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Mein Erlebnis während des Krieges. Es war in Spincourt bei Verdun. Es war an Weihnachten 1917, in der Feldbäckerei Kol. Nr. 15.
Zur Weihnachtsfeier bekamen wir Bäcker von unseren Vorgesetzten Weizenmehl und durften uns mit Hefe für jeden Mann ein Weißbrot backen. Abends am Heiligen Abend als wir fertig waren, bekam jeder Bäcker sein Weißbrot, und so gingen wir heim auf unsere Buden. In Spincourt war ein russisches Gefangenenlager. Auf der Straße waren vier gefangene Russen, die die Straße reinigen mußten. Ich ging etwas später heim und mußte an den Russen vorbei, hatte mein Brot unter dem Waffenrock, aber sie haben es doch gemerkt. Jeder der drei Russen (in Abständen von zwanzig bis dreißig Meter) bat mich um ein Stückchen Brot, was ich aber ablehnte. Aber der letzte, der vierte Russe, schon ein alter grauer Krieger, fiel vor mir auf die Knie, und bat mich flehend um ein Stückchen Brot. Hier brach mir das Herz. Ich gab ihm mein ganzes Weißbrot. Jetzt kam das schwerste für mich. Er fiel mir um den Hals, und küßte mich auf beide Wangen, als wenn ich sein Kind wäre. Und immer die Worte: Guter Panje.
Ich ging heim ins Quartier, aß und trank den Abend nichts mehr, legte mich auf mein Strohsack und weinte bis tief in die Nacht hinein, und dachte warum muß die Menschheit so leiden.
Gustav Eckstein, Bäckermeister, Heldenbergen.
Am Monte Gabriele, den 4. September 1917. Ich war Infanterist und zugeteilt der Sturmtruppe beim Landsturm-Infanterie-Regiment Nr. 25. Bei einem Angriff wurde ich durch ein Schrapnell am linken Oberschenkel verwundet und blieb mit mehreren Kameraden, die ebenfalls verwundet wurden, knapp vor der italienischen Stellung liegen. Wir lagen in einem Granattrichter und verbanden uns gegenseitig, so gut es ging, die Wunden. Wohl eine Stunde lang brauste das feindliche Artilleriefeuer über uns hinweg. Nur die österreichischen Granaten kamen uns bedenklich nahe und überschütteten uns mit einem Steinhagel, wodurch zwei Kameraden neuerlich schwer verletzt wurden. Auch mich traf noch zum Ueberfluß ein Steinschlag am Kopf, welcher mich zwar nur leicht verletzte, aber eine ungemein starke Blutung hervorrief. Da setzte auf kurze Zeit das Artilleriefeuer aus.
Plötzlich tauchten einige Italiener auf und bedrohten uns mit Handgranaten. Als sie jedoch gewahrten, daß sie Verwundete vor sich hatten, kamen sie vorsichtig näher. Wir waren zu sehr erschöpft, um uns zur Wehr zu setzen. Ich wurde von zwei Italienern aufgehoben und mit großer Mühe den Abhang hinuntergetragen. Wir waren kaum auf der Straße angelangt, als wir wieder in österreichisches Artilleriefeuer kamen. Ob meine beiden Träger verwundet wurden oder ob sie sich irgendwo vor Granatenhagel gedeckt hatten, weiß ich nicht. Ich lag allein auf der Straße, welche ein furchtbares Bild der Zerstörung bot. An mir vorbei rasten Autos und Artillerie, und nur mit Aufbringung meiner letzten Kräfte gelang es mir, mich in einen Graben zu wälzen, um nicht überfahren zu werden.
Wie lange ich hier in halber Bewußtlosigkeit lag, kann ich nicht sagen, ist auch gleichgültig. Plötzlich spürte ich etwas Feuchtes auf den Lippen. Als ich die Augen aufschlug, sah ich ein bärtiges Gesicht über mich gebeugt. Der Mann hatte Tränen in den Augen! Warum weinte er? Aus Mitleid? oder über meine Jugend? Ich war damals achtzehn Jahre alt und konnte ganz gut sein Sohn sein. Oder hatte er auch einen Sohn an der Front? – Er flößte mir ein paar Tropfen Wein ein. Ich hatte entsetzlichen Durst und konnte kaum sprechen. Ich deutete mit der Hand auf den Isonzo. Er verstand und fragte: » Acqua?« Ich bejahte. Er lief davon, um Wasser holen, während ringsumher die österreichischen Granaten einschlugen. Er kam auch glücklich zurück, in jeder Hand eine Menageschale voll Wasser tragend. Liebevoll stützte er meinen Oberkörper, während ich trank. Mit heißer Gier leerte ich beide Schalen. Er ging zum zweitenmale den gefährlichen, vom Tod umlauerten Weg, nicht achtend der Geschosse, welche den Boden aufrissen. Auch diesmal kam er unversehrt zurück. Er wusch mir das Gesicht, das ganz mit Blut verklebt war. Dann half er mir auf die Füße. Ich legte die rechte Hand um seinen Hals, mit der Linken stützte ich mich auf einen abgebrochenen Bergstock. Schritt für Schritt kamen wir durch diese Hölle vorwärts und langten endlich, in Schweiß gebadet, beim Hilfsplatz an. Hier übergab mich mein braver Retter einem Sanitäter. Dann entfernte er sich, nachdem er mir noch zwei Zitronen in die Hand gedrückt hatte. Ich war zu sehr geschwächt, um ihm danken zu können. Der Mann hatte sein eigenes Leben eingesetzt, um den verwundeten Feind zu retten.
Eduard Meidl, Drogist, Brünn.
Ich geriet am 26. September bei St. Souplets als Achtzehnjähriger in französische Gefangenschaft. Für mein Alter war ich klein und schwächlich, so daß ich den französischen Soldaten auffiel und allgemein bedauert wurde. Nach vierzehntägigem Aufenthalt im Quarantänelager kamen wir, etwa 400 Mann, ins endgültige Lager bei Melun. Das Essen, das wir bekamen, war sehr gering. Aus diesem Grunde standen wir denn um die Mittags- und Abendzeit, wenn die französischen Soldaten ihr Essen erhielten, hinter unserem Stacheldraht und schauten hungrig zu. Denn der eine oder andere Franzmann reichte schon mal ein Stück Brot oder dergleichen durch's Drahtverhau. Es entstand dann jedesmal ein kleiner Kampf zwischen uns. Leicht verständlich, denn Hunger tut weh! Ich zog hierbei infolge meiner Schwächlichkeit fast immer den Kürzeren. Deshalb hielt ich mich dann lieber gleich abseits, in der schwachen Hoffnung, vielleicht doch auch noch einmal etwas zu erwischen. Und wirklich: eines Tages kam ein älterer Franzose mit einem Stück Weißbrot und ein paar Oelsardinen darauf und reichte selbiges durch den Stacheldraht. Schon aber eilten meine Leidensgenossen herbei, um mich zu verdrängen. Aber da kamen sie bei meinem Gönner schlecht an. Denn sofort zog er die Hand zurück und rief: Non, non, le petit là! – Nein, nein, der Kleine da! Scheinbar hatte er beobachtet, wie ich bei diesen Kämpfen um's tägliche Brot fast immer zu kurz gekommen war. Deshalb wollte er mir endlich einmal zu meinem Recht verhelfen.
Heinz Breddemann, Schauspieler, Sachsenberg
Im Frühjahr 1918 wurde unser Brot, das an unser Gefangenenlager geliefert wurde, aus Fußmehl hergestellt, einem Mehlgemisch, das zum Teil vom Fußboden in den Bäckereien zusammengekehrt wurde. Es war Sand, Haare und sogar kleine Steine darin. Alle Beschwerden halfen nichts. Da hatten wir eines Tages einen älteren Wachposten dabei an der Arbeitsstelle. Als wir diesem das Brot zeigten, steckte er eine Probe ein und beschwerte sich beim französischen Oberleutnant. Wir erfuhren, daß es eine heftige Auseinandersetzung gab und daß der Mann sogar bestraft wurde. Aber das Brot war wieder besser. Solche Posten waren sehr rar.
Karl Heinzmann, Straßenbahnschaffner, Dürkheim/Pf.
Ein groteskes Bild bot der Marsch in die Gefangenschaft, den wir acht Tage nach der Kapitulation von Przemysl antraten; hatte doch ein Landstürmer, der für alle Fälle Vorsorgen wollte, einen ganzen Sack Kartoffeln am Rücken, da man ja nicht sicher war, ob die Russen uns nicht hungern lassen würden. Ein anderer, der wieder glaubte, bald in die Heimat entlassen zu werden, nahm eine schwere Eisenkette mit, die er in seinem Karpathendorf im Kuhstall verwenden wollte. Die Begleitmannschaft war nicht gerade höflich und so zogen wir, durch Hunger und Krankheit geschwächt, drei Tage über morastige Straßen, bis wir am Ostersonntag Lemberg erreichten.
Die Russen liebten es sehr, ihre Gefangenen recht eindringlich zur Schau zu stellen, und so ließen sie uns denn einige Stunden in der heißen Sonne vor dem Gefängnis stehen, in dem wir übernachten sollten. Wir mußten in Reih und Glied bleiben und auch die Annäherungsversuche der freundlichen Bevölkerung wurden von der Bewachungsmannschaft, jungen, neueingestellten Soldaten strenge und meist grob vereitelt.
Die Hitze wurde unerträglich, und besonders einige ältere Leute lechzten nach Wasser, das uns mitleidige Frauen trotz Verbot immer wieder zu reichen versuchten. Einmal gelang es einem flinken Judenmädchen, unserem Feldwebel, einem älteren, beleibten Mann, ein Glas Wasser in die Hand zu geben. Aber da kam schon ein Rekrut, stieß die Kleine roh mit dem Kolben zurück und riß dem Feldwebel das Wasser unter bösen Flüchen von den Lippen.
Nicht weit von uns hielt eine Gruppe alter, bärtiger Kosaken auf ihren kleinen Pferden und beobachteten die Szene. Plötzlich war einer von ihnen neben uns und im Nu sauste seine Nagaika in kräftigen Schlägen unserem rohen Helden auf Rücken und Schulter. »Du Hundesohn! Einem Mann, der Soldat ist und dein Vater sein könnte, den Trunk vom Mund zu reißen! Glaubst du, er sei weniger als du, weil er im Unglück ist?« Als dann auch der herbeigeeilte Offizier dem empörten Kosaken recht gab, beruhigten sich unsere Gemüter ein wenig: denn wenn es sogar unter den berüchtigten Kosaken echte Menschen gab, dann brauchte man nicht mehr ganz an der Zukunft verzweifeln.
Leo Krämer, Kaufmann, Wien.
Im Oktober 1916 traten wir den Vormarsch gegen Rumänien an und gelangten über den Szurduk-Paß schließlich bei Szela in die rumänische Ebene. Nach einigen Tagen kamen wir während des Vormarsches in ein von den Rumänen fast völlig verlassenes Dorf um da einen Tag zu rasten. Am Abend, als ich lässig und müde durch die Straße schlendere, werde ich von einem alten Rumänen mit »Grüß Gott« begrüßt, was ich hier in dieser verlassenen Gegend eigentlich nicht erwartet hatte. Ich knüpfte mit dem Alten ein Gespräch an und er erzählte mir, daß er Oesterreicher sei und von Siebenbürgen nach hier übergesiedelt sei. Am folgenden Morgen machte ich mich auf den üblichen Requisitionsgang. Ein altes schmutziges Anwesen betretend, gewahrte ich ein Bild, das von mir im Leben nie vergessen wird, als sei es tatsächlich mein einziges Erlebnis aus diesem großen Kriege gewesen.
In einer dunklen Ecke dieses verlassenen Hauses sehe ich auf einer Holzpritsche drei Kinder sitzen. Das jüngste von etwa vier, das älteste von etwa zehn Jahren. Splitternackt, dem Hungertode nahe, am ganzen Körper gelb wie ein Kanarienvogel, anscheinend von Hunger, starrte mich das größte davon mit hohlen Augen an. War's Angst und Verzweiflung von dem armen Wesen, oder bedeutete dieser Blick »hilf uns« – ich weiß es nicht. Das zweite Kind lehnte mit dem Kopf an der Wand, nur noch matten Schimmer in den kleinen schwarzen Augen. Das dritte Kind, das jüngste, in sitzender Stellung mit vornübergebeugtem Oberkörper, der auf den Beinchen ruhte, schien ohne Leben. Ich versuchte das arme Wesen aufzurichten und stellte fest: es lebt noch. Daß hier Hilfe not tat, darüber hatte ich keinen Zweifel. Sofort auf den Weg zum Quartier. Zwei Teewürfel in den Feldkessel, und bald war der erste Trunk, den diese Armen haben sollten, fertig.
Wie ich da eiligen Schrittes auf das Haus zugehe, gewahre ich eine alte Frau, die sicher nicht mehr flüchten konnte. Diese packte ich beim Arm, gab ihr zu verstehen, mitzukommen, was sie nur zögernd tat. Im Hause selbst saßen die drei armen Kinder immer noch genau so da wie vor einer Viertelstunde, als ich sie verlassen hatte. Meiner Anweisung gemäß gab die Alte den Kindern den Tee, wozu ich ihr mein Eßbesteck übergab. Die Alte selbst wehrte sich gegen diese Arbeit immer und immer mit den Worten: Njema, njema, sie wolle nicht! Da gab ich ihr zu verstehen, was ihr blühe, falls sie nicht wolle, indem ich mein Gewehr gegen sie richtete, was seine Wirkung nicht verfehlte.
Als wir unseren Tee verteilt hatten, nahm ich die Alte mit in einen Hof, wo an einem Heuhaufen zwei Kühe fraßen. Ich drückte ihr den Feldkessel in die Hand, um eine der beiden Kühe zu melken. Erst schaut sie mich an, als sollte das »Njema« schon wieder kommen. Doch ein Blick auf mein Gewehr, und sie kniet sich nieder aus der einen Seite der Kuh, während ich auf der andern Seite knie und den Kessel unterhalte. Dann gings eilig ins Quartier, die Milch wurde gekocht, und fort ging's wieder zur Alten, der ich dieses Mal keine Auslegungen zu machen brauchte, als sie den Kessel mit Milch sah. Als wir die Milch verabreicht hatten, sah ich in den drei kleinen Gesichtern schon mehr Leben als das erstemal. Viermal noch am Nachmittag ging ich mit der Alten dahin, jedesmal wurde Milch verabreicht.
Mit Herannahen der Dunkelheit überkommt mich heimlich die Sorge: was geschieht aber mit den Armen, wenn wir wieder fort müssen. Da erinnere ich mich plötzlich des alten Oesterreichers, den ich als Dolmetscher mit zur Alten nahm. Dieser mußte von nun an mein Amt übernehmen und die täglichen Fütterungen überwachen. Als Lohn dafür bekam er von mir ein Paket Tabak »Für Heer und Flotte«, wofür er tausendmal dankte und versprach, die armen Kleinen zu betreuen bis zur Rückkehr der geflüchteten Mutter.
Der Alten aber ließ ich sagen, falls sie sich einmal weigern sollte, dem alten Oesterreicher zu folgen, werde ich sie erschießen, wenn ich in einigen Tagen wiederkäme, was ja ausgeschlossen war, da wir uns im Vormarsch auf Bukarest zu befanden. Aber auch die beteuerte, alles zu tun, was ich angeordnet hatte. Am nächsten Morgen, als wir abmarschierten, galt mein letzter Blick nochmals der armen Hütte, die ich bis zum heutigen Tage nicht vergessen habe.
Ruppert, Nieder-Würzbach/Saar.
Ich wurde am frühen Morgen des 30. November 1917 bei Gouzeaucourt bei Cambrai gefangen genommen. Als die deutschen Soldaten, Württemberger, uns umringt hatten, warf einer von ihnen in seiner Erregung eine Handgranate auf einen englischen Soldaten, der vielleicht etwas zu langsam seine Waffen ablegte, und verwundete ihn schwer. Der befehlshabende Leutnant wandte sich in einem Wutausbruch gegen seinen Untergebenen und schoß ihn mit seinem Revolver nieder, weil dieser dem anscheinend sehr strengen Befehl, Gefangene zu schonen, nicht gehorcht hatte.
Später, als ich auf die Reiherstiegwerft in Hamburg geschickt wurde, schloß ich Freundschaft mit den Hamburgern, besonders mit einem sehr alten Mann, der kaum mehr sehen konnte, um seine Arbeit zu verrichten. Morgens las ich stets die Ueberschriften und die wichtigsten Tagesnachrichten aus der »Hamburger Zeitung«, da er den Druck nicht mehr sah. Außerdem half ich ihm, so oft es mir möglich war, gern bei seiner Arbeit, die er wegen seiner schwachen Augen nur schwer versehen konnte.
Als Gegenleistung brachte er mir öfters einige Brotschnitten, Kartoffeln, Zigaretten und einmal gab er mir ein Ei, obgleich er im hungernden Deutschland nun lange warten mußte, bis er wieder eines erhielt.
Frank Furber, West-Harrow.
Zu dritt lagen wir im Grase in der Nähe unserer Kaserne in Targoviste (Rumänien) und freuten uns der Sonne, die glühendheiß diesen zweiten Pfingsttag 1917 durchschien. Plötzlich drangen Schreie aus dem nahen Gehöft an unser Ohr. Kurz darauf stürzten drei Deutsche hervor, zwei vornweg und einer hinterdrein. Und wie sich dann herausstellte, war der Letzte der Verfolger seiner Kameraden. Die hatten Kartoffeln bei dem Bauern »requirieren« wollen. Und als er immer wieder seine eigene Not beteuerte, da wollten die Deutschen mit gezücktem Seitengewehr ihrer Forderung etwas mehr Nachdruck verschaffen. Aber so Menschen einfach abzuschlachten, weil sie unmöglich der Forderung auf Herausgabe von Lebensmitteln entsprechen konnten – das war selbst unserem Kameraden, dem Metzgergesellen Uhlmann, zuviel, und atemkeuchend erzählte er uns nun, wie er da die beiden andern in die Flucht geschlagen habe. Ihm verdankt der rumänische Bauer das Leben.
Pfarrer Rose, Fischbach/Rhön.
Dezember 1916. Am Hardoumont, nördlich Verdun, lag die 39. Reserve-Infanterie-Division in Stellung. Seit drei Tagen schwerster Beschuß! In der Morgenfrühe des dritten Tages kamen Gasgranaten, dann gab es Sperrfeuer, Infanteriekampf ... und der Nachmittag fand mich gaskrank, in französischer Gefangenschaft. Körperlich erledigt, seelisch erschüttert. Ueber Verdun kam ich nach Fort du Regret. Unterkunft: in der ersten Nacht ein Keller, in der zweiten ein Schweinestall, in der dritten ein Pferdestall. Dort lag ich, in meinen Mantel gehüllt, auf dem Pflaster des Stalls, gaskrank, hungrig, verzweifelt, sterbensmüd. Kein Mensch kümmert sich um mich, kein Arzt, kein Sanitäter. Genfer Konvention, europäische Kultur, christliches Sittengesetz – wo waren sie? Tiefer sinkt die Nacht herab. Draußen auf der Straße fahren Munitionskolonnen rasselnd über holpriges Pflaster, bringen tausendfachen Tod an die Front, und Verderben speiende Geschütze. Im Stall ist es dunkel geworden. Die am Stallfenster außen aufgehängte Laterne sendet durch die erblindeten Scheiben kein nennenswertes Licht in den Raum. Ich liege und warte, warte auf den Tod wie ein Kind auf das Einschlafen.
Der wachthabende Soldat, ein Säbelposten, geht in gleichmäßigem Trott durch den Stall, von der vorderen Tür bis zur hinteren Wand, dreht sich um, geht den kurzen Weg zurück und wieder hin und wieder her und so fort, eine Stunde und länger schon, immer genau den vorgeschriebenen Postenweg ... Nun tat er einen Schritt vom Wege ab, kam sogar auf mich zu.
Es sollen in diesem Kriege schon oft wehrlose Gefangene »erledigt« worden sein. Komme ich dran? zittert eine Frage durchs Gehirn. Ich bin merkwürdig ruhig. Alle Tode bin ich ja in der letzten Woche schon gestorben. Schrecken kann mich nichts mehr.
Jetzt ist der Soldat bei mir. Er beugt sich zu mir herab, sein Säbel blinkt in einem Lichtfünkchen. Ich schließe die Augen. Meine Hände liegen auf der Brust gefaltet. Da – eine fremde Hand fährt tastend vom Aermel her über den Handrücken und schiebt mit sanftem Druck ein Stückchen Schokolade mir zwischen Daumen und Zeigefinger: pauvre camarade! ...
Ich bin wieder gesund geworden. Und wenn mir mein Verstand nicht die Sinnestäuschung nachweisen würde, – ich müßte heute noch glauben, so etwas wie einen Heiligenschein um jenen Helm gesehen zu haben.
Karl Jung, Kulmbach.
Das Folgende ist wirklich geschehen im Jahre 1915 in der Hungersteppe, ungefähr 80 Wjerst von der Stadt Perowsk, in der Steppe draußen, ungefähr 30 Wjerst von der Station Solo-Tjube entfernt. Die Stadt Perowsk wie auch die Station Solo-Tjube liegen auf der Strecke der Taschkenter Eisenbahn in Turkmenistan.
Zweihundertdreiundsechzig Mann Oesterreicher, eine Mischung aus acht Nationen, hockten wir, zur Masse zusammengedrängt, in der Mitte des Lagers. Ringsum die öde, traurige, graue Hungersteppe, in die Unendlichkeit sich dehnend, wie die Leiden des Kriegsgefangenenlebens. Alle hielten wir langstielige, scharf geschliffene Aexte in der Faust und starrten düster auf das weiße Haus, wo vier russische Soldaten mit geladenen Gewehren standen. Der Glutatem der Sonne saugte das letzte bißchen Kraft aus unseren hungersiechen Körpern.
Der Starschi, der russische Unteroffizier, sah nachdenklich unentschlossen auf diesen zweihundertdreiundsechzigfachen Hunger. Dann raffte er sich auf und versuchte mit Todesdrohungen unseren Hunger zu überlisten. Aufreizend wie ein Peitschenknall klang es, als er zu uns herüberschrie: »Pani! Zum letzten Mal sage ich es euch: geht an die Arbeit, sonst lasse ich schießen.«
Statt aller Antwort bewegte sich unsere Masse und legte sich um das Haus mit den vier russischen Soldaten, bereit, sich beim geringsten Anlaß mit tödlichem Druck zu schließen. Der Starschi wurde bleich. »Halt! Keine Gewalt!« schrie er. »Schickt drei Mann zu mir hinein. Vielleicht kann ich doch noch etwas für euch tun.«
Aus der vordersten Reihe lösten sich drei Mann und gingen mit leeren Händen ins Haus hinein, wohin ihnen der Starschi folgte. Alle drei konnten gut russisch; sie sprachen abwechselnd, sich gegenseitig ergänzend. Sie sagten, daß man von Wassersuppe allein nicht leben könne, daß die Kameraden schon ihre letzten Kleidungsstücke bei den Steppenkirgisen für Lebensmittel eingetauscht hätten. Daß man uns von dem Zuwenig an Lebensmitteln, die wir zu kriegen hätten, noch die Hälfte und mehr stehle. Daß alle fast nackt, in Lumpen herumliefen und bei äußerstem Hunger schwere Holzfällerarbeit verrichten müßten. Daß sie am Ende aller Möglichkeiten stünden und keine Lust hätten, sich ohne weiteres einscharren zu lassen.
Während der Klagereden der drei Kriegsgefangenen starrte der Starschi in quälerisches Grübeln versunken durch das offene Fenster auf die Steppe hinaus. Denn längst war ihm alles Gesagte und Ungesagte in allen Variationen bekannt. Wütend über seine Hilflosigkeit dachte er darüber nach, wie er doch noch helfen könnte. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. Er packte die drei Sprecher, zog sie zum Fenster und lächelnd deutete er hinaus:
»Was seht ihr dort?«
»Vier Kühe!« antworteten die drei verdutzt.
Belustigt betrachtete er sie und begann ihnen einen Einfall zu erklären: »Nicht wahr, ihr habt Hunger. Um ihn nicht mehr zu haben, braucht ihr weiter nichts zu tun, als eure Aexte nehmen und aus den vier Kühen Rindfleisch zu machen. Doch in einer halben Stunde muß das Rindfleisch mit allem Drum und Dran spurlos verschwunden sein. Vergrabt es vorläufig. Denn bald werden die gewesenen Besitzer dieses Rindfleisches uns besuchen und es hier finden wollen.«
Die drei stürzten heulend vor Freude zu uns heraus. »Dort auf sechzehn Beinen grast unser Gulasch,« sagten sie. Wir kapierten momentan. Binnen zwanzig Minuten war das Rindfleisch auf drei Dutzend Erdhöhlen aufgeteilt, in Hemden eingewickelt und in einem Winkel verscharrt. Dann machten wir vor unseren Erdhöhlen große Lagerfeuer und warteten etwas beklommen auf den Besuch der Steppenkirgisen.
Bald sahen wir eine Staubwolke, die immer größer wurde, eilig auf uns zukommen. Dann wurde ein Reiterhaufen draus, der im Galopp heranfegte. An der Spitze ritt ein alter, dicker Kirgise, der wütend ein Jagdgewehr schwang, während sein kleines Volk ihm mit gellendem Geheul sekundierte. Angst beschlich uns. Wir stürzten in die Erdhöhlen und bewaffneten uns mit den Aexten. In gedrängter Masse erwarteten wir die anstürmenden Reiter und brüllten ein schauriges Hurra, als ginge es zum Sturm.
Jetzt erschraken auch die Kirgisen, so daß sie plötzlich verstummend ihre Pferde anhielten. Wie auf ein Stichwort kam nun der Starschi mit seinen drei Soldaten und schob sich zwischen die zwei feindlichen Massen. Der dicke Kirgise glitt aus dem Sattel und begann, auf den Starschi kirgisisch einzureden. Der wartete geduldig, bis dem Dicken die Luft ausging. Dann befahl er uns, die Aexte wegzulegen und in zwei Reihen aufzustellen. Hierauf forderte er in russischer Sprache den dicken Kirgisen auf, zusammen mit dem Hirten, der die Rindfleischwerdung der Kühe von weitem beobachtet hatte, die daran beteiligten Kriegsgefangenen herauszusuchen.
Langsam gingen die zwei Kirgisen von Mann zu Mann, wobei sie jeden einzelnen von allen Seiten betrachteten. Manchmal stritten sie, waren im Zweifel. Doch schließlich gingen sie kopfschüttelnd zum nächsten. Nach einer Stunde angestrengten Suchens waren sie beim letzten angelangt. Der dicke Kirgise war empört über die Ergebnislosigkeit, spuckte wütend aus und sagte zum Starschi: »Teufel sind deine Kriegsgefangenen. Einer sieht dem andern gleich wie die Eier desselben Huhnes.«
Wir grinsten schadenfroh in die für uns ebenfalls kaum unterscheidbaren mongolischen Gesichter der gegenüberstehenden Kirgisen. Auch der Starschi hatte Mühe, das Lachen zu verbeißen. Dann spielte er den Beleidigten, begann mächtig auf den Dicken einzuschimpfen. Darüber, daß man seine ehrbaren Kriegsgefangenen ungerechtfertigterweise des Viehdiebstahls verdächtige, daß man auf diese Art seine Autorität untergrabe und so fort. Die Kirgisen ihrerseits aber drohten dem Starschi mit einer Beschwerdeschrift an die Behörden; und zogen ab.
Sobald die Steppe die reitenden Kirgisen geschluckt hatte, begann eine grandiose Kocherei. Bis spät in die Nacht schwelgte alles in Gulasch, und die Freude des Sattseins tobte sich in acht verschiedenen Nationalgesängen aus ... So gewöhnten wir uns an diese billige und kräftige Nahrung. Unser Gesundheitszustand hob sich so gewaltig, daß wir gern wieder Holz schlugen. Wir organisierten Gulaschpatrouillen, die die Aufgabe hatten, von der Herde abgeirrte Stücke hinter einen Sandberg zu treiben und in Rindfleisch zu verwandeln, bevor der Hirte auch nur eine Ahnung hatte. Haut und Eingeweide wurden spurlos vergraben.
Nur die Kirgisen gewöhnten sich schwer an diesen Zustand. Beschwerde auf Beschwerde lief bei den Behörden ein. Doch diese verlangten Beweise. Schließlich und endlich gewöhnten sich auch die Kirgisen daran. Nur manchmal kam einer ins Lager und gab uns zu verstehen, daß des Nachbarn Herde größer sei und wir uns darum mehr an jenen halten sollten. Mit der Zeit hörten auch ihre Einzelbesuche auf, sie nahmen es als ein Uebel des Krieges, als Schicksal.
Auf diese Art starben so nach und nach 150 Kühe, 60 Ziegen, 120 Schafe und 15 Kamele den Gulaschtod. Damit wurden 263 Europäer dem Hungertod entrissen und konnten in voller Gesundheit erwarten, bis die Kerenski-Regierung kam. Da kriegten wir dann plötzlich dreifache Gebühren und außerdem einen Accordlohn, der uns langentbehrte Genüsse zugänglich machte. Das Leben wurde erträglicher. Nachdem wir nun satt waren, fiel es uns leicht, auf die »Moral der hungrigen Wölfe« zu verzichten. Fortan weideten von uns unbehelligt die Vierfüßler der Kirgisen, und das Gras der Vergessenheit wuchs über die von uns verspeiste Herde.
W. Hamperl, Schriftsetzer, Wien.
1915 in Nordfrankreich. Wir lagen in Biache-St.-Vaast. Die Kriegsfurie hatte auch unter der Bevölkerung große Opfer verschlungen. Ihr Hab und Gut war nicht mehr. Notdürftig vegetierten sie mit amerikanischen Almosen dahin. Kümmerlich war auch die Versorgung der Fronttruppen. Strenge Befehle verboten die Unterstützung der Bevölkerung.
Aber wir teilten mit ihr, was eben zu teilen war. Lebensmittel, unsere »eisernen Rationen«; ja, wenn einer vom Urlaub zurückkam, brachte er nicht selten von der eigenen, selbst Entbehrungen duldenden Familie Kleidungsstücke und anderes mit. Es war eine Notgemeinschaft von Mensch zu Mensch.
Schließlich stellten wir die neuesten Errungenschaften der Kriegstechnik, entgegen ihrer Bestimmung, in unseren Dienst. Die damals aufgetauchten Stielhandgranaten eigneten sich vorzüglich – zu produktiveren Zwecken. Die Altwässer bei Biache bargen einen ungeheuren Vorrat aller brauchbaren Fischsorten. Mochte das Fischen mit Handgranaten auch verboten sein – ein Wurf, ein dumpfes Gezische, und in wenigen Augenblicken schien die ganze Wasserfläche verschneit. Hunderte von Karpfen, Hechten und Braxen schwammen tot herum. Hochbefriedigt luden wir unsere reiche Beute auf.
Sehnsüchtig erwarteten unsere französischen Quartiergeber die Ergebnisse unserer Selbsthilfe. Sie standen auf den Straßen, unterhielten sich laut schwatzend. Bedeutete ja doch unser Fischzug ein gewaltiges Ereignis für die Einwohnerschaft. Kaum, daß wir in Sichtweite sind, werden wir schon bestürmt, in die Mitte genommen und in die Quartiere begleitet. Mit allen Raffinessen weiblicher Kochkunst wurde gesotten und gebraten, und bald war ein allgemeiner Schmaus im Gange.
Das war für alle, trotz des Krieges, ein Fest. Es war, bewußt oder unbewußt, ein Akt der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Die zwei Tage Arrest für die Befehlsübertretung störte uns nicht. Wir töteten lieber Fische als Menschen.
Hans Fischer, Glasarbeiter, Fürth i. B.
Dies ist nur eine ganz kleine Tat, aber sie fiel in das Herz einer Mutter, also in einen wahrhaft guten und fruchtbaren Boden. Das Samenkorn ist auch aufgegangen, und vielleicht ist einer der Bäume daraus gewachsen, aus dem man dereinst die Bretter für das Haus des Friedens schneidet.
Es war in den Jahren der Besatzung Cronbergs durch die Franzosen. Der Bub einer Frau war sehr krank. Er fieberte, und ein Trank von Zitronen hätte den heißen Lippen so gut getan. Aber Zitronen gab es nicht. Bei der Frau war ein französischer Offizier einquartiert. Er brachte ihr Zitronen.
Nicht mehr? Nein, nicht mehr. Nun scheint es fast auch mir ein so belangloses Geschehnis zu sein, daß ich fürchte, es nimmt sich gar unbedeutend und ohne Glanz in der Reihe der guten Werke aus. Aber ich sehe das harte Arbeitsgesicht der Frau, das nun ganz weich und gelöst ist, wieder vor mir, höre die Bewegung in ihrer Stimme, obwohl Jahre seit damals verstrichen sind.
Gertrud Alberti, Frankfurt a. M.
In St. Nazaire (Loire Inférieure) hatten die Amerikaner ein Lager aufgeschlagen und auch Deutsche als Gefangene dort untergebracht. Wir waren bei den Franzosen in der Hauptsache mit dem Löschen der Kohlenschiffe im Hafen beschäftigt. Im Juli 1918 marschierten wir nach dem Mittagessen vom Lager zur Arbeitsstelle im Hafen. Ein amerikanischer Lastwagen mit deutschen Gefangenen besetzt, überholt uns. Während der Ueberholung wirft ein deutscher Kamerad etwa ein halbes Brot in unsere Kolonne. Einer schnappt das Brot. Aber der französische Posten, der mit aufgepflanztem Gewehr in der Nähe marschiert, nimmt dem Gefangenen das Brot weg, wirft es auf die Erde und tritt darauf herum, so daß es unbrauchbar wurde ... Daß es auch gute Franzosen gab, soll damit nicht bestritten werden.
Am gleichen Ort kommt einige Tage später von der Front ein leerer amerikanischer Güterzug zurück und hält vor den amerikanischen Rot-Kreuz-Schuppen. Die Wagen werden von schwarzen Soldaten gereinigt. Wir Gefangenen laden von der anderen Seite Kisten mit Wäsche ein. Ein amerikanischer Negersoldat steht vor der Ladeöffnung unseres Wagens und fragt durch Gebärden, ob wir Hunger haben. Dies konnten wir nicht verneinen, weil die Verpflegung mehr als gering war. Der Schwarze verschwindet. Nach einigen Minuten steht er wieder vor der Ladeöffnung und hält unter der Jacke ein meterlanges Brot halb verborgen. Er bricht ein Stück ab, tut so, als wenn er essen wolle, und im unbewachten Augenblick hat er uns das Stück zugesteckt. Dann kommt ein Stück nach dem anderen; denn einige schwarze Kameraden folgten diesem Beispiel.
Der Schwarze hat gesehen, wo es bei uns fehlte. Der Weiße hat uns nicht mehr als Menschen geachtet.
Otto Staub, Architekt, Rheinfelden/Baden.
Anno 1917. Meine Eltern und Geschwister wohnten zu dieser Zeit in Raunheim am Main. Ich besuchte damals eine höhere Schule in Rüsselsheim. Im Frühjahr bekamen wir einige französische Kriegsgefangene, die in einem Nachbarhause untergebracht wurden und in einer dortigen Fabrik arbeiten mußten. Da uns zu dieser Zeit die nötigsten Lebensmittel fehlten, bestand unser Menu fast täglich aus Kartoffeln und »Graupenwurst«, welche statt mit Därmen mit Pergamentpapier umgeben war. Tag für Tag Kartoffelsuppe ohne Fettaugen. Mit Dickwurz, was sonst als Viehfutter dient, mußte man auch vorlieb nehmen.
Oft unterhielten wir uns mit den Franzmännern. Charles Dupont, ein echter Pariser, kam viel zu uns herüber, um uns bei der französischen Schularbeit zu helfen. Sah er unser Essen, so lief es ihm kalt über den Rücken und er fragte uns, ob man eigentlich von solch einem Essen satt werden könne. Ein Onkel von Monsieur Dupont, der in der Nähe von Paris eine Meierei innehatte, schickte ihm fast jede Woche ein mordsgroßes Paket mit Lebensmitteln: Corned beef, Schokolade und viel Käse. Was Charles nicht vertilgen konnte, gab er uns. So gingen viele Monate dahin und somit kam auch das Ende des furchtbaren Völkerringens. Noch einmal sahen wir Monsieur Dupont, wie er grade mit seinen Kameraden den Zug bestieg, der sie wieder in die Heimat zurückbringen sollte.
Eines Morgens gingen wir zur Schule, da war auch schon die Besatzung da. Mittags saßen wir bei Tische, um gerade zu essen, als die Tür aufging und unser Charles mit einer Knarre und einem Paket unter dem Arm freudestrahlend eintrat und uns auf das herzlichste begrüßte. Er überreichte uns das Paket, in dem sich feinster Schinkenspeck, Hammelfleisch und einige Pfund Schmalz befanden. Ein paar Tage später brachte er uns noch eine Feldflasche mit rotem Wein und einen Sack grüne Kaffeebohnen. Sodann verabschiedete er sich, da er mit seinem Truppenteil nach Höchst versetzt wurde. » Jamais la guerre!« das waren die letzten Worte, die er mir zurief, indem er sich die Tränen auf den Wangen abwischte.
Otto Henry Arth, Konditor, Frankfurt a. M.
In der Verfolgung der geschlagenen italienischen Armeen waren die Truppen des deutschen Alpenkorps im November 1917 am Piave angekommen. Da alle Ortschaften überfüllt waren, wurden die Kompagnien zum größten Teil an den Eisenbahntunnels längs des Piave am Fuße des Monte Tomba untergebracht. Der Ueberfluß an Lebensmitteln, der während der Offensive bei der Truppe geherrscht hatte, ließ bald nach, und die Leute waren wieder auf das Essen aus den Feldküchen angewiesen. Da lockten die Dörfer Fener und Quero, am Fuße des Monte Tomba, die, unter dem Beschuß der feindlichen Artillerie liegend, von der Zivilbevölkerung geräumt worden waren, doppelt reizvoll zu einem Besuch, der Beute versprach. Und so machte auch eines Tages der Gefreite Gerner einen Abstecher nach Quero hinein, in der löblichen Absicht, für seine Leute etwas Genießbares herbeizuholen. Ueber Schutt und Mauertrümmer steigend, durchsuchte er die Keller, die Räume der Häuser, fand aber zu seinem Leidwesen nichts Eßbares mehr auf.
Auf seiner Suche stieß er auf ein kleines Häuschen, das die Granaten bisher verschont hatten. Er beschloß, diesem noch einen Besuch abzustatten und dann nach Hause zurückzukehren. Die Wohnräume waren leer, aber vom Keller herauf klangen italienische Laute an sein Ohr, und als er hinabgestiegen war, sah sein erstaunter Blick, beim Flackern einer herabgebrannten Kerze, aus einem niedrigen Lager eine Greisin liegen, davor auf einem Schemel einen alten, weißhaarigen Mann. Als ihn dieser kommen hörte, erhob er sich langsam, tat einige unsichere Schritte auf ihn zu und wies mit zitternder Stimme und hilfloser Gebärde auf ein paar Maiskolben, eine halbe Wassermelone, dem Gefreiten Gerner bedeutend, daß er und seine Gefährtin außer diesen kümmerlichen Resten nichts mehr zum Leben hätten.
Der jammervolle Hinweis des alten Mannes hat Gerner erschüttert und zugleich beschämt. Im Dorf, das weiß Gerner, ist nichts mehr aufzutreiben, aber dort drüben in Fener, das dreiviertel Stunden entfernt am Hang des Tomba liegt, müßte vielleicht noch etwas zu finden sein. Freilich liegt die Straße dorthin, vollkommen eingesehn vom Gegner, dauernd unter Artillerie- und Minenfeuer, und die Einschläge im Dorf gellen bis herüber. Aber vielleicht kann er den beiden alten Leuten helfen.
Und so wagt Gerner den Gang nach Fener. Oft muß er vor einschlagenden Granaten Schutz im Straßengraben suchen; aber er erreicht Fener. Seine Suche hier ist auch nicht vergebens. In den verlassenen Häusern, die von den Truppen noch nicht so abgesucht sind, findet er da und dort Kartoffeln, Kastanien, hier etwas Maismehl zu Polenta, und hin und wieder auch etwas Speck. Das alles tut er in einen aufgefundenen Korb und geht dann, wieder verfolgt vom Einschlag der Granaten, nach Quero zurück. Bald hat er das kleine Haus erreicht und steht nun vor dem Alten, dem er den Korb übergibt. Als dieser erfaßt, daß alles ihm und seiner alten Frau gehören soll, rollen ihm die Tränen herunter und er küßt Gerner die Hand. Dieser wehrt ab und geht.
Mit leeren Händen kehrt Gerner zurück. Schweigend läßt er die Vorwürfe seiner Kameraden über sich ergehen.
Andreas Schelshorn, Straßenbahnschaffner, München.