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Einundvierzigstes Kapitel.
Dunkle Zukunft.

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Ich würde vergebens versuchen, Herberts Erstaunen und Bestürzung zu beschreiben, als er, Provis und ich uns um das Kaminfeuer gesetzt hatten und ich ihm das ganze Geheimniß erzählte. Es genüge, zu sagen, daß ich meine eigenen Gefühle in Herberts Antlitz abgespiegelt sah, und daß dasjenige dieser Gefühle, welches sich am deutlichsten aussprach, mein Widerwille gegen den Mann war, welcher so viel für mich gethan hatte.

Vollauf genug schied uns von diesem Manne schon die triumphirende Freude, die er an meiner Erzählung zu finden schien. Außer dem unerträglichen Bewußtsein, daß er seit seiner Rückkehr bei einer Gelegenheit sich »gemein« benommen – worüber er sich gegen Herbert aussprach, sowie ich fertig war – hatte er nicht die entfernteste Ahnung von der Möglichkeit, daß ich an meinem Glücke etwas auszusetzen haben könne. Und sein Stolz, daß er einen Gentleman aus mir gemacht habe und gekommen sei, um mich, vermöge seiner bedeutenden Mittel, als einen solchen auftreten zu sehen, galt eben so sehr mir, als ihm selbst; und daß der Umstand ein äußerst angenehmer sei für uns alle Beide, und wir alle Ursache hätten, darüber zu triumphiren, war ein Factum, über welches er vollkommen mit sich im Reinen war.

»Ich weiß, bemerken Sie wohl, Pips Kamerad,« sagte er zu Herbert, nachdem er eine Weile geredet, »ich weiß sehr gut, daß ich einmal, seit ich zurückgekehrt, auf eine halbe Minute – gemein gewesen bin. Ich sagte gleich zu Pip, ich wüßte, daß ich gemein gewesen wäre. Aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen. Ich habe nicht aus Pip einen Gentleman gemacht und Pip wird nicht aus Ihnen einen Gentleman machen, ohne daß ich wüßte, was man Euch als solchen schuldig ist. Du, lieber Junge, und Sie, Pips Kamerad, können Beide darauf rechnen, daß ich stets den noblen Maulkorb vorhaben werde. Ich habe ihn vorgehabt seit jener halben Minute, wo ich mich zur Gemeinheit hinreißen ließ, und ich habe ihn in diesem Augenblicke vor und werde ihn immer vorbehalten.«

Herbert sagte: »Gewiß«, sah jedoch aus, als ob kein wirksamer Trost hierin liege, sondern blieb noch immer bestürzt und beunruhigt. Wir ersehnten den Augenblick, wo er nach seiner Wohnung gehen und uns allein lassen würde, aber er ließ uns offenbar ungern allein miteinander, und blieb daher bis spät in die Nacht. Es war Mitternacht, bevor ich ihn nach der Essex-Straße begleitete, und ihn sicher in seine eigene dunkle Thür eintreten sah. Als dieselbe sich hinter ihm schloß, wurde mir seit dem Abende seiner Ankunft zum ersten Mal wieder leicht ums Herz.

Da ich nie ganz von einer unruhigen Erinnerung an den Mann auf der Treppe frei war, so hatte ich mich stets, wenn ich nach dem Dunkelwerden meinen Gast spazieren geführt, sorgfältig umgeschaut, wenn ich ihn zurückbrachte; und ich that dasselbe auch jetzt. So schwer es in einer großen Stadt auch ist, den Verdacht des Beobachtetseins zu vermeiden, wenn man sich in dieser Hinsicht einer Gefahr bewußt ist, so vermochte ich mich dennoch nicht zu überreden, daß sich irgend Jemand von den Vorübergehenden um mein Hinundhergehen bekümmerte. Die Wenigen, die jetzt an mir vorüberkamen, gingen ihre verschiedenen Wege, und als ich wieder in den Temple hineinbog, war die Straße leer. Es war Niemand mit uns zugleich zum Thore hinausgegangen, und es kehrte Niemand mit mir durch dasselbe zurück. Als ich an dem Springbrunnen vorüberkam, sah ich Provis' Fenster hell und ruhig zu mir herableuchten, und als ich auf ein paar Minuten in der Thür des Hauses, in welchem ich wohnte, stillstand, ehe ich hinaufging, war Gardencourt ebenso still und unbelebt, als die Treppe, da ich dieselbe hinaufging.

Herbert kam mir mit offenen Armen entgegen, und noch nie vorher hatte ich so tief empfunden, was es heißt, einen Freund zu besitzen. Nachdem er einige verständige Worte der Theilnahme und Ermuthigung gesprochen, setzten wir uns, um die Frage: was jetzt zu thun sei? zu erwägen.

Da der Lehnstuhl, in welchem Provis gesessen, noch an derselben Stelle stehen geblieben war – denn er hatte eine Art von Casernenmanier an sich, sich an einer gewissen Stelle und auf eine gewisse unstäte Weise umherzutreiben und dieselben Manoeuvres mit seiner Pfeife, seinem Mohrenkopf, seinem Taschenmesser, seinen Karten, und was sonst noch, der Reihe nach durchzumachen, als ob ihm dies Alles genau auf einer Tafel angegeben sei – da, wie gesagt, sein Stuhl noch an derselben Stelle stand, so nahm Herbert unbewußter Weise in demselben Platz; doch im nächsten Augenblicke schon sprang er wieder auf, stieß ihn zurück und nahm einen andern. Er hatte hiernach nicht mehr nöthig, mir zu sagen, daß er einen Widerwillen gegen meinen Gönner gefaßt, noch bedurfte es dieses Bekenntnisses von meiner Seite. Wir tauschten hierüber unser gegenseitiges Vertrauen aus, ohne eine Sylbe zu reden.

»Was,« sagte ich zu Herbert, als er wohlbehalten in einem andern Lehnstuhle angelangt war, »was ist jetzt zu machen?«

»Mein armer, lieber Händel,« entgegnete er, seinen Kopf stützend, »ich bin zu betäubt, um denken zu können.«

»Es ging mir ebenso, Herbert, als der Schlag mich zuerst traf. Dennoch aber muß etwas gethan werden. Er ist auf eine Menge neue Ausgaben versessen – Pferde, Equipagen und allerlei kostspielige Sachen. Man muß es auf die eine oder die andere Weise dahin bringen, daß er dies aufgiebt.«

»Du meinst, Du kannst es nicht annehmen –?«

»Wie könnte ich es wohl?« sagte ich, da Herbert schwieg. »Bedenke nur, wer er ist! Sieh ihn nur an!«

Ein unwillkürliches Schaudern schüttelte uns Beide.

»Und bei alle Dem fürchte ich, Herbert, daß die fürchterlichste Wahrheit die ist, daß er mir zugethan, innig zugethan ist. Hat je ein Mensch ein solches Schicksal gehabt!«

»Mein armer, lieber Händel!« wiederholte Herbert.

»Und dann wieder,« sagte ich, »wenn ich hiermit ein Ende machte und nie wieder einen Penny von ihm annähme – bedenke nur, was ich ihm schon Alles schuldig bin! Und außerdem bin ich tief in Schulden – sehr tief, für mich, der ich gar keine Erwartungen habe – und ich bin zu keinem Berufe erzogen worden und tauge zu keinem.«

»Nun, nun, nun!« sagte Herbert begütigend. »Sage nicht, daß Du zu keinem taugst.«

»Wozu tauge ich? Ich weiß nur Eines, wozu ich tauge, und das ist, daß ich mich als Soldat anwerben lasse. Ich wäre schon fort, mein lieber Herbert, hätte ich nicht die Hoffnung gehabt, mir in Deiner Freundschaft und Liebe Rath zu erholen.«

Natürlich wurde ich hier von meinen Gefühlen übermannt; und natürlich that Herbert, außer indem er mir mit Wärme die Hand drückte, nicht, als bemerke er es.

»Jedenfalls, mein lieber Händel,« sagte er nach einer kleinen Weile, »ist es nichts mit dem Anwerbenlassen. Falls Du dieser Gönnerschaft und diesen Gunstbezeugungen entsagtest, so denke ich mir, daß Du es in der schwachen Hoffnung thätest, eines Tages im Stande zu sein, das zu ersetzen, was Du bereits erhalten hast. Und diese Hoffnung würde keine sehr begründete sein, falls Du Soldat würdest! Und überdies ist das lächerlich. Du würdest Dich unendlich viel besser in Clarrikers Geschäft stehen, so klein dasselbe auch ist. Du weißt, ich arbeite mich zum Associé heran.«

Der arme Junge! Er ahnte nicht, mit wessen Gelde.

»Aber es giebt da noch eine andere Frage für uns!« sagte Herbert, »Dieser Mann ist ein unwissender, entschlossener Mensch, der seit langer Zeit eine fixe Idee im Kopfe gehabt hat. Und was noch mehr ist, er scheint mir (doch ist es möglich, daß ich ihn falsch beurtheile) ein Mann von einem verzweifelten, gewaltthätigen Charakter zu sein.«

»Ich kenne ihn als einen solchen,« entgegnete ich. »Laß mich Dir erzählen, welchen Beweis hiervon ich gesehen habe.« Und ich erzählte ihm, was ich vorher in meiner Mittheilung übergangen hatte, – seinen Kampf mit dem andern Sträflinge.

»Siehst Du wohl!« sagte Herbert; »also bedenke nur! Er kommt mit Gefahr seines Lebens her, um die eine fixe Idee seines Lebens zu verwirklichen. Aber in dem Augenblicke der Verwirklichung, nach all seinem Mühen und Harren, nimmst Du ihm den Boden unter den Füßen weg, zerstörst seine Idee und machst seinen Gewinn werthlos für ihn. Siebst Du nicht, was er unter dem Einflusse einer solchen Täuschung möglicher Weise thun könnte?«

»Ich habe es seit der unheilvollen Nacht seiner Ankunft fortwährend gesehen, Herbert, und davon geträumt. Nichts hat seitdem so unausgesetzt und deutlich in meinen Gedanken gelebt, als daß er sich fangen lassen würde.«

»Dann verlaß Dich darauf,« sagte Herbert, »es ist große Gefahr vorhanden, daß er dies thun würde. Das ist die Macht, die er über Dich besitzt, so lange er in England bleibt, und dies würde sein verzweifeltes Verfahren sein, falls Du ihn verließest.«

Das Entsetzliche dieses Gedankens, der mir von Anfang an auf dem Herzen gelastet und mich, wenn ich ihn verfolgte, gewissermaßen als seinen Mörder erscheinen ließ, erschütterte mich so, daß ich nicht in meinem Stuhle ruhig bleiben konnte, sondern aufstand und im Zimmer auf- und abging. Ich sagte zu Herbert, daß, selbst wenn Provis gegen seinen Willen erkannt und verhaftet würde, ich mich als Ursache hiervon, auf welche unverschuldete Weise ich dies auch geworden sein mochte, elend fühlen würde. Ja; selbst obgleich ich unglücklich war, ihn in Freiheit und in meiner Nähe zu sehen; und selbst obgleich ich viel, viel lieber mein Lebelang in der Schmiede hätte arbeiten wollen, als jemals hierzu gekommen sein!

Doch die Frage war durch Toben und Rasen nicht zu beseitigen. Was konnte gethan werden?

»Das Erste und Hauptsächliche, was gethan werden muß,« sagte Herbert, »ist, daß man ihn aus England fortschafft. Du wirst mit ihm gehen müssen, und dann wird er vielleicht dazu zu bewegen sein.«

»Aber wohin ich ihn auch bringen möchte, ich könnte ja doch seine Rückkehr nicht verhindern?«

»Mein guter Händel, ist es nicht in die Augen fallend, daß, während Newgate in der nächsten Straße steht, es hier viel gewagter sein wird, wenn Du ihm Deine Absichten auseinandersetzest und ihn dadurch desperat machst, als anderswo? Wie wäre es nun, wenn man aus jenem andern Sträflinge, oder aus irgend einem andern Umstande in seinem Leben einen Vorwand machte, um ihn aus England zu entfernen?«

»Da liegt es wieder!« sagte ich, vor Herbert still stehend und ihm meine offenen Hände hinhaltend, als ob in ihnen das Verzweifelte der Sache zu sehen sei. »Ich weiß gar nichts von seinem Leben. Es hat mich beinahe wahnsinnig gemacht, Abends hier zu sitzen und ihn vor mir zu sehen, so eng verknüpft mit all meinem Glücke und Unglücke und dennoch mir nur bekannt als der elende Flüchtling, der mich während zweier Tage meiner Kindheit mit Schrecken erfüllte!«

Herbert stand auf und schlang seinen Arm durch den meinigen und wir Beide gingen, den Teppich studirend, langsam zusammen auf und ab.

»Händel,« sagte Herbert still stehend, »Du fühlst Dich überzeugt, daß Du keine ferneren Wohlthaten von diesem Manne annehmen kannst, wie?«

»Vollkommen. Und gewiß, Du würdest es an meiner Stelle ebenfalls sein.«

»Und Du fühlst Dich überzeugt, daß Du mit ihm brechen mußt?«

»Herbert, wie kannst Du nur noch fragen?«

»Und – wie dies ganz in der Ordnung ist – das Leben, welches er für Dich gewagt hat, ist Dir so werth, daß Du ihn womöglich davor behüten mußt, dasselbe wegzuwerfen. Dann mußt Du ihn aus England fortnehmen, ehe Du einen Finger rührst, um Dich von ihm los zu machen. Sobald das geschehen, mache Dich in Gottes Namen frei, und dann wollen wir schon zusammen Rath schaffen, lieber alter Junge.«

Es lag ein Trost darin, uns einander hierauf die Hände zu drücken, und dann wieder auf und ab zu gehen, ohne sonst noch etwas darüber zu sagen.

»Jetzt, Herbert,« sagte ich, »wie ist es zu machen, daß man etwas von seiner Lebensgeschichte erfährt? Ich kenne nur eine einzige Art und Weise, um dies zu erlangen. Ich muß ihn geradezu fragen.«

»Ja,« sagte Herbert. »Frage ihn, wenn wir morgen beim Frühstück sitzen.« Denn er hatte, da er Herbert gute Nacht gewünscht, ihm gesagt, daß er kommen werde, um mit uns zu frühstücken.

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