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Rotes Kreuz

Die Sanitätsstunde

Erbittert war das Ringen um die Höhen von Paschendaele. Der Heeresbericht meldete das tapfere Verhalten des I.-R. 132. Nach diesen Kämpfen fuhr ich als Urlauber der Heimat zu. Ein Soldat einer anderen Formation steigt ins Abteil, schaut auf meine Achselklappen und setzt sich mir gegenüber. Und wir erzählten uns über die Handlungsweise der Engländer. Täglich von acht bis zehn Uhr morgens war » Sanitätsstunde«. So nannten wir die zwei Stunden, wo die Geschütze und die Gewehre schwiegen. Bis an die englische Linie lagen unsere Verwundeten und Toten, die wir ohne Gefahr zurückholten. Engländer erleichterten unseren Sanitätern das Suchen, indem sie auf unsere Gefallenen wiesen. Dort lagen Kameraden schon mehrere Nächte, welche vom Feinde verbunden, gestärkt und in Decken gehüllt waren. Der Gegner war das Yorkshire-Regiment, Anfang November 1917 ... Wir beide haben das Herz voll ... Lange noch tauschen wir Erlebtes gegenseitig aus. Der Zug nähert sich der deutschen Grenze.

Hermann Hillebrand, Schlosser, Mühlheim-Ruhr.

Helfer am Douaumont

Es war bei Verdun in der ersten Angriffsschlacht. Man schrieb den 27. Februar 1916. In heißen blutigen Kämpfen hatte die 25. Infanterie-Division den Taures- und Wavrilwald durchstoßen. Beaumont war gestürmt, und die Division lag im Sturmstellung auf halber Höhe vor dem Dorfe Louvemont. Kahl die Höhen. Kalt das Wetter. Die eisige Nacht in mühsam gegrabenen Erdlöchern verbracht, stierten wir bei Tagesgrauen auf Louvemont. In allen Tonarten heulend und pfeifend suchten die Geschosse ihr Ziel, und der Tod hielt reiche Ernte. Am Nachmittag wurde zum Sturm geschritten. Er glückte, und am Abend hatte die 25. Infanterie-Division die Linie kurz vor dem Werk Thiaumont-Pfefferrücken erreicht.

Wir Krankenträger vom II. Bataillon des Infanterie-Regiments 117, vor dem Sturm bei der Truppe liegend, hatten durch die eintretenden Verluste viel Arbeit gehabt. An ein Vorgehen mit der Truppe war deshalb nicht zu denken. Erst gegen Abend konnten wir unseren Truppenverbandplatz nach Louvemont vorverlegen. Das Hilfswerk war noch nicht zu Ende. Der nächste Tag sollte mir noch traurige Gelegenheit geben, ganz Armen Hilfe zu leisten.

Am frühen Nachmittag des 28. Februar lagen unsere Verwundeten alle in der Schlucht. Gerade hatten wir mit gefundenen, französischen Nahrungsmitteln zu Mittag gegessen. Es gab Goulasch auf Corned Beef und Salzkartoffeln, in einem Keller unter Lebensgefahr gekocht und gegessen. Da kam Sanitätsunteroffizier Becker von 6/117 und frug mich: »Peter! Hast du nebenan schon die Scheune voll verwundeten Schwarzen gesehen?« Ich verneinte. Er sagte: »Komm mit!« Ich kam mit.

Vier Jahre war ich an der Front. Zur Hälfte Krankenträger, zur anderen Hälfte Sanitäts-Unteroffizier. Ich kenne schon ein bißchen Krieg. Ich kenne nicht nur den Schrecken der Waffen, sondern auch ihre Wirkung. Mein Dienst war immer schwer. An Schrecken und an Schrecklichem war er bestimmt nicht arm. Wenn ich aber so nachsinne, was von all meinen Erlebnissen den stärksten Eindruck ausübte, so steht mit in erster Linie der Eindruck, den in Louvemont die Scheune voll schwerverwundeter, schwarzer, französischer Soldaten auf mich machte. Dreißig bis vierzig mögen es gewesen sein.

Sie lagen in einer Scheune, soweit man diese Ruine noch als Scheune bezeichnen konnte. Fünf Tage lang mußten sie mindestens schon liegen. Im Taureswald waren sie verwundet worden. Nur Notverbände hatten sie. Lauter Schwerverwundete. Keiner von ihnen konnte gehen. Tote lagen zwischen ihnen. Lagen schon tagelang zwischen ihnen. Tote neben Sterbenden. Alle hatten sie ihre Notdurft da verrichtet, wo sie lagen. Ein Geruch ging von ihnen aus, der die meisten Menschen zu ewigem Erbrechen gereizt hätte.

Becker fragte mich: »Willst du helfen, die verbinden? Ich stelle die Zigaretten, denn ohne Rauchen kann man hier nichts machen.« Ich bejahte. Und wir haben sie verbunden.

Weshalb sie noch nach Tagen in Louvemont unversorgt lagen? Wer weiß es. Die Verluste waren groß. In den ersten Tagen hat man wahrscheinlich erst für die weißen Franzosen gesorgt und nachher hatte man keine Zeit mehr, für die schwarzen Franzosen zu sorgen.

Heute noch bewundere ich Becker für seine Tat. Er packte zu. Er verband. Ich half nur. Er kannte keine Scheu. Ihn hat kein Geruch, keine Furcht vor Infektion, nichts hat ihn gehindert, sein Werk zu tun. Es zwang ihn kein Befehl zur Hilfe. Nur die Menschlichkeit gebot zu helfen. Es war ein schweres Werk. Feuer lag auf Louvemont. Schweres Feuer. Es ist mir heute noch unverständlich, daß kein Volltreffer die Scheune traf. Vorn, hinten, zu beiden Seiten gab es Treffer in Hülle und Fülle. An Splittern fehlte es nicht, denn das Scheunendach bot soviel Schutz wie ein Regenschirm.

Die Hilfe erforderte Stunden. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen an, um einen ständigen Brechreiz zu bekämpfen. Becker rauchte auch. Aber er konnte gar nicht immer rauchen, denn er mußte verbinden.

Bei diesem Werke kam Becker seine Vorbildung zugute. Er war in Friedenszeiten Krankenbruder gewesen. Im Kloster von Montabaur im Westerwald. Laienbruder nur, nicht etwa Geistlicher. Er hatte Kenntnisse wie ein Arzt. Ich habe schon einmal gesagt, daß ich Becker heute noch bewundere. Am 28. Februar 1916 habe ich ihn auch bewundert.

Begriffen habe ich ihn an diesem Tage nicht. Habe ihn an diesem Tage nicht begreifen können, denn sein Liebeswerk galt zum größten Teile unrettbar dem Tode verfallenen Leuten. Die meisten hatten schon Brand in ihren Wunden. Zu der ständigen Lebensgefahr durch das französische Artilleriefeuer kam noch die Gefahr der Infektion. Händewaschen? Gummihandschuhe? Nein, so etwas gab es hier nicht. Gab es bei uns an der Front, ich meine unmittelbar an der Front, nur in ganz ruhigen Stellungen. Das gab es erst auf dem Hauptverbandplatz der Division.

Begriffen habe ich ihn erst viel später. Nach vier, fünf Monaten. Ich glaube, wir standen kurz vor dem Einsatz an der Somme. Er war mittlerweile Sanitätsfeldwebel geworden. Wir hatten noch einmal Feldgottesdienst. Da diente Becker bei der Feldmesse. Bei dieser Gelegenheit trug sein Gesicht denselben, fast fanatischen Ausdruck von Hingabe, den er damals hatte, als er mit meiner Hilfe die schwarzen französischen Soldaten verband. Dieselbe Hingabe, wie damals, als wir in Louvemont tote schwarze Soldaten von den lebenden Schwerverwundeten forttrugen. Jetzt lag auf seinem Gesicht derselbe Ausdruck wie in Louvemont, als er mit seinen Händen Kot, Dreck und Läuse von den Schwarzen entfernte, um Jod auf die Wunden zu pinseln und zu verbinden.

Er sprach nur deutsch. Die schwarzen Soldaten sprachen nur wenig französisch. Als wir den ersten von ihnen verbanden, jammerten alle Verwundeten in uns fremden Lauten. Verständigen konnten wir uns nicht mit ihnen. Aber jeder, der es noch konnte, sagte zu ihm: » Merci, Monsieur!« Er mußte vielen von ihnen beim Verbinden Schmerzen bereiten, und doch dankten alle, weil das Mitgefühl in seinen Augen auch von ihnen verstanden wurde.

Wenn die Granaten in unserer Nähe einschlugen und die Schrapnelle über der Scheune platzten, dann sagte Becker zu mir: »Uns kann heute nichts passieren.« Es passierte auch nichts. Ob er innerlich mit seinem Gotte rang wie Jakob mit Gott gerungen, bis er ihn segnete? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es gut war, was er tat. Hoffentlich lebt er noch. Sollten diese Zeilen gedruckt werden, so wünsche ich, daß er sie liest und sich seines Werkes freut.

Peter Heberer, Versicherungsbeamter, Frankfurt a. M.

Aerzte

In der Nacht vom 23. zum 24. August 1914 befanden wir uns, etwa zehn französische Verwundete, in einem Schulsaal in Longhier bei Neufchâteau in Belgien. Ein deutscher Arzt, bereits erschöpft, hat uns während eines Teils der Nacht aufopfernd gepflegt und liebevoll getröstet. Er half den Verwundeten bei ihren primitivsten Bedürfnissen und leerte selbst die Nachttöpfe. Der Arzt hatte kurzgeschnittenes Haar, schöne scharfgeschnittene narbenbedeckte Züge.

Drei Monate später – in Trèves, in einer in ein Lazarett umgewandelten Kaserne – war die Krankenschwester, die die französischen Verwundeten am aufopferndsten und liebevollsten pflegte, die Frau eines deutschen Hauptmanns, dessen Tod an der französischen Front sie soeben erfahren hatte. Im selben Lazarett teilte ein deutscher verwundeter Unteroffizier mit mir die bescheidenen Geschenke, die er von seiner Familie erhielt.

Später, im Lazarett der Maschinenbauschule in Köln, im Januar oder Februar 1915, bat ich wegen schmerzhafter Komplikationen einen Arzt, mir die rechte Hand am Handgelenk zu amputieren. Der gute Mensch weigerte sich, indem er mir mit einem freundlichen Lächeln sagte: »Dann wächst es nicht wieder.« Am nächsten Tag nahm er eine geschickte Operation vor, die mich schnell heilte und mir auf diese Weise den Daumen der rechten Hand erhielt.

Bei unserer Ankunft in diesem letzten Lazarett wurde der Bevölkerung gestattet, uns zu besuchen. Die Einwohner waren sehr teilnahmsvoll und verteilten unter uns Zigaretten und Schokolade. Diese Besuche wurden aber in der Folge verboten. Das Personal dieses Lazaretts war uns gegenüber gut und aufopfernd.

Endlich, als ich als Schwerverwundeter heimgeschickt wurde, etwa am 10. Juli 1915, mußte ich mich einer ärztlichen Untersuchung in Konstanz unterziehen. Das erstemal wurde ich zurückgewiesen, da für einen Unteroffizier zwei Verwundungen vorgeschrieben waren. Auf den Rat eines deutschen Unteroffiziers hin bestand ich jedoch dem deutschen ärztlichen Kommissionsmitglied gegenüber auf Untersuchung und Entlassung. Ohne selbst meine kranke Brust zu untersuchen, entließ dieser Arzt mich sowie meinen am Bein amputierten Kameraden.

Vicaire, Clamart/Seine.

Irrsinn des Tötens

Im Februar 1915 kam ich mit Lazarettzug, an schwerer Nierenentzündung erkrankt, von der Ostfront zurück, um im Festungslazarett Danzig untergebracht zu werden. Ich war Unteroffizier der Reserve im Infanterie-Regiment 21. Der Zug war zum größten Teil mit Deutschen, meistens schwer an inneren Leiden erkrankten Soldaten belegt, und darunter einem mit einem Infanterie-Steckschuß in der Stirn. Letzterer galt als der am wenigsten Kranke. Er war bei der Einlieferung ohne Fieber und half beim Unterbringen der Kranken und Verwundeten im Hilfslazarettzug nach besten Kräften mit. Nachts lag ich dem Grenadier gegenüber. Eines Tages bekam ich den Auftrag, auf ihn besonders zu achten, weil er plötzlich hohes Fieber bekommen hatte und phantasierte. Dieser Auftrag war nur reine Formsache, denn ich war weder in der Lage, das Bett zu verlassen, noch zu schreien, um im Notfall Hilfe herbeizurufen, da ich selbst eine Temperatur von annähernd vierzig Grad hatte.

Einmal war ich in einen unruhigen Halbschlaf versunken, hatte aber plötzlich das Gefühl, mir drohe Gefahr. Vorsichtig öffnete ich die Augen und sah vor mir den kopfverletzten Grenadier stehen, mit starren Augen, von denen man nur das Weiße sehen konnte. Er hatte ein feststehendes Messer in der Hand und murmelte vor sich hin: »Ich will nicht allein geschlachtet werden ... ich schneide allen die Hälse ab ... und du (damit war ich gemeint) bist als Aufpasser hier, ... du kommst zuerst dran.« Ich glaubte mein letztes Stündlein gekommen und hob meinen linken Unterarm, um den im nächsten Augenblick zu erwartenden Dolchstoß nach Möglichkeit etwas zu mildern, wenn ich auch gar keine Aussicht hatte, dem baumlangen Grenadier irgendwelchen Widerstand leisten zu können.

Zu meinem Glück lief unser Wagen hinter dem Küchenwagen, der wegen seiner Wärme, des warmen Wassers (zum langentbehrten Waschen) und nicht zuletzt des Essens wegen sehr geschätzt wurde. Während ich noch meinen irrsinnig gewordenen Kameraden anstarre und jeden Moment das Ende erwarte, öffnet sich die hintere Wagentür, und ein beinverletzter Russe mit einem leeren Kochgeschirr in der Hand kommt herein, um einen Gang zur Küche zu unternehmen und etwas Eßbares zu ergattern. Sofort die Situation erfassend, stürzt sich der Russe auf den viel stärkeren Grenadier und ringt mit diesem, bis Hilfe kommt. Er erhielt bei diesem Kampfe mit dem sich wie rasend gebärdenden Kopfverletzten einige, zum Glück nicht gefährliche, Stiche in den linken Oberarm, von deren guter Heilung ich mich später überzeugen konnte.

Mein Lebensretter kam in das Gefangenenlager Troyl in Danzig, wo ich ihn öfter besuchte und ihm so manche Lebensmittel und die von den Russen am meisten vermißten Zigaretten zusteckte, obwohl es streng verboten war. Später gelang es mir, meinen Lebensretter als Arbeiter auf dem Grundstück meines Vaters im Kreise Stolp unterzubringen, wo er bis Kriegsende verblieb und wo es ihm nicht schlecht erging. Es war der Infanterist Mingali Gilmanow aus Kasan.

Fritz König, Uhrmacher, Rehau i. Bay.

Der schlafende Sanitäter

Ich hatte wieder einmal drei Tage und Nächte mit nur halb- bis einstündigen Unterbrechungen, wo mir die Augen vor Müdigkeit und Ueberanstrengung von selbst zugefallen sind, hinter mir und wurde zu meinem Schrecken auf Nachtwache als Posten vor Gewehr kommandiert. Denn so ein Lazarett muß ja auch schließlich gegen Ueberfälle und Diebstahl bewacht werden. Von abends sieben Uhr bis anderen Morgen sieben Uhr war die Wache. Wachtlokal war ein warmer Pferdestall. Ich hatte dritte Nummer und schlief wie ein Herrgott. Von elf bis eins hatte ich Posten. Es war bitterkalt. Kurz nach zwölf Uhr wurde ich von dem wachhabenden Unteroffizier in einem Bretterverschlag schlafend aufgefunden. Sofort abgelöst. Den Rest der Nacht traumlos wie ein Toter geschlafen. Am anderen Morgen Meldung beim Chef. Vor versammelter Mannschaft wurde mein Verbrechen gehörig unter die Lupe genommen: »Stillgestanden. Wegen Schlafens auf Wachtposten vor dem Feinde: Meldung ans Kriegsgericht.« Zu den Franzosen konnte ich nicht mehr, ein Kamerad von mir kam an meine Stelle. Ich kam auf den Gutshof unter die Augen des Chefs. Ich war ja wohl schon fahnenfluchtverdächtig. Ich ging wie im Traum herum, sah mich im Geiste vor dem Kriegsgericht, jahrelange Festung, Erschießen, alles mögliche, ich war ganz wirr. Die Kameraden scheuten sich, mit mir zu sprechen, es war ein fürchterlicher Zustand.

Der Leser wird sich fragen, warum ich das nicht vorher selber gemeldet hätte. Der gediente Soldat aber weiß, daß das so gut wie unmöglich ist oder wenigstens war. Man wurde kommandiert, und Befehl wurde ausgeführt. Da faßte ich mir doch eines Tages ein Herz und ging zum Chef. Ich erklärte ihm alles, wie oben beschrieben, daß ich einfach nicht mehr gekonnt hätte und völlig erschöpft zusammengebrochen wäre. Der Chef jagte mich hinaus und ging zu den Franzosen. Es waren nicht mehr viel – noch fünf – die anderen waren gestorben. Jetzt – erklärte mir mein Nachfolger, der des Französischen gut mächtig war – jetzt hätte ich mal hören sollen, wie mich die Franzosen in alle Himmel gelobt hätten, was für ein guter Kamerad ich gewesen wäre, immer für sie alles gemacht und in der Nacht immer um sie herum gewesen. Die Engel im Himmel hätten mich beneiden können.

Und der Effekt: ich durfte wieder zu meinen Franzosen, die Meldung ans Kriegsgericht wurde zurückgenommen, ein Lob für aufopfernde Pflichterfüllung und – drei Tage Mittelarrest. Denn Strafe muß sein! Die Strafe gelte aber als verbüßt ... Was aber wäre geschehen, wenn die Franzosen mich nicht herausgerissen hätten?

Otto Vallert, Werkmeister, Dietsheim a. M.

Vom Feind beschützt

Die Sommeschlacht wurde eröffnet durch ein Trommelfeuer, das sieben Tage und sieben Nächte andauerte. Furchtbare Verluste hatten die Angreifer, aber auch die Abwehr kostete große Opfer. Um jeden Quadratmeter Boden wurde erbittert gekämpft. Das Inf.-Rgt. 180 Württemberg hatte schwer zu leiden. Immer wieder kam von hinten der Befehl, daß der Stützpunkt Ovillers bis zum letzten Mann gehalten werden müsse, selbst wenn die Anschlußregimenter rechts und links noch weiter zurückgehen sollten. Hinter der deutschen Stellung häuften sich die Verwundeten. Alle Sanitätsunterstände waren überfüllt. Niemand konnte zurückgebracht werden, da die ganze Gegend unter verheerendem Feuer lag. Da entschloß sich die Res.-Sanitäts-Kp. 26 trotz aller Bedenken einen Krankenwagen bis direkt an die Stellung heranfahren zu lassen. Sofort schwärmten von allen Richtungen englische Flieger herbei und beobachteten diese mutige Tat. Immer tiefer kreisten die Flugzeuge, so daß die englische Artillerie das Feuer einstellen mußte, weil ja die eigenen Leute in Gefahr waren. Nun fuhr Wagen auf Wagen vor, immer begleitet von den feindlichen Fliegern und in kurzer Zeit waren alle Verwundeten in Sicherheit. Dieser schöne menschliche Zug der Engländer konnte während der ganzen Sommeschlacht immer wieder beobachtet werden.

Fritz Dietrich, Heilbronn.

Der Feind auf der Schubkarre

Karl war vor dem Kriege Hausknecht in einer kleinen Lebensmittelhandlung in Innsbruck. Fleißig, ehrlich, etwas beschränkt und verschlossen, gewissenhaft und schrullenhaft, tat er seine Arbeit ganz ohne Aufforderung, anhänglich seinem Herrn. Denn nur sein Herr wußte vom Leid dieser Jugend. Aus einer Handlangerfamilie der halbslawischen Südsteiermark, der Vater ein Schnapstrinker großen Stils, das Kind sein Prügelknabe, bis eines Tages die Prügel mit einem Holzscheit zu arg ausfielen und das arme Wesen mit schweren Kopfverletzungen in das Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Vater wurde verurteilt, das Kind kam in die Welt der Arbeit, die ihm nach der Hölle des Elternhauses zum Paradies wurde. So wurde Karl ein brauchbarer Mensch, nur menschenscheu und verschlossen, weil die Erinnerung an seine trübe Jugend auf seine verprügelte Seele drückte.

Im sengenden Sonnenlicht eines Sommermittages warfen die italienischen Granaten Fontänen von Steinen und Erde und Mörtel in die bleidunstige Luft. Sie wühlten nur mehr im Schutt und in den Eingeweiden dieser weißgetünchten Häuser, die einst Asiago waren. Zwischen, hinter und unter den Trümmern sprangen wie Insekten die Leute der Kompagnie herum, zu der auch Karl gehörte. Der Sturm auf das Dorf war glatt und schnell geglückt, weil vorher die eigene Artillerie eine brodelnde Schmalzpfanne aus Asiago gemacht hatte, in dem sich der Feind nicht hatte halten können. Jetzt lag die Kompagnie in diesem Brei von Trümmerwerk; jetzt rührte die feindliche Artillerie mit ihren Granaten und Schrapnells den höllischen Brei um.

Bald hatte der Kommandant die Einsicht, daß seine Kompagnie in wenigen Stunden in diesem Dreckhaufen begraben sein würde. Kaum, daß seine Leute, verstreut und versprengt in diesem wilden Chaos platzender Granaten und tanzender Mauerstücke, notdürftige Schlupfwinkel zur Deckung gefunden hatten, gab er den Befehl zum Rückzug; und in wenigen Minuten hatte die Kompagnie den zerschossenen Trümmerhaufen, der einst ein stattliches Dorf gewesen war, geräumt.

Karl war mit dem Zug, der den rechten Flügel bildete, in den Ort eingestürmt. Brav und ruhig, kein aufjauchzender Held mit glühenden Augen, aber entschlossen und ohne daß ihm Tod und Gefahr einen besonderen Eindruck gemacht hätten, tat er den harten Felddienst seit Kriegsbeginn bei seiner Kompagnie. Auch das schien ihm noch besser als die Prügel daheim. Am Dorfende, wo der rechte Flügel eingedrungen war, krachte es am tollsten. Mit dem halben Leib war Karl in ein Kellerloch gekrochen, das vom Schutt zum Teil verschüttet worden war und über dem eine dicke Mauer wie ein Dorn aus dem Trümmerfeld stach. Der Schutt gab nach, und Karl rutschte wider seinen Willen immer tiefer in das Gewölbe hinunter. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen diese Rutschbahn in das sichere Grab. Mühselig wehrte er den nachfließenden Schutt ab, klemmte und spreizte sich langsam wieder durch das Kellerloch nach oben. In dieser Zwischenzeit war der Befehl zum Rückzug gekommen, und seine Kameraden hatten bereits das Dorf verlassen.

Der Einschlag der Granaten wurde schneller, der Feind schien die Erstürmung der Ortschaft bemerkt zu haben und trommelte gründlich. Vorsichtig lugte Karl aus seinem Versteck heraus, nirgends konnte er einen seiner Leute entdecken. Alles verkrochen, dachte er, und er verzog sich wieder in sein Loch. Minuten und Viertelstunden vergingen. Das Artilleriefeuer ebbte ab. Karl begann wieder aus seiner Deckung auszuspähen. Keine Seele war zu entdecken. Eine Lage Schrapnells säte noch einmal über die Trümmer des zerstörten Dorfes, dann wurde es still. Jetzt kroch Karl schleunig aus seinem Loch heraus. Die ersten Schritte tat er noch mechanisch sprunghaft und sich deckend. Er begann eifrig zu suchen, sprang über Mauern, schaute um Ecken und begann schließlich zu rufen.

Nichts. Unsicher stand Karl still. Er hatte jeden Richtungssinn verloren, er versuchte vergeblich, sich zu erinnern, aus welcher Richtung die Kompagnie gekommen war, aus welcher Richtung der Feind geschossen hatte. Eigentlich deuchte es ihn ganz fein, nach dem fürchterlichen Wirbel der letzten Stunde so ruhig sinnen zu können. Er setzte sich auf einen Stein im Schatten einer zerschossenen Hauswand und überlegte weiter. Die Sonne sengte, ein paar Insekten summten durch die Backofenluft, ein abgerissenes Wimmern tönte irgendwo aus dem Schutt hervor.

Karl wurde aufmerksam. Er schlich um einige Ecken, stieg in den Trümmerhaufen eines kleinen Hauses ein. In einer Ecke, in welcher der Schuttkegel der eingestürzten oberen Stockwerke am niedrigsten war, ragte ein Stück Menschenleib aus dem Schutt. Mit wenigen Schritten war Karl bei dem Verletzten. Er zog ihm den gewinkelten Arm, der Gesicht und Kopf verdeckte, fort und blickte in ein entsetzliches Gesicht. Eine dreck- und blutverkrustete Haut überspannte zwei spitze Backenknochen. Die Oberlider deckten die Augen bis auf einen Strich des Weißen, die Lippen bebten zitternd vorgewölbt und ließen ein pfeifendes Wimmern hören. Ein schwerverletzter Italiener.

Karl erschrak. In zittriger Eile machte er sich daran, den Verwundeten auszugraben. Mit den Händen krallte und kratzte er den Schutt fort. Ein neuer Schauer lief ihm über den Rücken, als er die letzten angebluteten Mörtelstücke von den Beinen des Verwundeten scharrte. Eine klotzige Masse von Stoffetzen, Fleischklumpen, Blutkrusten und Mörtelstaub waren diese Beine. An wenigen Stellen quoll in dünnen Fäden noch hellrotes Blut. Mit beiden Armen faßte er den Italiener um den Oberkörper. Die Lippen des Ohnmächtigen ließen ein helleres Pfeifen hören, der Kopf fiel ihm zurück, und die beiden augenweißen Streifen blickten ohne Zwinkern in die grelle Mittagssonne. Schwankend und stolpernd stieg Karl mit seiner Last über die Trümmerhaufen, die zerschossenen Beine schleiften über das spitze Geröll und zeichneten feinlinige Blutspuren. Im Schatten einer Mauer bettete er den todwunden Feind, so gut es ging. In Reichweite riß er aus einer dunklen Klunse ein paar schattenkühle Blätter einer Pflanze und legte sie dem Verwundeten auf die Lippen. Das Pfeifen hörte auf, der Atem ging kühler in die Lungen. Mit einem trüben und starren Blick sah der Verwundete ihn an.

Ratlos überlegte Karl. Der Mann mußte zu einem Verbandsplatz, sonst schien ihm die Abendsonne nicht mehr unter die Lider. Wie daheim im Geschäft, wenn ihm ein Sack zu schwer zu tragen war, irrten seine Augen nach einem Beförderungsmittel umher. Vielleicht war es dieser Instinkt, der ihn nach kurzem Umherstreifen im zerschossenen Dorf unter den Planken einer eingebrochenen Scheune ein kleines Rad finden ließ. Er wußte sofort, daß dieses Rad zu einer Schubkarre gehören mußte, und nach mühseliger Arbeit fuhr er glücklich lächelnd mit seinem Vehikel bei dem verwundeten Feind vor. Als Karl dem Italiener mit dem Mantel eine bessere Liegestatt auf der Schubkarre bereitet und ihn mit vieler Mühe darauf gebettet hatte, streuten wieder einige Schrapnells über die Ruinen hin.

Ein qualvoller Gang begann für Karl. Keuchend schob er seine Last auf der Karre durch das Trümmerdorf. Oft war ein kurzes Stück, wo früher die Straßen des Ortes liefen, ganz gut zu nehmen; dann sperrten Barrikaden aus Schutt und Steinen und Holz den Weiterweg, und er mußte Hindernisse zur Seite räumen oder mit Anlauf darüber hinweg kommen. Der Schweiß rann ihm am ganzen Körper hinunter. Die krepierenden Schrapnells bekamen wieder einen trommelnden Rhythmus. Dazwischen wühlten wieder und immer mehr Granaten unsinnig Dreck und Staub auf. Besorgten Blicks musterte Karl seine Fracht. Der Verwundete hatte die Augen geschlossen, der Kopf hing ihm die Karre hinunter und schlug auf das Rad auf, wenn er mit Schwung durch ein Granatloch fuhr. Immer dichter wurde das Artilleriefeuer; immer mehr sperrte Qualm und Staub Sicht und Weg, immer sengender brannte die Sonne auf Stahlhelm und Rücken.

Kraaach! Wie von einem furchtbaren Faustschlag gehoben, flog Karl über die Karre in weitem Bogen in den Schutt. Wenige Schritte neben ihnen war eine Granate in einer Hauswand geborsten und hatte Frachtmann und Fracht mit einem Hagel von Steinen übergossen. Mit einem Satz war Karl wieder bei der Schubkarre. Krampfhaft umspannten seine Fäuste die beiden Stangen. Keuchend trabte er, seine Karre schiebend, durch das Gewirr der Ruinen, die unter dem Einschlag der Geschosse lebendig wurden. Bis er zwischen einer Hausmauer und einem zerfetzten Zaun freies Feld sah und einen schmalen Feldweg, der sich durch die Hügel wand. Noch einige hundert Meter rannte Karl mit seiner Karre, dann verließen ihn langsam die Kräfte und er fiel in Schritt.

Wankend schob er weiter, mit verquollenem Blick sah er hinter einem Erdwall Menschen sich rühren, Gewehre blinken und Stahlhelme, hörte undeutliches Rufen und Schreien. Wenige Schritte noch trieb er mit gesenktem Kopf die Karre vor; dann öffneten sich seine Fäuste, er brach in die Knie und fiel seitlich über die Stangen.

Rufe störten ihn auf, Hände rüttelten an seiner Schulter. Karl hob den bleischweren Kopf, der Stahlhelm rollte ihm über den Rücken zu Boden. Entsetzt riß er die Augen auf und sprang auf die Füße: ein Haufe italienischer Soldaten umstand ihn und redete lachend und gestikulierend auf ihn ein. Mit einer halben Bewegung griff er an seinen Kopf, auf dem kein Stahlhelm mehr war, dann machte er einige torkelnde Sprünge und versuchte den Feldweg entlang zu laufen. Er kam nicht weit. Lachend und redend nahmen die Italiener den Widerstrebenden in die Mitte, andere schoben die Schubkarre mit dem Schwerverletzten hinterdrein.

Bald darauf stand er in einem Unterstand italienischen Offizieren gegenüber. Die Soldaten, die ihn hergebracht, hatten sich alle in den Raum hineingezwängt. Immer mehr Offiziere kamen. Alle redeten durcheinander auf Karl ein. Man reichte ihm zu essen und zu trinken; von allen Seiten schoben sich Hände mit Zigaretten ihm zu und stopften sie ihm in die Taschen. Ein Hauptmann reichte ihm ein Glas Wermut und klopfte ihm auf die Schulter. Dann hielt der Hauptmann eine Rede, bei der er mit ausgestrecktem Arm auf Karl deutete. Schließlich brach ein wildes Evviva-Geschrei los. Ueberall sah Karl freundliche Gesichter, als man ihn von einem zum anderen Kommando schleppte. Endlich fand sich bei einer höheren Stelle ein Dolmetsch, und Karl wurde über seine Tat befragt. Ruhig erzählte er sein Erlebnis und vergaß nicht zu betonen, daß er durchaus gegen seinen Willen in die feindlichen Linien eingelaufen sei.

Dann bekam er ein Schriftstück und wurde in ein Gefangenenlager nach Mittelitalien abgeschoben. Wo immer er vorgeführt wurde und seinen Begleitbrief zeigte, empfing man ihn freundlich und sagte: Bravo, bravo!

Gunther Langes, Bolzano.

Seuchenspital

Im Kriegsjahr 1917/18 arbeitete ich als Schwester im Seuchenlazarett »Haus Schüller« in Ploesti (Rumänien). Groß war die Gefahr, die uns umgab, denn wir pflegten Ruhr, Typhus, Flecktyphus, Malaria, Schwarze Pocken. Das Lazarett barg 250 bis 300 Kranke; nur deutsche Soldaten, an denen nur vier Schwestern, fünf Sanitäter und rumänische Gefangene, die uns zu Hilfe gegeben waren, arbeiteten. Es wäre uns Deutschen nicht möglich gewesen, die Arbeit an so vielen Schwerkranken zu leisten, wenn wir nicht die Hilfe der Gefangenen gehabt hätten. Die gröbsten und gefährlichsten Arbeiten der Seuchenpflege wurden von ihnen mit ausgeführt: das Reinigen der Schwerkranken und der Betten. Treu und gewissenhaft erfüllten sie ihre Pflicht. Obwohl sie schlechtere Verpflegung, die sogenannte Gefangenenkost bekamen, murrten sie nie und freuten sich mit uns, wenn die Kranken gesund wurden. Und auch an denen, die ihre Augen schlossen, halfen sie mit, Liebe erweisen. Ich denke an den Weihnachtsabend 1917. Der Gefangene, der meiner Seuchenstation zu Hilfe gegeben war, brachte Tannengrün. Ich formte in meiner Freizeit aus weißem Seidenpapier Christrosen und band aus Tannengrün und Christrosen Weihnachtszweige. Als der Heilige Abend kam, da half mir der Rumäne, die Zweige zum Soldatenfriedhof tragen, und gemeinsam legten wir die Zweige auf die mit Schnee bedeckten Gräber der deutschen Soldaten.

Schwester Margarete Paech, Berlin-Mariendorf.

Will you water?

Das Gefecht war zu Ende. Der Tag ging zur Neige und die Verwundeten suchten sich in Sicherheit zu bringen. Hinter einer Hecke am Eingang eines kleinen Bauernhauses lag der schwerverwundete Kriegsfreiwillige Lange. Ein querschlagendes Infanteriegeschoß hatte ihm das linke Bein bewegungsunfähig gemacht. Uebermäßige Schmerzen hatte ihm der Schuß nicht bereitet und dadurch war es ihm möglich, sich ziemlich ruhig hinter der Hecke zu verhalten. Schon seit dem frühen Nachmittag lag Lange in dieser Situation. Beim Anbruch der Nacht hielt's Lange aber nicht mehr länger hinter der Hecke aus. Er machte nun wieder den Versuch, sich noch mal auf die eigenen Beine zu stellen. Bei diesem Versuch spürte er aber sehr bald, daß sein linkes Bein einfach nicht mehr in die alte Bewegung hinein wollte – der Hauptnerv schien gelähmt. Bei dieser Entdeckung übermannte den Lange eine gewisse Wut, die ihn gleich zu einer Schimpfkanonade auf die Tommys veranlaßte. Ein deutscher Kamerad kam und bot sich Lange als Stütze an und führte ihn gleich in das Haus, um dort beim Schein einer Kerze zu sehen, was Lange eigentlich für eine Verwundung hatte.

In der Küche des Hauses anlangend, gewahrte Lange, daß eine Anzahl Engländer in dem Hause war, welche bei dem Gefecht im Keller mit ihren Verwundeten Deckung gesucht hatte. Beim Anblick dieser Leute geriet Lange wieder in einen neuen Wutanfall gegen die Engländer und hätte sich darin, wenn er's nur noch gekonnt hätte, auf den ersten besten Engländer gestürzt, um ihn zu erwürgen. Die Hilflosigkeit aber zwang den Lange dazu, sich in seine Lage zu schicken.

Ein englischer Sanitätsmann trat, trotz des Fluchens von Lange, zu ihm hin und frug ihn auf englisch: » Will you water?« Den Sinn der Worte hatte Lange gleich kapiert, aber trotzdem sah er den Tommy mißtrauisch an und dachte sich: Lump, du willst mich wohl vergiften! Erst als er sichtlich wahrgenommen hatte, daß der Engländer selbst aus seiner Flasche einen guten Zug gemacht hatte, nahm Lange die Flasche und stillte seinen Verwundetendurst. Und kaum war der Durst gestillt, da zeigte sich auch schon eine andere Art von Mensch in Lange. Es war so, als habe Lange seinen schrecklichen Haß gegen die Tommys auf einmal vergessen.

Der englische Sanitätsmann merkte gleich die Wandlung in Lange. Vertraulich ging er zu ihm hin und bot ihm Keks und Zigaretten an. Nun schaute Lange dem Manne erst richtig in die Augen und gewahrte dabei, daß der Sanitätsmann wirklich nichts weiter wollte, als dem Verwundeten Lange Hilfe bringen. Bei dieser Empfindung fiel der letzte Groll von Lange.

Der englische Sanitäter nahm nun seinen Verbandskasten und machte sich gleich an Langes Wunde. Während sie verbunden wurde, dachte Lange bei sich: Warum führen die Menschen nun eigentlich diesen entsetzlichen Krieg untereinander? Keiner kennt den anderen; keiner hat dem anderen was zu leide getan; und doch geraten sie in diese sinnlose Wut aufeinander, daß einer den andern gleich erwürgen möchte; ja warum nur?

»Kamerad komm!« sagte der englische Sanitätsmann, packte Lange unter den Arm und führte ihn nach der nächsten Verwundeten-Sammelstelle. Indem sich der Kriegsfreiwillige Lange immer mehr seines Menschentums bewußt wurde – kamen sich die englische und die deutsche Seele immer näher.

Heinrich Lehmann, Arbeiter, Herrensohr/Saar.

Die Operation

Im Juni 1917 lag die 127. Infanterie-Division vor dem Fort Brimont bei Reims. Wir lagen damals nicht in ruhiger Stellung, aber von größeren Offensivkämpfen blieben wir verschont. Der Hauptverbandsplatz der 65. Sanitätskompagnie befand sich in Neufchâtel am Aisne-Kanal. Lazarett, Operationsräume und Unterstände befanden sich in einem Berg, in dem die französische Bevölkerung ursprünglich ihren Wein in Felsenkellern aufbewahrt hatte. Bei unserer Sanitätskompagnie befand sich Stabsarzt v. B. Wenn jemals ein Arzt die Bezeichnung »Wohltäter der Menschheit« verdient hat, so war er es.

Vorne in der Stellung war es eines Nachts sehr unruhig gewesen, die Deutschen hatten überraschend ein Stück des feindlichen Grabens genommen und dabei Gefangene gemacht. Während nun am Morgen die französische Artillerie heftig loslegte, anscheinend um weitere Vorstöße zu verhindern, wurden die Gefangenen abtransportiert. Ein französischer Offizier, der leicht verwundet worden war, wurde zu unserem Verbandsplatz gebracht. Die Verwundeten befanden sich draußen im Freien vor unserem Felsenkeller, als eine französische Granate am Bergabhang einschlug und den verwundeten französischen Offizier nochmals verwundete. Diesmal wurde ihm ein Bein zerschmettert. Schnell schafften wir ihn in den Operationsraum, und da der Tisch grade frei war, wurde er sofort in Behandlung genommen. Das Bein mußte ihm abgenommen werden. Stabsarzt v. B. glaubte jedoch, daß er den Verwundeten trotz dem hohen Blutverlust am Leben erhalten würde. Als die Amputation vorüber war und Herr v. B. dabei war, die Wunde zu vernähen, rasselte das Telephon. Ich hatte den Telephondienst zu versehen und meldete mich.

Der Anruf kam von Divisionsstabsquartier. Man wünsche den diensttuenden Stabsarzt. Ich sagte dies Herrn v. B. und erhielt von ihm zur Antwort, der Division mitzuteilen, daß er im Augenblick unmöglich abkommen könne, da er bei einer wichtigen Operation sei. Ich führte die Bestellung aus, worauf sich etwa folgendes Gespräch entwickelte:

Der Divisions-Stabsoffizier: »Fragen Sie den Herrn Stabsarzt, wann heute der gefangene Offizier von uns vernommen werden kann.«

Stabsarzt v. B. (zu mir): »Sagen Sie, daß eine Vernehmung des Gefangenen heute nicht stattfinden könne, da er im Augenblick eine schwere Operation hinter sich hat und es noch zweifelhaft ist, ob er durchkommt.«

Der Divisions-Stabsoffizier (zu mir am Telephon): »Wir können mit der Vernehmung auf keinen Fall bis morgen warten. Bestellen Sie dem Herrn Stabsarzt, daß die Vernehmung auf Befehl s. Exz. des Herrn Generals heute abend noch stattfinden muß.«

Wieder gab ich diese Erklärung weiter und wieder mußte ich antworten, daß Herr v. B. die Vernehmung auf keinen Fall zulassen würde. Damit war zunächst der Zwischenfall erledigt.

Nach wenigen Minuten rasselte wieder das Telephon. Als ich mich meldete, hörte ich, daß der General selbst am Apparat war und den Herrn Stabsarzt zu sprechen verlangte. Aergerlich übergab Herr v. B. die Nadel einem Assistenzarzt, zog die Gummihandschuhe aus und ging zum Telephon. Und hier gab er in sehr energischem Ton die Erklärung ab, daß er als Arzt eine Vernehmung des Gefangenen am gleichen Tage auf keinen Fall zulassen könne, da die mit einem Verhör verbundene Erregung bei dem stark ausgebluteten Offizier eine tödliche Wirkung haben würde. Das Gespräch dauerte ziemlich lange, aber Herr v. B. ließ nicht von seinem Standpunkt ab.

Am nächsten Tage wurde der Gefangene abtransportiert, ohne jede Vernehmung, die ihn zu Tode geschwächt hätte. Unserem Stabsarzt verdankte er sein Leben.

Hanns Gelsam, Redakteur, Wipperfürth, Rhl.


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