Den Mann, der mit ihm kam?« wiederholte ich.
»Ich dachte mir, der Mann begleite ihn,« erwiederte der Nachtwächter. »Der Mann stand still, als er still stand und mich fragte, wo Sie wohnten, und folgte ihm dann in dieser Richtung.«
»Welche Art von Mann war er?«
Der Nachtwächter hatte nicht besonders auf ihn geachtet; er meinte, ein Arbeiter; so gut er sich entsinnen könne, habe der Mann staubfarbene Kleider unter einem dunklen Rocke getragen. Der Nachtwächter nahm die Sache leichter als ich, und zwar war dies sehr natürlich, da er nicht dieselben Gründe hatte, derselben Gewicht beizulegen.
Sobald ich seiner los geworden, was ich für rathsam hielt, ohne mich zu weit in Erörterungen einzulassen, fühlte ich mich im Geiste sehr durch die beiden Umstände im Verein beunruhigt; wohingegen sie, einzeln genommen, eine sehr harmlose Lösung haben konnten –, da, zum Beispiel, irgend einer der jungen Leute zu Hause oder in Gesellschaft zu Abend gespeist haben und dann, ohne dem Thore des Nachtwächters nahe zu kommen, auf meiner Treppe hingefallen und eingeschlafen sein konnte – oder auch indem mein namenloser Gast Jemand mitgenommen haben konnte, um sich den Weg zeigen zu lassen – aber zusammengenommen hatten sie ein schlimmes Aussehen für Jemand, der so zur Furcht und zum Argwohn geneigt war, wie ich es in dem Wechsel der letzten paar Stunden geworden.
Ich zündete Feuer im Kamine an, welches zu dieser todten Morgenstunde mit einem bleichen, fahlen Lichte brannte, und bald schlief ich vor demselben ein. Es schien mir, als habe ich eine ganze Nacht schlummernd dagesessen, als es sechs Uhr schlug und ich aufwachte. Da noch volle anderthalb Stunden bis zum Tagesanbruche vergehen mußten, so schlummerte ich nochmals ein; doch erwachte ich alle Augenblicke wieder; bald, indem mir weitschweifige Unterhaltungen über nichts noch in den Ohren klangen; bald, indem ich den Wind im Schornsteine für Donner hielt; endlich aber verfiel ich in festen Schlaf, aus dem ich, heftig zusammenfahrend, im hellen Tageslichte erwachte.
Bis hierher war ich noch immer nicht im Stande gewesen, meine Lage zu überdenken, noch vermochte ich es jetzt. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich war außerordentlich niedergedrückt und elend, aber auf eine unzusammenhängende Art und Weise. Was das Fassen eines Planes für die Zukunft betraf, so hätte ich ebenso leicht einen Elephanten schaffen können. Als ich die Fensterladen öffnete und in den wilden nassen Morgen, über und über in Bleigrau gehüllt, hinausschaute; als ich von einem Zimmer ins andere wanderte, oder, vor Kälte zitternd, mich wieder vors Feuer setzte und auf meine Aufwartefrau wartete – da dachte ich wohl, wie unglücklich ich sei, aber wußte kaum warum, noch wie lange ich es bereits gewesen, oder an welchem Tage der Woche mir dies eingefallen, oder gar, wer ich selber sei.
Endlich kam die alte Frau mit ihrer Nichte an – und zwar die Letztere mit einem Kopfe, der nicht leicht von ihrem Kehrbesen zu unterscheiden war – und drückten beim Anblicke meiner und des Feuers Erstaunen aus. Worauf ich ihnen die Mittheilung machte, daß mein Onkel in der Nacht angekommen sei und jetzt nebenan schlafe, und daß sie danach die Frühstücksvorkehrungen zu treffen haben würden. Dann wusch ich mich und kleidete mich an, während sie das Zimmergeräthe umherstießen und viel Staub machten, und sah mich dann nach einer Weile in einem Zustande zwischen Wachen und Träumen wieder vor dem Feuer sitzen, indem ich auf – Ihn – wartete, bis er zum Frühstück käme.
Nach einer kleinen Weile öffnete sich seine Thür und er kam heraus. Ich vermochte es nicht über mich, seinen Anblick zu ertragen, und es kam mir vor, als ob er beim Tageslichte schlechter aussehe.
»Ich weiß noch nicht einmal,« sagte ich mit leiser Stimme, als er am Frühstückstische Platz nahm, »wie ich Sie nennen soll. Ich habe Sie für meinen Onkel ausgegeben.«
»Das ist recht, lieber Junge. Nenne mich Onkel.«
»Sie nahmen, wie ich vermuthe, am Bord des Schiffes irgend einen Namen an?«
»Ja, lieber Junge. Ich nahm den Namen Provis an.«
»Beabsichtigen Sie, den Namen beizubehalten?«
»Nun, ja, lieber Junge, er ist so gut wie ein anderer – Du zögest denn einen andern vor.«
»Welches ist Ihr eigentlicher Name?« fragte ich flüsternd.
»Magwitch Der Name ist aus »magic« (Magie, Zauber) und »witch« (Hexe) zusammengesetzt. ›Sprechende Namen‹ sind bei Dickens die Regel.«, antwortete er ebenso leise; »Abel getauft.«
»Wozu wurden Sie erzogen?«
»Zu einem Geschmeiß, lieber Junge.«
Er antwortete mit vollkommenem Ernste und gebrauchte das Wort, wie wenn dasselbe irgend ein Handwerk, oder eine Profession bezeichnete.
»Als Sie gestern Abend in den Temple hereinkamen,« sagte ich, indem ich schwieg, um in stillem Verwundern zu denken, ob das Ereigniß, welches schon lange her zu sein schien, wirklich erst gestern Abend Statt gefunden haben könne …
»Nun, lieber Junge?«
»Als Sie gestern Abend zum Thore hereinkamen und den Nachtwächter nach meiner Wohnung fragten, hatten Sie da Jemand bei sich?«
»Bei mir? Nein, lieber Junge,«
»Aber es war Jemand da?«
»Ich habe nicht besonders darauf geachtet,« sagte er etwas zweifelhaft, »da ich mit den Gewohnheiten des Ortes nicht vertraut bin. Aber ich glaube doch fast, daß noch Jemand mit mir hereinkam.«
»Sind Sie in London bekannt?«
»Das hoffe ich nicht!« sagte er, indem er mit dem Zeigefinger seinem Halse einen Ruck gab, wobei mirs heiß und kalt wurde.
»Waren Sie früher in London bekannt?«
»Nicht besonders, lieber Junge. Ich hielt mich meistens in den Provinzen auf.«
»Standen Sie – in London – vor Gericht?«
»Welches Mal?« fragte er mit einem scharfen Blicke.
»Das letzte Mal.«
Er nickte.
»Lernte auf diese Weise Jaggers kennen. Jaggers war für mich.«
Es schwebte mir auf der Zunge, ihn zu fragen, weshalb er vor Gericht gestanden, aber er ergriff ein Messer, schwenkte es in der Luft und machte sich mit den Worten:
»Und was ich auch immer gethan hatte, ich habe es jetzt abgearbeitet und dafür gebüßt« – an das Frühstück.
Er aß auf eine gierige Weise, die sehr unangenehm war, und alle seine Manieren dabei waren roh, geräuschvoll und gefräßig. Er hatte, seit ich ihn in den Marschen hatte essen sehen, einige seiner Zähne eingebüßt, und indem er den Bissen im Munde umkehrte und den Kopf auf eine Seite neigte, um sich seiner stärksten Fangzähne zum Zerkauen desselben zu bedienen, sah er ganz entsetzlich einem hungrigen alten Hunde ähnlich. Falls ich irgend welchen Appetit gehabt hätte, so würde er mich desselben beraubt haben, und ich würde dagesessen haben, wie es jetzt schon ziemlich der Fall war: indem ich, durch einen unüberwindlichen Widerwillen gegen ihn abgestoßen, finster das Tischtuch anstarrte.
»Ich bin ein starker Esser, lieber Junge,« sagte er, wie eine höfliche Entschuldigung, da er mit seinem Mahle zu Ende war, »aber das war ich immer. Hätte es in meiner Constitution gelegen, ein geringerer Esser zu sein, so würde ich wahrscheinlich in geringere Schwierigkeiten gerathen sein. Ebenso muß ich auch meine Pfeife haben. Als ich zuerst da hinten auf der andern Seite der Welt als Schäfer ausgemiethet wurde, so wäre ich, glaube ich, selbst ein melancholisch verdrehtes Schaf geworden, falls ich meine Pfeife nicht gehabt hätte.«
Indem er so sprach, stand er vom Tische auf und brachte, seine Hand in die Brusttasche seines kurzen Friesrockes steckend, eine kleine schwarze Pfeife zum Vorschein, sowie eine Handvoll losen Tabaks, von der Sorte, welche man Mohrenkopf nennt. Nachdem er seine Pfeife gefüllt, that er den übrigen Tabak, wieder in seine Tasche zurück, wie wenn dieselbe eine Schublade gewesen wäre. Dann nahm er mit der Feuerzange eine glühende Kohle aus dem Kaminfeuer und zündete seine Pfeife an derselben an, und dann wandte er sich auf dem Kaminteppich um, so daß er den Rücken dem Feuer zukehrte, und begann wieder sein Lieblingsmanoeuvre – daß er nämlich seine beiden Hände ausstreckte, um die meinigen zu fassen.
»Und dies,« sagte er, meine beiden Arme hin und her schaukelnd, indem er mit seiner Pfeife dampfte; »und dies ist also der Gentleman, den ich gemacht habe! Der wirkliche, echte Gentleman! Es thut mir ordentlich wohl, Dich anzusehen, Pip. Alles, was ich verlange, ist, hier zu stehen und Dich anzusehen, lieber Junge!«
Ich machte meine Hände frei, sobald mir dies gelingen wollte, und bemerkte, daß ich anfing, mich langsam in meine Lage zu finden. An welch ein Geschöpf und wie fest ich gekettet war, wurde mir ganz klar, indem ich seine rauhe Stimme hörte und sein gefurchtes kahles Haupt mit dem eisengrauen Haar an den Seiten betrachtete.
»Ich will meinen Gentleman nicht in dem Straßenkothe zu Fuße gehen sehen; es soll kein Schmutz an seinen Stiefeln kleben. Mein Gentleman soll Pferde haben, Pip! Pferde zum Reiten und Pferde zum Fahren, und Pferde zum Reiten und Fahren für seine Diener obendrein. Colonisten sollten ihre Pferde haben (und zwar Racepferde, wenn ich bitten darf. Du meine Güte!) und mein Londoner Gentleman etwa nicht? Nein, nein. Wir wollen ihnen ganz was Anderes zeigen! Wie, Pip?«
Er nahm ein großes, dickes Taschenbuch aus seiner Tasche, das zum Bersten mit Papieren angefüllt war, und warf es auf den Tisch.
»Da in dem Buche giebts was, lieber Junge, das der Mühe werth, auszugeben. Es gehört Dir. Alles, was ich habe, gehört nicht mir, sondern Dir. Laß Du Dir nicht bange sein. Es ist mehr zu holen, wo das herkommt. Ich bin nach dem alten Lande zurückgekehrt, um meinen Gentleman sein Geld wie ein echter Gentleman ausgeben zu sehen. Das wird mein Vergnügen sein. Mein Vergnügen wird darin bestehen, ihn dies thun zu sehen. Und zum Henker mit Euch Allen!« schloß er, an der Zimmerdecke herumblickend und laut mit den Fingern schnippend, »zum Henker mit Euch Allen, vom Richter in seiner Perrücke, bis zu den Colonisten, die den Staub fliegen machen, ich will einen bessern Gentleman aufweisen, als Euer ganzes Corps zusammengenommen abgeben kann!«
»Halt!« sagte ich, beinahe wahnsinnig vor Furcht und Widerwillen. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Ich wünsche zu wissen, was zu thun ist. Ich muß wissen, wie Sie gegen Gefahr zu schützen sind, wie lauge Sie bleiben wollen, und welche Plane Sie haben.«
»Sieh her, Pip,« sagte er in plötzlich verändertem und gemäßigtem Tone, indem er seine Hand auf meinen Arm legte; »vor Allem, sieh her. Ich habe mich vergessen vor einer halben Minute. Was ich sagte, war gemein; das war es – gemein wars. Sieh her, Pip. Sieh mirs nach. Ich will nicht gemein sein.«
»Zuerst,« sagte ich fast stöhnend, »welche Vorsichtsmaßregeln können wir treffen, damit Sie nicht erkannt und festgenommen werden?«
»Nein, lieber Junge,« sagte er in demselben Tone, wie eben vorher, »das kommt nicht zuerst. Das Gemeinsein kommt zuerst. Ich habe nicht so viele Jahre gebraucht, um einen Gentleman zu machen, ohne zu wissen, was man ihm schuldig ist. Sieh her, Pip. Ich war gemein; das war ich – gemein war ich. Sieh mirs nach, lieber Junge.«
In einem Bewußtsein des grimmig Lächerlichen in seinem Wesen konnte ich mich eines ungeduldigen Lachens nicht erwehren, als ich erwiederte:
»Ich habe es Ihnen nachgesehen. Ich bitte Sie um Alles in der Welt, wiederholen Sie es nicht mehr!«
»Ja, aber sieh her,« wiederholte er. »Lieber Junge, ich bin nicht aus so weiter Ferne hergekommen, um gemein zu sein. Jetzt führe fort, lieber Junge. Du sagtest …«
»Wie können wir Sie gegen die Gefahr schützen, welcher Sie ausgesetzt sind?«
»Nun, lieber Junge, die Gefahr ist so gar groß nicht. Außer, wenn ich angegeben würde, hat es mit der Gefahr wenig zu bedeuten. Da ist Jaggers und da ist Wemmick und da bist Du. Wer sonst ist da, der mich angeben könnte?«
»Könnte Sie nicht zufällig Jemand auf der Straße erkennen?« sagte ich mit Bitterkeit.
»Nun,« erwiederte er, »nicht Viele. Auch gedenke ich nicht, mich in den Zeitungen, als A. M. aus Botany Bay In der Botany Bay erfolgte 1770 die erste Landung der Briten unter James Cook in Australien. Zur Anlandung deportierter britischer Strafgefangener wurde ab 1788 jedoch nicht die Botany Bay, sondern die nördlich gelegene und später Port Jackson benannte Bucht verwendet. zurückgekehrt, anzukündigen; und es sind bereits Jahre darüber vergangen, und wem könnte es irgend welchen Nutzen bringen? Und bei alledem, Pip, sieh her: und wenn die Gefahr noch fünfzig Mal so groß gewesen, so wäre ich dennoch hergekommen, um Dich zu sehen, das sage ich Dir.«
»Und wie lange wollen Sie bleiben?«
»Wie lange?« sagte er, indem er die Pfeife aus dem Munde nahm, ein langes Gesicht machte und mich anstierte. »Ich gehe nicht wieder zurück. Ich bin gekommen, um immer hier zu bleiben.«
»Wo wollen Sie wohnen?« sagte ich. »Was können wir mit Ihnen anfangen? Wo werden Sie in Sicherheit sein?«
»Lieber Junge,« entgegnete er; »man kann für Geld Perrücken kaufen, um sich unkenntlich zu machen, und es giebt Haarpuder und Brillen, und schwarze Kleider und Kniehosen und was nicht Alles. Andere haben es schon vor mir mit Sicherheit ausgeführt, und was Andere gethan haben, können wieder Andere auch thun. Was das Wo und Wie des Aufenthalts betrifft, lieber Junge, so sage mir Deine Ansicht darüber.«
»Sie nehmen es jetzt sehr ruhig,« sagte ich, »aber Sie sprachen sehr im Ernste gestern Abend, als Sie schworen, es sei der Tod.«
»Und das schwöre ich noch jetzt, daß es der Tod ist,« sagte er, die Pfeife wieder in den Mund steckend; »und zwar der Tod durch den Strang auf offener Straße, nicht weit von hier, und es ist mir völlig Ernst damit, daß Du dies vollkommen begreifst. Und was denn noch, wenn das einmal der Fall ist? Hier bin ich. Jetzt zurückgehen wäre ebenso schlimm, als den Ausgang hier erwarten – ja, noch schlimmer. Und übrigens, Pip, bin ich hier, weil ich es Jahre lang in Bezug auf Dich beabsichtigt habe. Und was das betrifft, was ich zu wagen im Stande bin, so bin ich jetzt ein alter Vogel, der allerlei Schlingen entgangen ist, seitdem er flügge geworden, und ich fürchte mich nicht vor einer Vogelscheuche. Falls innerhalb derselben der Tod versteckt ist, so laß ihn, und laß ihn herauskommen, und ich will ihm entgegentreten, und will dann an ihn glauben und früher nicht. Und jetzt laß mich meinen Gentleman noch ein Mal betrachten.«
Und er faßte nochmals meine Hände und betrachtete mich mit einer bewundernden Eigenthümermiene: während er mit großer Ruhe zu rauchen fortfuhr.
Es schien mir, daß ich nichts Besseres würde thun können, als ihm in der Nähe ein ruhiges Logis zu miethen, das er würde beziehen können, sobald Herbert heimkehrte, den ich in zwei oder drei Tagen zurückerwartete. Es war mir ganz klar, daß ich das Geheimniß als unvermeidliche Nothwendigkeit mit Herbert werde theilen müssen, selbst wenn ich die große Erleichterung, welche mir dies gewähren würde, außer Frage ließ.
Aber es war dies durchaus nicht der Fall bei Mr. Provis (ich beschloß, ihn bei diesem Namen zu nennen), der sich seine Einwilligung für Herberts Mitwissenschaft vorbehielt, bis er ihn gesehen und ein günstiges Urtheil über seine Physiognomie gebildet haben würde.
»Und selbst dann, lieber Junge.« sagte er, indem er ein schmieriges, schwarzes kleines Neues Testament aus der Tasche nahm, »wollen wir ihm seinen Eid abnehmen.«
Wenn ich sagte, daß mein fürchterlicher Gönner dieses kleine schwarze Buch nur mit sich in der Welt umhertrug, um den Leuten im äußersten Falle Eide abzunehmen, so würde ich damit eine Behauptung wagen, von deren vollkommener Richtigkeit ich mich nie ganz überzeugt habe – aber so viel kann ich mit Bestimmtheit sagen, daß ich ihn nie einen andern Gebrauch davon habe machen sehen. Das Buch selbst hatte das Aussehen, als ob es aus irgend einem Gerichtshofe entwendet sei, und vielleicht schöpfte er aus seiner Kenntniß dieses Umstandes, verbunden mit seinen eigenen Erfahrungen dieser Art, eine Zuversicht auf die Kraft des Buches, wie wenn es ein gerichtlicher Zauber gewesen wäre. Bei dieser ersten Gelegenheit, daß er dasselbe zum Vorschein brachte, erinnerte ich mich, wie er mich vor langer Zeit auf dem Kirchhofe hatte Treue schwören lassen, und wie er gestern Abend mir erzählt, daß er sich selbst in seiner Einsamkeit Eide auf seine Entschlüsse geleistet.
Da er gegenwärtig in einer Art von seemännischem Reiseanzug gekleidet war, in welchem er aussah, als habe er ein paar Papageien oder einen Affen oder einige Cigarren zu verkaufen, so traf ich zunächst Abrede mit ihm, welche Art von Anzug er tragen solle. Er hatte ein außerordentliches Vertrauen auf die Tugenden von »Kniehosen« als eine Verkleidung, und hatte sich im Geiste einen Anzug ausgemalt, in welchem er wie ein Mittelding zwischen einem Geistlichen und einem Zahnarzte ausgesehen haben würde. Ich hatte beträchtliche Mühe, ihn zu einem Costüm zu bewegen, welches ihm mehr das Aussehen eines wohlhabenden Landmannes geben würde; und wir kamen überein, daß er sein Haar kurz abschneiden und ein wenig Puder in demselben tragen solle. Endlich, da die Aufwartefrau und deren Nichte ihn noch nicht gesehen hatten, sollte er sich ihnen nicht früher zeigen, als bis die Veränderung in seinem Anzuge bewerkstelligt sein würde.
Man sollte denken, daß es ein Leichtes gewesen wäre, sich über diese Vorsichtsmaßregeln zu entscheiden; aber in meinem betäubten, um nicht zu sagen irren, Geisteszustande währte es so lange, daß ich nicht vor drei Uhr Nachmittags dazu kam, daß ich ausging, um sie zu fördern. Er sollte in meiner Wohnung eingeschlossen bleiben, während ich fort sein würde, und unter keiner Bedingung die Thür öffnen.
Da ich in der Essex-Straße ein respectables Haus kannte, in welchem Wohnungen zu vermiethen waren, und dessen Hinterseite in den Temple hineinschaute und wo ich von meinen Fenstern aus beinah hinüberrufen konnte, so begab ich mich zuerst nach diesem Hause und hatte das Glück, das zweite Stockwerk dort für Mr. Provis zu erhalten. Dann ging ich von einem Kaufladen zum andern, und machte solche Einkäufe, wie sie für sein verändertes Auftreten nothwendig waren. Nachdem ich hiermit fertig, wandte ich mich für eigene Rechnung Little Britain zu. Mr. Jaggers saß an seinem Pulte, doch da er mich eintreten sah, stand er augenblicklich auf und stellte sich mit dem Rücken vor das Kaminfeuer.
»Nun, Pip,« sagte er, »nehmen Sie sich in Acht.«
»Das will ich, Sir,« sagte ich, denn ich hatte auf meinem Wege wohl überlegt, was ich sagen wolle.
»Compromittiren Sie sich nicht,« sagte Mr. Jaggers, »und compromittiren Sie Niemand. Verstehen Sie – Niemand. Sagen Sie mir nichts: ich verlange gar nichts zu wissen; ich bin nicht neugierig.«
Natürlich sah ich, daß er wußte: der Mann sei angekommen.
»Ich wünsche mich zu vergewissern, Mr. Jaggers, ob das, was man mir gesagt hat, wahr ist. Ich habe keine Hoffnung, daß es unwahr sein könnte, aber ich kann mich wenigstens von der Wahrheit überzeugen.«
Mr. Jaggers nickte mit dem Kopfe.
»Aber sagten Sie: gesagt oder: unterrichtet?« fragte er mich, den Kopf auf, eine Seite geneigt und nicht mich, sondern auf eine horchende Weise den Fußboden anblickend. »Denn ›gesagt‹ würde den Anschein einer mündlichen Mittheilung haben. Sie können aber von einem Manne in Neu-Süd-Wales keine mündliche Mittheilung erhalten.«
»Ich will ›unterrichtet‹ gesagt haben, Mr. Jaggers.«
»Gut.«
»Ich bin von einem Manne mit Namen Abel Magwitch unterrichtet worden, daß er der mir so lange unbekannte Wohlthäter ist.«
»Das ist der Mann,« sagte Mr. Jaggers, – »in Neu-Süd-Wales.«
»Und nur er allein?« sagte ich.
»Und nur er allein,« sagte Mr. Jaggers.
»Ich bin nicht so unverständig, Sir, Sie für alle meine Irrthümer und falschen Schlüsse verantwortlich zu halten; aber ich glaubte immer, es sei Miß Havisham.«
»Wie Sie sagen, Pip,« erwiederte Mr. Jaggers, mich sehr gelassen anblickend und an seinem Zeigefinger nagend, »ich bin dafür durchaus nicht verantwortlich.«
»Und doch hatte es so sehr den Anschein,« sagte ich mit kummervollem Herzen.
»Nicht die Spur von Beweis, Pip,« sagte Mr. Jaggers, indem er den Kopf schüttelte und seine Rockschöße aufnahm. »Nehmen Sie nie eine Sache nach dem Anscheine an, sondern stets nur nach Beweisen. Es giebt keine bessere Regel.«
»Ich habe nichts weiter zu sagen,« sagte ich mit einem Seufzer, nachdem ich eine Weile niedergeschlagen dagestanden. »Ich habe mich von der Wahrheit dessen überzeugt, was man mir mitgetheilt hat, und damit ist die Sache zu Ende.«
»Und da nun Magwitch in Neu-Süd-Wales sich endlich zu erkennen gegeben hat,« sagte Mr. Jaggers, »so werden Sie einsehen, Pip, wie streng ich mich während all meiner Verhandlungen mit Ihnen innerhalb der Thatsachen gehalten habe. Ich bin nie von der strengen Linie der Thatsachen abgewichen. Sie sind doch davon völlig überzeugt?«
»Vollkommen, Sir.«
»Ich gab Magwitch – in Neu-Süd-Wales – als er mir zuerst schrieb – aus Neu-Süd-Wales – die Warnung, daß er nicht von mir erwarten müsse, daß ich von der strengen Linie der Thatsachen abwiche. Und dann gab ich ihm noch eine andere Warnung. Ich glaubte in seinem Briefe dunkle Andeutungen zu lesen, daß er eine entfernte Idee habe, Sie in England zu besuchen. Ich warnte ihn, daß ich hiervon nicht ferner mehr hören müsse; daß es nicht wahrscheinlich sei, daß er je seine Begnadigung erhalten würde; daß er auf Lebenszeit aus seinem Vaterlande verbannt und daß seine Rückkehr in dieses Land ein Capitalverbrechen sei, wodurch er sich der äußersten Strafe des Gesetzes aussetze. Ich gab Magwitch diese Warnung,« sagte Mr. Jaggers, mich fest anblickend; »ich schrieb ihm dieselbe nach Neu-Süd-Wales; und ohne Zweifel hat er sich durch dieselbe leiten lassen.
»Ohne Zweifel«, sagte ich.
»Ich habe von Wemmick erfahren,« fuhr Mr. Jaggers mich noch immer fest anblickend fort, »daß er einen Brief erhalten, aus Portsmouth datirt, und von einem gewissen Colonisten mit Namen Purvis oder –«
»Oder Provis«, sagte ich.
»Oder Provis – danke, Pip. Vielleicht ist es Provis? Vielleicht wissen Sie, daß es Provis ist?«
»Ja«, sagte ich.
»Richtig. Einen Brief, aus Portsmouth datirt, von einem gewissen Colonisten mit Namen Provis, worin derselbe für Magwitch um die genaue Angabe Ihrer Adresse bat. Wemmick schickte ihm die Einzelheiten, wie ich höre, mit umgehender Post. Wahrscheinlich ist es Provis, durch den Sie die Erklärungen in Bezug auf Magwitch – in Neu-Süd-Wales – erhielten?«
»Sie wurden mir in der That durch Provis«, entgegnete ich.
»Guten Tag, Pip,« sagte Mr. Jaggers, mir seine Hand bietend; »freut mich, Sie gesehen zu haben. Wenn Sie mit der Post an Magwitch in Neu-Süd-Wales schreiben oder durch Provis mit ihm verhandeln, so haben Sie die Güte, ihm zu sagen, daß die Specification und Belege unseres langen Contos sowohl als der Ueberschuß Ihnen zugeschickt werden sollen; denn es ist noch ein Ueberschuß vorhanden. Guten Tag, Pip!«
Wir reichten einander die Hände und er blickte mich scharf an, so lange er mich sehen konnte. Ich wandte mich an der Thüre um, und er blickte mich noch immer scharf an, während die beiden scheußlichen Gypsabgüsse auf dem Simse zu versuchen schienen, ihre Augenlider zu öffnen und aus ihren geschwollenen Hälfen die Worte: »O, welch ein Mann er ist!« herauszudrücken.
Wemmick war ausgegangen, aber selbst, wenn er an seinem Pulte gewesen wäre, hätte er nichts für mich thun können. Ich kehrte geradenwegs nach dem Temple zurück, wo ich den fürchterlichen Provis vorfand, beschäftigt in aller Sicherheit Rum und Wasser zu trinken und Mohrenkopf zu rauchen.
Am folgenden Tage wurden alle die Kleidungsstücke geliefert, welche ich für ihn bestellt hatte, und er zog sie an. Doch Alles, was er auch anzog, kleidete ihn noch weniger (wie es mir trübseliger Weise schien), als die Kleider, die er vorher getragen hatte. Meiner Ansicht nach war etwas in ihm, das den Versuch, ihn zu verkleiden, zu einem hoffnungslosen machte. Je mehr ich ihn herausstaffirte, und je besser ich ihn kleidete, desto mehr sah er wieder dem dahinhumpelnden Flüchtling in den Marschen gleich. Diese Wirkung auf meine angstvolle Einbildungskraft war ohne Zweifel zum Theil dem Umstande zuzuschreiben, daß ich mit seinem alten Gesichte und Wesen vertrauter zu werden anfing; aber ich glaube auch, daß er das eine seiner Beine etwas schleppte, wie wenn er noch immer ein Eisen daran gehabt hätte, und daß, vom Kopf bis zu den Füßen, der Sträflingscharakter mit dem innersten Wesen des Mannes verwebt war.
Die Einflüsse seines einsamen Hüttenlebens hafteten ebenfalls an dem Manne, und gaben ihm ein wildes Aussehen, das kein Anzug der Welt hätte civilisiren können; dazu kamen noch die Einflüsse seines spätern gebrandmarkten Lebens unter den Menschen, und schlimmer als Alles das Bewußtsein, sich eben jetzt wieder versteckt zu halten. In allen seinen Manieren, ob er nun saß oder stand, aß oder trank, ob er auf abstoßende, hochschulterige Weise umhergrübelte – oder sein großes Einschlagemesser mit dem Horngriff herausnahm, es auf dem Knie abwischte und dann sein Essen damit zerschnitt – oder leichte Gläser und Tassen nach dem Munde brachte, als wenn sie schwere Schoppen gewesen wären – oder einen Keil aus dem Brode hackte, um damit die letzten Spuren von Sauce auf seinem Teller aufzutunken, indem er unzählige Male damit um denselben herumfuhr, wie wenn er sich daran gelegen sein lassen müsse, den größtmöglichen Vortheil von seiner Portion zu haben, und dann seine Finger daran abwischte und es verschlang – in all diesen Manieren und tausend anderen unbedeutenden Fällen, die kaum zu nennen sind, aber jede Minute vorkommen, stand so deutlich wie nur möglich: Gefangener, Verbrecher, Sträfling geschrieben.
Es war sein eigener Einfall gewesen, sich das Haar ein wenig zu pudern, und ich hatte ihm den Puder bewilligt, nachdem er mir in den Kniehosen nachgegeben. Aber ich kann den Effect dieses Puders in seinem Haare mit nichts Anderm vergleichen, als mit dem Effect von Schminke auf einem todten Gesichte; so fürchterlich war die Art und Weise, in der Alles an ihm, was zu verbergen besonders wünschenswerth war, durch diese dünne Schicht von Verstellung drang und wie mit Flammen aus dem Wirbel seines Kopfes herauszufahren schien. Wir hatten kaum den Versuch gemacht, als wir ihn auch schon wieder aufgaben, und er trug dann sein graues Haar kurz geschnitten.
Ich kann nicht mit Worten beschreiben, welch entsetzliches Geheimniß er mir zu gleicher Zeit war. Wenn er Abends in seinem Armstuhle einschlief, indem er mit seinen knotigen Händen die Armlehnen seines Stuhles packte, und sein kahler Kopf, der mit tiefen Furchen tätowirt war, vorwärts auf seine Brust fiel, pflegte ich dazusitzen und ihn zu betrachten und mich in Vermuthungen darüber zu ergehen, was er wohl gethan habe, und ihn aller Verbrechen in den Criminalgesetzbüchern anzuschuldigen, bis der Drang mächtig in mir wurde, aufzuspringen und von ihm zu fliehen. Der Abscheu, den er mir einflößte, vermehrte sich mit jeder Stunde in dem Grade, daß ich glaube, ich wäre diesem Drange, ungeachtet alles dessen, was er für mich gethan, und der Gefahr, in der er schwebte, in den ersten Qualen, mich so heimgesucht zu sehen, dennoch gewichen, hätte ich nicht das Bewußtsein gehabt, daß Herbert bald nach Hause kommen müsse. Einmal sprang ich wirklich in der Nacht aus dem Bette und fing an, mich in meine schlechtesten Kleider zu kleiden, indem ich hastig beschloß, ihn mit Allem, was ich sonst noch besaß, allein zu lassen und mich dann als Soldaten für Indien anwerben zu lassen.
Ich bezweifle, ob mir ein Gespenst fürchterlicher gewesen wäre, dort oben in jenen einsamen Zimmern, während der langen Abende und Nächte und in dem unausgesetzten Toben des Windes und Regens. Ein Gespenst hätte nicht meinetwegen gefangen genommen und gehangen werden können, und die Betrachtung, daß dies bei ihm möglich, und die Furcht, daß es geschehen könne, waren keine geringen Zugaben zu meinen Qualen. Wenn er nicht eben schlief oder mit einem unsaubern Spiele Karten eine complicirte Art von Patience spielte – ein Spiel, das ich niemals vorher oder nachher gesehen habe, und in welchem er seine Gewinne dadurch markirte, daß er sein großes Taschenmesser in den Tisch steckte – wenn er nicht gerade auf die eine oder andere dieser Weisen beschäftigt war, da bat er mich wohl, ihm »Etwas französisch, lieber Junge!« vorzulesen. Während ich seinem Wunsche nachkam, stand er dann, ohne ein Wort von dem was ich las zu verstehen, vor dem Feuer und betrachtete mich mit der Miene eines Mannes, der eine Seltenheit zeigt, und ich sah ihn zwischen den Fingern der Hand hindurch, mit der ich mein Gesicht beschattete, pantomimisch das Zimmergeräth auf meine Gelahrtheit aufmerksam machen. Der fabelhafte Student, der von der Mißgeburt verfolgt wurde, die er sich gemacht, war nicht unglücklicher, als ich, verfolgt von dem Geschöpf, das mich gemacht hatte, und schauderte nicht entsetzter und mit tieferm Widerwillen vor ihm zurück, je mehr er mich bewunderte und je liebevoller er gegen mich war.
Ich schreibe hierüber, wie ich fühle, als ob es ein Jahr gewährt hätte. Es währte etwa fünf Tage. Da ich fortwährend Herbert erwartete, wagte ich nicht auszugehen, außer wenn ich nach dem Dunkelwerden Provis zu einem Spaziergange hinausführte. Endlich, eines Abends nach Tische, als ich gänzlich erschöpft in meinem Armstuhle eingeschlummert war – denn meine Nächte waren unruhig und mein Schlaf durch entsetzliche Träume gestört gewesen– erweckte mich der willkommene Fußtritt auf der Treppe. Provis, der ebenfalls geschlafen hatte, taumelte empor, indem er über das Geräusch, welches ich machte, erwachte, und schnell wie der Blitz glitzerte das große Taschenmesser in seiner Hand.
»Halt! Es ist Herbert!« sagte ich und herein stürzte Herbert mit der luftigen Frische von sechshundert Meilen Frankreich im Herzen und im ganzen Wesen.
»Händel, mein lieber Junge, wie geht Dirs, und noch einmal wie geht Dirs, und noch einmal wie geht Dirs? Es kommt mir vor, als ob ich ein ganzes Jahr fortgewesen wäre! Und das muß wirklich der Fall sein, denn Du bist mager und blaß geworden! Händel, meine – Hollah! Ich bitte um Verzeihung.«
Er wurde hier in seinem Wortergusse und seinem Händedrücken unterbrochen, indem er Provis erblickte. Provis, der ihn mit einer festen Aufmerksamkeit beobachtete, steckte langsam das Taschenmesser wieder ein und suchte dann in einer andern Tasche nach etwas Anderm.
»Herbert, mein lieber Freund,« sagte ich, indem ich die doppelten Thüren schloß, während Herbert starr und verwundert dastand, »es hat sich etwas sehr Seltsames zugetragen. Dies ist – mein Gast.«
»Es ist Alles in Ordnung, lieber Junge!« sagte Provis vortretend und wandte sich dann mit seinem kleinen schwarzen Buche gegen Herbert. »Nehmen Sie es in Ihre rechte Hand. Gott lasse Sie auf der Stelle todt hinfallen, wenn Sie je in irgend einer Weise was verrathen! Küssen Sie es!«
»Thu es, da er es wünscht,« sagte ich zu Herbert. Demzufolge erfüllte Herbert meinen Wunsch, indem er mit einiger freundschaftlichen Unruhe mich anblickte, und Provis sagte, indem er ihm die Hand reichte:
»Jetzt haben Sie einen Eid darauf abgelegt, wie Sie wissen. Und glauben Sie mir nie auf den meinigen, wenn Pip nicht einen Gentleman aus Ihnen macht.«
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