Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Erster Teil
Charles Dickens

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Vierzehntes Kapitel.

Nachrichten über Eatanswill – über den Stand der dortigen Parteien – und über die Wahl eines Parlaments-Mitglieds für diesen alten, loyalen und patriotischen Flecken.

Wir wollen offen gestehen, daß wir bis zu der Zeit, wo wir uns zuerst in die Masse der Papiere des Pickwick-Klubs versenkten, noch nie etwas von Eatanswill gehört hatten; auch wollen wir mit gleicher Freimütigkeit bekennen, daß wir bis auf den heutigen Tag vergeblich den Beweisen für die wirkliche Existenz einer Ortschaft dieses Namens nachgeforscht haben. In jede von Herrn Pickwicks Aufzeichnungen und Angaben das größte Vertrauen setzend, und uns nicht erkühnend, unsere eigenen Gedanken den gedachten Notizen des großen Mannes entgegenzustellen, haben wir jede Autorität zu Rate gezogen, die wir für den fraglichen Gegenstand überhaupt auftreiben konnten. Wir haben jeden Namen in den Listen A und B durchgegangen, ohne dem von Eatanswill zu begegnen: wir haben mit der größten Sorgfalt jeden Winkel auf den Spezialkarten unserer Grafschaften geprüft, und unsere Untersuchung hatte dasselbe Resultat.

Wir glauben daher annehmen zu dürfen, daß Herr Pickwick, aus einer ängstlichen Besorgnis, um nirgends Anstoß zu geben, und aus jenem Zartgefühl, das ihm nach dem Zeugnis aller, die ihn kennen, in so hohem Grade eigen ist, absichtlich einen fingierten für den wirklichen Namen der Stadt eingesetzt hat, in der er seine Beobachtungen anstellte. Wir werden in dieser Vermutung durch einen an sich geringfügigen und unbedeutenden, aber aus unserm Gesichtspunkt Beachtung verdienenden Umstand bestärkt. In Herrn Pickwicks Tagebuch steht nämlich die Tatsache aufgezeichnet, daß er sich mit seinen Gefährten auf der Post habe einschreiben lassen, um mit dem NorwicherNorwich, (heute) Großstadt und Grafschaft im östlichen England. Wagen abzufahren. Diese Notiz ist jedoch später wieder ausgestrichen, als wenn er die Absicht gehabt hätte, sogar die Richtung zu verheimlichen, in der jener Waldflecken gelegen ist. Wir wollen daher keine weiteren Vermutungen über diesen Punkt wagen, sondern lieber mit unserer Erzählung fortfahren, uns mit dem reichen Material begnügend, das uns die Charaktere derselben an die Hand geben.

Die Leute in Eatanswill hatten, wie die Bewohner so mancher andern Städte, eine gar hohe Meinung von ihrer Bedeutsamkeit, und jedermann daselbst, ein großes Gewicht auf sein Beispiel legend, hielt sich für verpflichtet, mit Leib und Seele einer der beiden großen, das Städtchen spaltenden Parteien – den Blauen und den Gelben – beizutreten. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, so wie dagegen die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu Skandalszenen kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten, den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so zettelten die Blauen öffentliche Versammlungen an und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen einen neuen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser: – es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte: darum tauchten in der Stadt zwei neue Blätter auf – die Eatanswill-Zeitung und der Eatanswill-Unabhängige; die erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, die letztere trug entschieden Gelb als Grundfarbe. Beides waren ausgezeichnete Blätter. Welche vorzügliche leitende Artikel, welche mutigen Angriffe! – »Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die Zeitung« – »das gemeine und niederträchtige Journal, der Unabhängige« – »das erbärmliche Lügenblatt, der Unabhängige« – »die schändliche Verläumderin, die Zeitung« – diese und andere kühne Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die ungemessenste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Herr Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Sehergeistes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise in den Flecken gewählt. Nie war eine solche Spannung vorgekommen. Der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, wurde von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die Zeitung stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien; und der Unabhängige verlangte in gebieterischem Tone zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gehalten worden seien, oder elende, sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor war die Stadt in eine solche Aufregung versetzt worden.

Es war abends spät, als Herr Pickwick und seine Freunde in Begleitung ihres dienstbaren Geistes Sam von dem Dache der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses zum Stadtwappen, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, worauf mit gigantischen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee des ehrenwerten Samuel Slumkey täglich seine Sitzungen halte. Ein Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten des Herrn Slumkey heiser schrie und bereits ein kirschrotes Gesicht hatte; doch die Kraft und Stärke seiner Beweisgründe wurde von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee des Herrn Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt. An seiner Seite stand ein geschäftiges Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu dem Beifallstumult aufforderte, der dann auch mit der größten Begeisterung erscholl. Als der kirschrote Herr sich röter als jemals geschrien hatte, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einer Gesellschaft der »Redlichen und Unabhängigen« umringt wurden, die sie alsbald mit dreimaligem donnernden Freudengeschrei empfingen, in das sofort die ganze Menge, denn für die Menge ist es nicht immer nötig zu wissen, wem ihr Freudengeschrei gilt, mit furchtbarem Triumphgebrüll einstimmte, das sogar den Kirschroten auf dem Balkon zum Schweigen brachte.

»Hurra!« schrie die Menge zum Schluß.

»Noch ein Hurra«, kreischte der Kleine auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen von Gußeisen mit Stahlfedern.

»Slumkey für immer!« schrien die Redlichen und Unabhängigen.

»Slumkey für immer!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend.

»Nicht Fizkin«, schrie der Haufe.

»In keinem Falle«, rief Herr Pickwick.

»Hurra!«

Und es erfolgte ein abermaliges Gebrüll, wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

»Wer ist Slumkey?« flüsterte Tupman.

»Weiß nicht«, versetzte Herr Pickwick ebenso leise. »Pst! stellen Sie keine Fragen. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.«

»Aber gesetzt, es sind zwei Haufen«, warf Herr Snodgrass dazwischen.

»Dann hält man sich an den größten«, entgegnete Herr Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Sie traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Der erste Gegenstand, nach dem sie sich erkundigten, war ein Nachtlager.

»Können wir hier Betten haben?« fragte Herr Pickwick den Kellner.

»Weiß nicht, mein Herr«, versetzte der junge Mann; »fürchte, es ist alles besetzt, Herr – will nachfragen, Herr.«

Er entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren »Blaue« wären.

Da weder Herr Pickwick, noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten nahmen, so war die Frage etwas schwer zu beantworten. Bei dieser Alternative erinnerte sich Herr Pickwick seines neuen Freundes, Herrn Perker.

»Kennen Sie einen Herrn, Namens Perker?« fragte Herr Pickwick.

»Ohne Zweifel, mein Herr; Agent des ehrenwerten Herrn Samuel Slumkey.«

»Ein Blauer, denke ich?«

»O ja, mein Herr.«

»Dann sind wir auch Blaue«, sagte Herr Pickwick; aber da er bemerkte, daß der junge Mann bei dieser Erklärung der Anhängerschaft etwas unschlüssig aussah, so gab er ihm seine Karte und ersuchte ihn, wenn Herr Perker gerade im Hause sein sollte, alsbald diesem vorgestellt zu werden.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick wieder mit der Einladung zurück, Herr Pickwick möchte folgen. Er führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Herr Perker an einem langen Tische saß, der mit Büchern und Papieren bedeckt war.

»Ah – ah, mein lieber Herr«, sagte der kleine Mann, ihm entgegentretend: »sehr glücklich, Sie zu sehen, mein lieber Herr, sehr glücklich. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hierher gekommen, um einer Wahl beizuwohnen – nicht wahr?«

Herr Pickwick bejahte.

»Ein großer Kampf, mein lieber Herr«, sagte der Kleine.

»Ich bin entzückt, dies zu hören«, versetzte Herr Pickwick, seine Hände reibend; »mir ist nichts lieber, als fester Patriotismus, auf welcher Seite er auch sein mag – und so ist es also ein heißer Kampf?«

»O ja«, antwortete der Kleine, »sehr heiß, in der Tat. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei in Beschlag genommen und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen – ein vorzüglicher Staatsstreich, mein lieber Herr, nicht wahr?«

Und der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

»Und wie wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?« fragte Herr Pickwick.

»Noch zweifelhaft, mein lieber Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt«, antwortete der Kleine. »Fizkins Leute haben dreiundreißig Wähler im Weißen Hirsch in den Wagenschuppen gesperrt.«

»In den Wagenschuppen?« fragte Herr Pickwick, über diesen Staatsstreich gewaltig erstaunt.

»Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie dieselben nötig haben«, fuhr der Kleine fort. »Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen; und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn sie haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein gescheiter Bursche, Fizkins Agent – sehr gescheit in der Tat.«

Herr Pickwick starrte dem Sprecher ins Gesicht und sagte nichts.

»Und doch haben wir Hoffnung«, setzte Herr Perker seine Mitteilungen fort, indem er seine Stimme bis zum Geflüster dämpfte. »Wir hatten eine kleine Teegesellschaft hier, gestern abend – fünfundvierzig Frauen, lieber Herr – und gaben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken, als sie nach Hause gingen.«

»Einen Sonnenschirm?« fragte Herr Pickwick.

»Tatsache, mein lieber Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Pence das Stück. Alle Frauen lieben den Putz – außerordentlich, die Wirkung dieser Sonnenschirme. Sicherten uns ihre Männer alle, und die Hälfte ihrer Brüder – Strümpfe, Flanell und all das Zeug ist Larifari. Meine Idee, mein Teuerster, ganz meine Idee. Hagel, Regen oder Sonnenschein, Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.«

Hier brach der Mann in eine Art krampfhaften Gelächters aus, das durch den Eintritt eines Dritten unterbrochen wurde.

Es war eine kleine, schmale Figur mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und mit einem Gesicht, in dem sich feierliche Wichtigkeit neben unergründlicher Gelehrsamkeit ausdrückte. Er trug einen langen, braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbene Beinkleider. Ein Monokel hing an seiner Brust, und auf seinem Kopfe saß ein niederer Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Herrn Pickwick als Herr Pott, Herausgeber der Eatanswill-Zeitung vorgestellt. Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Herr Pott an Herrn Pickwick und fragte in feierlichem Tone:

»Dieser Kampf erregt großes Interesse in der Hauptstadt, mein Herr?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Ich habe Grund, zu vermuten«, sagte Herr Pott, und sah Herrn Pickwick auf seine Zustimmung hin an – »ich habe Grund, zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Sonnabendblatt einiges dazu beigetragen hat.«

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Kleine.

»Die Presse ist doch ein mächtiger Hebel«, meinte Pott.

Herr Pickwick gab seine vollste Zustimmung zu dieser Bemerkung.

»Aber ich schmeichle mir, mein Herr«, sagte Pott, »daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich das edle Werkzeug, das in meine Hände gelegt ist, nie gegen den heiligen Schoß des Privatlebens oder den zarten Hauch des persönlichen Rufes gekehrt habe – ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen – und sie sind schwach, wie ich wohl weiß – dem Streben geweiht habe – einen Vertreter der Prinzipien des – welche – sind –«

Hier schien den Herausgeber der Eatanswill-Zeitung ein Räuspern anzuwandeln, und Herr Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte:

»Gewiß.«

»Und was, mein Herr«, sagte Pott – »wie, mein Herr – erlauben Sie mir die Frage an Sie, als einen unparteiischen Mann – wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem Unabhängigen?«

»Sehr aufgeregt ist alles, da ist kein Zweifel«, erwiderte Herr Perker mit einem Blick voll Schlauheit, der wahrscheinlich bloß zufällig war.

»Der Kampf«, versetzte Pott, »soll so lange dauern, wie ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, mit dem ich begabt bin, mir innewohnt. Von diesem Kampfe, und mag er die Gemüter noch so sehr aufregen und die Geister in Bewegung setzen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber versäumen – von diesem Kampfe sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meinen Fuß auf den Unabhängigen von Eatanswill gesetzt habe. Die Bevölkerung von London und die Bevölkerung unseres Vaterlandes soll wissen, daß sie auf mich rechnen kann – daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.«

»Ihre Denkungsart ist edel, mein Herr«, sagte Herr Pickwick, und schüttelte dem edelmütigen Pott die Hand.

»Sie sind, wie ich bemerke, mein Herr, ein Mann von Einsicht und Kopf«, bemerkte Herr Pott, beinahe atemlos durch die Heftigkeit, womit er seinen Patriotismus auskramte. »Ich bin sehr erfreut, die Bekanntschaft eines Mannes, wie Sie, zu machen.«

»Und ich«, erwiderte Herr Pickwick, »fühle mich hochgeehrt durch die gute Meinung, die Sie von mir hegen. Erlauben Sie mir, mein Herr, Ihnen meine Reisegefährten vorzustellen, die die übrigen Mitglieder des Klubs bilden, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe.«

»Es wird mir ein außerordentliches Vergnügen sein«, antwortete Herr Pott.

Herr Pickwick verließ das Zimmer, holte seine drei Freunde und stellte sie in der gebührenden Form dem Herausgeber der Eatanswill-Zeitung vor.

»Nun, mein lieber Pott«, fragte der kleine Herr Perker, »nun ist die Frage, was machen wir mit unsern Freunden.«

»Wir können, denke ich, hier im Hause unterkommen«, meinte Herr Pickwick.

»Nicht ein elendes Bett mehr, lieber Herr, nicht ein Bett mehr frei.

»Sehr ärgerlich«, murrte Herr Pickwick.

»Außerordentlich«, bemerkten seine Reisegefährten.

»Mir fällt etwas dazu ein«, vermittelte Herr Pott, »etwas, das zum Zweck führen dürfte. Es sind noch zwei Betten im Pfauen, und ich darf kühn behaupten, was Frau Pott betrifft, so wird es sie außerordentlich freuen, Herrn Pickwick und einen seiner Freunde bei sich zu bewirten, wenn die beiden andern Herren und ihre Diener sich, so gut es geht, im Pfauen behelfen wollen.«

Nachdem Herr Pott seine Einladung mehrmals wiederholt und Herr Pickwick sich wiederholt mit der Erklärung gesträubt hatte, er könne sich nicht entschließen, Herrn Potts liebenswürdige Ehehälfte zu belästigen oder zu stören, ward man sich darüber klar, daß dies der einzig mögliche Ausweg sei. Und so wurde er denn begangen.

Nach der gemeinschaftlichen Tafel im Stadtwappen schieden die Freunde. Herr Tupman und Herr Snodgrass verfügten sich in den Pfauen, und Herr Pickwick und Herr Winkle begaben sich in die Wohnung des Herrn Pott, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, sich am nächsten Morgen wieder im Stadtwappen zu versammeln und den Zug des ehrenwerten Samuel Slumkey auf den Wahlplatz zu begleiten.

Herrn Potts Familie bestand aus ihm und seiner Ehehälfte. Alle Männer, die ihr Genius auf eine große Höhe in der Welt gestellt hat, haben gewöhnlich irgendeine kleine Schwäche an sich, die durch den Gegensatz zu ihrem öffentlichen Charakter noch mehr hervorgehoben wird. Hatte Herr Pott eine Schwäche an sich, so war es vielleicht die, daß er zu sehr unter dem Pantoffel stand. Wir fühlen uns nicht berechtigt, irgendeinen besonderen Nachdruck auf diese Tatsache zu legen, weil bei der gegenwärtigen Gelegenheit Herr Pott sein ganzes einnehmendes Wesen aufbieten mußte, um die beiden Herren bei sich einzuführen.

»Meine Liebe«, sagte Herr Pott, »Herr Pickwick – Herr Pickwick aus London.«

Madame Pott empfing den väterlichen Handdruck mit bezaubernder Anmut, und Herr Winkle, der noch gar nicht vorgestellt worden war, machte in einem dunklen Winkel Kratzfuß auf Kratzfuß, der nicht beachtet wurde.

»Mein lieber Pott«, sagte Madame Pott.

»Mein Leben«, sagte Herr Pott.

»Bitte, stelle den andern Herrn vor.«

»Bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Herr Pott. »Erlauben Sie – Madame Pott, Herr – Herr –«

»Winkle«, ergänzte Herr Pickwick.

»Winkle«, wiederholte Herr Pott, und die Zeremonie der Einführung war vorüber.

»Wir müssen sehr um Entschuldigung bitten, Madame«, bemerkte Herr Pickwick, »daß wir schon nach einer so kurzen Bekanntschaft eine solche Störung in ihrem Hauswesen veranlassen.«

»Sprechen Sie nicht davon, meine Herren, bitte«, versetzte die weibliche Hälfte der Pottschen Familie. »Es ist ein hoher Genuß für mich, ich versichere Sie, wenn ich nur wieder neue Gesichter sehe. Ich lebe so von einem Tag zum andern, von einer Woche zur andern in dieser Dunkelheit, und niemand besucht mich.«

»Niemand, meine Liebe?« rief Pott in schalkhaftem Tone.

»Niemand, als du« entgegnete Madame Pott heftig.

»Sie müssen wissen, Herr Pickwick«, erläuterte der Wirt die Klage seiner Frau, »wir sind von einer Menge Genüssen und Vergnügungen ausgeschlossen, an denen wir unter andern Verhältnissen teilnehmen könnten. Meine öffentliche Stellung als Herausgeber der Eatanswill-Zeitung, der Ruf, in dem dieses Blatt in der ganzen Gegend steht, mein bewegtes Treiben im Strudel der Politik –«

»Mein lieber Pott«, unterbrach ihn Madame.

»Mein Leben« – wollte der Herausgeber fortfahren.

»Es wäre mir angenehm, mein Leben, wenn du versuchen wolltest, ein Thema zur Sprache zu bringen, an dem diese Herren sich auch vernünftig beteiligen können.«

»Aber meine Liebe«, sagte Herr Pott mit großer Bescheidenheit, »Herr Pickwick nimmt Anteil daran.«

»Gut für ihn, wenn er kann«, versetzte Madame Pott mit Nachdruck. »Ich wenigstens habe deine Politik für mein Leben satt, und die Zänkereien mit dem Unabhängigen und was dergleichen Unsinn mehr ist, widern mich an. Ich begreife nicht, Pott, wie du nur deine Albernheit so auskramen magst.«

»Aber, meine Liebe« – sagte Herr Pott.

»Pah! Unsinn, sprich mir nichts mehr davon«, unterbrach ihn Madame Pott. »Spielen Sie Ecarté, mein Herr?«

»Ich wäre unendlich glücklich, es unter Ihrer Anweisung zu lernen«, erwiderte Herr Winkle.

»Gut; stell dieses Tischchen in das Fenster, und laß mich nichts mehr von deiner langweiligen Politik hören.«

»Hannchen«, rief Herr Pott dem Mädchen zu, das die Lichter brachte, »geh hinunter in mein Studierzimmer und hole mir den Jahrgang von 1828 der Zeitung. Ich will Ihnen vorlesen –« fuhr der Herausgeber fort, sich an Herrn Pickwick wendend, »ich will Ihnen einige von meinen Leitartikeln vorlesen, die ich damals über den Narreneinfall der Gelben, einen neuen Zollgeldeinnehmer an unserm Schlagbaum anzustellen, schrieb; ich denke, sie werden Ihnen gefallen.«

»Ich höre mit Vergnügen zu«, sagte Herr Pickwick.

Der Jahrgang kam, der Herausgeber setzte sich, und Herr Pickwick nahm an seiner Seite Platz.

Wir haben das Tagebuch Herrn Pickwicks vergebens durchblättert, in der Hoffnung, einen Auszug aus jenem schönen Aufsatze zu finden. Wir haben allen Grund zu glauben, daß er von dem Feuer und der Frische der Darstellung ganz bezaubert wurde, und Herr Winkle erinnerte sich auch wirklich des Umstandes, daß Herrn Pickwicks Augen während der ganzen Dauer der Vorlesung wahrscheinlich im Übereifer des Genusses geschlossen waren.

Die Ankündigung, daß das Essen bereit sei, machte dem Ecarté sowohl, als der Wiederholung der Schönheiten der Eatanswill- Zeitung ein Ende. Madame Pott war lauter Entzücken und hatte ihre rosenfarbenste Laune. Herr Winkle hatte schon bedeutende Fortschritte in ihrer guten Meinung gemacht, und sie trug kein Bedenken, ihm im Vertrauen die Mitteilung zu machen, daß Herr Pickwick »ein köstlicher Alter« sei, ein Ausdruck, der einen Grad von Familiarität verriet, den sich nur wenige von denjenigen erlaubt haben würden, die mit dem Riesengeiste des Mannes näher bekannt waren. Nichtsdestoweniger haben wir es aufgezeichnet, um dadurch zugleich einen rührenden und überzeugenden Beweis zu geben, wie sehr er bei jeder Klasse der Gesellschaft in Achtung stand, und wie leicht es ihm war, sich Herzen und Gefühle zu öffnen.

Es war spät in der Nacht – lange nachdem sich Herr Tupman und Herr Snodgrass im hintersten Winkel des Pfauen dem Schlafe überlassen hatten – als sich die beiden Freunde zur Ruhe begaben. Die Sinne Herrn Winkles wurden bald vom Schlafe umfangen, aber seine Gefühle waren entzündet und seine Bewunderung erregt worden; und noch manche Stunden, nachdem der Schlaf ihn von der Außenwelt abgeschlossen hatte, schwebten das Angesicht und die Gestalt der reizenden Madame Pott seiner glühenden Einbildungskraft immer wieder vor.

Das Getöse und der Lärm, der am folgenden Morgen gehört wurde, waren ausreichend, um jeden Gedanken, der nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Wahl in Verbindung stand, dem verzücktesten Träumer aus dem Kopfe zu treiben. Das Rasseln der Trommeln, das Blasen der Hörner und Trompeten, das Schreien der Menschen und das Trappeln der Pferde hallte vom ersten Anbruch des Tages wieder und wieder durch die Straßen; und ein Gelegenheitsgefecht zwischen den Plänklern beider Parteien belebte die Vorbereitungen und brachte zugleich eine angenehme Abwechslung in das Ganze.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, als sein Diener in das Schlafzimmer trat, wie er eben seine Toilette vollendete. »Heute ist alles auf den Beinen, denke ich?«

»Regelrechtes Wettrennen, Herr«, antwortete Herr Weller; »unsere Leute halten heute Versammlung drunten im Stadtwappen und haben sich bereits heiser gejohlt.«

»Ja«, fragte Herr Pickwick, »sie scheinen ihrer Partei ergeben, was Sam?«

»Mein Lebtag sah ich keine solche Ergebenheit.«

»Fabelhaft, nicht wahr?« fragte Herr Pickwick.

»Unerhört«, erwiderte Sam. »Nie sah ich Leute so viel essen und trinken. Nimmt mich wunder, daß sie's nur ertragen können.«

»Das ist eine zur Unzeit angebrachte Güte von der hiesigen Honoratiorenschaft«, versetzte Herr Pickwick.

»Sehr möglich«, erwiderte Sam kurz.

»Wackere, muntere, herzhafte Gesellen scheinen es zu sein«, bemerkte Herr Pickwick, aus dem Fenster sehend.

»Sehr munter«, erwiderte Sam; »ich und die zwei Kellner im Pfauen hatten die Unabhängigenschaft, die gestern dort zu Nacht speiste, unter der Pumpe.«

»Die Unabhängigenwähler unter der Pumpe?« rief Herr Pickwick.

»Ja«, antwortete sein Bedienter. »Jeder schlief, wo er gefallen war; wir zogen sie diesen Morgen aus dem Dreck, einen nach dem andern, und stellten sie unter den Pumpbrunnen – alle in schönster Ordnung. Das Komitee zahlte den Streich mit einem Schilling für das Stück.«

»Ist es möglich?« rief der erstaunte Herr Pickwick.

»Gott behüte uns, Sir«, sagte Sam, »wo sind denn Sie getauft worden, daß Sie sich so darüber wundern? Das ist noch nichts – ganz und gar nichts.«

»Nichts?« fragte Herr Pickwick.

»Noch gar nichts«, antwortete der Bediente. »Den Abend vor der letzten Wahl bestach die Gegenpartei das Schenkmädchen in dem Stadtwappen, einen Hokuspokus mit dem Branntwein zu machen, den sie den vierzehn noch nicht eingeschriebenen Wählern reichte, die über Nacht im Hause waren.«

»Was verstehst du unter dem Hokuspokus mit dem Branntwein?« fragte Herr Pickwick.

»Sie tat ein Schlaftränkchen drein«, versetzte Sam. »Hol' mich der Kuckuck, wenn sie nicht alle wie die Ratten schliefen, bis die Wahl schon zwölf Stunden vorüber war. Man machte den Versuch, einen davon auf einen Schubkarren zu nehmen und ins Wahllokal zu bringen – aber er war nicht imstande, zu stimmen, und so mußte er wieder in sein Bett zurückgebracht werden.«

»Seltsame Kniffe das«, sagte Herr Pickwick, halb zu sich selbst, halb zu Sam.

»Nicht halb so seltsam, Sir, als der wunderbare Streich, der einmal zu einer Wahlzeit hier in dem nämlichen Orte meinem eigenen Vater begegnete«, versetzte Sam.

»Was war das?« fragte Herr Pickwick.

»Nun, er führte einmal jemand her«, fing Sam an; »die Wahlzeit war vor der Tür, und er wurde von der einen Partei bestellt, Wahlmänner von London abzuholen. Den Abend vorher läßt ihn das Komitee der andern Partei in der Stille rufen, und er geht mit dem Boten, der ihn in eine große Stube führt –- vollgepfropft mit Herren, Haufen von Papier, Tinte, Federn und dergleichen.

›Ah, Herr Weller‹, sagt der Herr auf dem Stuhl, ›freut mich, Sie zu sehen, mein Herr; wie geht's Ihnen.‹ – ›Sehr wohl, danke Ihnen, Sir‹, sagt mein Vater; ›hoffe, Sie sind auch wohlauf‹, sagt er. – ›Ziemlich wohl, danke Ihnen‹, sagte der Herr; ›setzen Sie sich, Herr Weller – bitte, setzen Sie sich.‹ – Mein Vater setzt sich, und er und der Herr sahen einander scharf ins Gesicht. ›Kennen Sie mich nicht mehr?‹ fragt der Herr. – ›Nicht daß ich wüßte‹, antwortet mein Vater. – ›Oh, aber ich kenne Sie‹, sagt der Herr; ›kannte Sie schon, als Sie noch ganz klein waren‹, sagt er. – ›Möglich, ich kenne Sie nicht‹, sagt mein Vater. – ›Das ist sehr seltsam‹, sagt der Herr. – ›Sehr‹, sagt mein Vater. – ›Sie müssen ein kurzes Gedächtnis haben‹, sagt der Herr. – ›O ja, ein ganz kurzes‹, sagt mein Vater. – ›Ich glaube es‹, sagt der Herr. – Dann schenkten sie ihm ein Glas Wein ein, unterhalten sich mit ihm über sein Fuhrwerk, machen ihn ganz guter Laune, und drücken ihm zuletzt eine Zwanzigpfundnote in die Hand. – ›'s ist ein schlechter Weg nach London‹, sagt der Herr. – »Stellenweise sehr schlecht‹, sagt mein Vater. – ›Besonders am Kanal, glaube ich‹, sagt der Herr. – ›Schmutzig genug wenigstens‹, sagt mein Vater. – ›Nun, Herr Weller‹, sagt der Herr, ›ich weiß, Sie führen eine gute Peitsche und können mit Ihren Rossen anfangen, was Sie wollen. Wir halten große Stücke auf Sie, Herr Weller, und wenn Ihnen auf Ihrer Fahrt mit den Wahlmännern ein kleiner Unfall zustoßen sollte, wenn Sie dieselben zum Beispiel in den Kanal würfen, ohne daß einer dabei zu Schaden käme, so soll dieses Geld ihr Eigentum sein‹, sagt er. – ›Meine Herren, Sie sind sehr gütig‹, sagt mein Vater, ›und ich will mit einem zweiten Glas Wein Ihre Gesundheit trinken‹, sagt er, und tut es auch, knöpft dann das Geld in seine Tasche und macht seinen Kratzfuß. – Sie werden es kaum glauben«, fuhr Sam mit der größten Leichtfertigkeit fort, »daß, als er des andern Tags mit den Wählern herunter kam, der Wagen umpurzelte und die Passagiere samt und sonders in den Kanal fielen.«

»Sie kamen aber doch wieder heraus?« fragte Herr Pickwick hastig.

»Nun«, versetzte Sam gedehnt, »ich glaube, ein alter Herr ist vermißt worden: ich weiß, sein Hut kam wieder zum Vorschein, aber ich bin nicht überzeugt, ob sein Kopf dabei war oder nicht. Aber was mich bei diesem außerordentlichen und wunderbaren Zufall am meisten wundert, ist, daß der Herr sagte, mein Vater werde am selbigen Platz am selben Tag umwerfen.«

»Es ist ohne Zweifel ein ganz außerordentlicher Zufall«, sagte Herr Pickwick. »Aber, bürste meinen Hut aus, Sam, denn ich höre Herrn Winkle zum Frühstück rufen.«

Mit diesen Worten ging Herr Pickwick ins Wohnzimmer hinab, wo er das Frühstück aufgestellt und die Familie bereits versammelt fand. Das Mahl wurde hastig verschlungen; der Hut eines jeden von den Herren war mit einem ungeheuren blauen Bande geziert, das von den schönen Händen der Madame Pott selbst herumgeschlungen worden war. Da es Herr Winkle übernommen hatte, die Dame auf den Giebel eines Hauses zu führen, das in der unmittelbaren Nähe des Wahllokals stand, so begaben sich Herr Pickwick und Herr Pott allein nach dem Stadtwappen, wo ein Mitglied des Slumkey-Komitees von einem Hinterfenster aus eine Rede an sechs kleine Jungen und ein Mädchen hielt, die er bei jedem neuen Satze mit dem imponierenden Titel: »Männer von Eatanswill« anredete, worüber die sechs Jungen jedesmal ein ungeheures Jubelgeschrei erhoben.

Der Hofraum verriet unzweideutige Merkmale von Glanz und Stärke der Blauen von Eatanswill. Ein regelrechtes Heer von Trägern blauer Fahnen war aufgestellt, die zum Teil mit einer, zum Teil mit zwei Stangen, und alle mit angemessenen Inschriften in vier Fuß hohen und verhältnismäßig breiten Buchstaben prangten. Auch war ein großes Orchester aus Trompetern, Fagotisten und Trommlern zu sehen, vier Mann hoch aufgestellt, die ihr Geld wert waren, besonders die Trommelschläger, sehr handfeste Männer. Ferner KonstablerkorpsKonstabler, eine Art Schutzpolizei, Sicherheitsbeamte von verschiedenen Rangordnungen. Als Amtszeichen tragen sie mit dem königlichen Wappen versehene Stäbe. mit blauen Stäben, zwanzig Komiteemitglieder mit blauen Schärpen und eine Menge Wahlmänner mit blauen Kokarden, zu Roß und zu Fuß; ein offener Wagen mit vier Pferden für den ehrenwerten Samuel Slumkey und vier Zweispänner für seine Freunde und Gönner.

Die Fahnen flatterten, das Musikkorps spielte auf, die Konstabler fluchten, die zwanzig Komiteemitglieder plapperten, die Menge brüllte, die Pferde bäumten sich und die Postknechte schwitzten. Jeder und jedes in der ganzen Versammlung waren insbesondere zu Nutz, Frommen, Ehren und Ruhm des ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall, eines der Bewerber um die Vertretung des Fleckens Eatanswill im Hause der Gemeinen des vereinigten Königreichs, anwesend.

Laut und lang war das Jubelgeschrei und gewaltig das Rauschen einer der blauen Fahnen mit der Inschrift: »Freiheit der Presse«, als das rothaarige Haupt des Herrn Pott an einem der Fenster der unten stehenden Menge sichtbar wurde; und überwältigend war der Enthusiasmus, als der ehrenwerte Samuel Slumkey selbst in Stulpenstiefeln und mit einer blauen Halsbinde sich zeigte, besagten Pott an der Hand faßte und durch melodramatische Pantomimen seine überschwenglichen Verbindlichkeiten der Eatanswill-Zeitung gegenüber vor der Menge bekundete.

»Ist alles bereit?« fragte der ehrenwerte Samuel Slumkey Herrn Perker.

»Alles, mein lieber Herr«, war die Antwort des kleinen Mannes.

»Es wurde, hoffe ich, nichts versäumt?« sagte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Nichts ist vergessen worden, lieber Herr, durchaus nichts. Am Hoftor stehen zwanzig frischgewaschene Männer für Sie, um ihnen die Hand zu schütteln; und sechs Kinder sind bereits auf den Armen ihrer Mütter, um sie auf die Wangen tätscheln und nach ihrem Alter fragen zu können; geben Sie sich besonders mit den Kindern ab, lieber Herr – so etwas hat immer große Wirkung.«

»Ich will daran denken«, sagte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Und, vielleicht, lieber Herr« – meinte das besorgte Männchen – »vielleicht, wenn Sie könnten – ich sage nicht, daß es unerläßlich sei – aber wenn Sie sich entschließen könnten, eines von ihnen zu küssen, es würde einen sehr starken Eindruck auf die Menge machen.«

»Würde es nicht ebensoviel Wirkung tun, wenn es der täte, der mich vorschlägt, oder der, der den Vorschlag unterstützt?« fragte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Nein, ich zweifle beinahe«, versetzte der Agent; »wenn Sie es selbst übernehmen würden, lieber Herr, ich meine fast, das würde auf Ihre Popularität einen äußerst günstigen Einfluß haben.«

»Gut«, erwiderte der ehrenwerte Samuel Slumkey im Tone der Resignation. »Dann muß ich es eben selbst tun; was liegt im Grunde daran?«

»Ordnet den Zug!« riefen die zwanzig Komiteemitglieder.

Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge traten das Musikkorps und die Konstabler, das Komitee und die Wahlmänner, die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied – jeder von den Zweispännern mit soviel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; und der für Herrn Perker bestimmte war mit Herrn Pickwick, Herrn Tupman, Herrn Snodgrass und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern vollgestopft.

Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf den ehrenwerten Samuel Slumkey wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

»Er kommt«, rief der kleine Herr Perker mit einer Aufregung, die um so größer war, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

Ein zweites, weit stärkeres Jubelgeschrei.

»Er hat den Männern die Hände geschüttelt«, rief der kleine Agent.

Ein dritter, noch weit intensiverer Jubel.

»Er hat die Kleinen getätschelt«, sagte Herr Perker vor Freude zitternd.

Ein Gebrüll, das die Lüfte erbeben ließ.

»Er hat eins von ihnen geküßt«, schrie das entzückte Männchen.

Ein zweites Gebrüll.

»Er hat ein anderes geküßt«, kreischte der Aufgeregte.

Ein drittes Gebrüll.

»Er küßt sie alle!« schrie der Begeisterte.

Und die Wolken donnerten von dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge, der Zug setzte sich in Bewegung.

Wie er sich aber nun eigentlich mit dem zweiten Zuge verwickelte, und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, ist mehr, als wir zu beschreiben vermögen; denn Herrn Pickwick wurde gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen. Als er wieder einen Blick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen, wilden Gesichtern und tüchtig arbeitenden Fäusten umringt. Er wurde von einer unsichtbaren Gewalt aus dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt, aber mit wem oder wie, oder wo, das ist er nicht imstande zu bestimmen. Dann fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut frei machte, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite des Wahlgerüsts. Die rechte war von den Gelben eingenommen und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Beamten bestimmt. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Schweigen. Dann verbeugten sich Herr Horatio Fizkin und der ehrenwerte Samuel Slumkey, beide die Hand an der linken Brust, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen, die vor dem Gerüst wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht hätte.

»Dort ist Winkle«, sagte Herr Tupman, seinen Freund an den Ellbogen stoßend.

»Wo?« fragte Herr Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis jetzt in der Tasche behalten hatte.

»Dort«, antwortete Herr Tupman, »auf jenem Dachgiebel.«

Und wirklich saß er in der bleiernen Traufrinne eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhle neben Madame Pott. Sie winkten zum Zeichen der Erkennung mit ihren Taschentüchern, und Herr Pickwick warf der Dame zur Erwiderung des Kompliments eine Kußhand zu.

Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Späßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, ihre Spottlust zu wecken.

»He, du alter, schlechter Kerl«, rief eine Stimme, »schielst du noch nach Dirnen?«

»So ein grauer Sünder!« rief eine andere.

»Setzt seine Brille auf, um nach einer verheirateten Frau zu schielen«, sagte eine dritte.

»Wie er ihr zuwinkt mit seinem alten, verzwickten Auge«, rief eine vierte.

»Gib auf deine Frau acht, Pott«, kreischte eine fünfte – und dann erhob sich ein schallendes Gelächter.

Da diese Spottreden von hämischen Vergleichen zwischen Herrn Pickwick und einem alten Bock und andern Witzeleien der Art begleitet waren, und überdies noch die Ehre einer unschuldigen Dame antasteten, kannte Herrn Pickwicks Zorn keine Grenzen. Da aber im nämlichen Augenblick Schweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen Blick voll Mitleid über ihren beschränkten Verstand zu werfen, worauf sie ein noch brüllenderes Gelächter aufschlug, als je vorher.

»Stille!« riefen die Beisitzer des Bürgermeisters.

»Whiffin, gebietet Stille«, sagte der Bürgermeister mit einer Würde, wie sie seine hohe Stellung erforderte.

Auf diesen Befehl hin gab der Ausrufer ein zweites Konzert mit seiner Glocke, worauf ein Mann in der Menge ausrief: »Semmeln!« und ein neues Gelächter war die Folge.

»Meine Herren«, rief der Bürgermeister so laut, wie es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. »Meine Herren, Brüder, Wahlmänner des Fleckens Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Repräsentanten an die Stelle unseres letzteren –«

Hier wurde der Bürgermeister durch eine Stimme in der Menge unterbrochen:

»Glück dem Bürgermeister, und möge er nie den Nagel und die Drahtpfanne verlassen, wodurch er sein Geld erworben hat!«

Diese Anspielung auf das Gewerbe des Redners wurde mit ungeheurem Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil seiner Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. Darin nämlich dankte er der Versammlung für die stille Aufmerksamkeit, womit sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte – eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei hervorrief, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

Darnach bat ein großer, hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde – nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, »einen Knaben nach Hause zu schicken und anzufragen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegen lassen« – die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person zu nennen, die ihre Interessen im Parlament vertreten könnte. Und als er Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei. Das hielt solange an und war so laut, daß er und sein Beistand, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß dadurch irgendwer klüger geworden wäre.

Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. ihren Triumph gefeiert hatten, trat ein galliges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht auf, um eine andere taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Parlament vertreten könnte. Ohne Zweifel würde der Rötlichgelbe trefflich davongekommen sein, wäre er nicht zu gallsüchtig gewesen, um nicht der Menge eine willkommene Zielscheibe des Witzes zu werden. Aber nachdem er einige Sätze voll blumenreicher Beredsamkeit vorgebracht hatte, klagte der Rötlichgelbe die von der Menge an, die ihn unterbrochen hatten. Er ging dann nach diesem fruchtlosen Bemühen zu Drohungen gegen die Herren auf der Wahlbühne über. Ein Aufruhr entstand, der ihn in die Notwendigkeit versetzte, seine Gefühle nur noch in einer ernsten Gebärdensprache auszudrücken. Darauf überließ er die Rednerbühne seinem Beistand, der eine Rede von halbstündiger Dauer vom Papier herunterlas und sich auf keine Weise hätte stören lassen. Denn er hatte sie obendrein der Eatanswill-Zeitung eingesandt, in der sie Wort für Wort abgedruckt war.

Dann trat Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, bei Eatanswill, in höchsteigener Person auf, um die Wahlversammlung anzureden. Aber er hatte kaum zu sprechen begonnen, als die Musikbande, die von dem ehrenwerten Samuel Slumkey aufgestellt war, mit einer Heftigkeit einfiel, gegen die ihre Leistungen am Morgen nur Kinderspiel waren. Zur Vergeltung fing die Partei der Gelben an, die Köpfe und Schultern der Blauen zu bearbeiten. Darauf machten die Blauen den Versuch, sich von der unangenehmen Nachbarschaft der Gelben zu befreien. Nun folgte eine Rauferei, ein Knuffen und Puffen, das wir ebensowenig billigen können, als es der Bürgermeister konnte. Dieser entsandte zwölf Mann von seinen Konstablern mit dem strikten Befehl, die Rädelsführer zu greifen, deren Anzahl sich ungefähr auf zweihundertfünfzig belaufen haben mag.

Diese Auftritte versetzten Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, und seine Freunde in Zorn und Wut, bis zuletzt Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, um die Erlaubnis bat, seinen Gegner, den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall, zu fragen, ob diese Musikbande mit seiner Bewilligung spiele, eine Frage, deren Beantwortung der ehrenwerte Samuel Slumkey von sich ablehnte. Darauf wies Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, dem ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall die Faust, und der ehrenwerte Samuel Slumkey, dadurch gereizt, forderte den Horatio Fizkin, Esq., zum Kampf auf Leben und Tod heraus.

Nach solcher Verletzung aller bekannten Gesetze und Regeln befahl der Bürgermeister ein neues Glockenkonzert und erklärte, er werde sowohl Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, als auch den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall vor sich rufen lassen, um den Frieden zu beschwören. Auf diese furchtbare Drohung legten sich die Beistände der beiden Kandidaten ins Mittel, und nachdem sich die Anhänger einer jeden der zwei Parteien drei Viertelstunden lang gegenseitig herumgezankt hatten, neigte Horatio Fizkin Esq. seinen Hut gegen den ehrenwerten Samuel Slumkey, und der ehrenwerte Samuel Slumkey den seinen gegen Horatio Fizkin Esq. Das klingende Spiel hörte auf. Die Menge war zum Teil beruhigt, und Horatio Fizkin Esq. konnte nun fortfahren.

Die Reden der beiden Kandidaten, so verschieden sie in jeder Rücksicht waren, ließen den großen Vorzügen und Verdiensten der Wahlbürger von Eatanswill volle Gerechtigkeit widerfahren. Jeder sprach sich dahin aus, daß die Welt noch nie freiere, aufgeklärtere, patriotischere, hochherzigere, uneigennützigere Männer gesehen habe, als die wären, die für ihn zu stimmen versprochen hätten. Jeder deutete dunkel darauf hin, daß die Wahlmänner auf der entgegengesetzten Partei an gewissen Schwächen leiden, die sie unfähig machen, die wichtigen Pflichten zu erfüllen, die ihnen obliegen. Fizkin drückte seine Bereitwilligkeit aus, alles zu tun, was man von ihm begehre; Slumkey seinen Entschluß, nichts zu unterlassen, was man von ihm verlange. Beide sagten, der Handel, die Industrie und der Wohlstand von Eatanswill lägen ihnen mehr am Herzen, als alles andere auf der Welt; und jeder meinte, mit Zuversicht behaupten zu dürfen, daß er der Held des Tages werden würde.

Darauf wurde durch Handaufheben abgestimmt. Der Bürgermeister erklärte sich für den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall. Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, verlangte Stimmenzählung, und Stimmenzählung wurde angeordnet. Dann wurde dem Bürgermeister eine Dankadresse übermittelt für sein würdiges Benehmen auf dem Sitze des Präsidenten. Der Bürgermeister dankte ergebenst für diesen Beweis der Zufriedenheit, während er im stillen wünschte, einen Sitz für sein würdiges Benehmen gehabt zu haben (denn er hatte während der ganzen Dauer der Feierlichkeit gestanden).

Die Züge reihten sich wieder aneinander, die Wagen arbeiteten sich langsam durch das Gedränge, und das Volk ging fluchend und jauchzend auseinander, je nachdem es seine Gefühle oder seine Laune mit sich brachten.

Während der ganzen Zeit der Stimmenzählung war die Stadt in fieberhafter Aufregung. Alles wurde auf dem liberalsten und nobelsten Fuße betrieben. – Steuerbare Artikel waren in allen Wirtshäusern außerordentlich wohlfeil, und Sänften paradierten in allen Straßen zur Bequemlichkeit der Wahlmänner, die von einem vorübergehenden Schwindel befallen wurden: eine Epidemie, die während des Parteikrieges unter der sämtlichen stimmfähigen Bürgerschaft in einem höchst beunruhigenden Grade herrschte. Unter ihrem Wirken konnte es geschehen, daß davon angesteckt viele Mitglieder besinnungslos auf dem Pflaster anzutreffen waren. Eine kleine Anzahl von Wahlmännern hielt seine Stimme bis auf den letzten Tag zurück. Das waren berechnende und nachdenkende Personen, die sich noch von keiner Partei durch die vorgebrachten Argumente hatten bestechen lassen, obschon sie mit jeder häufig Konferenzen hielten. Eine Stunde vor dem Abschlusse der Zählung bat Herr Perker um die Ehre einer geheimen Unterredung mit diesen einsichtsvollen, diesen hochherzigen, diesen patriotischen Männern. Es wurde ihm willfahrt. Seine Argumente waren kurz aber überzeugend. Sie gingen miteinander in den Stimmensaal; und als sie ihre Namen eingetragen hatten, wurde auch der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall als Parlamentsmitglied eingetragen.

 


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