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Eine Nacht der Ruhe in dem tiefen Schweigen von Dingley Dell und der Spaziergang einer Stunde in der duftigen erfrischenden Morgenluft reichten hin, bei Herrn Pickwick die Folgen der vorausgegangenen Körperermüdung und Gemütbedrückung zu verscheuchen. Dieser treffliche Mann war zwei ganze Tage von seinen Freunden und Jüngern getrennt gewesen, und es gehört keine gewöhnliche Phantasie dazu, den Grad der Freude und des Entzückens zu schildern, womit er Herrn Winkle und Herrn Snodgrass begrüßte, als er diesen Herren auf dem Heimwege von seinem frühen Spaziergange begegnete. Die Freude war gegenseitig, denn wer hätte Herrn Pickwicks strahlendes Gesicht sehen können, ohne an dem, was in seinem Innern vorging, teilzunehmen. Aber es schien doch auf den Zügen seiner Begleiter eine Wolke zu schweben, die dem großen Manne nicht entgehen konnte, und die er sich durchaus nicht zu enträtseln wußte. Es lag etwas Geheimnisvolles in ihrem Wesen, das ihn um so mehr beunruhigte, je ungewöhnlicher es war.
»Und was –« sagte Herr Pickwick, nachdem er seinen beiden Freunden die Hand gedrückt und sie sich gegenseitig aufs herzlichste bewillkommt hatten – »was macht Tupman?«
Herr Winkle, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg. Er wandte das Gesicht ab und schien von einer wehmütigen Erinnerung ergriffen zu werden.
»Snodgrass«, sagte Herr Pickwick ernst, »was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?«
»Nein«, versetzte Herr Snodgrass, und eine Träne zitterte an seiner gefühlvollen Wimper wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. »Nein; er ist nicht krank.«
Herr Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.
»Winkle – Snodgrass«, rief Herr Pickwick: »was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht – ich bitte – ich beschwöre – nein, ich befehle es euch – sprecht!« Es lag eine Feierlichkeit – eine Würde in Herrn Pickwicks Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ.
»Er ist fort«, sagte Herr Snodgrass.
»Fort?« rief Herr Pickwick; »fort?«
»Fort«, wiederholte Herr Snodgrass.
»Wo?« rief Herr Pickwick.
»Wir können nur Vermutungen aufstellen, die uns diese Zeilen an die Hand geben«, entgegnete Herr Snodgrass, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. »Gestern morgen, als ein Brief von Herrn Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, die sich unseres Freundes tags zuror schon bemächtigt hatte, zunahm. Bald nachher verschwand er. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend brachte uns der Stallknecht aus der Krone in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit der ausdrücklichen Einschärfung, ihn vor Abend nicht abzugeben.«
Herr Pickwick öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:
»Mein lieber Pickwick!
Sie, mein teurer Freund, sind außer dem Bereich vieler Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch so gern anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, auf einmal von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie erfahren mögen.
Ein Brief unter der Adresse ›Lederne Flasche, Cobham in Kent‹ wird an mich gelangen – wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden ist. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so bemitleiden Sie mich, und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele flammt, ist des Lastträgers Tragriemen, an dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen hängt – nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit – ach, dieser Name! –
Tracy Tupman.«
»Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen«, sagte Herr Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenlegte. »Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hier zu bleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.«
Mit diesen Worten ging er nach dem Hause voran.
Er tat daselbst unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringendsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.
Der alte Geistliche war zugegen.
»Wie, ist's Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?« sagte er, indem er Pickwick beiseite nahm.
Herr Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.
»So empfangen Sie hier ein kleines Manuskript«, fuhr der alte Herr fort, »von dem ich mir das Vergnügen versprach, es Ihnen selbst vorzulesen. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir – eines Arztes an dem Irrenhaus unserer Grafschaft. Die Papiere wurden mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, überantwortet. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irren herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen, oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt – lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.«
Herr Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.
Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundchaft genossen hatten. Herr Pickwick küßte die jungen Damen – wir hätten beinahe gesagt, als ob sie seine eigenen Töchter gewesen wären. Aber es schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemischt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre. Er umarmte die Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes und tätschelte die roten Wangen der Dienstmädchen in ziemlich patriarchalischer Weise, während er in die Hände einer jeden einige substantiellere Beweise seines Wohlwollens drückte. Noch herzlicher war der Abschied von ihrem wackeren alten Wirt und Herrn Trundle, und sie vermochten sich erst von den freundlichen Menschen loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Herr Snodgrass aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald hernach Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte.
Sie sahen oft nach Manor Farm zurück, als sie langsam weitergingen, und Herr Snodgrass warf manches Kußhändchen nach einem Gegenstand in die Luft, der ziemlich wie ein Damentaschentuch aussah und so lange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie in einen Feldweg einbogen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester.
Als sie an diesem Ort anlangten, hatte sich das Übermaß ihres Schmerzes soweit gelegt, daß sie ein ausgezeichnetes Mittagessen zu sich nehmen konnten. Sobald sie dann die nötigen Erkundigungen über den Weg eingeholt hatten, setzten sich die drei Freunde wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach CobhamCobham ist eine kleine Ortschaft in der Grafschaft Kent mit einem Schloß, das durch seine Gemäldesammlung berühmt ist. Die Sammlung enthält Tizian, Rubens, van Dyk. Bei dem Schloß ist ein schöner Park. zu machen.
Es war ein köstlicher Spaziergang – ein angenehmer Juninachmittag, wobei sie der Weg durch einen dichten, schattigen Wald führte. Der kühle, leichte Wind säuselte sanft in dem reichen Blätterwerke, und die Vögel auf den Zweigen belebten die Landschaft durch ihre Lieder. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidener Teppich. Sie gelangten in einen offenen Park mit einer alten Halle in der malerischen und eigenartigen Bauart aus Elisabeths Zeiten. Auf jeder Seite zeigten sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen; große Rudel von Hochwild erquickten sich an dem frischen Grase. Hin und wieder lief ihnen ein aufgeschreckter Hase ebenso schnell über den Weg, wie die von den leichten Wolken geworfenen Schatten, einem Sommerlüftchen gleich, über ein sonnige Landschaft dahinfliegen.
»O wenn doch« – rief Herr Pickwick, sich in der Gegend umsehend – »wenn doch alle, die mit unserm Freunde das gleiche Leiden bedrückt, hierher kämen! Gewiß, die frühere Liebe zu der Welt müßte bald wieder zurückkehren.«
»Mir aus der Seele gesprochen«, sagte Herr Winkle.
»Und in der Tat«, fügte Herr Pickwick nach einer halben Stunde, als sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, »wenn man dabei bedenkt, daß ein Menschenhasser diesen Park geschaffen hat, so muß man sagen, daß das der schönste und lieblichste Aufenthalt ist, der mir je zu Gesicht kam.«
Auch damit waren Herr Winkle wie Herr Snodgrass einverstanden. Sie fragten nun nach der Ledernen Flasche und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das die drei Reisenden traten und sich nach einem Herrn, Namens Tupman, erkundigten.
»Führe die Herren ins Gastzimmer, Tom«, sagte die Wirtin.
Ein stämmiger Bauernbursche öffnete an dem Ende des Hausflurs eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes niedriges Zimmer, in dem eine große Zahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand. Eine Reihe alter Porträts und rauhkolorierter altertümlicher Bilder zierten die Wände. Am oberen Ende stand eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen. Dahinter aber war Herr Tupman in einer Weise beschäftigt, die auf nichts weniger, als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.
Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Herr Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen.
»Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen«, sagte er, Herrn Pickwicks Hand ergreifend. »Es ist zu gütig von Ihnen.«
»Ach«, sagte Herr Pickwick, indem er sich niedersetzte und den Schweiß, den ihm der Spaziergang verursacht, von der Stirn wischte. »Beenden Sie Ihr Mahl, und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich wünsche allein mit Ihnen zu sprechen.«
Herr Tupman tat, was von ihm verlangt wurde, und Herr Pickwick labte sich inzwischen an einer Kanne Bier. Die Mahlzeit wurde schleunigst beendet, und beide gingen miteinander hinaus.
Man sah sie ungefähr eine halbe Stunde in dem Kirchhof auf und ab spazieren, in der Herr Pickwick sich alle Mühe gab, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes zu bekämpfen. Eine Wiederholung seiner Gründe wäre indessen ein fruchtloses Unterfangen: denn welche Sprache vermöchte Kraft und Ausdruck wiederzugeben, die das ganze Gebaren ihres Urhebers begleiteten? Ob Herr Tupman bereits seiner Einsamkeit müde war, oder ob er der eindringlichen Beredsamkeit seines Freundes nicht ganz widerstehen konnte – gleichviel, Tatsache ist, daß er nicht widerstand.
Es kümmere ihn wenig, sagte er, wo er den Rest seines kummervollen Daseins hinschleppe! und da sein Freund einmal einen so großen Wert auf seine unbedeutende Begleitung lege, so wolle er sich's ja gefallen lassen, ferner an seinen Abenteuern teilzunehmen.
Herr Pickwick lächelte. Sie drückten sich die Hände und gingen zurück, um sich mit ihren Gefährten zu vereinen.
In diesem Augenblick machte Herr Pickwick jene unsterbliche Entdeckung, die der Stolz und der Ruhm seiner Freunde war und die Altertumsforscher aller Länder mit dem giftigsten Neide erfüllte. Sie waren an der Tür ihres Gasthauses vorbeigekommen und ein wenig ins Dorf hinuntergegangen, ehe sie sich der Stelle entsinnen konnten, wo es wirklich stand. Als sie wieder umkehrten, fiel Herrn Pickwicks Blick auf einen kleinen zerbrochenen Stein vor der Tür eines Bauernhauses, der halb in der Erde steckte. Er blieb stehen.
»Das ist doch sonderbar«, sagte Herr Pickwick.
»Was ist sonderbar?« fragte Herr Tupman, der jeden Gegenstand in seiner Nähe anschaute, nur den rechten nicht. »Gott behüte uns, was gibt's denn?«
Es handelt sich nämlich um den Aufschrei eines nicht zu bewältigendcn Erstaunens, dadurch veranlaßt, daß Herr Pickwick, ganz begeistert von seiner Entdeckung, vor dem kleinen Steine auf die Knie niederfiel und mit seinem Taschentuche den Schmutz davon abzuwischen begann.
»Da ist eine Inschrift«, sagte Herr Pickwick.
»Ist's möglich?« versetzte Herr Tupman.
»Ich kann es erkennen«, – fuhr Herr Pickwick fort, indem er aus Leibeskräften rieb und mit der höchsten Spannung durch seine Brille sah – »ich kann es erkennen – ein Kreuz und ein B, und dann ein T. Das ist wichtig«, fügte Herr Pickwick aufspringend hinzu. »Es ist irgendeine sehr alte Inschrift, vielleicht schon älter als die alten Armenhäuser dieses Orts. Sie darf nicht verlorengehen.«
Er klopfte an die Tür des Bauernhauses. Der Besitzer öffnete.
»Wißt Ihr mir nicht anzugeben, wie dieser Stein hierher kam, mein Freund?« fragte der wohlwollende Herr Pickwick.
»Nein, Sir«, antwortete der Bauer höflich; »er liegt schon hier, viel früher, als ich oder einer von uns geboren wurde.«
Herr Pickwick warf einen triumphierenden Blick auf seine Gefährten.
»Ihr – Ihr – legt vermutlich keinen besonderen Wert darauf«, sagte Herr Pickwick, zitternd vor innerer Beklemmung, »Würdet Ihr ihn nicht verkaufen?«
»Ah, wer würde ihn wohl kaufen?« fragte der Mann mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, der wahrscheinlich sehr pfiffig sein sollte,
»Mit einem Wort, ich gebe Euch zehn Schillinge dafür, wenn Ihr ihn für mich ausgraben wollt«, entgegnete Herr Pickwick.
Man kann sich das Erstaunen des ganzen Dorfes vorstellen, als Herr Pickwick den Stein, der mit einem einzigen Spatenriß dem Grunde entnommen war, unter nicht geringer körperlicher Anstrengung eigenhändig nach dem Wirtshaus trug, und denselben, nachdem er ihn zuvor sorgfältig gewaschen, auf den Tisch legte.
Das Frohlocken und die Freude der Pickwickier kannte keine Grenzen, als endlich ihre Geduld und ihre Emsigkeit im Waschen und Abkratzen von günstigem Erfolg gekrönt wurde. Der Stein war uneben und zerbrochen, die Buchstaben standen schief und unregelmäßig. Trotzdem ließ sich das folgende Bruchstück einer Inschrift deutlich entziffern.
†
BILST
VM
PSSEI
NGRE
N. Z.
EICH
EN.
Herrn Pickwicks Augen leuchteten vor Entzücken, als er sich niedersetzte und den aufgefundenen Schatz von allen Seiten betrachtete. Er hatte das höchste Ziel seines Ehrgeizes erreicht. In einer wegen der Überreste aus früheren Jahrhunderten berühmten Grafschaft, in einem Dorfe, in dem sich gegenwärtig noch einige Denkwürdigkeiten älterer Zeiten vorfanden, hatte er – er, der Präsident des Pickwick-Klubs – eine seltsame und merkwürdige Inschrift von unzweifelhaft altem Ursprunge entdeckt, die der Beobachtung so vieler gelehrten Forscher vor ihm entgangen war. Er konnte kaum dem Zeugnis seiner Sinne trauen.
»Das – das« – sagte er – »gibt den Ausschlag. Wir kehren morgen nach London zurück.«
»Morgen?« riefen seine verwunderten Begleiter.
»Ja, morgen«, sagte Herr Pickwick. »Dieser Schatz muß rasch nach einem Orte gebracht werden, wo er mit Muße gründlich untersucht und gehörig verstanden werden kann. Auch habe ich noch einen andern Grund für diesen Schritt. In einigen Tagen findet eine Parlamentswahl in dem Flecken Eatonswill statt, in dem Herr Perker, ein Gentleman, den ich kürzlich kennenlernte, als Agent für einen der Kandidaten auftreten wird. Wir wollen Zeugen sein, und eine Szene, die für jeden Engländer von so hoher Wichtigkeit ist, aufs sorgfältigste beobachten.«
»Ja, das wollen wir«, stimmten die drei Freunde sehr lebhaft bei.
Herr Pickwick sah umher. Die Wärme und Anhänglichkeit seiner Jünger entzündete eine begeisterte Glut in seinem Innern. Er war ihr Führer und fühlte es.
»Wir wollen dieses glückliche Zusammentreffen durch einen guten Schluck feiern«, sagte er.
Der Vorschlag wurde, wie die früheren, mit einstimmigem Beifall aufgenommen. Nachdem Herr Pickwick den wichtigen Stein in einem von der Wirtin erkauften Bretterkistchen verpackt hatte, setzte er sich oben an dem Tische in einen Armstuhl. Sie verbrachten den Abend in heiterem Genusse und froher Unterhaltung.
Es war elf Uhr vorbei – eine späte Stunde für das kleine Dorf Cobham – als sich Herr Pickwick nach dem Schlafgemache begab, das für ihn bereitet war. Er öffnete das mit einem Gitter verwahrte Fenster, stellte das Licht auf den Tisch und erging sich in einer Reihe von Betrachtungen über die sich so rasch folgenden Ereignisse der letzten zwei Tage.
Ort und Stunde waren fürs Nachdenken gleich günstig, und Herr Pickwick wurde erst daraus geweckt, als die Turmuhr zwölf schlug. Der erste Glockenton drang feierlich an sein Ohr, sobald aber der letzte ausgeklungen hatte, wurde ihm die tiefe Stille unerträglich – es war ihm fast, als hätte er einen Freund verloren. Er fühlte sich angegriffen und aufgeregt, entkleidete sich rasch, stellte das Licht auf den Kamin und ging zu Bett.
Jeder hat wohl schon den unbehaglichen Zustand erfahren, in dem das Gefühl körperlicher Ermattung vergebens gegen die Schlaflosigkeit ankämpft. Auch bei Herrn Pickwick war dies gegenwärtig der Fall. Er warf sich von einer Seite auf die andere und schloß beharrlich die Augen, als wolle er dadurch den Schlummer locken; aber vergeblich. Lag nun der Grund in der ungewohnten Anstrengung des Tages, in dem genossenen Grog oder in dem fremden Bette – wie dem auch sein mag, seine Gedanken kehrten ohne Unterlaß zu den grausigen alten Bildern in der Gaststube und zu den alten Erzählungen zurück, wozu diese im Laufe des Abends Anlaß gegeben hatten. Nachdem er sich in dieser Weise eine Stunde ruhelos umhergeworfen hatte, kam er zu der unbehaglichen Überzeugung, daß er vergeblich einzuschlafen versuchte, weshalb er aufstand und sich teilweise ankleidete. »Alles«, dachte er, »ist besser, als daliegen in Phantasien allerschrecklichster Art.« Er sah zum Fenster hinaus – es war sehr dunkel. Er ging im Zimmer auf und ab – und fühlte sich höchst einsam.
Er war etliche Male vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster spaziert, als ihm zum ersten Male das Manuskript des alten Geistlichen wieder ins Gedächtnis kam. Ein guter Einfall! Bot es wenig Interesse, so mochte es ihn vielleicht in Schlaf wiegen. Er holte es daher aus seiner Rocktasche, rückte einen kleinen Tisch an die Seite seines Bettes, schneuzte das Licht, setzte seine Brille auf, und begann zu lesen. Es war eine wunderliche Handschrift – die Blätter bekleckst und beschmutzt. Auch der Titel hatte etwas Unheimliches, und Herr Pickwick konnte nicht umhin, ängstliche Blicke im Zimmer umherzuwerfen. Nach einiger Überlegung fühlte er jedoch die Albernheit, solchen Gefühlen Raum zu geben; er putzte das Licht abermals und las, wie folgt:
»Manuskript eines Irren.
Ja! – eines Irren! Wie mir dieses Wort vor vielen Jahren ins Herz geschnitten hätte! Wie es das Entsetzen, das mich zuweilen anzuwandeln pflegte, geweckt und das Blut glühend und zischend durch meine Adern gejagt haben würde, bis der kalte Tau der Angst in großen Tropfen auf meiner Haut gestanden und meine Knie vor Furcht eingeknickt wären! Aber jetzt liebe ich es. Es ist ein schönes Wort. Zeigt mir den Monarchen, dessen finsteres Zürnen je so gefürchtet worden wäre, wie der starre Blick des Wahnsinns – dessen Stricke und Beile nur halb so sicher wären wie der Griff eines Tollen. Ha! ha! Es ist etwas Großes, wahnsinnig zu sein – angesehen zu werden wie ein wilder Löwe durch die Stäbe des Eisengitters – die lange stille Nacht durch zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und lustig mit den Ketten darein zu klirren – und dann, im Entzücken über diese köstliche Musik, sich im Stroh zu wälzen und zu wühlen. Es lebe das Tollhaus! O, es ist ein herrlicher Aufenthalt!
Ich erinnere mich der Zeit, wo mich der Gedanke, wahnsinnig zu sein, mit einem solchen Entsetzen erfüllte, daß ich oft, wenn ich aus dem Schlafe auffuhr, auf die Knie niederfiel und brünstig zu Gott flehte, er möchte mich mit dem Fluche meiner Familie verschonen. Daß ich den Anblick der Heiterkeit und des Glückes floh, um mich an einsamen Orten zu verbergen, und manche schleppende Stunde damit zubrachte, die Fortschritte des Fiebers zu beobachten, das mein Gehirn verzehrte. Ich wußte, daß der Wahnsinn meinem Blute beigemischt war und in dem Mark meiner Knochen steckte; daß zwar eine Generation von dieser Pest bewahrt geblieben, aber daß ich der erste sei, bei dem sie wieder ins Leben treten würde. Ich wußte, daß es so sein mußte, daß es immer so gewesen und daß es immer so sein würde; und wenn ich mich in einem vollen Saale in irgendeine dunkle Ecke zurückzog und die Leute flüstern, sich zuwinken und die Augen nach mir richten sah, so wußte ich, daß sie von dem zum Wahnsinn Verdammten sprachen, und schlich hinweg, um in der Einsamkeit meinen Träumereien nachzuhängen.
So währte es Jahre – lange, lange Jahre. Die Nächte hier sind hin und wieder auch lang – sehr lang; aber sie sind nichts gegen die qualvollen, ruhelosen Nächte und schrecklichen Träume, die mich damals heimsuchten. Ein Schauder überläuft mich, wenn ich nur daran denke. Große, düstere Gestalten mit tückischen, höhnenden Gesichtern drückten sich in die Ecken meines Schlafgemachs, und beugten sich des Nachts über mein Bett, um mich wahnsinnig zu machen. Sie erzählten mir in leisem Flüstern, der Boden des alten Hauses, in dem der Vater meines Vaters starb, sei von seinem Blute befleckt, das er in tollem Wahnsinne selber vergoß. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es schrie in meinem Kopfe, bis das Zimmer widerdröhnte, daß zwar eine Generation vor ihm vor Wahnsinn bewahrt geblieben, daß aber sein Großvater Jahre lang an die Erde gefesselt gewesen wäre, damit er sich nicht selbst in Stücke risse. Ich wußte, daß sie mir die Wahrheit sagten – ich wußte es nur zu gut. Ich hatte es Jahre lang vorher schon herausgefunden, obgleich man es mir zu verbergen suchte. Ha, ha! Ich war ihnen zu schlau, obgleich sie mich für toll hielten.
Endlich kam der Wahnsinn zum Ausbruch, und nun nahm es mich wunder, wie ich mich je davor hatte fürchten können. Ich konnte jetzt unter die Leute gehen und mit ihnen lachen und schreien, so gut wie einer. Ich wußte, daß ich wahnsinnig war, aber sie hatten nicht die mindeste Ahnung davon. Wie entzückt war ich in meinem Innern über den Streich, den ich ihnen jetzt spielte – ihnen, die früher auf mich deuteten und nach mir blinzelten, als ich noch nicht toll war, sondern nur in der Furcht lebte, ich könnte es eines Tages werden! Und wie jauchzte ich vor Freude, wenn ich allein war und dachte, wie gut ich mein Geheimnis zu wahren wußte, und wie rasch meine Freunde von mir weichen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Ich hätte vor Lust laut aufschreien mögen, wenn ein lärmender Zechgenosse allein mit mir speiste und ich mir das Leichengesicht und die behenden Beine des Mannes vorstellte, wenn er gewußt hätte, daß der liebe Freund, der neben ihm saß und sein Messer schärfte, ein Toller wäre, der die Macht und halb auch den Willen hätte, das gefährliche Werkzeug in sein Herz zu stoßen. O, es war ein lustiges Leben!
Reichtümer flossen mir zu. Schätze ergossen sich in meine Kassen und ich schwelgte in Vergnügen, deren Genuß durch das Bewußtsein von meinem wohlverborgenen Geheimnis tausendfältigen Wert für mich bekam. Ich erbte weitläufige Besitzungen. Das Gesetz – sogar das adlerscharfe Gesetz ließ sich täuschen und spielte umstrittene Tausende in die Hand eines Wahnsinnigen. Wo war der Verstand der scharfsichtigen, sogenannten vernünftigen Leute? Wo die Gewandtheit der Rechtsgelehrten, die sonst so leicht Nichtigkeitsgründe aufzufinden wissen? Die Schlauheit des Tollen hatte sie alle überlistet.
Ich hatte Geld. Nie machte man mir den Hof! Ach verschwendete es. Nie wurde ich gepriesen! Wie sich jene drei stolzen, hochmütigen Brüder vor mir demütigten! Und auch der alte, grauköpfige Vater – welche Achtung – welche Ehrerbietigkeit – welche aufopfernde Freundschaft! – ja, er betete mich an. Der alte Mann hatte eine Tochter, die jungen Männer eine Schwester, und alle fünf waren arm. Ich war reich, und als ich das Mädchen heiratete, sah ich in dem triumphierenden Lächeln, das auf den Gesichtern ihrer dürftigen Verwandten spielte, daß sie sich über das Gelingen ihres wohlangelegten Planes und der schönen Beute freuten. Es war an mir, zu lächeln. Zu lächeln? Nein, laut hinaus zu brüllen, die Haare zu raufen und auf der Erde zu kugeln vor lauter Entzücken. Sie ließen sich's nicht träumen, die Tochter und Schwester an einen Wahnsinnigen verkuppelt zu haben.
Doch halt! Wenn sie es auch gewußt hätten, würden sie das Mädchen geschont haben? Das Glück einer Schwester gegen das Gold ihres Gatten – ist es mehr, als die leichteste Feder, die ich in die Luft blasen kann, im Vergleich zu der glänzenden Kette, die meinen Körper schmückt?
In einem Punkte wurde ich übrigens trotz meiner Schlauheit getäuscht. Wäre ich nicht wahnsinnig gewesen – denn obgleich die Tollen sonst gescheit genug sind, so stellt sich doch hin und wieder eine Verwirrung bei ihnen ein – so würde ich doch gewußt haben, daß das Mädchen weit lieber kalt und steif in einem bleiernen Sarge, denn als beneidete Braut in meinen Prunkgemächern wäre. Ich würde gewußt haben, daß ihr Herz einem schwarzäugigen Jungen gehörte, dessen Namen ich einmal in dem Flüstern ihres unruhigen Schlafes nennen hörte, wobei sie zugleich Andeutungen fallen ließ, sie sei mir geopfert worden, um den alten, weißköpfigen Mann und die hochmütigen Brüder der Armut zu entreißen.
Ich kann mich mancher Gestalten und Gesichter nicht mehr recht erinnern, aber ich weiß, daß das Mädchen schön war. Ich weiß das ganz gewiß; denn in hellen Mondnächten, wenn ich aus dem Schlafe aufschreckte, sehe ich still und regungslos in einem Winkel dieser Zelle eine leichte, welke Gestalt mit langen, schwarzen, über die Schultern fallenden Locken stehen, die sich von keinem irdischen Winde bewegen – die Augen starr auf mich geheftet, ohne je damit zu zucken oder sie zu schließen. Pst! das Blut strömt mir eiskalt zum Herzen, während ich dies niederschreibe. Es ist ihre Gestalt; das Gesicht ist sehr blaß und die Augen glänzen wie Glas; aber ich kenne sie wohl. Diese Gestalt bewegt sich nie, verzieht nie die Stirn und den Mund, wie es die andern tun, die bisweilen diesen Ort erfüllen. Aber sie ist mir sogar noch schrecklicher, als die Gespenster, die mich vor Jahren zum Wahnsinn verlockten – sie kommt eben aus dem Grabe und hat ganz das Aussehen einer Leiche.
Fast ein Jahr lang sah ich dieses Gesicht immer blasser werden. Fast ein Jahr lang sah ich Tränen über die trauervollen Wangen rinnen, ohne daß ich den Grund kannte. Aber endlich kam ich doch darauf. Man konnte es mir nicht länger verbergen. Sie hatte mich nie geliebt, und ich glaubte auch nie, daß sie mich liebte. Sie verachtete meinen Reichtum und haßte den Glanz, der sie umgab; – das hatte ich nicht erwartet. Sie liebte einen andern. An eine solche Möglichkeit hatte ich nie gedacht. Seltsame Gefühle bemächtigten sich meiner, und irgendeine geheimnisvolle Macht flüsterte mir Gedanken zu, die in meinem Hirne wirbelten und tobten. Sie haßte ich nicht, wohl aber den Menschen, um den sie immer weinte. Ich beklagte – ja, ich beklagte – das elende Leben, zu dem sie von ihren kalten und selbstsüchtigen Verwandten verdammt worden war. Ich wußte, daß sie nicht lange leben konnte; aber der Gedanke, sie möchte vor ihrem Tode einem unglücklichen Geschöpf das Leben geben, das die Bestimmung trüge, den Wahnsinn auf seine Kinder wieder fortzupflanzen, gab den Ausschlag. Ich faßte den Entschluß, sie zu ermorden.
Viele Wochen lang trug ich mich mit dem Gedanken, sie zu vergiften, dann, sie zu ertränken und dann, sie zu verbrennen. Ein herrliches Schauspiel – das große Haus in Flammen, in denen das Weib des Wahnsinnigen zu Asche brannte. Dann auch noch der Spaß, eine große Belohnung für die Entdeckung des Täters auszusetzen und einen vernünftigen Menschen für eine Tat, die er nie beging, im Winde baumeln zu sehen – und all das durch die Schlauheit eines Wahnsinnigen! Ich dachte oft an diesen Plan, aber endlich gab ich ihn wieder auf. O, welch eine Lust ist es, Tag für Tag Rasiermesser zu schärfen, die Schärfe der Schneide zu befühlen und an das Klaffen zu denken, das ein Schnitt mit diesem dünnen, glänzenden Stahl hervorbringen würde!
Endlich flüsterten mir die Geister, die mich früher so oft besucht hatten, ins Ohr, die Zeit wäre gekommen und drückten mir dabei das offene Rasiermesser in die Hand. Ich faßte es mit festem Griff, stand leise von dem Bett auf und beugte mich über mein schlafendes Weib. Ihr Gesicht war mit den Händen bedeckt. Ich entfernte sie sacht, und sie sanken auf ihre Brust. Sie hatte geweint, denn ihre Wangen trugen noch die feuchten Spuren von Tränen. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und in dem Augenblicke, als ich sie betrachtete, überflog ein leichtes Lächeln ihre blassen Züge. Ich legte leise meine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr auf – aber nur ob eines vorübergehenden Traumgesichts. Ich beugte mich abermals über sie. Sie schrie auf und erwachte.
Eine einzige Bewegung meiner Hand würde für immer jeden Laut aus ihrer Kehle erstickt haben. Aber ich war erschreckt und trat zurück. Ihre Augen waren fest auf die meinen geheftet. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie schüchterten mich ein und lähmten meinen Mut. Sie erhob sich aus dem Bett und richtete unverwandt ihre Blicke auf mich. Ich zitterte; das Rasiermesser war in meiner Hand, aber ich konnte nicht von der Stelle. Sie ging auf die Tür zu. Als sie in deren Nähe kam, drehte sie sich um, und wandte die Augen von meinem Gesicht ab. Der Zauber war zerstört. Ich sprang auf sie zu und umfaßte ihren Arm. Schrei folgte auf Schrei, und sie sank zur Erde.
Jetzt hätte ich sie ohne Widerstreben ermorden können, aber der Lärm hatte alles im Hause auf die Beine gebracht. Ich hörte Fußtritte auf den Treppen, brachte das Rasiermesser wieder an seinen Ort, öffnete die Tür und rief laut nach Hilfe.
Man kam, hob sie auf und legte sie wieder auf ihr Bett. So lag sie einige Stunden besinnungslos da; aber mit Leben und Sprache kehrte die Vernunft nicht mehr wieder; sie tobte in wilden und wütenden Delirien.
Man rief Ärzte herbei – große und berühmte Männer, die in prächtigen Equipagen, mit wunderschönen Pferden und prunkenden Livreedienern vorfuhren. Sie kamen wochenlang kaum von ihrem Bett. Endlich hielten sie eine Beratung und unterhielten sich mit leisen und feierlichen Stimmen in einem Nebenzimmer miteinander. Einer, der berühmteste von ihnen, nahm mich dann bei Seite, bat mich, ich solle mich auf das Schlimmste gefaßt machen, und erklärte mir – mir, dem Wahnsinnigen – daß mein Weib wahnsinnig sei. Er stand mit mir an einem offenen Fenster, blickte mir ins Gesicht, und seine Hand ruhte dabei auf meinem Arm. Mit einem Ruck hätte ich ihn auf die Straße hinunterschleudern können. Es wäre ein köstlicher Spaß gewesen, wenn ich es getan hätte; aber mein Geheimnis stand auf dem Spiele – und so ließ ich ihn gehen. Ein paar Tage hernach sagten sie mir, ich müßte meine Frau aufs strengste beaufsichtigen lassen und ihr einen Wärter an die Seite geben. – Ich! – Ich ging ins Freie, wo mich niemand hören konnte, und lachte, daß die Luft von meinem Jauchzen widertönte.
Sie starb des andern Tages. Der weißköpfige alte Mann folgte ihr zum Grabe, und die stolzen Brüder ließen eine Träne auf die starre Leiche der Unglücklichen fallen, deren Leiden sie, als sie noch lebte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit angesehen hatten. All das war Nahrung für meine innere Lust, und ich lachte beim Heimfahren von dem Leichenbegängnis hinter dem weißen Taschentuch, das ich vor mein Gesicht hielt, daß mir die Tränen ins Auge traten.
Aber obgleich ich meinen Plan durchgeführt und sie unter die Erde gebracht hatte, so war ich doch unruhig und verstört. Ich fühlte, daß mein Geheimnis nicht lange mehr verborgen bleiben konnte. Ich vermochte nicht die wilde Lust und Freude, die in meinem Innern kochte, zu verbergen; ich mußte ihr, wenn ich allein zu Hause war, durch Hüpfen, Tanzen, Zusammenschlagen der Hände und lautes Hinausbrüllen Luft machen. Ging ich aus und sah ich eine geschäftige Menge durch die Straßen oder nach dem Theater eilen, oder hörte ich Musik und bemerkte ich Tanzende, so fühlte ich eine so tobende Lust, daß ich in die Häuser hätte brechen, den Leuten Glied für Glied vom Leibe reißen und laut aufheulen mögen in tollem Entzücken. Aber ich knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen auf die Erde, und grub meine scharfen Nägel in meine Hände. Ich hielt mich gewaltsam zurück, und noch ahnte kein Mensch, daß ich wahnsinnig sei.
Ich erinnere mich noch – obgleich das unter die letzten Dinge gehört, deren ich mich noch entsinnen kann; denn von nun an vermische ich die Wirklichkeit mit meinen Träumen, und da ich so viel zu tun habe, daß ich mit der größten Eile nicht fertig zu werden vermag, so gebricht es mir an Zeit, beide aus der wunderlichen Verwirrung, in der sie vor mir auftauchen, zu trennen – ich erinnere mich noch, wie ich endlich meinen Zustand kundwerden ließ. Ha! ha! Es ist mir, als sähe ich noch die entsetzten Blicke, als fühlte ich noch die Leichtigkeit, womit ich sie von mir schleuderte, ihnen die geballten Fäuste in die aschfahlen Gesichter schlug, und dann auf den Flügeln des Windes dahineilte, die schreiende und tobende Menge weiter hinter mir zurücklassend. Die Kraft eines Riesen kehrte in meine Muskeln zurück, wenn ich nur daran denke. Da – seht, wie diese Eisenstange sich unter meinem wütenden Griff biegt. Ich könnte sie zerbrechen wie einen dürren Ast, wenn nur nicht die langen Gänge mit den vielen Türen wären – ich glaube nicht, daß ich mich zurechtfinden könnte – und wenn auch, ich weiß recht wohl, daß unten eiserne Tore sind, die man immer verriegelt und verschlossen hält. Sie wissen, mit was für einem schlauen Tollen sie es zu tun haben, und sie sind stolz darauf, mich hier zu haben, um mich zeigen zu können.
Laßt mich sehen, – ja; ich hatte einen Ausgang gemacht. Es war spät in der Nacht, als ich nach Hause kam, und ich traf den hochmütigsten der drei hochmütigen Brüder, der auf mich wartete – eines eiligen Geschäfts wegen, wie er sagte. Ich erinnere mich noch recht gut. Ich haßte diesen Menschen mit dem ganzen Hasse des Wahnsinns. Oft genug hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, ihn zu zerreißen. Man sagte mir, daß er da wäre. Ich eilte rasch die Treppe hinauf. Er hatte mir etwas mitzuteilen. Ich entließ die Dienerschaft. Es war spät und wir befanden uns allein – zum erstenmal.
Ich hielt anfangs meine Augen sorgsam von ihm abgewandt; denn ich wußte, wovon er keine Ahnung hatte – ja, ich freute mich der Überzeugung, daß die Glut des Wahnsinns wie strahlendes Feuer aus meinen Blicken leuchtete. Wir saßen einige Minuten schweigend da. Endlich fing er an zu sprechen. Meine Ausschweifungen und die sonderbaren Reden so bald nach dem Tode seiner Schwester wären eine Kränkung ihres Andenkens. Wenn er das mit vielen Umständen, die anfangs seiner Beobachtung entgangen, zusammenhalte, so müsse er glauben, daß ich sie nicht gut behandelt hätte. Er wollte wissen, ob seine Annahme, ich beabsichtige einen Schatten auf ihr Andenken zu werfen und ihre Familie zu kränken, richtig sei. Er sei es der Uniform, die er trage, schuldig, diese Erklärung zu fordern.
Dieser Mensch hatte ein Offizierspatent bei der Armee – ein Patent, das mit meinem Gelde und mit dem Elend seiner Schwester erkauft war. Er war der Rädelsführer des Komplotts, das mich verstricken und ihm Griffe in meine Kassen erlauben sollte. Er war das Hauptwerkzeug gewesen, womit man die Schwester zwang, mich zu heiraten, obgleich er wußte, daß ihr Herz jenem Knaben mit der Kinderstimme gehörte. Seiner Uniform schuldig! Der Livree seiner Schande! Ich wandte meine Augen nach ihm – ich konnte nicht anders – aber ich sprach kein Wort. Ich sah die plötzliche Veränderung, die unter dem Glutstrahl meiner Blicke in ihm vorging. Er war ein kühner Mann, aber die Farbe wich aus seinem Gesicht – er rückte den Stuhl zurück. Ich rückte mit dem meinigen nach, und als ich lachte – ich war damals sehr lustig –, sah ich, daß er schauderte. Ich fühlte, wie der Wahnsinn in mir aufbrauste. Er fürchtete sich vor mir.
›Sie haben Ihre Schwester sehr geliebt, als sie noch am Leben war‹ – sagte ich – ›o gewiß, sehr geliebt!‹
Er sah unruhig im Zimmer umher, und ich gewahrte, wie seine Hand die Lehne seines Stuhles ergriff; aber er antwortete nicht.
›Ha, elender Bube‹, sagte ich; ›ich weiß alles; ich bin dem höllischen Komplott, das Ihr gegen mich geschmiedet, auf die Spur gekommen und weiß, daß ihr Herz an einem andern hing, ehe Ihr sie zwangt, mein Weib zu werden. Ich weiß es – ich weiß es.‹
Er sprang von seinem Stuhle auf, schwang denselben in der Luft und rief mir zu, zurückzutreten – denn ich war ihm, während ich sprach, immer näher gerückt.
Ich schrie eher, als ich sprach, denn ich fühlte ungestüme Leidenschaft durch meine Adern wirbeln, und die alten Geister flüsterten mir mit höhnendem Grinsen zu, ich solle ihm das Herz aus dem Leibe reißen.
›Gott verdamme dich‹, rief ich auffahrend und auf ihn losstürzend; ›ich habe sie getötet. Ich bin ein Wahnsinniger. Nieder mit dir! Blut – Blut muß ich sehen.‹
Ich warf den Stuhl, den er in seinem Entsetzen nach mir schleuderte, mit einem Schlage bei Seite, rückte ihm auf den Leib, und wir beide stürzten mit einem dumpfen Krachen zur Erde.
Ein herrlicher Kampf – denn er war ein großer starker Mann, der sich um sein Leben wehrte und ich ein Toller, der mit der Kraft des Wahnsinns rang und nach seinem Blute dürstete.
Ich kannte keine Kraft, die der meinen widerstehen konnte – und ich hatte recht. Abermals recht, obgleich ich wahnsinnig war! Sein Kämpfen wurde immer schwächer. Ich kniete auf seine Brust und umkrallte seine Rechte mit ehernen Griffen. Sein Gesicht wurde purpurrot, seine Augen sprangen aus dem Kopfe hervor, und er schien mich mit der hervortretenden Zunge zu verhöhnen. Ich drückte immer fester.
Die Tür flog plötzlich geräuschvoll auf, und eine Menge Volks drang herein, das sich gegenseitig zurief, den Wahnsinnigen zu ergreifen.
Mein Geheimnis war verraten, und mein Kampf galt jetzt nur noch meiner Freiheit. Ich war, ehe mich noch eine Hand berührte, wieder auf den Beinen, stürzte mich auf die Angreifenden und bahnte mir mit so kräftigen Armen, als hätte ich ein Beil in der Hand, mit dem ich alles niederschmetterte, einen Weg. Ich erreichte die Tür, schwang mich über das Treppengeländer und befand mich im Nu auf der Straße.
Ich eilte immer geradeaus, aber niemand wagte es, mich anzuhalten. Ich hörte den Ton von Fußtritten hinter mir und verdoppelte meine Hast. Die Tritte der Verfolger ließen sich immer schwächer und schwächer vernehmen und erstarben endlich ganz und gar. Aber immer noch jagte ich weiter über Sumpfgründe und Gräben, über Hecken und Zäune unter wildem Jubelgeschrei, und die wunderlichen Wesen, die mich von allen Seiten umgaben, stimmten darin überein, daß die ganze Luft von dem Geheule erfüllt war. Ich wurde von den Armen der Dämonen getragen, die im Winde dahinfegten und alle Hindernisse vor sich niederwarfen; das Getümmel und die Eile, womit sie mich fortzogen, machten mich schwindlig, bis sie mich endlich gewaltsam abschleuderten und ich mit einem schweren Falle auf die Erde stürzte. Als ich wieder erwachte, fand ich mich hier – hier in dieser lustigen Zelle, wo mich die Sonne selten besucht, deren Strahlen nur dazu dienen, mir die dunklen Schatten, die mich umringen, und die stumme Gestalt in ihrem Winkel zu zeigen. Wenn ich wachend daliege, so höre ich bisweilen wunderliche Rufe, die aus fernen Teilen dieses großen Gebäudes zu mir dringen. Was sie zu bedeuten haben, weiß ich nicht; aber sie kommen nie von der bleichen Gestalt, die ihrer nicht einmal achtet. Von den ersten Schatten des Abends bis zum frühsten Licht des Morgens steht sie regungslos an demselben Platz, horcht auf die Musik meiner Eisenkette und sieht zu, wie ich in meinem Strohlager wühle.«
Am Schlusse dieses Manuskripts stand, von einer andern Hand geschrieben, folgende Note:
»Der Unglückliche, dessen Zustand in den vorstehenden Zeilen geschildert ist, bietet ein trauriges Beispiel von den verderblichen Folgen schlechter Erziehung und so lange fortgesetzter Ausschweifungen, bis sich ihre Folgen nicht mehr gutmachen ließen. Das wüste Leben seiner jüngeren Jahre hatte Fieber und Raserei erzeugt. In dieser bemächtigte sich seiner die wunderliche Vorstellung, daß der Wahnsinn in seiner Familie erblich sei – eine Vorstellung, die sich auf eine wohlbekannte pathologische Theorie gründete: sie wird teils von den Ärzten scharf bestritten, teils mit Nachdruck festgehalten. Das veranlaßte einen Trübsinn, der nach und nach in entschiedenen tobsüchtigen Wahnsinn überging. Es ist aller Grund zum Glauben vorhanden, daß die mitgeteilten Tatsachen, freilich in ihrer Darstellung durch eine kranke Phantasie verdreht, wirklich stattgefunden hatten, und wenn man die Verirrungen seiner Jugend kennt, so muß man sich nur wundern, daß seine Leidenschaften, sobald sie einmal des Zügels der Vernunft entbehrten, ihn nicht zu noch schrecklicheren Taten verleitet haben.«
Herrn Pickwicks Licht war ganz heruntergebrannt, als er mit dem Lesen des Manuskripts fertig war, und als das Licht plötzlich ohne ein vorangehendes warnendes Flackern auslöschte, schrak er in seinem aufgeregten Zustande lebhaft zusammen. Er warf hastig die Kleidungsstücke, die er beim Aufstehen angezogen, wieder ab, sah sich furchtsam im Gemache um, hüllte sich rasch in die Bettücher und verfiel bald darauf in tiefen Schlaf.
Der Morgen war schon weit vorgerückt, und die Sonne schien herrlich in sein Schlafgemach, als er erwachte. Die Beklemmung der letzten Nacht war mit den dunklen Schatten, die das Land umfingen, gewichen, und er fühlte in seinem Innern die Leichtigkeit und Heiterkeit des Morgens. Nach einem kräftigen Frühstück machten sich die vier Reisenden nebst einem Manne, der den Stein in dem Bretterkistchen trug, nach Gravesend auf den Weg. Sie erreichten diese Stadt gegen ein Uhr (ihr Gepäck hatten sie bereits von Rochester aus nach London zurückschicken lassen), und da sie glücklicherweise auf einem Postwagen noch Außensitze fanden, so langten sie gesund und heiter noch denselben Abend in ihrer Heimat an.
Die nächsten drei oder vier Tage verbrachten sie mit Vorbereitungen für ihren Besuch in dem Wahlflecken Eatanswill. Da jedoch der Bericht über alles, was auf dieses wichtige Unternehmen Bezug hat, ein gesondertes Kapitel fordert, so begnügen wir uns, in den Schlußzeilen des gegenwärtigen, die weitere Geschichte der antiquarischen Entdeckung in aller Kürze mitzuteilen.
Aus den Klubverhandlungen erhellt, daß Herr Pickwick in einer den Abend nach seiner Rückkehr abgehaltenen Generalversammlung eine Vorlesung über seinen Fund hielt, in der er viele scharfsinnige und gelehrte Vermutungen über die Bedeutung der Inschrift preisgab. Es wird darin auch mitgeteilt, daß ein geschickter Künstler eine getreue Zeichnung der Merkwürdigkeit angefertigt und diese lithographiert hatte, um Abdrücke davon der königlichen Altertumsforschergesellschaft und andern gelehrten Korporationen zu übersenden. Dieser Schritt setzte viele neidische und eifersüchtige Federn in Bewegung, wie denn auch Herr Pickwick selbst eine Broschüre erscheinen ließ, in der er auf sechsundvierzig engbedruckten Seiten siebenundzwanzig verschiedene Erklärungen der Inschrift veröffentlichte. Eine weitere Folge war, daß drei alte Herren ihre erstgeborenen Söhne mit dem Pflichtteil von einem Schilling testamentarisch bedachten, weil sie sich unterfangen hatten, den antiquarischen Wert der Entdeckung in Zweifel zu ziehen – daß ein enthusiastischer Altertumsfreund aus Verzweiflung, weil er den Sinn der Inschrift nicht zu ergründen vermochte, sich selbst entleibte – daß Herr Pickwick zum Ehrenmitglied von siebzehn einheimischen und fremden Gesellschaften ernannt wurde – und schließlich, daß keine dieser siebzehn Gesellschaften etwas aus der rätselhaften Schrift zu machen wußte, und daher alle darüber einstimmten, daß der Fund ein höchst außerordentlicher wäre.
Nur Herr Blotton – möge dieser Name der ewigen Verachtung aller Verehrer des Geheimnisvollen und Erhabenen anheimfallen – wir sagen, nur Herr Blotton unterfing sich, mit der Zweifelsucht und Sophistik gemeiner Seelen einen Erklärungsversuch geltend zu machen, der eben so schimpflich wie lächerlich war. Herr Blotton hatte nämlich, erfüllt von dem niedrigen Wunsche, den Glanz des unsterblichen Namens »Pickwick« zu besudeln, in Person eine Reise nach Cobham gemacht, und erlaubte sich nun nach seiner Rückkehr in einer Rede an den Klub die sarkastische Bemerkung, daß er den Mann, von dem der Stein gekauft wurde, gesprochen und daß dieser allerdings über das Alter des Steins keine Auskunft zu geben gewußt, wohl aber das Alter der Inschrift feierlich in Abrede gestellt hätte. Diese wäre nichts mehr und nichts minder als eine Arbeit, die er selbst in müßiger Stunde ausgeführt und die bloß »Bill Stump sein Grenzzeichen« bedeuten solle, wobei sich der gute Stump mehr an den Klang der Worte, als an die strengen Regeln der Orthographie gehalten hätte.
Der Pickwick-Klub nahm, wie sich von einem so erleuchteten Institut erwarten läßt, diese Erklärung mit der gebührenden Verachtung auf, schloß den übelwollenden und anmaßenden Herrn Blotton aus dem Klubverbande aus und stiftete Herrn Pickwick eine goldene Brille zum Beweise seines Vertrauens und zur Anerkennung für seine Verdienste. Herr Pickwick ließ sich dagegen malen und das Porträt – das er, wie wir nebenbei bemerken müssen, nicht zerstört zu sehen wünschte, wenn er einige Jahre älter geworden – im Versammlungszimmer aufhängen.
Herr Blotton war zwar ausgestoßen, aber nicht besiegt. Er schrieb gleichfalls eine Broschüre, widmete sie den siebzehn gelehrten Gesellschaften, wiederholte darin die bereits gemeldeten Angaben, und ließ nicht undeutlich merken, daß er die besagten siebzehn Korporationen für nichts mehr und nichts weniger als für eben so viele »Narrenverbände« halte. Dadurch wurde natürlich die gerechte Entrüstung dieser siebzehn Gesellschaften geweckt, und es erschienen mehrere neue Flugschriften. Die fremden gelehrten Gesellschaften korrespondierten mit den einheimischen; die einheimischen übersetzten die Flugschriften der fremden ins Englische, die Fremden die Flugschriften der einheimischen in alle nur erdenklichen Sprachen, und so begann der berühmte wissenschaftliche Streit, der in aller Welt unter dem Namen »Pickwickfehde« so berühmt geworden ist.
Der nichtswürdige Versuch, Herrn Pickwicks Ruhm zu schmälern, fiel indessen auf das Haupt seines boshaften Urhebers zurück. Die siebzehn gelehrten Gesellschaften erklärten den anmaßenden Blotton für einen unwissenden Ränkespinner und schickten fleißiger als je Abhandlungen in die Welt. Und bis auf diesen Tag ist der Stein ein unlesbares Denkmal von Herrn Pickwicks Größe und ein unvergängliches Siegeszeichen über die Kleinlichkeit seiner Feinde.