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Der heiligste Kaiser versinkt in ein Meer von Sorgen«, hauchte die vierzehnjährige Caesarissa Anna, während sie mit zusammengeschwungenen Brauen die Arbeitsräume ihres Vaters, des großen Alexios Komnenos im heiligen Palast zu Konstantinopel verließ.
Lautlos schlossen hinter ihr sich elfenbeinerne Schiebetüren. Gleich lautlos ordneten sich, da sie im Weiterschreiten niemanden besonders angesprochen hatte, wartende Damen vom Dienst: Gralsritterliche Schleierwesen in Goldkasaken und milchweißen Capes, zu einem gleißenden Dreieck, dessen Spitze die Prinzessin bildete.
Silentiarii grüßten mit erhobenem Liktorenbündel, »engelgleiche« Eunuchen bogen zwischen Saal und Saal Seidentapisserien auseinander vor der kleinen, unsäglich gespannten Gestalt, deren Brokatmantel leise über die Mosaiken hinzischte. Garden standen wie aus Metall.
Zwischen Erzhallen, Konzertsälen, Audienzräumen, Museen erstreckten sich schier endlos grüne, feuerfarbene, blaugeäderte Marmorvestibüle. Einmal bog aus dunkeln Tiefen der Erlöserkirche zur Rechten ein Zug Senatoren in goldkarierten Überwürfen. Aus ihren Händen fiel Honigschein von Kerzen, jedesmal entzündet vor der Reliquie des echten Kreuzsplitters, auf daß der Geist von oben ihnen zur Beratung leuchte.
Vier von den sieben Palastgruppen hatte das gleißende Damendreieck jetzt durchzogen, da brach ein achteckiger Kuppelkoloß, in die Farben des Pfauenschweifes gekleidet, an einer Apside auf und ließ die Welt herein als Frühlingsmorgen.
Es war einer der ersten Apriltage des Jahres 1097 und festliche Osterzeit. Rasch trat die Caesarissa auf das logenartige Rund, von dem zu beiden Seiten phantastische Terrassen stuften, bis ans Marmarameer, wo die kaiserliche Lustflotte mit eingezogenen Purpursegeln ankerte. Tiergruppen aus korinthischem Erz spiegelten den Marmorkai entlang. Ziemlich schütter zu dieser Jahresfrühe wirkten die hängenden Rosengärten, beinahe dilettantisch, verglichen mit jenen unverwelklichen Wiesen aus Edelsteinmosaik, in dem die Innenwände der Paläste standen. Daß an deren Außenseite, gleichsam Tür an Tür mit solcher Vollendung, noch irgend etwas auf eigene Art zu sprießen sich unterfing, schien fast rührend. Die Chancen für Kreatürliches standen zu schlecht. Erst Ende Mai, wenn reife Blütenwellen mit gezückten Staubgefäßen niederstießen in eine kobaltblaue Bucht, vermochte die Natur ein wenig aufzuholen.
Anna Komnena sah nicht einmal hin, da oben in der kaiserlichen Loggia vor zwei Kontinenten. Ihre leuchtend frischen Kinderaugen blickten stadtwärts, doch über die fünfhundert goldübergossenen Kuppeln von Byzanz noch weg, bis zu dem Festungsring der europäischen Landseite. Sieben Jahrhunderte lang waren schon die Völkerströme wirkungslos an ihm entlang geglitten, machtlos geworden vor der »gottbeschützten« Stadt. Talauf, hügelab, stand die Linie der berühmten Quadern bis an den Horizont, dreifach gestaffelt, zyklopisch und weise-elegant zugleich, schon gegen den Hunnensturm errichtet.
Auf sie zu rückten jetzt durch Makedonien, Thrakien, den Epirus endlose Kreuzfahrerheere. Als Episode oder Weltenumbruch? Das war die Schicksalsfrage für Byzanz. Das Herrscherkind auf der Terrasse zeigte dem Kommenden die kalte Schulter, wandte sich, gesteilt vor Abwehr, zur linken Treppenflucht. Von dort, ein wenig tiefer unten, zweigten türkisblaue Plattenwege zu den restlichen Palästen. Diese waren dem kaiserlichen Privatleben bestimmt, mit Sonnen- und Schattengemächern. Eingebettet in schwelgerische Bosketts, durchsetzt von Luxusbädern, lockerten sie sich, durch Pergolen verbunden, manchmal zu grazilen Glorietten oder Baugebilden in Kleeblattform.
Seewind trieb an diesem Morgen wehende Perlensäulen der Parfümfontänen gegen einen Statuenpark, so daß die Marmoräderung an den Mineralkörpern erglänzte wie mit dem süßen Saft von Götterblut gefüllt. Annas Liebling: Ein Eros aus edelster griechischer Zeit, hielt auf seinem zart gebogenen Schenkel den Duft sogar in Tropfen angesammelt. Doch als müßte sie gleich quer durchs ganze Leben, strebte die Caesarissa weiter, bis wo das palatinische Baugebiet sich zu Palästren und Reitbahnen lichtete, schließlich zum Poloplatz.
Die Herren in bequemer iranischer Sporttracht: Seidenhemden und weichen Lederstiefeln, hatten eben ihr Spiel beendet. Alle verneigten sich. Einer kam herbei. Sofort traten die Damen vom Dienst außer Hörweite. Es war Nikephorus Bryennius, Caesar an Rang und Annas Gatte.
Man konnte gar nicht anders als das richtig finden. Unmöglich hätte er weniger als der Zweite am Thron, in Staat, Armee und Herrscherhaus zu sein vermocht. Auch seine junge Frau erkannte ihn als sehr zufriedenstellend richtig an, wie er ihr fest, zugleich geschmeidig, durchtrainiert, doch auch durchgeistigt, weder unreif noch verbraucht, nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu säumig, nicht zu rasch, so zärtlich als diskret und – das gehörte eben mit dazu – im ganz korrekten Augenblick entgegenkam, vermöge unfehlbarer, unangreiflicher, geradezu hellseherischer Höflichkeit.
Sein olivenglatter Hals zeigte bei der Neigung die Anmut einer Antilope. Möglich, daß hierbei der Nacken etwas zerbrechlich in die Kerbe zwischen beiden Schulterblättern einging, was jedoch die Caesarissa als besonders elegant bezauberte. Zwei Monate hatten ihr genügt, um eine Konventionsheirat, also für weibliches Gefühl Minderwertiges, in betäubende Leidenschaftsbindung umzustilisieren, denn nie nahm dieses heiße Kind vom Schicksal das Geringere als endgültig entgegen. Eine so große, wie bedenkliche Qualität.
Ihre ersten Worte gelten aber nicht dem Gatten, vielmehr ihrem Vater und seiner Politik.
»Der heiligste Kaiser verzehrt sich in Sorge dieser Kelten wegen.« Unmut schwelte durch die hochgepflegte Flötenstimme. »Was suchen all die fremden ›Sieurs‹ bei uns? Ist ihr Ziel das Heilandsgrab, wie vorgegeben, warum setzen sie nicht von Italien gleich zu Schiff nach Palästina über? Stattdessen fallen schwerbewaffnete Horden ein in unser Reichsgebiet, plündern sich heran durch unsere kultiviertesten Provinzen, äschern unsere Dörfer ein, massakrieren unsere Untertanen, rücken drohend gegen unsere geheiligte Residenz und kreuzigen – es heißt ja ein Kreuzzug – unsere Priester. Die niemand rief, kommen, zahllos, wie Blätter im Frühling, Wellen im Sturm«, – Sandflöhe in der Steppe, fiel ihr noch ein. Das aber konnte eine byzantinische Prinzessin niemals sagen. So ergänzte sie als dritten Vergleich, den ihr rhythmisches Gefühl verlangte: »Heuschrecken im Ägypterland.« »Heuschrecken« ging noch eben.
Für den Caesar hatte dieser Gedankenschwall nichts eben Überraschendes. Es war die allgemeine Ansicht. So frug er gleich nach neuesten Depeschen, denn die Lieblingin war bei der Majestät die Nacht hindurch zu Rat gewesen.
»Wenig günstig lautet sie«, erklärte Anna. »Das lotharingische Heer am Goldenen Horn, vielmehr sein Leiter, Herzog von Bouillon, nebst allen Unterführern, verweigert immer noch, ja schroffer als seit Wochen, jede Verhandlung über den Treueschwur, wie unser Parlamentär berichtet, der kleine Kelte mit dem unaussprechlichen Namen.« Sie wischte das »unaussprechliche« weg wie ein Insekt, um die gewünschte Persönlichkeit nun ohne dieses zu umschreiben: »Nun jener, der sich so arrogant im ersten Brief verkündete, als ›König der Könige, Größter unter dem Himmel‹. Die Herren vom Barbarenbüro haben ihn dann gleich zurechtgerückt. Er ist nur Bruder des Häuptlings von Frankreich, und dieser selbst, als Bigamist in päpstlicher Ungnade, darf nicht einmal am Kreuzzug sich beteiligen. Auf unserer geheiligten Rangtafel steht sein Name erst an 37 983. Stelle.« Sie zögerte ein wenig, ergänzte aber dann gerechterweise: »Einige Experten aus dem zeremonialstatistischen Amt erwägen allerdings ihn bereits an 37 982. Stelle zu führen.
»Welch ein Aufwand«, dachte Bryennius, »um zu beweisen, daß der kleine Kelte nichtig sei, denn seinen Namen weiß sie doch genau wie ich.« Allerdings kam über diese junge Jüngerin der Sappho manchmal ein echter Ekelkrampf, vor dem, was ihrem Ohr nur kauderwelsche Silbenfolge schien und ihrem Stolz, wie Flohartiges, unaussprechlich. Also erwiderte er milde lächelnd, sie meine ohne Zweifel Monseigneur Hugo Capet de Vermandois, der sei doch ganz trätabel, seit man ihn aus dem Meer gefischt, als sein Flottillchen vor der Ankunft kippte. Er habe sich auch sichtlich eingewöhnt. Besonders in den Kabarets auf dem asiatischen Ufer. Noch einmal lächelte der Caesar. Ein wenig deutlicher sogar.
»Die Nachhut der provencalischen Armee«, berichtete die Caesarissa weiter, »wurde von der empörten Bevölkerung bei Rodosto angegriffen. Der Marquis der Provence, Saint Gilles, schwört seither nur ewige Rache, doch sicher keinen Eid. Die Truppen des Grafen Robert von der Normandie sind glücklicherweise noch eine Woche lang vor Saloniki aufgehalten worden, hingegen –.«
Nun wußte Bryennius plötzlich, warum seine Frau so früh durch alle sieben heiligen Palastgruppen gekommen war bis an den Poloplatz und in sein Sonnenaufgangspiel hinein. Die Haltung des Paares, bisher nur eben lästigen Zwischenfällen angemessen, vollendete sich jetzt ins Undurchdringliche.
»Hingegen«, schloß mit Marmormiene die Prinzessin, »steht Bohemund bereits am Marmarameer mit den italienischen Normannen.«
»Was ist beschlossen?«
»Vieles, doch nicht alles.«
Sie sprach. Er hörte zu. Sie eilte dann der Kaiserin Irene, ihrer Mutter, in den Perlenappartements Bericht erstatten. Er eilte zu Bad und Umkleidung für die entscheidende Audienz im Konsistorium.
Abseits ihrer Eile, hinter Myrtenmauern, träumte unterdessen ein grünsilberner Pavillon, mit Liebesgemächern von beispiellosem Raffinement, für das Caesarenpaar errichtet, leer in den Tag hinein.
Übermenschliche Haltung war alles. Wie ein sinnvolles Leitungssystem von zentraler Feuerstelle nach jeder Richtung ausgezogen, stets den gleichen Wärmegrad im »Heiligen Palast« verbürgte, mochte es gemeinhin hageln, stürmen, schneien, so regelte eine ebenso gepflegte Seelenanlage bei außenpolitischen Unbilden das Gehaben seiner Bewohner.
Vom inneren Dienst, die hochbeamteten zwanzigtausend Würdenträger wahrten das Gesicht. Was auch außerhalb in der noch unerlösten Ordinärheit an tröpfischen Zwischenfällen sich ereignen mochte, sie selber kreisten, Strahlenspitzen einer übernatürlichen Sonne: der byzantinischen Majestät, mit dieser schon im schicksallosen Raum der Gnade.
An hohen Kirchenfesten überglänzte die Ordnung dieser Sphärenharmonie ihre gewohnten Ränder weit, und nichts Profanes durfte sie durchkreuzen. Vier Heere fremder Teufel kamen angetobt, doch jetzt war Ostern.
Bis zum Lazarus-Samstag hatte es noch in der Riesenstadt am Bosporus wie um ein zerstöbertes Hornissennest gebraust. Nicht genugtun konnte sich die leicht überreizte Bevölkerung an hochmütiger Schwarzseherei. Nicht aus Angst, eher zum Beweis für überlegene Welterfahrung mußte jeder es noch immer ärger wissen. Gerüchte raunten nicht, sie schrillten schon.
Da entließ der übernatürliche Lichtkern im heiligen Bezirk aus sich die ersten Zeichen der geweihten Zeit, und magisch schwang das Dasein der Millionen um auf eine andere Wellenlänge. Aus chaotischen Massen wurde rhythmische Prozession, aus politisierendem Gezischel musikalische Substanz, heilig verwandelt im Äthersturm der Glocken, während aus dem aufgeworfenen Erztor, wie zwischen Seraphlippen, der priesterkönigliche Zug als goldenes Spruchband Gottes sich entrollte durch die Stadt. Aroma vom Paradies blieb hinter ihm als lila Wolke aus schwingenden Räuchergefäßen stehen in den blütenüberstreuten Gassen.
Am Lazarus-Samstag hatte es angefangen.
Da verteilte Alexios, der gekrönte Gralskönig im auserwählten Gottesreich, vom Altar der Demetrius-Kapelle Palmwedel, blühenden Rosmarin und Silberkreuze an das Volk. Zimt und Früchte gab er in der Stella-Maris-Kirche unten beim Leuchtturm. Vom emeraldenen Stein der Magnaura hielt er Fastenpredigten. Jeder Tag sah ihn als Abbild Christi die angemessenen Bräuche des Heilsmysteriums üben.
Soweit der Gralskönig. Wenn er sein Weltimperium, nach China das älteste, größte, ehrwürdigste der Erde jedoch behalten wollte, mußte er auch dessen irdischer Beschützer, sein Imperator sein. Eben jetzt hätte der Tag sechsunddreißig Stunden für ihn haben sollen, um diesem doppelten Anspruch zu genügen. Der religiöse Rhythmus ließ sich nicht verschieben, so wenig wie der kriegerische. Während dieser Osterwoche gab es für den Imperator-Hohepriester keinen Schlaf. Doch überwach sein und rasch von reifen Entschlüssen, das war der dreiundvierzigjährige Mann seit seiner Jünglingszeit gewohnt. »Versunken in ein Meer von Sorgen«, hatte seine Tochter ihn verlassen. Wenig über eine Stunde später entschied sich vor dem Kronrat bereits das Kreuzzugsproblem im Sinne von Byzanz, chinesisch nüchtern, völlig unpompös. Kein Purpurschleier trennte, wie sonst bei Audienzen, die Thronabside vom Saal des Konsistoriums. Am Fuß ihrer drei porphyrenen Stufen standen in der gleichen nackten Luft mit ihrem Kaiser, rechts und links zu Mondsicheln ausgebogen, die Reihen seiner Strategen, Admiräle, Gouverneure, Minister, meist aus den großen Feudalgeschlechtern und mit ihm versippt, starrend von Metall und Seide; außerdem ein Stab Experten und Stenographen.
In der Goldnische, die gesteigerte Gestalt, lenkte das Ganze mit den Augenbrauen: hoch zusammengeschwungenen Herrscherbrauen, dem Merkmal adeligsten Blutes. Wer sozial zu tief für diesen natürlichen Vorzug stand, tat besser, sie über der Nasenwurzel auszurasieren; wer trotz gewaltigem Rang ihrer fatalerweise ermangelte, pinselte Fehlendes hinzu. Die Komnenen, auch in der weiblichen Linie, besaßen über großausgeschnittenen Augen die Rassebögen in dunkler Vollendung. Unsagbar zartes Heben nun nach rechts, und nahe an der Apsis sprach als erste eine zeitlos überlegene Stimme:
»Seit das Gottesreich Byzanz berufen ward, die Himmelsharmonie auf Erden zu verkörpern, sind im Lauf so vieler hundert Jahre alle wilden Menschenströme ausnahmslos von Osten her gegen unsere heiligen Grenzen angebrandet. Wir haben sie, wenn unerziehbar, immer hart zurückgetrieben oder, falls sie Spuren von Berufung zeigten, langsam in den Orbis byzantinus einbezogen und so aus zahlreichen Urhorden gesittete Völker gemacht.
Jetzt zum erstenmal geschieht in der Geschichte etwas Unerhörtes: Das Gesetz der Menschenströmung kehrt sich um. Nicht von Osten, plötzlich aus dem Westen fluten nie gesehene Barbarenmassen gegen unsere europäischen Grenzen auf dem Zug ins Morgenland.
Manche sagen, es geschehe, weil statt toleranter Araber, wie bisher, nun blutige Seltschuktürken im heiligen Lande hausen, wodurch den Christenpilgern der Weg zum Heilandsgrab versperrt wird. Als jüngst der Patriarch von Rom, Urban II., heiße Klage gegen solche Schmach erhob, habe ein religiöser Aufrausch ohnegleichen Hunderttausende ergriffen, um die Weihestätten von den Ungläubigen zu befreien, obwohl kaum mehr als ein paar Tausend sie jährlich zu besuchen kamen. Andere zucken da die Achseln, meinen, weil die Wirtschaft in so vielen westlichen Gebieten stocke, hungere den Körpern, nicht den Seelen nach einer segensreichen Ferne. Ist die erste Hypothese auch verstiegen, scheint die zweite wieder gar zu flach, denn mächtige Herzöge und reiche Herren haben ihre irdischen Güter für den Kreuzzug hergegeben, darunter viele, reif an Jahren, denen Abenteurerlust wohl kaum das Blut beizt. Dann sei es eben Massenwahn, wird man erwidern. Doch warum nimmt jetzt Wahn gerade diese Richtung? Warum kommt innerer Bereitschaft äußere Fügung unbegreiflich stets entgegen? Selbst daß für gierige Feinde weit eher Byzanz zum heimlichen Ziel des Aufbruchs wird, statt Palästina, trifft kaum des Rätsels Kern. Wir sehen eben immer nur Veranlassung, nicht Ursache, und keiner weiß noch das Geschehende zu deuten; jeder aber wisse, daß es bedeutsam über alle Massen ist.«
Ein fahler Herr, als einziger mit schütterem Spitzbart, hatte so gesprochen, ein Mächtiger unter den Mächtigen, des Herrschers älterer Bruder, Isak, der Sebastokrator.
Nun wanderte die Braue weiter, und Georg Palaiologos, des Kaisers Schwager, begann, doch ohne seine Stellung in der rechten Mondsichel zu verändern, die durch den Winkel zu der allerhöchsten Person ein für allemal bestimmt blieb, mit seidenartig kühler Stimme:
»Der unvorhergesehene Kelteneinbruch aus dem Westen, wenn auch in seinem letzten Sinn noch nicht durchschaubar, stellt Byzanz jedoch sofort vor drei Probleme: ein juristisches – strategisches – diplomatisches. Mit dem Befehl, vor allem die Rechtslage zu klären, bin ich heute vom heiligsten Kaiser beehrt.
Was dieses Unternehmen, Kreuzzug benannt, für die Fremden selbst bedeuten mag, steht hier nicht in Frage. Byzanz aber ist seit Jahrhunderten an den Landstrichen um Jerusalem, der Hierosolyma, politisch nicht mehr interessiert. Wohl wäre es ein schönes Ziel, die geweihten Stätten mit dem Heilandsgrab in christlicher Obhut zu wissen, doch liegen sie längst in der Einflußsphäre der Fatimidendynastie Ägyptens. Diese, unsere hochkultivierten arabischen Freunde, haben christliche Pilgerzüge nie gestört und sind überdies natürliche Verbündete im Kampf gegen die jüngst hereingebrochene barbarische Türkenpest. Wie diese den Arabern kürzlich, wenn hoffentlich auch nicht für immer, Palästina raubte, so uns in schamloser Weise die fruchtbaren Provinzen Bythinien, Mysien, Kappadozien, Lydien, Phrygien, die üppigen Küsten Kleinasiens, Syriens, die herrlichen Städte Antiochia, Edessa, Smyrna, Ephesos, Aleppo. Den kirgisischen Horden all das wieder abzujagen, ihre frevelhaften Emirate, mitten in unser Reichsgebiet gestellt, unter der Tyrannis von Seltschukiden, Orthokiden, Danischmenditen, abscheulichen Ketzern, sogar innerhalb des Islam, wieder von der Erde auszutilgen, damit die Christenheit von diesem Greuel erlöst sei: das ist der gottgewollte Kreuzzug für Byzanz.«
»Für ihn hat der heiligste Kaiser vor sechs Jahren seinen damaligen Gast, den Grafen von Flandern, um berittene Söldner ersucht, wie sie dieses Reich aus allen Ländern seit über einem Jahrtausend bezieht, schon bezog, als Rom noch seine Hauptstadt war. Jene aus Flandern kamen nicht. Auch ein Schreiben an den Papst, die Anwerbung zu fördern, blieb erfolglos. Nun, es ging auch ohne sie. Jetzt, da die Grenzen sich in Anatolien wieder langsam vorwärtsschieben, erscheinen statt der erbetenen paar Tausend – mehrere unerbetene – Hunderttausend, mit eigenem Kriegsziel, hausen wie Feinde, wollen wie Freunde unterstützt sein.«
»Das geht nicht an. Sind diese Scharen als Söldner gekommen, nun gut, dann haben ihre Führer den Treueeid zu leisten und werden militärisch eingesetzt, wo es ihr neuer Herr befiehlt. Verweigern dies die Kelten, dann haben sie, womöglich entwaffnet, das Reichsgebiet auf der Via egnatia wieder zu verlassen, auf der sie hergekommen sind, denn Byzanz ist weder Aufmarschraum für fremde Armeen, noch hat es seine Flotte, um selbstherrliches Kriegsvolk, ohne Gegendienst, nach fernen Häfen zu befördern.«
»Doch will der Heiligste den immerhin halbwegs christlichen ›Sieurs‹ durch Hilfe seine Huld beweisen, solange ihr Kreuzzug mit dem seinen den gleichen Weg nimmt, also durch jene Provinzen führt, die von der Seltschuknot noch unerlöst geblieben sind. Dort sollen sie wie Söldner wirken, hoch bezahlt, reich beschenkt, gut verpflegt samt ihrem Troß, auch militärisch von Truppen unterstützt, mit einem byzantinischen Strategen an der Spitze. Diesem werden die jeweils befreiten Reichsgebiete unverzüglich übergeben; ein Vasalleneid der wichtigsten Keltenfürsten bürgt hierfür. Jenseits von Syrien mögen sich die Kreuzherren dann aus dem Körper Asiens so viele eigene Herzogtümer schneiden, als es ihnen nur beliebt. Von dort an sind sie wieder frei.«
Aus dem Schweif seines langen Blickes streifte Georg Palaiolog den Stab der Kronjuristen:
»Die Clarissimi mögen, wenn's beliebt, beide Schwüre, Treue- wie Vasalleneid, nebst dem ergänzenden Vertrag, auf dieser Rechtsgrundlage bis morgen mittag formulieren, leicht faßlich, unanzweifelbar, besonders was die Ablieferungspflicht rückeroberter Gebiete anlangt, so daß auch für den geistig völlig Ungeübten keine Punkte der Verwirrung bleiben können. Wo es sich hingegen um das Ausmaß kaiserlicher Gegenleistung handelt, wird der Eindeutigkeit des Ausdrucks nur eben nach Tunlichkeit Rechnung zu tragen sein.«
Die Worte klangen aus in zarte Zeremonien, schwebende Endstadien an Gebärde zwischen der letzten Erläuterung und dem Nichts.
Im Bann der Braue sprach nun Johann Dukas, Bruder der Kaiserin, mit starken jungen Lippen zum strategischen Problem:
»Vier fremde Heere sich unter den Mauern von Byzanz zusammenrotten lassen, schien von Anfang an nicht ratsam im Hinblick auf ihre große Zahl und Gesetzlosigkeit, die sie leicht zum Massenwahnsinn eines Angriffs reizen konnte, mindestens die Führer bestärken in jeder Art von Trotz. Ist Konstantinopel, die Akropolis der Welt, auch uneinnehmbar, was würden ihre vielen Neider davon halten, daß sie Widersacher in so freche Nähe läßt. Auch müßten dann zur Einkreisung, Entmachtung und Vertreibung der Eindringlinge bedenklich viele Streitkräfte von Anatolien und den Grenzen an der Donau abgezogen werden. Da uns Strategen jedoch strenge verboten worden ist, jede der vier Heeressäulen einzeln auf dem Marsch zu schlagen, was leicht gewesen wäre, so beschränkten Begleitoffiziere und Dolmetscher sich befehlsmäßig darauf, Kuriere abzufangen, Fühlung zwischen einzelnen Heeresgruppen zu verhindern, die Nachhuten zu verwirren und auf diese Art verschieden lange aufzuhalten.
Die Wirkung solch schwächlicher Methoden ist erschöpft. Da die Entscheidung nicht bei den Legionen liegen durfte, kann nur mehr ein Wunder an himmlischer Erleuchtung den Zusammenstrom von vielen hunderttausend Feinden hier, vor der allerdings gottbeschützten Stadt, im letzten Augenblick verhindern.«
Bei aller zwitschernden Geschmeidigkeit des Tons bockte diese Rede merklich. Der junge Johann, aus dem mächtigen, vor kurzem noch rivalisierenden Hause der Dukas, hatte von vornherein auf offenen Bruch mit den Kreuzfahrern gedrungen, doch ohne Erfolg, denn Weltkrieg war zu vermeiden. Was lauerte nicht alles sprungbereit zum Einfall: uralter Haß, frische Gier, dauernder Neid an allen Fronten. Da Nachricht unbegreiflich schnell durch Asien fegt, würden eine Woche später, die Bazare von ganz Khorrasan summen mit der Freudenbotschaft, daß sich Christen des Westens und Christen des Ostens jetzt im Herzen von Byzanz wie rasende Hunde zerfetzten. Welch ein Prestigeverlust. Kamen aber die Nationen ganz Europas nun hierher, um dem Großkönig und griechischen Weltbasileus der ganzen Christenheit zu dienen in Gehorsam, welch ein Prestigegewinn.
Leider wollte es noch immer nicht gelingen, Gottfried von Bouillon, den ersten Ankömmling, mit seiner lotharingischen Armee zu kirren, daß er den Byzantinern die Kastanien aus dem Feuer hole. Was ihm so den Nacken steifte, war die Erwartung dreier Heere; besonders jenes der entsetzlichen italischen Normannen. Nur eines war erreicht. Die Lotharinger lagerten seit kurzem in dem Vorort Pera längs des Goldenen Hornes, zwischen diesem Meerarm und der großen Festungsmauer eingezwängt. Vor allem ohne Möglichkeit, sich ohne byzantinische Hilfe zu verpflegen. Alexios hatte ihnen dies Quartier gewiesen, weil sie ihr früheres, die Stadt Selymbria, geplündert und verbrannt; der Herzog, tief beschämt, daß ihm die Leute derart aus der Hand geglitten, nachdem er sich für sie verbürgt, nahm, um die Untat gutzumachen, diese neue Stellung an.
Nach Johann Dukas sprach sein Bruder Michael, Phalangarch in den Normannenkriegen, zum strategischen Problem des Weltkrieges. Wie er siegreich zu bestehen sei, erörterten darnach die Statthalter Kantakuzenos und Butumites, der Großprimiscenius Tatikios Kontostephanos und die anderen Archonten der Flotte.
Alle sprachen – der Einzige hörte zu.
Nun war es aber so, als ginge alles, was gesprochen wurde, doch wieder einzig von dem einen Hörer aus. Nicht, als machte das die Redner überflüssig. Im Gegenteil. Durch die unvergleichliche Weise angehört zu werden, wurde in jedem das Gefühl entfacht, daß so, nur so, gerade so, wie er die stumme Willenswirkung des gekrönten Hörers aufnahm, und bewußt oder unbewußt verwandelt wiedergab, sein Wert lag.
Die kurvenweiche Apsis hinter dem geeckten Mosaikgeflimmer schien ein tiefes, goldenes Götterohr. In ihm saß eine unbedingte Zauberkunst des Zuhörens, entstanden aus jahrtausendealter Imperatorentradition.
Noch immer schwang indes das Pendel zwischen Krieg und Frieden. Bereit zu sein für jenen, blieb Sache der Strategen. Diesen doch noch zu gewinnen, und obendrein den Kreuzzug als neues Machtmittel für Byzanz, war Aufgabe der Psychologie. So kam das Recht der Rede an die Diplomaten, mit dem Logothet vom Dromos an der Spitze, samt seinen besten Herren aus dem Barbarenbüro, denn als Außenminister verwaltete er diese wichtige Abteilung für Völkerkunde, mit geheimem Polizeidienst eng verknüpft. Was nicht dort in den Dossiers stand über jeden halbwegs Prominenten zwischen dem Atlantik und der Wüste Gobi, war nicht wissenswert, ob es bei ihm um Rang oder Verdauung, Inbrunst oder Schulden ging.
Gleich an Gottfried von Bouillon ergab es sich, daß die Experten ganze Arbeit machten. Sie wußten alle seine Körpermaße, kannten sein Gewicht, schilderten wie langsam, blond und riesengroß er sei, indes die Seele oft der Eigenart ermangele. Stelle man ihn in die Schlacht, so sei er tapfer, knie man ihn in die Kirche, sei er fromm. Schuppengepanzert und wäßrig zugleich, wie das Tier Chamäleon, fehle ihm der Feuerstoff im Leibe, darum würde auch der Papst gerade diesen großen Herrn ohne Ehrgeiz am liebsten an der Spitze seines Kreuzzuges sehen, denn Urban II. plane für das befreite Jerusalem den Kirchenstaat, kein weltliches Königtum. Den übrigen Baronen, berstend vor Eigengier, wäre dabei schlecht zu trauen.
Schon gar nicht Balduin von Boulogne, Gottfrieds jüngeren Bruder. Der sollte noch zwei Fäuste höher als der Herzog sein, finster und knochig wie ein Rabe, dabei imponierend schön mit seinem Helm aus stählern schwarzen Haaren über dem todweißen Angesicht. Wer schlaflos vor Egoismus und verzehrt vor heimlicher Sucht nach Frauen, muß wohl blaß sein. Welcher Grund der größere für die Blässe, Weiber oder Ehrgeiz, das zu entscheiden lehnte das Barbarenbüro indessen ab.
Aus dem Kloster hatte ihn wohl sinnliche Besessenheit getrieben, doch erst nachdem der gräfliche Mönch die ganze Hochgelahrtheit von Reims, Liège, Cambrai in sich gesogen. Das gab die große Haltung, über seine angeborene, kolossale Hoffart weit hinaus. Darunter schwülte ein unheimlich gewittriges Temperament. Schlug es durch, dann gründlich, als brutales Habenwollen ohne Maß, doch verbunden mit politischem Scharfsinn.
Die Herren vom geheimen Staatsdienst führten ihn daher auf ihren schwarzen Listen.
Noch nicht darauf stand Raimund von Saint Gilles, Graf von Toulouse, Marquis der Provence, ein unermeßlich reicher Grandseigneur und Leiter seiner südfranzösischen Heeresgruppe, obwohl auch er ein schwieriger Herr schien, infolge übler Säfte. Nach der Lehre des Galenus waren die Humores bei ihm schlecht gemischt; oft und leicht ging ihm die Galle über. Quittenfarben war er, heftig, bauernhaft verschlagen, dann wieder kindlich aufgetan, auch fromm und immer tapfer. Als erster hatte er das Kreuz genommen, in der Hoffnung, deshalb von Urban II. die Oberleitung des gesamten Unternehmens zu erhalten, erhielt statt dessen vorerst nur den Papstlegaten seinem Heere zugeteilt. Wer seine hahnenmäßige Männcheneitelkeit zu nutzen wußte, wickelte ihn spielend um den Finger.
Darum stand er noch nicht auf der schwarzen Liste, wenn auch lange nicht so günstig auf der weißen angeschrieben, wie die Ritter aus Nordfrankreich. Diese waren für den Augenblick wohl saturiert. Ihr Wilhelm der Eroberer lag da, verdaute just ganz England, so machte Robert Courtheuse, sein Sohn, Graf in der Normandie, den ganzen Kreuzzug mehr aus Höflichkeit des noch nicht allzu lange Glaubenstreuen mit. Von ihm und seinem Schwager, dem schwächlich-weichen Stefan, Graf von Blois, schien kein verkappter Überfall zu drohen.
Soweit die Größten dreier europäischer Armeen. Bei der Charakterschilderung von kleineren Herren, all dieser Grafen, Barone und sehr edlen Ritter, wie Isoard de Gap, Gerard de Montpellier, Gaston de Bearn, Dudon von Contz-Saarbrucken, De Stavellot und Esch, die De Forez, De Roussillion und von Oranien, da sank das Interesse im Saal des Konsistoriums merklich. Begann die Analyse auch verschieden, schließlich hieß es doch von jedem dieser Fremden nur, er sei »so geldgierig wie hemmungslos«. Eine nachgerade monotone Silbentropfenfolge.
Auch nach dem wohlgeratenen Seelenbild des Papstlegaten und Bischofs Adhemar de Monteil – um seiner Sonderstellung willen endete mit ihm die Liste – erwartete schon alles die bekannte Formel.
Der Fachmann aber rühmte nur und schloß den Mund.
Befremdet horchten die byzantinischen Granden weiter.
»Über Seine bischöfliche Gnaden von Puis war nichts an Nachteil zu erfahren«, entschuldigte der Logothet vom Dromos seinen Untergebenen, »obwohl wir unsere besten Leute auf jede mögliche Spur gehetzt.«
»Woran wohl niemand zweifelt«, beruhigte jene erste, zeitlos überlegene Stimme ganz nahe von der Apsis her.
»Vorläufig kann ein untadeliger Papstlegat ganz wertvoll als Vermittler wirken, später im fernen Palästina geht uns sein Charakter wenig oder gar nichts an. Um so mehr die Seelenlage der profanen Führer und künftigen Vasallen von Byzanz.
Geldgier ist angenehm bei Feind wie Freund«, sprach der Sebastokrator nach einer Pause weiter. »Immer offen liegt sie zum Gebrauch, so primitiv als übersichtlich. Anders die Hemmungslosigkeit. Zuvörderst darf sie, um zu nützen, nicht ununterbrochen sein. Wenn auslösbar im rechten Augenblick, dann einsetzbar an rechter Stelle, ist sie zu loben, sonst fatal. Keineswegs jedoch genügt die Kenntnis zweier Wesenszüge allein, wie Geldgier und Hemmungslosigkeit, zum vorteilhaften Umgang mit diesen Kreuzherren, da sie doch rundum maßlos, wirr, chaotisch, toll sind. Wo bleibt Verlaß? Was bindet die Barbaren?«
»Das einzige, was sie bindet, ist ein Eid. Denn er ist metaphysischer Natur und ragt ins Unvergängliche«, erwiderte der Logothet vom Dromos. »Nicht daß sie ihn von Herzen halten wollten, noch weniger aber brechen. Ein Ausweg höchstens bleibt: ihn zu umgehen. Der muß gesperrt sein. Dann aber bindet Eid. Wie die Flutwelle irr gegen Irdisches anrennend, dabei doch gleichgesteilt zum Mond steht, so zu der Ewigkeit ihr friedeloses Chaos.«
»Bei ungefähren Kelten mag das stimmen«; bemerkte Georg Palaiolog. »Ob aber bei den völlig außermenschlichen Normannen, gar ihrem Häuptling – –.«
In allen Lungen stand sekundenlang die Luft. Der Einzige im tiefen, goldenen Götterohr hatte leicht die Hand gehoben.
»Wir wissen über Bohemund Bescheid.« Es waren des Kaisers erste Worte. Seine reifen Kastanienaugen in den weißen Schalen sahen, selber undurchsichtig, scharf über die Versammlung weg.
Ja, man wußte in Byzanz Bescheid. Nie noch war das Tausendjährige Reich der Vernichtung so nahe gewesen, wie vor fünfzehn Jahren, als eine unerhörte Menschenart mit hungrigem Möwengeschrei: »Guiscard, Guiscard« – man sah förmlich den gelben Saum aus Gier um ihren Schnabel –, sich auf Illyrien geworfen hatte: Wikinger. Sie nehmen Korfu, erobern Dalmatien, stoßen gegen Thessalien vor, zielen direkt auf Konstantinopel, überreiten alles, Ozeane auf ihren Seedrachen, Kontinente auf ihren Pferden, geführt von zwei Dämonen, einem riesigen Feuerbart, genannt Guiscard, der »Ränkevolle«, und Bohemund, seinem jünglinghaften Sohn.
Später brechen rettende Unruhen in Apulien aus, und Guiscard, der sogar schon einmal Rom erobert hatte und den Papst dort weggenommen, kehrt zurück, denn: »Man soll fremde Länder nicht überfallen«, pflegte er zu sagen, »während man das eigene dadurch verliert.« Das eigene? Nein, uraltes Erbland von Byzanz war dieses ganze Süditalien und von ihm persönlich erst geraubt worden.
Kaum begann man aufzuatmen, kamen sie schon wieder in den Drachenbooten, die beiden großen Figuren, kühner, klüger, siegbesessener als je, mit den neuesten Kriegsmaschinen ausgerüstet und so viel vom »griechischen Feuer«, als sie den Byzantinern abgemerkt, denn das unbegreiflich Schreckliche an ihnen war dieses Tempo ihrer Lernkunst, zur Pracht kam die Frische noch hinzu.
Da, auf Korfu, stirbt Guiscard. Ob an Pest, an Gift bleibt unergründet. Sein Schiff sinkt auf der Heimfahrt, doch die balsamierte Leiche im geborstenen Holzsarg, als neuer Seedrache, schwimmt weiter, großartig, gesetzlos, wild und tot. In Otranto wird sie beigesetzt. Bohemund treibt jetzt allein den Angriff vorwärts. Doch Erbstreit zu Hause, Seuchen, Verrat zwingen schließlich sogar ihn zurück. Und nun, nach zehnjähriger Pause, kommt der lichte Satan zum drittenmal, überdies als Kreuzherr eines Kreuzheeres verkleidet, steht nur mehr einen Tagmarsch von Byzanz.
Seiden knisterten, Metalle klirrten im Mosaikgeflimmer des Audienzsaales. Jetzt mußte die Entscheidung fallen von undiskutierbarer Endgültigkeit.
Doch der Kaiser fängt ganz anders an. Nicht von den Normannen. »Ab morgen, dem heiligen Gründonnerstag«, beginnt Alexios, »hat jegliche Verpflegung des lotharingischen Heeres auszusetzen. Die längstens am heiligsten Karfreitag dadurch ausgelöste Hemmungslosigkeit, eine sehr zeitgemäße, dann auch ortsgemäß gegen die Stadtmauern zu lenken, kann nicht schwierig sein. Die Verteidigung leitet dort mit seinen besten Bogenschützen unser Eidam, der Caesar Nikephorus Bryennius. Ihm ist aufgetragen, die Feinde zu entmutigen, doch auch wiederum zu schonen. Man beschränke sich demnach darauf, ihnen zwischen den Schenkeln die Pferde wegzuschießen, die Ritter selber zu entwaffnen, möglichst wenige zu töten, während ein Armeekorps von der Landseite her das fremde Fußvolk in die Zange nimmt. Die Ausarbeitung dieses Planes liegt bei den Strategen.
Der Hieb soll empfindlich, doch was er schlug, soll heilbar sein. Nur wenn die Schlacht im Gegner weder Hoffnung noch Rache hinterläßt, gilt sie für gewonnen. Die Entmutigung des Herzogs von Bouillon und seines Stabes, gesteigert durch schlechtes Gewissen, den allerheiligsten Karfreitag sinnlos durch Krieg entweiht zu haben, will dann genützt sein. Mit Vorbedacht jedoch. Als wäre nichts geschehen, wird die so oft verschmähte Einladung jetzt wiederholt, er möge mit der Ritterschaft als Gast zu einer Unterredung in den Palast Blachernae kommen.
Gegen letztes Zögern diene noch ein Originalbrief Bohemunds, besagend, daß auch er, zum Treueid bereit, erscheinen werde. Ohne Armee. Allein. Damit fällt die letzte Aussicht auf normannische Hilfe.
Befindet sich die lotharingische Ritterschaft innerhalb der Mauern, dann fährt sofort die Propontisflotte ins Goldene Horn, um, mit des Herzogs Zustimmung natürlich, doch ehe er sich eines anderen besinnen kann, sein Heer an das asiatische Ufer zu befördern, in den Golf von Nikomedien, zwecks leichterer Verpflegung, laute die Begründung, auf daß nicht wieder sich solch bedauerlicher Zwischenfall ereigne.
Der Kurier an den Normannen geht mit unserem Schreiben unverzüglich ab. Die Antwort, daß er kommen werde, trifft also morgen abend ein.«
Würde er denn kommen? Man hörte zwar Absonderliches. Während Lotharinger, Nord- und Südfranzosen wie Tolle sich benehmen, halten die Normannen, diese gefürchteten Eismeer-Hunnen, eherne Disziplin, kaufen, jawohl, kaufen ihre Vorräte an den dazu bestimmten Stellen, und wenn die aufgeregte Bevölkerung aus Rache für früher begangene, unsagbare Greuel Nachzügler mordet, flammen nicht einmal die Dörfer auf. Einmal, als angebliche Petschenegen die Nachhut angegriffen haben, schwimmt Tancred mit seinen Leuten durch den Strom, den Flüchtigen nach, schleppt einige, sie gehören gar nicht zu dem wilden Volksstamm, sind Kaiserliche, vor Bohemund, daß er sie viehisch schlachten lasse. Er läßt sie frei. Zwingt Tancred und die Seinen zum Gehorsam. Diese verbissene, eisige, diese knirschende Disziplin bei sonst so Maßlosen, ist, heißt es, schrecklicher zu schauen als selbst ihr Blutrausch. Der verschlagene Feind scheint diesmal offenbar bestrebt, sich mit dem Kaiser zu verhalten, doch ob so gut, wie Brief und Eid es haben wollen, dafür wären stärkere Zeichen nötig. Besitzt man sie?
Auf ein Brauenzucken aus der Nische hebt Marianus Mavrokatakalon, der kühnste junge Offizier der Flotte, den goldenen Griechenkopf, quer geht ihm durch die Stirn eine kaum geschlossene Wunde.
»Nach Meldungen von heute morgen«, und ein inneres Lachen ist in seiner Stimme, »haben die Normannen, auf Bohemunds Befehl, heimlich geraubte Viehherden der Bevölkerung unter Entschuldigung zurückgestellt.«
Ein Wikinger, der von Beute abließ, freiwillig, wollte sicher eine noch viel größere hierdurch gewinnen. Doch nicht, oder noch nicht auf gewalttätige Art.
»Bohemund wird kommen«, spricht der Kaiser, und hebt das Edelsteinkreuz in seiner Hand.
Eine Gebärde von zartester Großartigkeit entläßt die Granden.
Ein Pferd kommt angeflogen. Dem Reiter scheint, er stürme durch ein immerwachsendes Glorientor aus Licht, obwohl es Nacht ist. Vor Lust nimmt er den Roßbauch tiefer zwischen seine Schenkel, streichelt auf seinem Ärmel verzückt das rote Kreuz. Wo gab es je eine gewaltigere Machtrune? Zwei in bestimmter Art genähte Tuchstreifen, und vor ihnen taten sich Provinzen auf, wo die Phalanx der Legionen sonst jeden Schritt verbot, und Offiziere eben dieser Legionen geleiten gegnerische Reiterei und Fußvolk, daß sie nur ja auf kürzestem Weg ans Ziel gelangen können: die Erzfeind-Residenz.
Fast in Pfiffweite steht schon sein eigenes Heer, er selber aber kann nun den rätselhaften Staatskoloß von innen abtasten, sein geheimnisvolles Sonnengeflecht. Dort hinein der rechte Stoß, und in Ohnmacht stürzt das Ganze.
Vor dem ersten Festungsring holt die kleine Kavalkade den Reiter ein, das Dutzend Normannen unter byzantinischer Begleitung. Bei allem Herzrausch sieht er hirnklar den Winkel, in dem die Türme zueinander stehen, den Mechanismus der Tore, ihr Auseinandergleiten, dann die inneren Bastionen, dreifach gestaffelt. Schließlich traben alle gemächlich, denn hier ist das Tempo polizeilich vorgeschrieben, unter den Straßenlaternen des Villenviertels dahin, halten vor einem Palast, verbunden mit klösterlicher Siedlung. Seidene Pagen neigen ihre roten Lockenperücken, aus dem weißen Atrium grüßt mit römischem Legionengruß eine Gestalt. Hatte der Basileus: Griechischer Großkönig, Kaiser der Gesamtheit, Alexios Komnenos ihm den Erzengel Michael selber zum Empfang geschickt? Die überirdische Person in goldenem Schuppenpanzer und Goldhelm, von dem ein amaranthener Federbusch verströmt, grinst unvermutet, spitzbübisch, verschlagen.
»Guy!«
»Bohemund, endlich auch du hier und – vernünftig.«
Die Halbbrüder hatten sich fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen, seit Guy, der Graf von Conversano, nach einer Rauferei um Geld mit seinem Vater Guiscard vor Durazzo aus dessen Kriegslager in das kaiserliche hinübergewechselt war.
»Ich bin dir zugeteilt als Ehrenkavalier.«
»Gut, ich muß hier alles sehen, alles lernen, alles wissen.«
»Und alles haben«, lächelte der andere.
Nach Begrüßung des Gefolges führte Guy, jetzt höfischer Seneschal, die Gäste in ihre Gemächer. Nach der frühlingskalten Nacht strömte ihnen linde Wärme aus dem geheizten Fußboden entgegen, aus Rosenquarz- und Alabasterampeln an langen Silberketten lindes Licht, wie sie es nie erlebt.
»Bleib noch«, sagte Bohemund zum Grafen, als ein geschmeidiger Äthiopier ihm schon nebenan das Duftbad einließ.
Während später der Masseur die harte, glatte Kraft seines Fleisches löste, sprachen die Brüder den Dialekt der Manche als Geheimsprache miteinander.
»Sind denn lauter durchgebrannte« Normannen hier?« frug der wohlig Ausgestreckte. »Raoul Peeldelau, Peter von Aup, Roger, Sohn des Dagobert, geleiteten mich her. Jetzt erscheinst noch du –« Es klang ohne jedes Ressentiment. Die Hautevilles waren Realpolitiker von je gewesen.
»Lange nicht so viele, als gerne hier sein möchten.« Guy nahm ein Polissoir, glättete seine Nägel, die so schon spiegelten wie Glas.
»Vielzuviel Konkurrenz im Söldnerwesen. Da sind einmal, erbgesessen unter den fünfundzwanzigtausend Mann der Garde, unsere nordrussischen Vettern, die Waräger, Spezialisten im Gebrauch der Doppelaxt. Dann, seit Wilhelm aus der Normandie das Land den Angeln wegnahm, kommen die vielen flüchtigen Angelländer oder Engländer hierher.« Sein Stolz stieg. »Was glaubst du, bis hinauf nach ultima Thule reißen doch die Sagas nicht ab von ›Miklagard‹, dem Wunderreich, wo alles Gold ist, golden selbst der Sold. Ach, daß ich nicht vergesse«, er zog eine Rolle Solidi byzantinischer Prägung hervor und legte sie zu dem seidenen Hausgewand, das den Gebadeten erwartete. »Dieses schickt die Kabinettskanzlei für erste Ausgaben, es gibt hier gar so vieles, was man unverzüglich braucht.«
»Seine Byzantiner sehen aber doch recht gut aus, warum gibt der Kaiser Ausländern das viele Geld, statt alles eigenen Truppen?«
»Das Geld bleibt ja im Inland; keiner, der nicht muß, geht wieder weg; ihr Barbaren ahnt ja nichts vom Leben –. Auch sind fremde Söldner sicherer für die heiligste Person, weil politisch uninteressiert. Wir vermieten unsere Kampfkraft, und mehr als der regierende Kaiser kann uns niemand zahlen, also sind wir treu. Bei Eingeborenen spielt dagegen zu viel Parteiliches, Gefühlsmäßiges mit, was Verschwörungen begünstigt.«
»Und wenn der eine oder andere Umsturz doch gelingt, steht ihr nicht in Gefahr, vom feindlichen Nachfolger dann weggejagt zu werden?«
»Wenn wir loyal den Vorgänger verteidigt haben, nicht. Den jeweils gekrönten Herrscher so lang er lebt, zu beschützen, verpflichtet uns der Eid – nicht aber ihn zu rächen. Ein neuer Schwur dem Neuen, wer er auch sei, und stets zu gleichen Preisen. Nichts könnte sauberer oder klarer sein, übrigens müssen fremde Truppen hier auf ein gewisses Maß beschränkt bleiben, so daß stets eine zahlenmäßig überlegene Armee im Lande selbst, gegen jene ausländische, kann rekrutiert werden. Prätorianermanieren, von denen in den alten Büchern steht, gibt es hier so wenig, wie das, was jetzt die Araber an ihren türkischen Leibgarden erleben. Als vor zwanzig Jahren einer der unseren: der Wikinger Rousselle de Bailleul, von innen heraus derartiges versuchte, hat sich der junge Alexios, damals noch lange nicht Kaiser, die ersten Lorbeeren verdient, indem er ihn gefangensetzen ließ und blendete. Merk es dir: Byzanz ist weise wie Gott und beinahe auch allmächtig.«
»Doch habt ihr Söldner keinen eigenen Boden.«
»Nicht eigenen Boden! Ich werde dich auf meine Güter in Thessalien führen. Zwanzig habe ich, mit ebenso vielen Villen, eigenen Dampfbädern, überall dort schlafe ich auf meinem Grund, jedoch in Betten aus solidem Silber, speise von Gold, schwelge in Parfüm, halte eigenes Orchester, zweitausend Untergebene, einen Marstall. Was heißt denn eigenes Land? War denn die Provinz La Manche oder Süditalien unser eigenes, wenn du ›ursprünglich‹ damit meinst? Wenn ich aber an die sagenhafte alte Ahnenheimat denke, schlottern mir die Kiefer, ein Klima, in dem nicht einmal mehr die Kühe, nur noch Gletscher kalben.«
»Du bist nicht Herr über das kleinste eigene Heer.«
»Auch nicht verpflichtet, es zu zahlen. Soldaten habe ich genug, Macht genug, interessante Feldzüge genug, Beute übergenug, und alles ohne eigenes Risiko. Empfange Löhnung, statt mich in Sorgen zu zermartern, wie ich sie für andere finden soll. Im übrigen bist du ja selbst um solcher Bindung wegen hier, soviel man hört. Natürlich nicht für schlichtes Söldnertum, obwohl selbst Könige und Königsöhne sich um dieses balgen, nein, du, mein Prinz« – er gab ihm den apulischen Titel mehr aus Höflichkeit –, »erreichst weit Höheres in der Hierarchie, du wirst Vasall. Wie all die anderen Kreuzzugsherren auch. Gestern, am heiligsten Karfreitagabend, nach dem verunglückten Scharmützel, hat der beschämte Herzog von Bouillon mit seinen Unterführern schon den erwünschten Eid geleistet. Blieb ihm auch, nach deinem Frontwechsel, nichts Besseres übrig. Zur rechten Zeit der kluge Eilbrief hat dem Kaiser gut gedient.«
Wem von uns beiden er gedient, wird erst die Zukunft zeigen, dachte Bohemund, nickte aber obenhin. Er war zum Sehen, Hören, Lernen hier. Guy kam ins Plaudern:
»Nicht, daß jedes Mißtrauen geschwunden wäre gegen des schrecklichen Robert Guiscard noch schrecklicheren Sohn, wie unsere junge Caesarissa Anna dich nennt, doch die Bewunderung für Letztvollbrachtes steigt unbeschränkt. Früher hast du zweimal den Orient erobert, gut, einmal sogar die Hände an der Gurgel von Byzanz gehabt, schön, doch wie du es vermocht, durch viele Wochen ein Normannenheer in Feindesland vor Plünderung, Brand und Mord zurückzuzwingen, wie jetzt, weiß Gott allein.«
»Es war auch grobe Arbeit. Besonders die Unterführer meiner Politik zu beugen –.«
Guy grauste es ganz leise, als er eine wohlbekannte Linie um das hammerförmige Kinn des anderen sah.
»Das halbe Dutzend arrogantester Empörer habe ich zur Sicherheit mit hergebracht, unseren Schwager Grandemesnil natürlich, den jungen Richard von Salerno, noch ein paar, damit kein Unfug mit dem Heer passiert, indes ich hier bin.«
»Tancred.«
»Der ein Toller ist unter den Tollen!«
»Pariert. Er weiß, ich schicke ihn im Affenkäfig, angekettet mit einem Nasenring, zu seiner Mutter heim, beim ersten Ungehorsam.«
»Seiner Mutter, der Lieblingsschwester Emma.«
Bohemund lag augenblicklich unter dem Messer des Raseurs in einer beleuchteten Nische hingestreckt. Während die überirdische Person im Goldhelm sich unauffällig zurückzog nach der Tür hin, begann sie tastend:
»Es wird geflüstert, dieser Lieblingsneffe Tancred sei seinem Onkel sogar mehr, sei das, was man im pfäffischen Sinn ›Nepote‹ nennt.« – Guy riskierte diese Anspielung, obwohl er wußte, wie das war, wenn dem großen Bruder der Zorn durch den Körper heulte. »Dir wäre eben alles zuzutrauen, meint man.«
Der andere aber wehrte nur gelassen ab: »Warum sollten wir Freie uns selber behindern, doch stimmt es diesmal nicht, Tancred ist leider ein nur allzu echter Eude le Bon, Sohn des albernen Marquis und Gatten. Trotzdem mag ich ihn. Doch lassen wir jetzt Emma und die ihren. Spreche ich morgen den Kaiser?«
»Am allerheiligsten Ostersonntag spricht ihn keiner, doch viele sehen ihn. Ich bin beauftragt, dich nach Sonnenaufgang in den Höchsten Weisheitsschoß: die Hagia Sophia, zu geleiten. Dort feiert die Blüte von Byzanz das Auferstehungsfest.«
Der junge Faltenleger, zart wie eine Frau, hatte den Rasierten soeben mit einer adstringierenden Lotion bestäubt, dann in das leichte Hausgewand gekleidet. Jetzt betraten die Brüder ein kleines, kreisrundes Gemach. Der Gast entschied: »Hier speise ich allein, Grandemesnil, Salerno und die anderen mögen nebenan im Saale bleiben, ich mag sie jetzt nicht sehen.«
Der Seneschal gab die Befehle weiter, verabschiedete sich dann:
»Auf morgen, mein berühmter Bruder.«
Wundervoll war Guy hier in Byzanz geworden. Trotzdem winkte Bohemund nur lässig:
»Genügsamer Halbbruder, auf morgen.«
»Da kommt vom Hof noch eine Überraschung«, ruft der Entschreitende zurück. – »Nun, guten Appetit.«
Eine Prozession erscheint mit ausgewählten Speisen, auf Schüsseln, Tellern, Schalen, aus dem reinsten Gold, ordnet alles, hält Braten und Geflügel über klug ersonnenen Lampen warm, füllt Wein ein, wartet. Die Meldung lautet: »Dem Herrn Grafen Hauteville ganz persönlich von der Heiligsten Majestät gesendet.«
Wohl durch den Duft verlockt, war auch ein Hündchen mit hereingelaufen. Der Beschenkte schaut stumm die ganze Herrlichkeit. Soll sie das Tier versuchen? Das gibt kein klares Bild der Wirkung. Man ist zum Lernen hier. Die Gelegenheit, von byzantinischer Chemie Genaueres zu erfahren, reizt. Mit bestem Gruß geht Gang um Gang an seine unbequemen Unterführer weiter. Es reicht für alle. Wie sagte Guy so richtig: »Nun, guten Appetit.«
Er hat die Dienerschaft entlassen. Geht in den Stall, holt aus dem Lederbeutel bei dem Zaumzeug sein letztes Brot mit Speck, serviert es mit ironischer Verbeugung sich auf die flache Hand, sicherer ist sie als das Gold der Schüsseln, schlingt wie ein Wolf, zählt noch die Rolle Solidi genauestens nach, lacht, wirft sich ins Bett, schläft herrlich.
Welch edel-fürsorglicher Herr«, lobt einer von den Pagen. »Als erstes frug er heute morgen, wie es mit dem Wohlsein der Begleiter stünde. ›Zum Besten‹, konnten wir versichern.«
Hingerissen sieht die Reihe weiter Knabenaugen unter roten Lockenperücken dem Entreitenden nach.
»Bis zum Augusteum kommen wir mit unseren Pferden heute nicht«, meint Guy der Kenner. Gedämpft traben die acht Hufe durch das frische Blumenfleisch auf den bestreuten Gassen, wo nachts noch ein Gemengsel von Kohlstrünken, Fischschuppen und Kamelmist lag.
Brokate streifen ihre Schultern, entrollt von den Altanen, zwischen Gold- und Silberzierat. Bebänderte Standarten, geschlitzte Flaggen strömen, heraldisch ausgezackt, über sternstrahlige Plätze hin. Dann langsamer, im sich verdichtenden Verkehr, führt Guy den Schauenden durch Triumphbögen, vorbei an Kolonnaden, Brunnengruppen, Porphyrkolossen, Obelisken, linksgewundenen Säulen, hoch wie Leuchttürme. Ihre Schäfte sind beperlt mit den Köpfen steigender Relieffiguren. Eine Silberstatue krönt sie. Nun kommen, eines nach dem anderen, die Kaiserforen: das Arkadische, das Theodosianische, die riesige Konstantinellipse. Von Zeit zu Zeit schweben aus dem Frühlingsnebel, wie schwerelos, goldübergossene Kuppeln nieder auf die Stadt. Im vollen Sonnenschein sind es dann an fünfhundert.
Endlich, nach dem ungeheuren weißen Zirkusei zur Linken, mündet die Via triumphalis in den Platz des Augusteums. Er öffnet seine edlen Maße. Es riecht nach warmem Wachs und weißen Rosen.
Guy nennt dem Fremden jetzt das Senatsgebäude, die erzene Eingangshalle zum Heiligen Palast, er aber blickt geradeaus zum Märchentempel, fragt nicht, weiß: die Hagia Sophia ist es, beugt zum erstenmal die Stirne.
Ordnung weist die zwei dann an den Saum des seidenen Menschenteppichs, der den ganzen Platz bedeckt. Obwohl höher als die meisten, fühlen sie von dort, mehr als sie sehen können, wie es sich an vorherbestimmter Stelle vom Heiligen Palast her langsam auftut. Im nächsten Augenblick fegt ein Orkan, aus Silberorgeln losgerissen, den Weltenjubel zum erblauten Firmament, und alle Kreatur gibt Antwort. Von Kreis zu Kreis werfen Singende sich den seraphischen Dreimal-Dreierrhythmus: das »Trishagion« der Auferstehung zu, als Gurren himmlischer Lachtauben, wiegendes Gezwitscher noch unflügger Engel. Die ganze Stadt gerät in Schwingung nach dem Ruf der Seraphim, während Glockenzungen erzen ihn verstärken.
Das, was jene beiden von ihrem Platz nicht sehen können, nur als übermenschlich fühlen, bewegt sich unterdessen stets im Klangkern vorwärts, denn mit ihm wandert jener Stimmenwellengipfel der Verzückung, der niemals abbricht, von immer neuen Kehlen aufgenommen und vorangetragen. Jetzt nähert sich die Klangfigur der Platzesmitte; der Schauende, auf Zehenspitzen, erkennt, wie oben aus fünf Außentüren des Märchentempels die Dalmatiken des Klerus ihr entgegenströmen, sie feierlich umspülen und begleiten zu dem Mitteltor.
Jetzt dürfen die Geladenen in den heiligen Raum, daß er sich zur Begrüßung fülle. Auch bei dem Einstrom geht es sanft und nach der Ordnung zu.
Aus ihren Perlmuttersänften schlüpfen Damen in langen, fittichartigen Schleiern, falten sie wie Flügel, steigen dann, ganz schmal geworden, engel-vogelhaft, zu den Emporen. Der Strahlenraum saugt alles ein. Erst in die Vorhöfe, ganz spiegelnde Erwartung aus Marmor und Porphyr, wo Brunnen in die Onyxbecken springen, dann durch Silbertüren, gekrönt mit Mosaiken, auf denen blaue Pfauen sich eckig neigen vor dem Kelch. Glanzhöhlen tun sich hinter ihnen auf. Wer eingeht in den höchsten Weisheitsschoß, wird einbezogen in durchaus magische Zusammenhänge, wird durchschwungen von jenseitiger Influenz, äußere Welt vertauscht sich ihm mit einer andern, die unvergänglich wächst aus raumzeitlosem Gold, flächig, konkav und schattenlos geworden. Keinem irdischen Boden mehr verhaftet, steigen niemals noch gesehene geniengrüne Pflanzen, Madonnen auf hohen Jünglingsbeinen, Throntiere, Gestirnengel, als neue Schöpfung an den schillernden Glasflüssen der Wände in einer ungeheuren Kuppelkrone aus makelloser Harmonie empor.
Glitzerndstes vom Kristallinischen säumt ihren unteren Rand, zu Platten aufgeschlossen: rosenfarbener Stein aus Phrygien, weißgefleckter und der mit silberglänzenden Adern auf bläulichem Grund. Grüner Stein der Inseln und aus Jasos, goldstreifiger Stein aus Libyen, schwarzweißer Marmor der keltischen Berge, verbunden mit Onyx und Smaragd.
Den ehrwürdigsten Stellen des geweihten Raumes streben überdies noch unaufhörlich Edelsteine zu. Drängen sich als Aureolen um die Häupter der Ikone, haften an Kreuzen, auf Kultgefäßen, am Altar. Saphire schlagen in den Cherubflügeln Augen auf. Ein Viereck aus Rubinen auf dem Rücken einer Silbertaube trägt das Messebuch.
Doch was sind Edelsteine gegen jenen Glanzerguß, der durch das obere Kuppelrund als tauiges Glitzern schwimmt und Paradiesesfrische?
Jetzt geht das Leuchten in die Dimension des Klanges über. Von den Bögen der Emporen lösen sich die Cherubchöre, kreisen durch den Golddom, steigen auf morgenländischen Tonleitern in grellweißen Knabenstimmen dem Wandellosen, Abkunftlosen, Urlichthaften zu, während unten unter gleichnishaften Gesten das Mysterium herabgezogen wird in die Erscheinung.
Nach Augenblicken, oder sind es Stunden, zwischen Traum und Schau beginnt ein Ziehen in immer engere Spiralen hinein nach jener Mitte, über der kronengleich der Lichtdom schwebt. Dort ragt der Ambon, ein Baldachin aus honiggelbem Stein. Unter ihm, umgeben von Weihrauch, Gold und Myrrhe, wird zum ersten Male jener sichtbar, der in seinem ungeheuren Symboldasein an Christi Stelle steht. Abbild des Himmelssohnes.
Noch sind seine Beine mit Leichenbinden aus weißem Flachs umwickelt, die Lenden mit dem Grabtuch. Von den Schultern des Todüberwinders aber fällt bereits der Weltenmantel um ihn her, aus wolkenlosem Gold, wie auf die Schultern wieder aus der Krone in makelloser Reinheit Diamantgehänge niederfallen.
Christköniglich ragt die Erscheinung. Doch niemand kniet vor ihr. Aufrecht am Tag der Auferstehung empfängt, wer einbezogen in die magische Spirale zur Treppe des Ambon gelangt, den Osterkuß.
Nun kommt die Reihe an den Fremden. So hoch in seinen eigenen Schuhen stehend, wie jenes schimmernde Idol auf seiner Purpurstufe, empfängt er die Berührung.
Zwei herrlich ausgeschnittene Augenpaare auf gleicher Ebene treffen sich, ganz nah: die kastanienbraunen und die dämmergrauen.
Es ist Tothaß auf den ersten Blick.
»Zur Ehre und Freude soll es mir gereichen, Eurer Majestät den Eid zu leisten. Deshalb bin ich ja gekommen, freiwillig, fast unbewaffnet, allein. Indessen mag die Kaiserliche Flotte mein Heer nach Nikomedien übersetzen. Dort kann es friedlich neben dem lotharingischen lagern, bis zum Aufbruch nach Jerusalem.«
»Vielleicht nicht ganz so dicht neben dem lotharingischen«, kam die Antwort. »Das würde die Verpflegung sehr erschweren. Auch die neueingetroffene provençalische Armee, sowie die nordfranzösische sollen getrennt auf entlegenere Gebiete in Kleinasien verteilt werden. Byzanz kann solche Massen, an einer Stelle konzentriert, durch das Land ringsum nicht gut ernähren. Gerade das ist aber wichtig. Wie betrüblich hat schon jene kleine Stockung im Nachschub sich unlängst für den Herzog von Bouillon und seine Ritter ausgewirkt.«
»Ganz nach Euer Majestät Entscheid, wir sind hier Gäste. Auch will ich gerne allen Einfluß daran wenden, daß die anderen Kreuzherren sich der byzantinischen Leitung nicht nur willig, sondern dankbar fügen. Anderes wäre Wahnsinn. Ohne das Bündnis mit dem christlichen Osten müßte unser ganzes Unternehmen gleich zu Anfang scheitern.«
Bohemund strahlte, der Kaiser lächelte zurück.
Es wurde fast gemütlich bei dieser ersten, völlig zwanglosen Audienz. Man tauschte unbeschwert Erinnerungen aus, wie an entlegene Knabenspiele, die nichtig seien jetzt, gemessen an dem gemeinsamen, weltverwandelnden Ziel.
Der weitaus Ältere beglückwünschte den Jüngeren zu seiner raschen Auffassung der gegnerischen Kampfesweise; wie er Neues seinerzeit sofort gelernt, und das Gelernte verbessert angewendet habe. Es war, als spräche man nur oben hin von Sandburgen am Meeresstrand. Der Gelobte lehnte bescheiden vieles ab, doch ganz zu widersprechen würde sich nicht ziemen, erzählte aber, wie er bei Larissa allzu übermütig bereits geglaubt, die Strategie der »anderen Seite« ganz zu kennen. Der Ausdruck »feindlich« wurde streng vermieden.
»Ich irrte damals folgenschwer«, ein flüchtiges Erröten floß über seine helle Haut. »Fühlte mich schon allzu sicher. Da treffe ich nun meine Maßnahmen, sitze während der Schlacht ganz frech im Schatten, esse Trauben, bespöttele – Verzeihung – ein besonderes byzantinisches Manöver, das nach der Berechnung unterdessen fehlzuschlagen hat; es war aber ein anderes, mir noch unbekanntes, und gelingt. Die Finte mit dem Zentrumsangriff, wenn Majestät sich noch erinnern können?«
Die Majestät erinnert sich. Man lacht ein wenig. Trennt sich im besten Einvernehmen.
Gleichen Tages zeigt Guy, der Seneschall, ihm eine echte byzantinische Audienz, von einer der zwei Orgelgalerien des höfisch-hieratischen Raumes, denn der Gierige will alles kennenlernen. Hier sieht er auch zum erstenmal die Kaiserin Irene Dukas.
Sie stehen in einer dreischiffigen Basilika des dritten Heiligen Palastes, genannt Magnaura. Der Eingang liegt im Westen. Auf edelsten Perserteppichen geht von dort der Heilige Weg nach Osten, zur Apsis mit dem Doppelthron. Auf ihm, metallisch, starren die Idole: das Allerhöchste Paar. Stumm, geleitet nur durch Zeichen, spielt sich die Pantomime des Empfanges ab. Von zwei Eunuchen in den Achselhöhlen getragen wie auf Flügeln, nähern sich die Angemeldeten, sinken dann zu Boden an drei vorgeschriebenen Stellen, führen dabei die seraphische Gebärde des Sichverhüllens mit dem Ärmel aus, ehe sie, wallende Figuren, eine nach der anderen die Knie der Thronenden umfassen. Da es zu Ende gehen soll, entläßt der Kaiser die Empfangenen mit dem Kreuzeszeichen. Die Hände auf der Brust gefaltet, schreiten sie nach rückwärts aus dem Saal, und der Zeremonienmeister spricht als einzige Vokabel: »Keleusate?« (»Ist's gefällig?«)
»Schön dünkt mich solch ein heiliges Märchenreich«, bemerkte Bohemund verträumt, als sie durch tiefe Gärten weißen Lorbeers weitergingen, »auch das kann man besitzen wollen.«
Guy stand fassungslos. »Du willst geradewegs das Höchste und sagst ›auch‹. Was denn noch weiter?«
Eine Handbewegung weist die Frage ab.
»Doch welch ein Kompliment –«, ein blauer Blitz zuckt durch die grauen Augen, »daß dieser Priesterkönig uns Kreuzherren fast ohne Zeremoniell empfängt.«
»Darauf bildet euch nur ja nichts ein. Für den Priesterkönig seid ihr eben nicht vorhanden, ihr Profanen, nur für den Kriegsherrn und Imperator, denn er ist ja beides. Jene aber«, Guy wies zurück nach der Magnaura, »waren hohe Würdenträger, Männer und Frauen, im himmlischen Reich auf Erden, die soeben für eine Rangerhöhung dankten, was in Worten nicht geschehen kann. Denn hier ist alles gleichnishaft. Darum gibt es viele Formen für Audienzen. Eine sehr erhabene, stumme, sahst du eben. Eine andere wieder, für ganz wilde Völkerschaften, die noch in Bestienhäuten kommen, verläuft mit Prunk und Lärm. Da stehen goldene Löwen auf, groß, wie lebendige, und brüllen, goldene Greife zischen, goldene Vögel singen in einer goldenen Platane auf dem schrecklich eindrucksvollen Weg zur Majestät. Für diese seid ihr nicht naiv genug, nicht kultiviert genug für jene. So entschied das findige Barbarenbüro, man solle euch nur, wenn es unerläßlich, im Heiligen Bezirk empfangen, sonst lieber in der Sommerresidenz Blachernae am Silbersee. Dort seid ihr gar nicht einbezogen in die Himmelsordnung; was auch getrieben wird, verletzt den Rang des Ortes nicht gar viel. Man hat schon seine Mühe mit solch unbequemen Gästen. Kostspieligen auch!«
Sie standen in dem Kuppeloktogon mit vielen Türen. Eine ging auf, und in ein Zimmer, angefüllt mit Geld. Säcke schwer von Münzen solider byzantinischer Prägung, ziselierte Prachtgefäße standen da, edelmetallene Schüsseln und jene heißbegehrten brokatenen Gewänder, golddurchwirkt, aus den thebanischen Webereien lagen ausgebreitet, die niemals für den Fremden käuflich sind.
Der Staunende steht auf der Schwelle. Ballt die Fäuste, schreit:
»Wenn das mein Eigen wäre, wie viele Länder ließen sich damit erobern!« Unwillkürlich ist es ihm herausgefahren.
Zwei byzantinische Herren neigen sich: »Ein Angebinde für den Eid und Euch bestimmt.«
Doch der Beschenkte stutzt. Ist es eine Falle, ihn bei den anderen Rittern als bestochen zu verdächtigen? Unter Dankesworten lehnt er ab. Knirscht mit den Zähnen insgeheim. Auch Guy weiß nichts Gewisses. Zu Hause angekommen, liegt die ganze Pracht schon ausgebreitet im Quartier. Kaiserliche Diener warten noch, die sie gebracht. Bohemund läßt alles wieder in die Koffer aus rotem Maroquin verstauen. Gerade soll es mit auserlesenem Dank zurückgetragen werden, da kommen ein paar Ritter aus Balduin du Bourgs Gefolge zu Besuch. Sie stolpern über manche noch unverstaute Herrlichkeit und nicken.
»So habt Ihr schon die Gaben für den Eid empfangen, wie unser Herzog und auch die Grafen von Boulogne und von der Normandie? Ganz recht, daß man für unsere Dienste hoch bezahlt.«
»Auspacken«, ruft Bohemund und atmet auf. Nun hat er das Gesicht bewahrt und auch die Beute.
An diesem Abend, wie an vielen anderen, ging es im Palast Blachernae her wie in einer Kneipe. Ein sonderbarer Ton hatte sich sehr schnell herausgebildet zwischen den zwei Rassen. War der Kaiser anwesend, so drängten ohne Anstand Hunderte von Rittern in den Thronsaal, ballten sich klirrend um die Allerhöchste Person, denn sie kamen mit den Waffen, was streng verboten war, frugen, hörten gar nicht auf die Antwort, frugen wieder, gingen fort, kehrten um, wenn ihnen nochmals etwas zu sagen eingefallen war, forderten Rat, den sie doch nie befolgten, oder eine Gunst, vor allem aber Geld. Schwatzten, lärmten, daß es von den Kuppeln gellte. Das währte oft von morgens bis lang nach Mitternacht. Dann verfolgten sie den Todmüden, der den ganzen Tag fast nichts gegessen hatte, bis in sein Schlafgemach hinein.
Lauter Dinge, die zu tun ihnen in der Heimat niemals eingefallen wären. Hier aber wissen sie sich falsch am Ort. Wollen sich behaupten. Zeigen nur die Fehler ihrer Vorzüge, fühlen: da wird mit pausenlos geschmeidigen Gebärden hoch über ihre Köpfe weggelebt. Wie Verschwörung gegen ihre eigene Art wirkt schon das Zwitschern fremder Laute. Dieses nuancierte Gleiten, bedeutsame Neigen, gestuft nach unbegreiflichem Gesetz, reizt durch erlesene Höflichkeit.
Und nie ein Wort der Abwehr. Der Kaiser hatte streng befohlen, kein Etiketteverbrechen, was es immer sei, zu ahnden. Wären erst die Eindringlinge sicher drüben bei den Türken, dann mochte sich ihr Jähzorn für Byzanz ersprießlicher betätigen als hier, wo ein Funke, rasch zur Feuersbrunst entfacht, leicht das ganze Reich bedrohen konnte. So blieb der höfische Kreis in sich geschlossen, innerlich wohl zitternd vor Empörung, nach außen aber formvollendet, unangreifbar. Man rügt nicht wilde Tiere, steht gelassen um den Käfig und schaut zu. Die Gäste ressentierten diese Langmut ganz richtig als Beleidigung.
Haß bricht so infernalisch aus, weil beide Rassen an ganz verschiedenen Stellen ihres Werdebogens stehen. Auch das ist Schicksal.
Doch mochten viele aus der Ritterschaft die jetzige Verwilderung gleichfalls wenig. Andere wieder waren unter byzantinischen Bann geraten, wie der weiche Stefan Graf von Blois, des englischen Königs Schwiegersohn, der, wo es Throne gab, gern in der Nähe stand. Besonders aber Monseigneur von Frankreich, Hugo Vermandois, Annas »kleiner Kelte mit dem unaussprechlichen Namen«, strahlte förmlich auf vor Glück. Er konnte es nicht fassen, daß die Kreuzherren den Kaiser, diese Seele von einem Menschen, so lange im Verdacht gehabt, ihn, Hugo Capet, nach dem Schiffbruch gegen seinen Willen festzuhalten.
Von Gruppe zu Gruppe ging er und versicherte, freiwillig nie mehr wegzugehen, bis ihn der Papstlegat mit seinem wunderschönen Lächeln milde an die Befreiung des Heiligen Grabes erinnern mußte als Zweck der Heerfahrt. Dem Herzog von Bouillon riet er, auf »grün« zu setzen, bei dem nächsten Zirkusrennen. Der hohe, stille Mann stand ganz in sich gekehrt, ihn bannten hier die Weihestätten voll Reliquien. So ließ der Kleine von ihm ab, um ein strategisches Gespräch zu stören zwischen Butumites und Robert von der Normandie. Mit den griechischen Würdenträgern stand er schon zum besten, wußte jeden Hofklatsch, nur noch nicht, daß man ihn manchmal und an manchem Ort verschweigen müsse. Interessenten gegenüber rühmte er den Brauch des »Sohlenkitzelns«, wie man ihn hier übe; auf seine Bitte seien einige Künstler dieses Faches schon an den lieben dicken König Philipp nach Frankreich abgegangen. »Unglaublich, wie das anregt«, begründete er die ungewöhnliche Sendung und tauchte unter in der Menge.
Tauchte wieder auf vor Balduin von Boulogne, des Herzogs Gottfried ebenso berühmten Bruder. Der überragte alle außer Bohemund. Hugo Vermandois hätte unter seine Achselhöhle schlüpfen können.
Voll Ärger hob der Graf die stolze Hakennase, schob die Unterlippe bedenklich vor; Monseigneur war ihm zuwider, doch einen Herren mit derartig mächtigen Allianzen durfte man nicht einfach stehen lassen. So schlug er nur den würdevollen Mantel, ohne den ihn niemand sah, enger um die riesigen Schulterknochen. Eine glatte dunkle Strähne fiel dabei in das todweiße Angesicht.
Der andere ließ sich nicht erschrecken, schilderte die Freuden drüben auf dem asiatischen Ufer in den Nachtlokalen schon als vertrauter Stammgast, und seine Gesten wurden immer deutlicher. Es schien ein Tanz zu sein, der ihn begeistert hatte.
Gelangweilt, aber lange hörte Balduin zu.
Plötzlich bildete sich eine Gasse. Kam der Kaiser? Nein, von der andern Seite Bohemund. Es wurde heller. Immer wie im Flug erschien er, nur wie im vogelhaften Streifen eines stumpfen Wassers, das dann aufblitzt. Obwohl gewichtig, fiel seine Gegenwart doch niemandem zur Last. Um den lichten Kopf, die dunkle Stimme scharte sich die Neugier gerne. Mögen andere reicher sein, von älterem Geschlecht, der im braunen normannischen Lederkoller treibt, kaum angekommen, mit Söhnen und Brüdern von Königen, schon was er mag. Wirbt als Bevollmächtigter des Kaisers für die byzantinische Allianz. Der Herzog von Bouillon und seine Lotharinger sind schon ganz gewonnen. Gemeinsam mit dem Papstlegaten, den er sich dadurch verpflichtet, steuert seine überlegene Vernunft dem Wahnsinn, daß Christen bei der christlichsten Mission mit anderen Christen sich verfeinden sollten, während drüben in Kleinasien furchtbar kampfbereit die Türken stehen. Erfahrungslos auf fremdem Kontinent, wie dürfte man die Unterstützung der größten Ostmacht sich vergrämen, um Geringes. Gegensätze auszutragen, nach dem Sieg war Zeit genug dazu. Opferte der Sohn Guiscards nicht selbst die alte Zwietracht solcher Weisheit, indem er dem verlangten Eid sich beugte?
Gab es da noch Gegner?
O ja, es gab sie. Ihm entgegen stand verbissen, wie eine Bulldogge, der mächtige Saint Gilles, Herr der Provence, als offener Rivale. Die Galle schwoll ihm, sprach man nur von Eid. Nicht daß seine eigenen Barone diesem gar so abgeneigt gewesen wären. Doch er erklärte:
»Ich habe nicht das Kreuz genommen, um mir einen neuen Herrn zu geben, noch zum Kampf für einen anderen, als einzig nur für jenen, um dessentwillen ich Land und Heim und Gut verlassen, – meinen Heiland Jesu Christ.«
Dann stellte er sein Ultimatum: Wenn Alexios an die Spitze des Unternehmens treten wolle mit seiner ganzen Macht und das Kreuzheer nach Jerusalem begleiten, würde er ihn gerne als Leiter anerkennen und sich verpflichten, ihm Ehre und Leben zu verteidigen. Worauf der Kaiser sagen ließ, die Weltunruhe rings um seine anderen Grenzen verbiete das. Er könne nicht Byzanz auf unbegrenzte Zeit verlassen. Dabei blieb es.
So versuchte der Normanne wenigstens Saint Gilles zu isolieren, viele seiner Bewunderer abzuziehen, was auch gelang. Dem Verhältnis zwischen beiden Führern war dies nicht von Nutzen.
Bei solchen Kollektivempfängen erwartete Bohemund fast nie des Kaisers Ankunft. Ihm paßte keine andere Hauptperson. Wie immer leicht und doch bedeutsam verschwand er sehr geheimnisvoll. Was mochte da nicht alles vor sich gehen. Gerüchte schwirrten. Man wollte ihn im Heiligen Palast gesichtet haben beim Caesarenpaar oder im Stadtviertel der Schwerindustrie bei den Werften, gar herangepürscht an die verbotene Gegend, wo das weltberühmte »Griechische Feuer« in streng bewachten chemischen Fabriken immer noch verbessert wurde.
Mit ihm war eine große Anziehung verschwunden, die andere noch nicht da. Was ließ denn dieser Kaiser heute derart auf sich warten. Ein seigneurales Rauhbein, breitbärtig, untersetzt, will es ihm einmal zeigen. Niemand weiß so recht, wie alles zugeht. Plötzlich räkelt sich der Freche auf dem Goldedelsteinthron des Basileus. Ehe diese Fremden kamen, hat siebenhundert Jahre lang kein Sterblicher dem ehrwürdigsten Reichssymbol sich je anders als nach dreifacher Verneigung genaht.
Balduin zieht den Flegel am Ärmel auf, verwarnt ihn: es sei nicht üblich, für römische Imperatoren zu erlauben, daß ihre Untertanen oder andere Leute neben ihnen auf den Thron zu sitzen kämen. Besonders aber jene, die der Majestät Vasallen geworden, hätten die Gebräuche dieses Reiches zu respektieren.
Der Zurechtgewiesene murmelt etwas in den Bart von einem aufgeblasenen Popanz mit eigener Sitzgelegenheit, indes so große fremde Herren stehen sollen.
Der Kaiser ist in diesem Augenblick erschienen mit seiner ganzen Suite, sieht den Schluß der Episode. Ahnt das Vorhergegangene. Benützt an diesem Abend nicht mehr den entweihten Thron. Aufrecht spricht er freundlich, hört geduldig zu, wie immer. Läßt sich zu Ende des Empfangs den sonderbaren Gast aus seinem Schmollwinkel herbeigeleiten, fragt ihn, woher er sei, von welcher Abkunft.
»Ich bin ein Franke aus dem reinsten Adel«, grollt der Bärtige zurück, »und weiß nur, daß in dem Land, aus dem ich komme, ein Kreuzweg ist, ein altes Heiligtum daneben. Wer etwas auszufechten wünscht im Zweikampf mit einem anderen, geht dorthin und betet, daß Gott ihm helfen möge. Er wartet dann, ob einer gegen ihn zu streiten wagt. Oft bin ich dort gewesen, einen Kampf erhoffend, doch nie kam jemand hin.«
»Wenn Ihr in Eurem Land noch nie Gelegenheit zu kriegerischen Taten fandet«, erwiderte der Kaiser, »daran soll es jetzt nicht fehlen. Nur möchte ich Euch dringend raten, nicht mit überheblichem Ungestüm die vorgeschriebenen Grenzen zu durchbrechen, wenn es gegen Ungläubige geht. Das könnte übel enden.«
Und er hielt dem Franken wie den übrigen ganz sachlich einen Vortrag über türkische wie sarazenische Kampfmethoden, über Unterschied wie Ähnlichkeit der beiden bei Angriff und Verteidigung.
Von diesem Abend an bekam kein Kreuzherr, außer bei der Eidesleistung, die nur im engsten Kreis der Zeugen und Eideshelfer vor sich ging, mehr einen Thron zu sehen.
Stehend gab er die Audienzen, und währten sie zwölf Stunden lang, obwohl das jenen Preis, den er für ungezählte Feldzüge schon hatte zahlen müssen, ins Unerträgliche verschlimmern half: die Gicht.
»Mein Caesar aber hat von den Zinnen herab seine unfehlbaren Pfeile auf die Barbaren entsandt, wie der homerische Teuker. Er überragte an Kraft gewiß dabei die beiden Ajaxe, ja sein Bogen glich wahrlich dem des Fernhintreffers Apollon.«
Seit dem Sieg über die Lotharinger an der Theodosianischen Mauer hatte man ähnliche Reden schon öfter vernommen. Die Caesarissa Anna trug dabei ihr Häuptchen noch etwas höher als vorher.
»Mit homerischen Vergleichen scheinen wir wohl für die nächste Zeit versorgt«, bemerkte Kantakuzen zu Georg Palaiolog, ehe die Seidentapisserien an silbernen Dreiecken über silbernen Dreieckstangen vor ihnen auseinanderglitten. Es war mit jener sanften Ironie gesagt, wie Männer sie unerreichbaren jungen Frauen gegenüber mehr als Selbstschutz anzuwenden pflegen.
»Mein Caesar« hatte die Äußerung gehört, doch auch in diesem Sinn verstanden. Wohlgemut begrüßte er die Verwandtschaft im intimen Kreis des Musikos.
Durch diese Silben schwang bereits die musische Substanz des Raumes. Vom Boden stieg das kristallene Weiß parischen Steines mit Verde antico und Porphyr verbunden, zu solchem Wohllaut auf, verflimmerte so glücklich im dunklen Gold der Decke, daß für diese, nicht zusammengetragene, vielmehr wie ausgegossene Anmut kein anderer Name möglich schien.
Hier war es gut sein. Und hier war man Gast der jeweils regierenden Kaiserin. Der Musikos gehörte immer ihr. Also jetzt Irene Dukas. Sie saß, den schweren Folianten im Schoß, auf einem Elfenbeinhocker so unbequem wie möglich unter der Gesellschaft. Man sah die erste Dame des Reiches selten ohne theologisches Werk. Das eine oder andere unter dem Arm, erschien sie schon zum Frühstück, was den Kaiser jedesmal verdroß, wenn beide, was nicht oft geschah, die Mahlzeit teilten. Manchmal hoben ihre Augen, die grünen Mandeln glichen, sich aus der Schrift des Heiligen von Mopsueste, um mit Stolz auf Anna, ihrem Wunderkind, zu ruhen. Unter der Ampel schillerte ihr Haar wie Kupferdraht, wenn auch kein Metallstaub in den Wellen lag, wie bei den anderen Frauen. Leider tönte sich ihr chitonartiges Unterkleid nicht günstig ab zum Musikos. Das einzige, außer Harmonie mit diesem Raum, war seine Herrin.
Nüchtern fehlerlos an ihr blieb alles, doch schöpferische Freude an der eigenen Erscheinung fehlte, wie oft bei vielleicht liebenswerten, doch ungeliebten Frauen.
Also ruhten die Blicke ihrer eigenen Mutter auf Irene weniger stolz, als deren Augen auf der jungen Caesarissa. Wie vollendet wirkte im Vergleich Maria Mavrokatakalon, des Caesars Schwester, in ihren koischen Geweben, gehalten von langer Fransenschärpe, und gar erst Annas Schwalbenkörperchen, jetzt befreit von starrendem Brokat, mit den herrlich mageren Füßen in glacéledernen, goldgeschnürten Sandaletten.
Die alte Herzogin von ihrer angenehmen Couch aus, maß die eigene Tochter ganz ohne Vorurteil, begriff es nicht: Man sollte hoch und schön gewachsen sein, noch nicht dreißig Jahre alt, im Ehebett den Kaiser haben – und keine Macht! Eine machtlose Dukas, das hatte es noch nicht gegeben. Anfangs war nichts anderes zu erwarten gewesen von dem ungelenken vierzehnjährigen Geschöpf, steif vor verletztem Stolz, zur Not geehelicht, noch immer nicht gekrönt vom abgeneigten Gatten, bis ihre gesamte Sippe, mit allem Nachdruck der gewaltigen Partei, dies doch erzwang. Auch dann noch blieb die schöne Maria von Alanien, Alexios große Liebe, lange Zeit im Heiligen Palast. Erhielt sie wohl die Kaiserkrone nicht zum drittenmal, behielt sie doch den dritten Kaiser. Nein, von einer Neigungsehe konnte man nicht sprechen, was den Gatten betraf. Jetzt, nach dem endlichen Verschwinden der Alanin hinter Klostermauern aber mußte doch der schönen Gattin Stunde kommen. Doch wie? Alexios schien überbürdet, in Sorgen, sogar Schmerzen. Um so besser. Der Herzogin stets solide Phantasie begann zu planen, wobei ihre eigenen Runzeln der Macht befriedigend verliefen vom Nasenansatz ganz breit zu beiden Seiten abwärts nach dem Kinn, um in zwei Hängebacken zu verströmen.
Der anderen Gespräche lockten wenig. Zwar fehlten heute jene tiefsinnigen Tüfteleien über die zweite Person der Trinität, ihrer doppelten Natur, bezogen auf die unerforschliche Substanz; theologische Erörterungen, die sie wie ein Laster haßte. Dafür fiel zu oft das Wort »Barbar«. Gewiß, die Zaren Großbulgariens, denen sie entstammte, zählten seit dreihundert Jahren zum Orbis byzantinus. Trotzdem zuckte sie noch immer bei dem ominösen Laut.
Marianus Mavrokatakalon, des Caesars Schwager, erzählte eben von dem Seegefecht an der illyrischen Küste, mit dem Transportschiff Raimund von Saint Gilles vor dessen Landung. Nur in der leichten Tunika, ohne langen Mantel oder Rüstung sah man, daß nicht nur sein goldener Griechenkopf von einer kaum geschlossenen Wunde rot durchschnitten war, auch Brust und Arme trugen Binden. Doch seine Herrlichkeit bestand.
Der Admiral, Marianus' Vater, sollte den Provençalen entgegeneilen, um sie nach dem vorbestimmten Hafen zu begleiten. Diese aber, ängstlich, weil sie zum Transport ein bekanntes Piratenfahrzeug geheuert hatten, daher die griechische Flotte meiden wollten, flohen vor ihr in die verkehrte Richtung.
Da erbittet der kühne, junge Offizier von seinem Vater ein paar der raschesten Chalandien, hält auf Saint Gilles' Schiff zu, fährt in seinen Bug und rammt es, springt hinüber, ruft auf lateinisch, hier seien Christen, Freunde, Flucht oder Widerstand daher ein Wahnsinn.
Die aus dem Westen aber fassen nicht so schnell die Lage. Es entsteht ein regelrechtes Schlachtgemenge mit Waffen aller Art. Ein Priester ganz besonders ist so kriegerisch, daß er, als längst schon Ruhe eingetreten, noch immer auf den Zweikampf mit Marianus sich versteift. Nachdem er alle Pfeile abgeschossen, schmeißt er einen Schleuderstein nach jenem. Der deckt sich mit dem Schild; der Schild bricht in vier Stücke, zertrümmert ihm den Helm, so daß der Getroffene taumelt; doch rafft er sich bald wieder auf und schießt nun seinerseits den Priester nieder. Der, schon am Boden liegend, schäumt vor Wut, greift einen Sack mit Gerstenbroten und wirft nun Laib um Laib nach seinem Widersacher. Da sie im Hafen sind, läßt sich der Priester, erwacht aus einer Ohnmacht, zu Marianus tragen, küßt ihn begeistert, protzt: »Auf fester Erde hätte ich gesiegt«, schenkt ihm rasch noch einen Silberbecher und stirbt dann auf der Stelle.
»Blutmenschen sind es«, sagt die Caesarissa angeekelt, »sie atmen Mord.«
Und da man schon bei diesem Thema ist, was läge näher, als die Hautevilles anzuführen, Vater und Sohn. Jene beiden, meint Anna, brächten die Natur sogar aus ihrer Ordnung. Sie selber habe Bohemund drei Tage lang vom Licht der Welt zurückgehalten. Noch einmal muß die alte Herzogin Dukas ihr Planen unterbrechen, denn sie ist Zeugin. Ja, es stimmt. Im Porphyrgemach des Heiligen Palastes, wo die Kaiserinnen gebären müssen, lag vor vierzehn Jahren Irene Dukas. Sie horchte auf die ersten Wehen, sagte aber: »Warte, Kleines, bis dein Vater kommt.« Denn Bohemund ließ im Ringen um Larissa den Kaiser immer noch nicht frei. Die Wehen stocken. Erst nach drei Tagen kommen Alexios und das Kind zugleich.
»Er ist die Weltunruhe in Person, mein Lebensstörer schon vor der Geburt«, klagt Anna.
»Das allerdings bleibt schwieriger verzeihlich als manche andere Untat«, meint Georg Palaiolog, »der Welt drei Tage unsere Caesarissa, die vierte Grazie, zehnte Muse, dottoressa universalis, nicht zu gönnen.« Er liebte solche Übertreibungen eines galanten jungen Onkels.
»Jemand aber sollte unserem Heiligsten Kaiser endlich sagen, er möge dem Barbaren doch keine mehr von den verbotenen Brokatgewändern schenken, denn der Skandal wächst riesengroß«, bemerkt der Caesar.
»Was tut er denn mit ihnen?« fragen alle.
»Verkauft sie heimlich wieder um ungeheure Summen. Scheinbar werden sie entwendet von Dienern, dann heimlich reichen Fremden angeboten, die darauf wie versessen sind, und ihrerseits niedere Zollbeamte zu bestechen wissen, damit die unerlaubte Ware, verborgen im Privatgepäck, passiert. Inzwischen hat Guy, der Halbbruder, mit im Komplott, beim Hafen eine Revision veranlaßt. Alles wird beschlagnahmt und unter Entschuldigungen Bohemund, dem angeblich Bestohlenen, zurückgestellt. Und der verschachert es gleich wieder. Die Käufer der verlorenen Herrlichkeiten aber schweigen weislich und reisen schleunigst ab. Leider ist auch der Seneschall schon Wachs in seinen Händen.«
»Was macht er mit dem vielen Geld?«
»Kauft leichte sarazenische Schuppenpanzer für seine Leute, vor allem aber neues Pferdematerial, Gebirgsponys mit breiter Brust und jenen unirrenden Fesseln, die Roß und Reiter an jedem Abgrund zart vorüberführen. Sie sind schon für die Überquerung des Taurus bestimmt, jenem Gebirgsstock, von dem seine Umwohner sagen, er sei so hoch, daß die Adler das letzte Stück zu Fuß gehen müssen.«
»Immerhin zeigt unser Parvenuprinz schon manchen Fortschritt gegen seinen Vater.« Marianus hebt die rot durchschnittene Stirn. »Der stahl noch Vieh in den Abruzzen, der Sohn stiehlt es zwar auch noch, gibt das Gestohlene aber später unter Entschuldigungen wieder her.«
Jeder kannte diese Episode.
»Viehdiebstahl war noch das Harmloseste bei Guiscards Aufstieg«, begann Kantakuzen. »Später, als er durch Entführung von Kaufleuten genug Lösegeld erpreßt hatte, um in Italien eine Macht zu sein, heiratete er Alberada, Tochter des größten Herrn der Lombardei, eines gewissen Makabeles. Der schenkte ihm ein Schloß für seine Flitterwochen, große Reichtümer, auch Ländereien. Der junge Ehemann aus Gier nach mehr, lockt den Schwiegervater in einen Hinterhalt, da er nicht weiter zahlen will, läßt ihn von seinen Leuten fangen. Auf das ›Mitgiftschloß‹ gebracht, beginnt er ihn zu foltern, um das Versteck von Makabeles restlichem Vermögen zu erfahren. Zieht ihm für jeden verheimlichten Goldsack einen Zahn aus, bis alle draußen sind, wie viele Kauwerkzeuge der Unglückliche vorher besaß, kann ich allerdings nicht sagen. Nachdem kein Geld und kein Gebiß mehr da sind, schlägt er dem Alten zum Abschied noch die Augen aus. Dann ging es imponierend in gleicher Weise, nur ins Gigantische gesteigert, weiter, wie wir aus Illyrien wissen, dort –«
»Gegen die Verbreitung von Greuelgeschichten über Feinde, mögen sie nun wahr sein oder nicht, wäre manches einzuwenden.«
Der Sebastokrator Isak hatte so gesprochen, meist ein »Turm des Schweigens«, wenn ihn nicht die brüderliche Braue bei einem Kronrat aus seiner Stille zwang.
»Meistens entsteht Panik durch sie. Ganze Provinzen unterwerfen sich im vorhinein, weil die verängstigte Bevölkerung, aus Scheu vor Rache bei dem leisesten Widerstand, schwächeren Garnisonen ihren Willen aufzwingt. Ohne das Entsatzheer auch nur abzuwarten, öffnen sich die Tore. Man sei gegen Greuelgeschichten ganz ebenso wie gegen Greuel.«
Und er versank in Stummheit, endgültig, wie es schien. Nun wurde hin und her beraten, ob das Gesagte stimme, oder ob Grausamkeiten auszuposaunen rätlich sei. Die Argumente wechselten. Nicht nur ratsam, sondern unerläßlich entschied der Caesarissa Flötenstimme:
»Es geschieht zur Sicherung der Gesittung.«
»Aber Kind«, brach der Turm sein Schweigen.
Der kühlgrüne April war längst vorbei, da schrieb Anna Komnena über den »Lebensstörer«, die »Weltunruhe«, in ihr Tagebuch:
»War dieser Mann doch, um es kurz zu sagen, ohnegleichen bei Fremden wie Hellenen, sein Name ein Schrecken, sein Anblick eine Augenweide. Ganz schmal von Abdomen und Hüften, breit in den Schultern, mit tiefem Brustkasten und muskulösen Armen, überragte der Barbar an Höhe noch um vieles jeden anderen seiner Art. Was den Gesamtzustand seines Leibes betrifft, so war er weder von Fleisch entblößt, noch mit diesem belastet, vielmehr vollkommen ausgewichtet und gebildet, gleichsam nach dem Kanon des Polyklet. Stark und leicht die Hände, ebenmäßig seiner Füße Tritt. Nacken und Rücken solid. Vielleicht mochte dem, der sich lebhaft für ihn interessierte, dieser Rücken überwölbt oder gerundet dünken, doch nicht so, als ob die Wirbelsäule verletzt gewesen wäre. Nein, es entsprach eben seinem Bau seit der Geburt.
Sehr weiß am ganzen Körper, erschien doch angenehme Tönung im Gesicht. Das gelbliche Haar hing ihm nicht weit in den Rücken hinab, wie bei den anderen Barbaren. Diese lächerliche Mode teilte er mit ihnen nicht, trug es vielmehr in der Höhe der Ohren gestutzt. Von der Bartfarbe kann ich nichts aussagen, denn sein Gesicht blieb wohlrasiert, das Kinn so glatt wie Gips.
Im graublauen Blick lagen sowohl Temperament als Würde, und durch die Nüstern ging der Atem frei, denn er war so hoch beseelt, um ganze Lungenladungen voll Atemluft als Abkühlung zu brauchen.
Zuweilen erschien etwas wie Süße in dem Mann, doch von allen Seiten umstellt von bestürzenden Eigenschaften, weil Rauhes und Brutales durch seinen ganzen Leib verteilt blieben. Sein Geist, vielseitig, ränkevoll, jedem Angriff gewachsen, bot durch wohlerwogene Reden und Antworten nirgends eine Handhabe. So beschaffen in seiner ganzen Größe war er nur dem Kaiser selber unterlegen, sowohl an Art als an Beredsamkeit und den anderen natürlichen Gaben.
Ihre Formung verdankte der Barbar wohl jener Schicksalsgunst, die seine Wiege in das alte Erbland unserer Gesittung: Süditalien stellte. Zwischen griechischen Säulenordnungen, im Wohllaut griechischer Sprache wuchs er auf, trotz verworfener Herkunft.«
Hier zwang sich Anna, aufzuhören. Geschichte mußte ungetrübt bleiben von Leidenschaft, glasklar-objektiv, nach Thukydides, ihrem verehrten Vorbild. Denn worüber sie jetzt schrieb, war sogar Weltgeschehen höchsten Ranges, beurteilt von der Kaiserloge vor zwei Kontinenten, also aus olympischer Höhe, wie man eben für die Nachwelt schreibt. Blieben es auch vorerst Tagebuchnotizen.
Viele Basilissen, Caesarissen, Prinzessinnen von Byzanz hatten gedichtet oder theologische Abhandlungen verfaßt, diese erhabene junge Dame aber fühlte sich, als des großen Alexios Tochter und Vertraute, der Historie zugeboren. Ihres Vaters Taten zu verzeichnen, welcher Ruhm lag näher. Doch Schande durfte sie Thukydides dabei nicht machen durch Herabsetzung der gegnerischen Seite. Nun, diese Schilderung des schrecklichen Normannen saß. Mehr als gerecht, großmütig war sie ausgefallen.
Anna sagte sich: Jetzt aufhören, ehe die Versuchung übermächtig wird hinzuzufügen, wie schamlos, gierig, geizig, zynisch, treulos, arrogant, gewalttätig er ist – ganz und gar unmöglich eben.
Was Anna sich nicht offen sagte aber war, daß eine unbändige Versuchung näherlag, Genaueres über seine Augen hinzuschreiben, nicht nur den »graublauen Blick«. Sie konnten doch in der Erregung aus grauem Samt bestehen mit blauen Blitzen, dann wieder aus steinig starrendem Zorn, oft verdämmernd oder klar wie Eis sein, blausilbern manchmal, endlich ganz Azur.
Und erst sein warmes Haar! Das strömte etwas aus, als ob man Elektron, das honigfarbene Meeresharz, gerieben hätte. Dem Grund des wundervollen Atems, lang wie Ozeanwellen, war sie im Tagebuch schon besser auf der Spur geblieben. Die Schilderung der Nackengegend aber blieb, weil ausführlich, das beste. Nur die Erwähnung der zwei Muskelstränge, nicht etwa wulstige, bewahre, nur eben solche, um die angenehme Überhöhung zu erzeugen, fehlte.
Da fuhr sie auf, schellte jenem Obereunuchen, der dem Badepersonal befahl.
»Das neue schwere Helmmodell ermüdet des Caesar zarten Nacken. Der Exzellentissimus ist aber zu heroisch, das zu erwähnen. So soll man, auch ohne seine Weisung, stärkende Essenzen dort verreiben, heiße Öle vielleicht, das Muskelfleisch zu festigen.«
Nichts wäre leichter, versicherte der Fachmann und verließ, rückwärts schreitend, die Hände auf der Brust gekreuzt, den grünsilbernen Pavillon.
Dem Gartenfest der Kaiserin vor zwei Wochen waren auch die berühmtesten Barone des Westens zugezogen worden, nach dem Herrendiner, das Alexios den Fremden gab, im Triklinios der neunzehn Tafeln, zu zweihundertneunundzwanzig Gedecken, wo man liegend, nach antiker Sitte speiste, ganz von Gold.
Während die vielen zurückgeleitet wurden, durch den überkuppelten Museumssaal zur Erzhalle, vorbei an den prachtvollen Garden in Goldhelmen mit amaranthenen Reiherbüschen, Goldpanzern und blankem Schwert, öffnete den wenigen sich die rosenhafte Steigerung der Gärten, auf jener kühnen Halbinsel, von beiden Meeren, Bosporus und Marmara bespült, zwischen den sieben heiligen Palastgruppen.
Zwei Brunnen sprangen als kristallene Säulen auf einer Lichtung vor blühenden Boskets. Um sie zelebrierten die Minister ihre feierlichen Fackeltänze in durchbrochenen Kostümen, bunte Bandkaskaden an Knie und Handgelenken zu Flöte, Orgel und Gesang.
Auf der Estrade empfing die Kaiserin mit ihren Damen.
Sie glichen der Ikonenwand vor dem Altar. Brokatgeschöpfe, undurchsichtig fremd. Auch die Augen konnten Edelsteine sein. Ein besonders erlesener, offenbar sehr kostbarer Stoff war nur für Hände und Gesicht verwendet: die Haut.
Später freilich, bei dem Rundgang durch die Gärten, sah Bohemund neben sich die hohen, schöngehenden Beine der Caesarissa in goldenen Wickelgamaschen, kaum verhüllt durch das musselinene Unterkleid, während der starre Mantel, mit seinen schräggewobenen Reihen rosenfarbener Sperber und persischgrüner Löwen auf metallenem Grund, hinter dem schmalen Körper wie eine Pfauenschleppe durch das Unterweltslicht des Mondes zog. Der Caesar war mit ihnen. Man traf die anderen bei dem griechischen Statuenwald. Und wie kein Fest und keine Konferenz mit Annas »Kelten« ohne Zwischenfall verlaufen konnte, so auch dieses.
»Unheilig« fand der gallige Saint Gilles die Schau der blanken Leiber, auch gegen alle Christensitte. Dieses Ärgernis stand in der ganzen Stadt auf Postamenten umher, und Fremdenführer priesen es gleich Weihetürmen.
Viele nickten Beifall. »Ja, das stimme.« Der Papstlegat, wie immer, suchte zu besänftigen. Doch der Caesar Nikephorus Bryennius hob sich ab von der Vermittlung. Seine sonst so ebenmäßige Höflichkeit stieg ins Vernichtende.
»Es ist eben unser Ruhm und Stolz, daß wir die ganze Anmut und den ganzen Adel des Heidentums Christo – unversehrt – zu Füßen gelegt haben«, sprach er hoch über seinen Gegner weg, gleichsam schon in anderen Seelenräumen, doch Saint Gilles, wie eine gereizte Bulldogge, ließ nicht locker, frug, ob es etwa auch zum byzantinischen Ruhm gehöre, daß zwei Moscheen sich in der Stadt befänden? Er habe seinen Augen nicht getraut, später hoch weniger seinen Ohren, als ein paar Ruchlose, »Muezzins« genannt, frech von den Minaretts herab die Ungläubigen gerufen, wie zu einer Andacht.
»Vielleicht macht es den Ruhm der byzantinischen Einsicht aus«, bemerkte der Eparch von Konstantinopel, »daß für die Konzession der zwei Moscheen hier zu Byzanz sämtliche Kirchen Jerusalems dem Gottesdienst der Christen offen bleiben dürfen.« Als Stadtpräfekt fühlte er sich durch Saint Gilles persönlich angegriffen.
»Hat ein Glaube bald fünfhundert Jahre lang bestanden vor Gott, so kann man ihn nicht ohne weiteres mehr Unglauben nennen«, ergänzte Butumites, der Statthalter gewesen in vielen gemischtgläubigen Provinzen. »Die größte Schwierigkeit bleibt nur, diese reinen Monotheisten von der Überzeugung abzubringen, wir Christen trieben Vielgötterei, durch unsere Lehre von der Trinität.«
Hier schauderte den Kreuzfahrern so sichtbarlich, daß Kantakuzen vom Religiösen aufs Politische überlenkte, durch seine Mahnung, die edlen Sieurs möchten doch dem weisen Rat des Heiligsten Kaisers ehestens folgen und mit der Fatimidendynastie zu Kairo sich verständigen, mindestens vorderhand, solange man dort das wahre Ziel des Kreuzzuges noch verkannte, und Syrien statt Palästina dafür hielt. Er schloß:
»Die Gegensätze zwischen Seltschuktürken und Sarazenen sind heute größer als zwischen diesen und uns. Ein Bündnis könnte daher beiden Teilen nützen.«
Die »Sieurs« aber verließen den Heiligen Palast noch tiefer überzeugt vom Ketzertum dieser verruchten Rasse. Und wenn es so um sie bestellt war, durfte man dann den tiefsinnigen Leisetretern, den Liebäuglern mit dem Glaubensfeind ihre unvergleichlichen Reliquienschätze länger lassen? Schien es nicht Pflicht, den Heiligen Hort, Kreuz, Schweißtuch, Mantel, Nägel, Schwamm, all die wundertätigen Gebeine in den juwelenen Reliquarien wegzuretten? Leider ging dies ohne offenen Krieg nicht ab. Das ganze Volk stand Wache. Tag und Nacht. Die ersten zügellosen Horden Peter des Eremiten im Jahr vorher waren schuld an diesem Mißtrauen. Zwar durften die Kreuzfahrer an den Heiligen Stätten beten, doch nur in kleinen Trupps, damit es nicht zu Unruhen käme. Dabei rottete sich der Argwohn immer wieder um den Herzog von Bouillon, der ihn am wenigsten verdiente. Doch er kniete eben so verdächtig lange in den Kirchen. Wenn alles bei der Mittagsmahlzeit saß, konnte man ihn oft, noch ganz versunken, vor einem Schrein erblicken, rechts und links seine Kaplane. Vergeblich mahnten sie mit aufgehobenen Händen, die Suppe werde kalt, während hinter Säulen alte Weiberaugen das Tun der fremden Teufel überwachten.
Monseigneur indessen, an Lebensart schon völlig byzantinisch, verbrachte viele Stunden täglich in den Bädern des Zeuxippos. Am Ende der wohligen Wasserorgien ließ er sich, unter der berühmten Statue der Trojanischen Helena und zu ihr aufblickend, von schönen Knaben massieren, die man »delicati« nannte. Hier war der Treffpunkt aller besseren Leute. Auch wer eigenes Dampfbad hatte, kam für Neuigkeiten her. In diesen glücklichen Tagen erzählte Monseigneur auch jedem, der es hören wollte, von seinen glücklichen Nächten in Chalcedon. Dort auf den Rummelplätzen gab es eine neuentdeckte Tänzerin von wilder Herkunft zu bestaunen.
»Ja, Kurdinnen haben leichte Füße«, bemerkte jemand aus dem Kreis.
»Was Füße!« Hugo von Vermandois lehnte diese Gliedmaßen verächtlich ab. »Was Füße!«
»Sie tanzt doch mit dem Bauch. Rings um ihren langen, zarten, virtuosen Bauch steht sie ganz still, ganz nackt und hält ein Schwert. Das macht wie toll. Hält dann die Männer ab. Mit blanker Waffe, sobald sie vorwärtsstürzen. Immer wieder.«
»Wohl die einzige Möglichkeit, wie der von vorn zu einem Schwerthieb kommen kann«, flüsterte ein junger Offizier nicht eben leise.
»Zum Schluß verschwindet sie in dem Kamelhaarzelt und überläßt dem Unternehmer, das Geschäftliche zu ordnen. Ich nehme diese Frau mit mir auf unseren Kreuzzug.«
»Wird sie denn wollen?« meinte ein Kenner der Verhältnisse.
»Fragt man da lange. Solche Weiber werden zu dem Troß geschafft, je nach Bedarf.«
»Hier kaum.« Auch andere Byzantiner nickten. »Eine Prostituierte ist eine freie Frau und kann zu nichts gezwungen werden: die Gesetze in diesen Dingen sind noch von den Zeiten Theodoras her, der Mitregentin Justinians, recht streng.«
»Dann bleibe ich«, entschied der Kleine ohne Zögern. »Seine Majestät der Gnädigste aller Kaiser wird mir dazu verhelfen.« Und er goß Lob und Preis über Alexios aus, wie immer.
Ganz anders Tancred, Bohemunds Neffe, der zur Berichterstattung nach Byzanz beordert worden war.
Anfangs suchten seine Augen in der Höhe nach Stellen, wo an den Kirchen Kreuze und Engel spitzig werden sollten, wie das jetzt in Frankreich üblich, nach Dämonischem unten, nach Fratzenhaftem an den Wasserspeiern, mit dem man kämpfen konnte. Doch was hier gebaut stand, ließ durch Bestimmtheit und Glätte seiner Kurven ihn die eigenen Instinkte nicht herankommen. Mit Sternstoff übergossen senkte sich von oben Form hernieder zu Ideen, die er nicht besaß.
Erst im Gewühl der bunten Menge begann er aufzuatmen.
»Hier stinkt es wenigstens nach Leben«, war sein einziges anerkennendes Wort, als alle drei, Bohemund, Guy und Tancred von der »Mesa« aus durch die entfernteren Bazare ritten, wo Stoffe, Harze, Pelze, Drogen, Früchte, Menschen, Tiere aller Kontinente durcheinanderrochen, gut und schlecht, wild, milde, raffiniert und schamlos.
»Was aber die Paläste, Staatsgebäude, Hofkapellen füllt, diese zwitschernden Männer, eingefroren in ihrer Goldhaut, das hat kein Blut mehr, nur einen gespenstischen Saft im Leib.«
»Kommt deiner viehischen Jugend nur so vor«, sagte Bohemund, nicht ohne Wohlwollen.
Drei Tage später erschien er, in seiner ganzen unflüggen Länge, während ihm die Kleider mürrisch um die Glieder fetzten, und verkündete:
»Verenden würde ich vor Ekel, wenn man mich hier vier Wochen bleiben hieße. Ich vertrage diese Byzantiner nicht, Floskeln fließen ihnen aus den Mündern, wie den Pferden der Rotz aus der Nase.«
»Auch die Byzantinerinnen magst du nicht?«
»Gespenstische Puppenskelette in Brokat.«
»Stierkalb.« Diesmal hatte Guy gesprochen.
Nach einer weiteren Woche klagte Tancred: »Ich kann hier nichts von mir selber benutzen, und anderes mag ich nicht. Laß mich zurück zum Heer, nach Nikomedien.«
Bohemund nickte. »Leiste dem Kaiser den Eid, dann geh.«
Da geschah das Unerhörte. Der Junge weigerte sich, zu gehorchen. »Ich bin dein Mann und keines anderen; wie Saint Gilles dem Heiland dient, so dien' ich dir.«
Eine Szene folgte von flammenartiger Heftigkeit. »Du kannst mich töten, doch dem Alexios werd' ich nie Vasall«, rief der Verzweifelte. Man kam nicht weiter.
Guy fürchtete das Schlimmste, zu vermitteln hatte er schon aufgegeben. Am Ende flehte Tancred: »Jedes Eigenleben gebe ich auf. Jeden Mann, wenn du es haben willst, nehm' ich zum Feind, jede Frau, die du mir schickst, nehm' ich zum Weibe, unbesehen, nur die verhaßte Bindung spar mir.«
»Gut, wenn du das schwörst, ist dir der Eid erlassen.«
Ganz Dankbarkeit und Jubel fuhr Tancred in den Golf von Nikomedien zur Armee.
»Sehr günstig, daß einer von uns beiden völlig frei bleibt von der griechischen Allianz.« Bohemund war bester Laune.
»Wozu dann diese Szene mit dem armen Buben?«
»Ein Scheinsieg über meinen Willen macht ihn auf lange zahm vor Glück. Und seine Unterwerfung in allen Weibersachen kann für die Zukunft wertvoll werden. Wer weiß.«
Alexios, der Weltherr, hatte unterdessen böse Zeiten. Er war erschöpft, zu müde fast zum Atmen. Was Wunder, seit Monaten keine Entspannung. Sogar die eine Stunde Sport in guter Luft fiel aus, die ihm so nötige; seine Mühen wuchsen rießengroß. Er schlief allein jetzt draußen in Blachernae, statt im Heiligen Palast. Vielmehr er schlief nicht, Schmerzen zerrissen auch noch jene kurze Ruhepause zwischen erstem Hahnenschrei und Sonnenaufgang, dann folgten wieder Konferenzen mit immer anderen Menschen. Gicht schwoll ihm in den Füßen, und gar nichts half.
Eines Nachts ging selbst seine, fast unbegreifliche Geduld zu Ende. »Sohlenkitzler«, nein, er brauchte keine. Niemand sollte ihn berühren. Fort mit den fremden Händen. Auch die Ärzte wies er weg. Allein sein wollte er; lag nur und litt. Da öffnete sich eine Türe. Wen hatten seine Garden durchgelassen? Irene war es, die Kaiserin. Auch das noch. Was trug die Frau im Arm? Natürlich irgendeinen Kirchenvater. Sechs Kinder hatte sie in mädchenhaftem Ungeschick von ihm empfangen, doch ohne mädchenhaften Charme. Und er verlor durch diese Ehe Maria von Alanien. Worte wie: der Heilige von Mopsueste, eheliche Pflicht, kreisten ihm durch das umwölkte Hirn. Irene öffnete ein wenig die weißen Arme, nachdem sie Festgeklemmtes dort entfernt; es waren sonderbar gewundene Binden aus aromatischer Pflanzenfaser. Ihre alte bulgarische Amme rollte unterdessen ein Salbentischchen herein und ging.
Ganz sanft, wie ungefähr begann Irene ihren Dienst an seinen Füßen, wich erst gleitend den bösesten Stellen aus, schmeichelte auch diese dann zur Ruhe mit linden Ölen unbekannter Mischung. Schließlich, nicht zu fest und nicht zu locker, umrollte sie mit den essenzgetränkten Streifen die Beine bis zum Knie, mischte ihm einen Trunk und wollte sich entfernen, wortlos. Er aber hielt sie dankbar fest, schlief brüderlich an ihrer Schulter ein, vertraut wie niemals. Die Kur nach alten bulgarischen Rezepten, von Irenens Mutter ausgeheckt, bewährte sich, so daß die Kaiserin den Gatten auch bei Tag betreuen sollte, für jeden freien Augenblick bereit sein, die geheimnisvollen Binden um die geschwollenen Füße zu erneuern, wobei man unvermerkt auf vieles, was das Reich betraf, sehr klug zu reden kam. Alexios staunte, und Irene blühte auf.
Anna, die bisherige Vertraute, trat zurück, fast ohne Eifersucht. Ihr verzehrender, manischer, ausschließlicher Ehrgeiz war ja am besten in der Mutter Hut: die Thronerbschaft. Mit Irenens Einfluß stieg zugleich der ihre. Auch langweilte sie Gicht, wie alle jungen Menschen; jetzt gab es andere Aufgaben, als feucht zu wickeln, etwa die Überwachung Bohemunds. Staatspolizei genügte offenbar da nicht. Nach dem Gartenfest beschloß die Caesarissa also selber einzugreifen. Verbrachte die »Weltunruhe« ein paar Stunden täglich im Heiligen Palast, so waren Arsenal und Munitionsfabriken so lange vor ihm sicher. Wohl schien es auch in Gegenwart von Hofdamen und Eunuchen für eine »porphyrgeborene« Prinzessin ungewöhnlich, einen Mann, der nicht verwandt, anders als in Audienz zu sehen, doch die Zeiten waren eben ungewöhnlich.
»Mein Caesar« stimmte zu. Ihm lag daran, genauer zu beobachten, wer von den eigenen Granden dem fremden Bann verfallen könnte – nur eben könnte, nicht mehr; bei wem im Gegenteil der tiefe Grundhaß sich noch bis in die Spitzen der Persönlichkeit verzweige. Nur das verbürgte jenen zähen Furor, auf den alles ankam, ging es einmal ums Letzte. Marianus Mavrokatakalon, der kühne, schöne Seeoffizier fühlte so und Kantakuzen, der fürstlich-erfahrene Stratege, das war gut. Man würde gerade ihre sich ergänzenden Begabungen bei einem möglichen Zusammenprall mit dem Normannen in Flotte und Armee einsetzen können, dann würde die Entscheidung schneller fallen.
Der Großprimiscenius Tatikios allerdings sah oft mit einem ungewohnten rosa Lächeln im gelblichen Gesicht dem Strahlenden nach. Ja, gerade der große Tatikios, sonst die Vorsicht in Person, hielt von des Fremden Urteil viel. Der Caesar wollte das dem Kaiser melden; ändern würde sich ja nichts an dem Entscheid, gerade das Armeekorps Tatikios den Kreuzfahrern nach Syrien mitzugeben, teils zur Unterstützung, mehr zur Überwachung, dann Übernahme wiedergewonnener Gebiete im Namen von Byzanz. Die Treue des bewährten Kriegseunuchen war indessen so erprobt, daß er nie anders als zu Alexios Vorteil nach bestem Wissen würde handeln wollen.
Sein Kollege Cymineanus hingegen, Archont der Flotte, übersah den Eindringling geflissentlich. Butumites der Statthalter wieder ließ seinen neuen Schüler in östlicher Politik etwas zu rasch die Situation erfassen, zwischen Seltschukiden, Orthokiden, Danischmenditen und ihren Emiraten oder den Sultanaten von Mossul und Bagdad, auch wie man die Interessen der Armenier gegen sie benützen mußte, denn Türken und Armenier verabscheuten einander wie niemals noch zwei Rassen. Weniger gründliche Unterweisung, meinte der Caesar, hätte auch genügt. Trotzdem war es gut, daß einer dieser Ritter wenigstens nicht ganz so hirnlos in den Hexenkessel Asiens tappte. Bryennius dachte keineswegs daran, seine Beobachtungen auf sämtliche Hochbeamtete im »Heiligen Palast« zu erstrecken. Doch von dem, was sich zwischen dem Bedrohlichen und jenen Granden anspann, die unmittelbar an der praktischen Auswertung des Kreuzzuges beteiligt waren, entging ihm nichts. In die Männer, allerdings nur in diese, sah er tief.
Er selber lehrte den verbündeten Feind das Polospiel. Oft wieder besprachen sie Gemeinsames ganz umgänglich zusammen. So die Frage der Chronisten.
Beiläufig ließ Bryennius eine Bemerkung fallen, die Kreuzherren hätten sicher schon dafür gesorgt, daß zuverlässige, schriftkundige Personen sie begleiteten, um ihre Taten bei der Befreiung des Heiligen Grabes wahrheitsgemäß und nach Gebühr der Nachwelt zu bewahren.
Bohemund bestätigte es. Soviel er wisse, sei der Kriegschronist für Lotharingen Albert d'Aix. Die Provençalen hätten ihrerseits einen gewissen Raimund d'Agiles zu diesem Zweck bei sich. Foucher de Chartres schriebe wohl besonders für die Herren aus Nordfrankreich: Robert von der Normandie, den Grafen von Blois, nebst ihren Baronen, viel zu schreiben würde es da zwar nicht geben.
»Und wie heißt, wenn es erlaubt zu fragen, jener gewiß wohlgewählte Vertrauensmann, der Eure und Eurer Normannen Taten verkünden darf?« erkundigte sich Bryennius.
Bohemund lachte.
»Der heißt gar nicht. Er soll ein ›Anonymus‹ bleiben. Ahnt keiner, wer und was er ist, so sind die übrigen Kriegschronisten gar nicht auf ihrer Hut vor ihm. Leicht läßt sich dann erfahren, in welcher Art verleumderische Gegner über mich und meine Leute ihre Lügen kritzeln, der ›Unbekannte‹ kann alles in seiner Chronik, scheinbar absichtslos durch Gegendarstellung im vorhinein entkräften, weiß er, wohin der Angriff zielt.«
»Ein merkenswerter Einfall«, meinte Bryennius. »Euer ›Unbekannter‹ wird das wohl auch unserem Historiker gegenüber bleiben wollen in Tatikios Heer, doch seinerseits dessen Berichte sicher auskundschaften. Vielleicht könnte man ihm bedeuten, sich bei abträglichen Stellen über Saint Gilles der byzantinischen Behauptung fast wörtlich anzuschließen. Zwei voneinander so unabhängig tadelnde Berichte aus getrennten Lagern machen immer Eindruck. Was diesen überheblichen Provençalen anbetrifft, sind wir ja einer Meinung. Ich wiederhole, ein merkenswerter Einfall, dieser ›Anonymus‹. Selbst Byzanz kann von Euch lernen.«
Mehr lernte Bohemund von Byzanz.
Er nahm Wissen auf durch alle Poren. Es kam ihm wie angeflogen, mühelos. Er lernte die großartigen Kleinigkeiten: Titel, Grade, Gebärden, Zahlen, Töne unterscheiden, aus denen sich die unvergleichliche Staatspyramide des Gottesreiches baute, so zart wie fest.
Jeder Einbezogene wurde durch das Ritual des Amtes pausenlos verspannt in jenseitige Zusammenhänge, denn jeder Rang entsprach einem kosmischen Grad. Nichts blieb gleichgültig, was Form betraf, weil sie Symbol von etwas Höherem war, und auf die Regelmäßigkeit im Umgang mit dem Ewigen kommt es an. Er lernte die Durchleuchtung jedes Dinges mit Bedeutsamkeit, so daß allein der Purpur in vierzehn Abstufungen sich tönte, von denen nur der hyazinthfarbene Oxyblatus den kaiserlichen Kultgewändern vorbehalten blieb. Er lernte, wie auf besonders belichteten Stellen der Hierarchie auch besondere Träger von Weihegewalten standen, die »engelgleichen Eunuchen«. Nicht verminderte Männer, wie der barbarische Westen glaubte. Kunstreiche Praktiken alexandrinischer Ärzte, Unterbindungen im Verein mit Geheimübungen aus Chinas Weisheitsschatz, lenkte ihren Lebensstrom nach innen und wandelte ihn dort zu Geist. »Das Mühlrad umstellen« oder »die Wasser nach aufwärts fließen machen« hieß das in uralter Bildersprache.
Wiederkehrend aus halb mystischen Gebieten, erfuhr er dann zum erstenmal, was Kolonisation bedeute. Man erobere, um zu verwalten, war hier das Losungswort. Der Löwe Guiscard wußte nur von Anspringen, Zupacken, Überwältigen.
Auch das nahm er noch auf in die Spannweite seines Wesens, verstand es so wunderbar gut, sich Zeit wie Gelegenheit anzupassen, ohne eigenen Substanzverlust.
Und noch etwas erkannte er: Wer diesen herrlichsten Thron der Welt zu eigen hatte, den hatte auch der Thron zu eigen und wurde sein Gefangener. Schlichtere Gespräche über Menschen ergaben sich zumeist mit Guy.
»Was immer es mit diesen verkehrten Mühlrädern und aufwärtsfließenden Wassern auf sich haben mag«, meinte er einmal, »der große Tatikios scheint mir eine traurige Kamelkuh. Wie kann Alexios bei seiner Welterfahrung gerade ihn zwischen uns Kriegslöwen stellen, mit dem Armeekorps?«
»Gerade seine Legionen gehören zu den besten, gib dich da keiner Täuschung hin, und auf höhere Strategie kommt es ja diesmal wenig an, nur auf die Treue. Darin aber hat der große Tatikios sich bewährt. Persönlich eher feig, entwaffnete er mit bloßen Händen Nikephorus Botaniates, des letzten Herrschers Sohn, als der Alexios im Bade ansprang mit dem Schwert. Das wird ihm der Kaiser nie vergessen.«
»Wer ist, vielmehr war, Botaniates? Nach dem Vorfall dürfte er nicht mehr am Leben sein?«
»Doch, er lebt, nur augenlos. Selbst seine ungeheuren Besitzungen, halbe Königreiche, wurden diesem Liebling des ganzen Kaiserhauses sehr bald zurückgegeben, denn man wußte, nur für Maria von Alanien wollte er den Thron, nur als der dritte ihrer gekrönten Gatten. Das aber kann Alexios gut verstehen. Erst nach dem dritten Attentat vor wenigen Jahren ließ ihn der Kaiser endlich blenden. Jetzt sitzt der Verzweifelte in seinem feenhaften Palast, einsam, geht nicht zu Hof, will nichts von Versöhnung wissen. In ewiger Finsternis nährt er seinen Rachehaß gegen Alexios, so heißt es wenigstens. Sicheren Bescheid weiß niemand, denn keinen läßt er vor. Damals verschwand auch Maria von Alanien in ein Kloster. Die Beweise ihrer Mitschuld waren nicht mehr zu vertuschen. Doch ist ein Kloster hier nichts Arges. Viele enthalten villenartige Gebäude mit jeder Bequemlichkeit für Stifter oder hohe Halbgefangene in Ungnade.«
»Wer und was ist Maria von Alanien, wie sieht sie aus?«
»Beschreiben kann sie niemand. Wer sie ist: eine kaukasische Prinzessin aus dem Bergvolk der Alanen. Was sie ist: verheiratet mit dem byzantinischen Thron, nicht mit dem Mann, der auf ihm sitzt, der bleibt nur Mittel. Jeder weiß es, und doch, ihr nichts zu sein als nur ein Mittel, ist jedem lieber, als alles einer anderen Frau zu sein. Daher die vielen Attentatsversuche. Bei jedem Umsturz – du weißt, es gab während des großen Türkeneinbruchs auch innere Unruhen –, erhielt nur die Alanin sich als Kaiserin, während die kaiserlichen Gatten wechselten. Bereitete sich der Sturz des einen vor, war der Nachfolger schon tief in ihren Zauber eingesponnen. Auch Alexios, nachdem er Botaniates zur Abdankung gezwungen, hätte sich mit Freuden ihretwegen von der linkischen Irene scheiden lassen, doch die Dukassippe war zu mächtig. So sprang eben der Sohn des Botaniates später Alexios an, stets in Abständen von mehreren Jahren, doch immer mit dem einen Ziel, ›Mittel‹ zu werden für Maria von Alanien.«
»Dann kann sie nicht mehr jung sein.«
»Doch. Wer aber frägt darnach? Maria ist eine herbstzeitlose Frau. Überall so vollendet, daß die Zeit nirgends eine schwache Stelle findet, um ihre Kralle einzuhaken.«
Die Barone hatten einer nach dem andern schon Byzanz verlassen, um sich und ihre Heere für den heiligen Krieg bereitzumachen. Bohemund blieb noch auf des Kaisers Wunsch und regelte mit ihm die Versorgung der Truppen an Vorräten, besonders Kriegsmaschinen, denn seine Gabe zu organisieren, war unleugbar. Beide wollten dann gleichzeitig aufbrechen, der Kaiser nach Pelekanus in Kleinasien zur byzantinischen Armee, die eigene Aufgaben hatte, der Normanne zu der seinen. Dann sollten nahe der türkischen Grenze die vier Kreuzheere sich treffen, um gemeinsam gegen Nicäa zu ziehen, ihr erstes, feindliches Ziel.
Wie stets vor wichtigen Ereignissen war jetzt die »gottbeschützte Stadt« ganz Andacht. Strahlende Standarten der himmlischen Strategen Sankt Michael und Theodor stießen durch das Sommerblau. Noch hoch über sie hinaus stieg klingend die Mutter-Gottes-Hymne, das Kriegslied von Byzanz: Die Hodigitria, zum Preis der Unüberwindlichen Mutter, »Sie, die zum Sieg führt«, klarer Meerstern auf der Mondessichel. Jede Woche stand die Masse wie ein Block im Heiligtum unserer lieben Frau von Blachernae und wartete auf das Freitagswunder, ob sich das Gnadenbild entschleiern würde, was als gutes Omen galt.
Selbst vor den sonst verschlossenen höchsten Heiligtümern in den achtundzwanzig Kirchen und Kapellen des palatinischen Raumes durften, um des großen Unternehmens willen, Bevorzugte nun knien. So erfuhr Bohemund, daß auch die Heilige Lanze sich hier befand, Ehrwürdigste aller Reliquien, denn sie hatte ganz tief im Göttlichen Leib sein Blutwasser geschmeckt. Unausschöpfbare Kraftreserven lebten verlarvt in diesen goldenen Dämmerungen des Heiligen Palastes.
Auf dem Rückweg von der Andachtsfeier kamen dann die Halbbrüder zu einem abgelegenen Saal des nicht mehr bewohnten Daphnetraktes. Eine ungewohnt verstärkte Wache vom inneren Dienst, die Doppelaxt geschultert, ließ nicht einmal den Seneschall passieren, vielmehr nur heran bis an den Vorhang. Durch dessen Spalt sahen sie in etwas wie ein prinzliches Schulzimmer hinein. Ein kleiner Knabe von acht oder neun Jahren saß auf einem Thron, die roten Schuhe der Macht an seinen Füßen.
Vor ihm hielt der gelehrte Eunuch einen ungeheuren purpurnen Folianten mit Goldschrift aufgeschlagen. Guy bedeutete, dies müsse das viele tausend Seiten starke Zeremonienbuch sein, die Bibel der Bräuche. Einige Sekunden herrschte Schweigen.
»Mit welcher Formel setze ich den Patriarchen von Konstantinopel ein?« frug dann eine Kinderstimme vom Thron herab, »ist die segnende Begrüßung recht so?«
Und tiefernst beschrieb die kleine Hand mit dem Edelsteinkreuz eine wundersame Luftfigur.
Der Eunuch verbesserte kaum merklich. Bohemund erinnerte sich, den Knaben einmal auf der Palästra mit seinem Trainer flüchtig gesehen zu haben. Die Caesarissa hatte weggeschaut und auf seine Frage, wer dies sei, leichthin bemerkt: »Nur eines unter den ›porphyrgeborenen‹ Kindern.« Also ein im Porphyrgemach geborenes Herrscherkind, wie ihm jetzt einfiel.
Der Kleine spürte offenbar die fremde Gegenwart und winkte, er wolle die Besucher sehen. Nach der Bestätigung von Guys Verneigung sah er aus dem Wimpernkranz seiner Ikonenaugen bezaubernd liebenswürdig zu dem athletischen Halbgott vor ihm auf:
»Schon lange wünschte ich Euch zu begegnen; wer Ihr seid, das weiß ich, wer wüßte es nicht?«
»Und wer bist du?« frug der Angesprochene erstaunt.
»Wir sind der künftige Kaiser der Gesamtheit«, und der Knirps stand auf, wie vor sich selbst.
»Sind denn deine erstgeborene Schwester und der Caesar nicht das künftige Herrscherpaar?«
Mit einer unnachahmlich leichten Handbewegung nach links unten und außen tat der Knirps für immer solchen Irrtum ab.
»Seine Heiligste Majestät, mein Vater und ich, sind uns hierin wie in allem einig.«
Die völlige Natürlichkeit an diesem Kinde war erstaunlich. Keine Spur von Marionette oder Papagei. Dabei schien es eigentlich nicht hübsch. Mit viel zu breiter Stirn, trockenen Wangen, dunkler Haut. Ganz ohne Grund aber wußte jeder, dieser Knabe würde einmal schön sein, begnadet sein, alles sein. Man fühlte das eben. In warmer Freude, spontan, wie es nur Kinder können, wandte sich der Kleine wieder zu dem großen Fremden:
»Es wird uns glücklich machen, Euch so bald das irgend angeht, mit unseren großgriechischen Provinzen Apulien und Kalabrien zu belehnen.«
Der Herr ganz Süditaliens schien erheitert.
»Mein Kind, ich habe nicht auf dich gewartet und sie mir schon selbst genommen. Du mußt ein wenig besser die neueste Historie nachlernen. Die Provinzen sind längst normannisches Eigentum.«
»Oh, nur vorübergehend.« Der liebe Ausdruck in dem kleinen Antlitz wich nicht, verklärte sich vielmehr.
»Erst was Byzanz verleiht, hat Dauer. Vielleicht ist Euch sogar noch Höheres, das wir geben können, bestimmt. Das wäre schön.«
Es war die würdig-lieblichste Entlassung.
Bewundernd dachte Bohemund: Das muß vernichtet werden. Lange ging er schweigend, zuckte dann ungeduldig auf:
»Wer kennt sich aus in diesem Gottesgnadenreich ohne feste Erbfolge; ich meinte immer Nikephorus Bryennius, ›mein Caesar‹, sei der Erste am Thron.«
»Ja, am Thron, nicht auf ihm. Dort wird stets ein anderer sitzen. Bryennius ist der geborene Zweite mit seinem legalen Gesicht und weiß es. Bös wird das für ihn erst, wenn es eines Tages die junge Caesarissa merken wird. Keine, die sich jemals abfindet.«
Nicht meine Sache, fühlte Bohemund in seinem gleichgültigen und stolzen Körper.
Der Tag, an dem Anna es merken sollte, daß sie die Frau des ewig Zweiten sei, um also selber immer Zweite zu bleiben, kam schnell im Schwung der Weltzeit. Unterirdische Gerüchte erhoben sich in wellenhafter Unruhe. Wortlos glaubten plötzlich viele zu wissen, der Kaiser würde noch vor der Abreise die Garden auf seinen kleinen Sohn vereidigen, nachdem er ihn feierlich zu seinem Mitregenten proklamiert. Während seines Fernseins blieben dann, so hieß es, Kind und Byzanz in der Hut des Großeunuchen Cymineanus, mit Übergehung Irenens und des Caesars als Stellvertreter. Dieser Schlag gegen ihr Lebensziel mußte abgewendet werden, um jeden Preis, sofort. Das Schwalbenkörperchen glühte auf vor Energie gegen das infame Schicksal, denn sie fühlte sich plötzlich maßlos von ihm verfolgt. Ihr gehörte doch der Weltenthron. Ihre pulsierenden Fontanellen hatte gleich nach der Geburt der Patriarch mit dem Diadem berührt. Schon in der Wiege war sie dem damaligen Thronfolger Konstantin, Maria von Alaniens kleinem Sohn, von ihrem kaiserlichen Vater verlobt worden. In winzigen Purpurschuhen der Macht hatten sie und ihr Märchenprinz die Bräuche des Zeremonienbuches geübt, gemeinsam waren sie erzogen worden für das höchste Amt.
Dann hatte die Sechsjährige das erste der Unglücke getroffen. Ihr Bruder Johann war erschienen, nach mehreren Mädchen – der Knabe, die inkarnierte Gefahr. Wie sie ihn haßte vom ersten Augenblick. Würde der Vater zugunsten des eigenen Sohnes vielleicht die Ansprüche ihres Verlobten übergehen, so wie ihr eigenes Erstgeburtsrecht? Zum Glück war die Säuglingshäßlichkeit des Kindes, bis auf die herrlichen Komnenenaugen, erschreckend. Es blieb auch lange schwächlich und ziemlich im Hintergrund. Seine eigene Mutter Irene zog ihm die hochbegabte Tochter weitaus vor. Nur das unbegreifliche Volk, störrisch-eselhaft, schrie sich heiser nach Johann »kalos«. Es gab dieser Mißgeburt bei den vorgeschriebenen Akklamationen immer aus Eigenem jenen Beinamen »kalos«: der Schöne. Es liebte den Unschönen förmlich in die Wohlgestalt hinein.
Das zweite Unglück trifft die Kinderschwärmerei der Zwölfjährigen, ihr Märchenprinz, dieser lichte Ephebe wie aus dem Goldenen Zeitalter der Menschheit, stirbt noch vor der Ehe; Fieber verbrennt ihn. Zwei Jahre später hatte man sie dann einem der mächtigsten Adelshäuser verbunden, den Bryennius, die waren den Komnenen völlig ebenbürtig, und Nikephorus selbst galt als das byzantinische Ideal, war Krieger, Gelehrter und Weltmann. Nach der Hochzeit wird ihm auch noch Caesarenrang verliehen. Welche Verheißung. Es ist der höchste Rang, gleich nach dem des Kaisers, nur ein Schritt noch bis zu dem so irrsinnig begehrten Thron. Und den sollte jetzt ein drittes Unglück, vielleicht auf immer, lähmen. Bryennius muß handeln, gemeinsam mit ihr, wenn nötig selbst gegen den Kaiser. Doch der korrekte, vorsichtige Caesar zeigt sich ohne Schicksalsmut, auch wenig überzeugt vom Recht der Gattin. Ein starkes, offenes »Nein« hätte ihn vielleicht geehrt in ihren Augen. Er aber zögert nur. Sein olivenglatter Hals, mit der leichten Anmut einer Antilope, windet sich. Scheinbar gibt sie nach. Froh, daß alles wieder in die Ordnung komme, nimmt er Urlaub für die nächsten Stunden, denn es gibt viel zu tun. Dann verschwindet seine dürftig-elegante Rückenlinie.
Der Eunuch für Körperpflege bittet um Gehör. Er hat eine neue Dekoktion, ins Muskelfleisch zu spritzen, einem syrischen Wunderdoktor abgekauft, ob man sie bei dem Exzellentissimus versuchen solle.
»Wegschütten.« Der Erschrockene verschwindet.
Sie aber steht die halbe Nacht im silbrig irisierenden Mondnebel und webt an einem verzweifelten Traum.
War nicht schon einmal in der Reichsgeschichte ein Barbar gekommen, mit warmem Haar und starken, leichten Händen. Furchtbar begnadet. Unaufhaltsam stieg er, auch noch über die allerletzte Stufe, so voll mit Blut, daß jeder andere darin ausgeglitten wäre, zu Leistung und Spitze, bis die Heilige Krone mit den Diamantgehängen sich auf ihn herabsenkt und damit die Legitimität. Er teilt sie mit einer jungen byzantinischen Prinzessin, heißt Basilius der Große und wird Stifter eines langen, goldenen Zeitalters, weil er allein die Kraft besessen hatte, das schrecklich Richtige zu tun.
War es nicht wie Schicksalsbefehl, daß jetzt wieder ein Barbar hierherkam, nicht nur »Weltunruhe«, auch ein Weltenwunder, um, leuchtend beschwingt, abermals das schrecklich Richtige für Byzanz zu tun.
Am nächsten Mittag, mitten unter ihren gralsritterlichen Damen vom Dienst, während einer Schachpartie, spricht sie ihrem Partner von dem Traum, der unter der pressenden Zeit zum Plan erhärtet ist. Bei Schach tropfen nur seltene Silben eintönig in das Spiel. Ist es beendet, werden eifrig Figuren verschoben, Stellungen rekonstruiert, Varianten, die zu einem anderen Ende geführt hätten, murmelnd erörtert. Darauf achtet niemand; es ist zu langweilig für jeden Dritten, außer jenen zwei, in das Problem Versunkenen, während nie schärfer gehört wird, als vor einer verschlossenen Tür.
Anna schien heute von neuer, fieberhafter Schönheit. Ihr Reiz war sonst das Kindliche, verzaubert in brokatenes Zeremoniell; fiel dann der schwer rauschende Mantel, sah man erst, wie sanft diese Gewandung sei, wie kühl. Jetzt, als neue Überraschung, stand die kleine, unsäglich gespannte Gestalt darin wie eine spitze Flamme. Doch sein eigener Körper hatte sich noch nicht für sie entschieden.
Was deutete sie da: Einheimische Truppen gibt es für den Augenblick kaum in der Stadt, die ganze Garnison aber ist normannisch. Er als berühmter Landsmann kann da Wunder tun wie kein anderer. Sie selbst verfügt frei über ein unermeßliches Vermögen. Mit Bestechung muß es durch die Warägergarde, noch rasch vor der Vereidigung, erreichbar sein, sich des Knaben Johann zu bemächtigen, ihn zu beseitigen, meint sie wohl. Und dann kommt Politik auf weitere Sicht. Gibt es Johann »kalos« nicht mehr, wird zur Mitregentschaft naturgemäß das Caesarenpaar berufen, ja, muß es werden. Der Kaiser ist müde, der Caesar zart, wer weiß, vielleicht bleibt sie, Anna Komnena, bald alleinige Regentin. Kehrt ihr normannischer Helfer siegreich aus dem Kreuzzug als Befreier des Heiligen Grabes zurück, von der gesamten Christenheit gesegnet, wird auch sie ihn wohl belohnen dürfen nach Gebühr.
Er hebt die Augen von dem Schachbrett. Die porphyrgeborene Maske ihm gegenüber ist zerrissen.
»Ich verstehe nichts von Palastrevolutionen.« Dann sagt er laut: »Das war ein falscher Zug.«
Sie erhebt sich, langsam wächst die Maske wieder zu über ihre Züge.
Also ein Prinzgemahlposten war ihm da bestimmt gewesen. Auch Anna nicht, niemand hier vermochte über die byzantinische Goldkuppelwelt herausdenken. Wenn er vor dem kleinen Johann bewundernd gefühlt hatte: Das muß vernichtet werden, meinte er ja nicht gerade dieses Kind, sondern mit ihm alle Männer und Frauen, den imponierenden Alexios, Kommende, auch dem noch Überlegene vielleicht. Denn in ihm hatte, seit der Ankunft, eine Wandlung sich vollzogen, er wollte diesen Thron nicht mehr besteigen, er mußte ihn zerbrechen.
Aus schauernden Schichten herauf stürzte sein weltverwandelnder Trieb mit langen Schwingenschlägen und vorgerecktem Hals, wie ein großer Eidervogel – dem andersten zu. Einem niemals noch Gewesenen.
»Kränze aus Gedärmen um die Stirne stehen mir nicht«, sagte Guy und schüttelte die wohlgereihten Locken. »Ich reite auch nicht gern verkehrt unter den Bauch eines magenkranken Kamels gebunden durch die glotzende Metropolis zum Richtplatz. Was dort durch mehrere Stunden vor sich geht, verschweige ich lieber. Es ist derart, daß schließlich ein Schwert, durch den Mund schön senkrecht hinabgestoßen bis ans Heft, Erlösung scheint. Wenn einer vom Himmel der Griechen das Feuer stahl, wurde er höchstens, wie in den alten Büchern steht, zu Felsenhaft und ununterbrochenem Verlust der Leber verurteilt. Wenn einer das ›Griechische Feuer‹ zu Byzanz auch nur zu stehlen versuchen sollte, geschieht ihm, was ich eben angedeutet habe. Alles, was du willst, doch da ist eine Grenze.
Auch wäre das Unternehmen sinnlos, gibt es doch, wie du weißt, nicht nur ein ›Griechisches Feuer‹ nach einem einzigen Rezept bereitet, sondern mindestens das volle Dutzend. Da ist jenes knallende Feuer, es schleudert mit einem Aufblitzen Steine aus Metallröhren, und da ist wieder das rauchend Giftige, dessen Wolke innerlich verbrennen macht. Die Marine verwendet über Wasser laufende Flammen, von denen die Sarazenen sagen, sie verfolgten den Gegner, um ihn noch mitten im Ozean zu verzehren. Die furchtbarste Abart ergießt sich in öligen Glutströmen, aus beweglichen Schläuchen entsendet, über den Feind. All diese Wundergreuel, Erfindung eines Syrers im achten Jahrhundert, haben tatsächlich den Einbruch der Ungläubigen zum Stehen gebracht. Seitdem werden sie unaufhörlich verbessert; was ihr beide, Guiscard und du, vor zehn Jahren vielleicht am eigenen Leib erfahren habt, scheint längst überholt. Dabei wird keine einzige Feuerart in der gleichen Fabrik, ja auch nur in der gleichen Provinz von Anfang bis zu Ende hergestellt. Wo aber die letzte Mischung der Stoffe vor sich geht, das bleibt Geheimnis, vielleicht auf der Halbinsel Morea, vielleicht gleich um die Ecke am Goldenen Horn, niemand erfährt es. Auch sogenannte Verbündete, etwa Bulgaren, erhalten nur die fertige Materia mit Kriegsmaschinen und den bedienenden Ingenieuren von Fall zu Fall geliefert. Wenn uns das Barbarenbüro vier, fünf Jahre Zeit zum Spionieren ließe, es wäre nicht genug; es läßt uns aber keine. Sicher begänne schon nach vierundzwanzig Stunden besagte Promenade unter dem Bauch des darmkranken Kamels, wenn auch aus politischer Rücksicht vielleicht nicht für dich, so sicher für den minderen Halbbruder und Mitschuldigen. Die infernalische Quälerkunst des byzantinischen Pöbels, wenn ihm die höflichen Herren oben ein Opfer hingeworfen haben, kennst du noch nicht. Wir Wikinger hausen ja manchmal wie toll, doch alles geht dann schnell vorüber.«
Guy hatte diesmal recht. Der andere war klug genug, dies zu erkennen. Doch er brauchte Ablenkung für seinen Mißmut.
Sie kam, unvermutet für den Fremden, wie alles zu Byzanz, aus Untergründen aufgestiegen, denn niemand fing hier mit sich selber an. Hinter jedem stand ein langes Geheimnis und wartete. Ein namenloser Bote war im Quartier erschienen, aus dem Nirgendwo, hatte durch Zeichen gebeten, ihm ohne Frage und sofort zu folgen. Auch Pferde standen bereit, dann am Meeresufer ein bemanntes Boot.
Es hielt auf eine der smaragdenen Klosterhalbinseln zu, mit Felsenstrand, legte an in überhangener Bucht. Herrlich ist das Abenteuer, dachte der hierher Entführte. – Aus steinernem Schatten trat eine Nonne jetzt ans Licht.
Trotz grober Sandalen, harter Tracht, obwohl nicht mehr als Hände und Gesicht zu sehen waren und der Gang, wußte der Schauende sofort mit seinem ganzen Körper: das ist die schönste Frau der Welt. Es war ein Wissen fraglos, ganz und endgültig. Wieder durchrann das Boot die silbrig überschäumte Dunkelbläue. Das Steuer aber hielt die Venusnonne; getragen von der ganzen Feerie der Landschaft, schnitt ihr Kopf in eine überirdisch flimmernde Transparenz, etwas um ihn wie Lilien und Diamanten.
Anfangs schwang nichts durch die Stille als langer, stummer Atemgesang, dann begann melodisch, wie er es selbst in Byzanz noch nie gehört hatte, der leichte, griechische Silbenfall zu tropfen:
»Die Ruderer sind taub. Ich bin Maria von Alanien und bringe Euch zu Nikophorus Botaniates, den Kaisersohn. Als ein Geblendeter kann er selber nie mehr Kaiser werden, doch seinen Blender gestürzt zu wissen, darauf sinnt er seit Jahren Tag und Nacht. Lange schon kam ich, die streng Bewachte, nicht zu ihm. Erst heute ging es, denn es mußte gehen; die Gelegenheit kommt nie mehr wieder. Vier fremde Heere sind im Land. Alexios muß mit der Armee nach Phrygien, Lykien, wer weiß, wo noch hin, die Reichshauptstadt ist beinahe ohne Truppen, im Heiligen Palast nichts als ein kleines Kind. Meine albanischen Bergstämme und andere Kaukasusvölker aber warten, jeden Tag zu einem Aufstand für mich bereit. Auch sind Botaniates Mittel unerschöpflich, nur was uns fehlte, war bis jetzt ein Führer. Nun aber seid Ihr da. Übernehmt die Leitung, helft mir mit Euren Normannen, laßt den kindischen Kreuzzug, was Ihr wirklich wollt, liegt näher: die Krone von Byzanz.«
Der warme Paradiesesnebel, der ihn bisher umsponnen hatte, wurde dünner. Nicht, daß seine Verzückung sich gemindert hätte, sie strahlte intensiver noch, wie Dinge, die sich eben überziehen, mit einer Schicht aus verglasendem Eis.
Die Schultern leicht gehoben, saß er ihr gegenüber, ein großer, wartender Raubvogel und schaute sie mit zuckungslosen Augen an. Die reinen, raschen Griechensilben tropften weiter, Kluges, Wohldurchdachtes, während das Boot auf einen porphyr-violetten Palast am jenseitigen Ufer zustieß, einsam über Terrassen gelegen und von Gärten überstürzt. Also dort, schon wieder an anderer Stelle als neulich, begann es sich verschwörerisch zu heben unter der ohnegleichen Staatspyramide; nun auch das würde ihr Gewicht noch leicht zerdrücken können, solange ungeschlagen draußen die Legionen standen. Es war die von ihm schwer und ungern, aber doch gelernte Lektion seit dem leichtgemuten Einritt, vor so vielen Wochen.
Während Maria von Alanien noch sprach, dachte er bereits an ihrem aussichtslosen Plan vorüber, fühlte nur mit steigender Erbitterung: Die Augen dieser Frauen sind ohne Dämmerung, sie erneuern ihr Herz nicht in der Liebe; ihnen bleibt sie ein Etwas vor oder nach dem Thron, denn um ihn nur kreisen ihre Süchte. Wie Insekten stürzen sie ihm zu, kaum daß sie gehen können. – Doch das Abenteuer zog ihn weiter. Früher als nötig trennt man sich nicht freiwillig von der schönsten Frau der Welt.
Hätte sie gesagt, wir sind hier zusammengeraten, sehen einander, wissen nun, wer wir beide sind. Nimm mich aus dem Kloster, wo immer hin, es wird nicht so gering sein, was du mir draußen von der Welt zu bieten hast. Er hätte es sofort getan, über jedes Hindernis hinweg. Doch sie wollte nur in einer Goldnische juwelenes Idol sein, vor dem auf drei porphyrenen Kreisplatten, in vorgeschriebenen Abständen Gestalten mit gekreuzten Armen dreimal in die Proskynese sanken, ehe sie ihr Knie umfangen durften. Wer ihr das bot, der durfte ihre ganze Person umfangen, und sie würde dann gewiß das höfische Bett mit wundervollen Liebeszeremonien genau so auszufüllen wissen, wie die Audienzen mit dem raffinierten Zeremoniell der Macht. Immer härter legte sich die glasige Eisschicht über seine schauende Bewunderung.
Das Boot lief ein in einen fürstlichen Privathafen. Die See war vorhin leicht bewegt gewesen, doch in völliger Windstille stiegen beide, Krieger und Nonne, viele Parktreppen – acht liegende Männer breit – hinauf, in die verwunschenen Gärten zum porphyrenen Portal. Tadellos gehalten schien dieser Hochsitz trotz der Blindheit seines Herren. Die Wächter in der Hauslivree der Botaniates, traten wehrend vor, niemand würde eingelassen, kaum aber sah der Obersthofmeister die Kaisernonne, und von seiner tief geneigten Gestalt begleitet, öffnete sich Saal um Saal vor ihr und dem Begleiter. Der hatte Gemächer in sieben Heiligen Palästen gesehen, taubenweise mit Silber und Rubinen, dunkelflimmernde und solche, wie ein Pfauenrad gebildet, an ihnen hatten acht Jahrhunderte gebaut, hier aber schien es, als hätte ein einziger, kompromißlos augenhafter Wille auch noch seinen kühnsten Traum ohne Fehl und Fuge aufgerichtet.
»Botaniates war sein eigener Architekt«, sagte die Alanin leise, »begreift Ihr, was es hieß, gerade ihm die Lichtwelt auszureißen.«
Endlich betraten sie im höchsten Stockwerk einen frei dem Meere zu gelegenen Raum, eben von der fallenden Sonne überpurpurt. Edel war er, wie die anderen, doch fast leer.
In der Mitte vor dem tafelartigen Tisch, hielt sich sehr gerade an die hohe Sessellehne angepreßt, ein junger Greis. Bleich das schöne Haar über herrlichen, doch ausgebluteten Zügen, als wäre das belebende Licht, zurückgewiesen von den leeren Augenhöhlen, auch von dem übrigen Organismus weggewichen, so daß er farblos blieb.
Gesammelt, mit einem Ausdruck tiefer Spannung saß der weiße Prinz, in Reichweite umgeben von kristallartigen Körpern. Es waren die regelmäßigen Polyeder, kunstvoll genau gebildet. An ihnen fingerte er geometrische Gesetze nach. Ein Araber mit den hohen Zeichen des Gelehrten stand über zahlenbedeckten Rollen aus der Bibliothek gebeugt, die fast den ganzen Raum umsäumte.
Wie Triumphgesang flog jetzt die Frauenstimme durch das Gemach zu dem so sonderbar Beschäftigten.
»Ich bringe dir den Rächer.«
Der weiße Prinz ließ seine langen, feinen Hände sinken.
»Rächer? Wofür?« Dann sehr weich: »Maria!«
Sie stand verständnislos. Mit aller Grausamkeit, um ihn aus seiner fernen Leere, der Unbegreiflichen, in ihre Wirklichkeit zurückzureißen, rief sie ihm zu: »Wofür?«
»Rächer für deine Blindheit. Daß du hier sitzt, verdammt zu Tatenlosigkeit, für immer abgeschieden von der unsterblichen Landschaft, auf der die Sonnenuntergänge spielen, Tag nach Tag. Tag! weißt du nicht mehr, was Farbe, Licht, Bewegtes ist. Wie hast du, heiß und kühn geartet, das vergessen können? Was liegt nur alles in dem einen kleinen Satz ›auf Wiedersehen‹. Auch das gibt es für dich nicht mehr. Wertlos ist ja jedes ›Wieder‹, das nicht sichtbar werden kann.«
»Ich sehe, was ich denke«, sprach der weiße Prinz.
»Die glühenden Stifte in meinen Augen haben mir den Raum des Denkens aufgestoßen. Jetzt ruhe ich in Gesetz und Zahl. Befreit von dem in der Erregung Entstandenen, denn nur von der Erregung Getroffenes glänzt auf, sinkt dann zurück, ein wirrer Haufe, in das Verbrechen der Verwesung, während die Erregung selber weiterwandert, nach neuen Opfern gierig.«
»So sind das Heiße und das Kühne in dir abgestorben.«
»Glaubst du, die braucht es nicht, für eine Geistwelt aus Gesetz und Zahl; um sich dort würdig zu erhalten, ist mehr Lebensenergie vonnöten, als auf Alexios' Thron.«
»So habe ich umsonst den Rächer hergebracht?«
»Umsonst, nein? Nichts ist umsonst. Vielleicht daß es für ihn, vielleicht für Dich geschah. Ich aber brauche keinen Rächer mehr.«
»Du siehst mich nicht, es ist an dem.«
Mit einem Schwung war sie bei ihm, glitt an seinem Körper nieder bis zum Boden, streifte den Nonnenschleier ab und schmiegte in die lange, leicht gebogene Sichel seiner Hand die wundervolle Kurve ihrer Wange von der Schläfe bis zum Kinn. Die Haut um seine toten Augen zitterte. Dann, nach einer holden Weile, ganz zart, löste sich die Sichel von den Köstlichkeiten, zögerte im Abgleiten ein wenig über der flaumigen Weiche, doch endlich griff die Hand weit aus, umfaßte fest die Ecken eines der kristallartigen Gebilde aus Geist und Zahl, wie um sie nie mehr loszulassen.
Die schönste Frau der Welt lag still am Boden hingestreckt, grub ihr verlassenes Gesicht in die eigenen schimmernden Hände.
Der stumme Zeuge dachte: wenn er sie hätte sehen können, wer weiß?
Dann ging er rasch aus dem porphyrvioletten Palast, immer rascher über die Parktreppen – acht liegende Männer breit –, lief endlich, was er laufen konnte, warf sich ins Boot. Erst als die Ruderer abgestoßen hatten, vom freien Meer her starrte er zurück.
Sie ritten auf ihren Araberschimmeln langsam durch die »Mesa«, Bohemund und Hugo von Vermandois, denn bis zur Abschiedsaudienz im Heiligen Palast waren es noch mehrere Stunden.
»Das gibt es nirgends wieder auf der Welt«, stellte Monseigneur begeistert, wie ein Fremdenführer, fest. Der andere nickte. Quer durch den Riesenleib der Stadt zog sich die Plattenstraße, »Mesa« genannt, mit ihren verzweigten Bazaren. Zu beiden Seiten in den Marmorkolonnaden flanierten Scheichs in weißen Burnussen, Magyaren mit perlendurchflochtenen Zöpfen und hängendem Schnauzbart, tunesische Sarazenen, bulgarische und slowenische Boliaden, Gesandte des Großkhans der Khasaren, Bischöfe, armenische Pilger in allen Abstufungen nationaler, wie beruflicher Tracht. Dazwischen die stutzerhaften Geiseln und vornehmen Halbgefangenen, bunt gleich Papageien, Barbarenprinzen, kaukasische Archonten, chinesische Industrielle, die Herren aus den Konsulaten, Weltreisende jeder Art, doch hier von gemeinsamer Lebenserhöhung getragen, gierig nach Duft und Gefunkel der berühmten Andachtsstätten, langen Genüssen in den Bädern, Hirschjagden in den Wildparks und den Aufregungen des Hippodroms.
Inständig waren alle darauf aus, die Sensationen jeder Stunde einzupressen in die gesamte Erinnerung an jene Wunderstadt aus Seide, Weihrauch, Gold, Fontänen. Schlichtere Kundschaft um die rohe Armut daheim, bei eigenen Steppenzelten oder Waldfeuern mit nie geahnter Pracht zu füllen. Vor den wehenden Fontänen wieder konnten sich die Ausgedörrten in den weißen Burnussen nicht satt atmen, denn nicht nur flossen Brunnen in glasigen Stürzen über, sie warfen auch noch Strahlen aus, die ganze Stadt schwamm wie auf süßen Wassern. Weit vom Gebirge kam es in Röhren her, füllte unterirdische Reservoire, groß genug, um für die längste Belagerung zu reichen. Im Frieden aber ergab sich arm und reich der klaren Schwelgerei. Ein Drittel aller Zuflüsse ging in den Heiligen Palast, das zweite an die öffentlichen Bäder, das letzte blieb für den Privatgebrauch der Häuser reserviert.
Andere Gäste, solche aus den feuchten Nebelländern und Nichtmohammedaner, erzählten einander gern, wer Glück habe, an bestimmten Feiertagen hier zu sein, der könne trinken, soviel er wolle, von den zehntausend Krügen zimtgewürzten Weines, mit zehntausend Krügen Honig vermischt im Gewicht einer Kamelladung, die in das Porphyrbecken vor der Hagia Sophia flössen zum allgemeinen Gebrauch. Die Feinsten aber, in der Narkose der Erinnerung, sahen vor sich den Zeus von Dodona und die Musen des Helikon.
Dem langen Mittelstück der Mesa strebten von der Propontis oder dem Hafenviertel am Goldenen Horn unaufhörlich Handelsleute zu auf Kamelen, Pferden, Eseln, umgeben von Treibern mit lila Haarbeuteln, um Ware zu bringen oder wegzutragen. Russen boten Pelze, in allen Nuancen des Regenbogens eingefärbt, Teppiche und Türkise, Nordvölker ihren Bernstein, Chinesen Seide, Jade und Ingwer, Inder Rubine und Gewürze, Spanier Stickereien, Ägypter edle Gläser, Syrer lieferten Emaille, Musseline, Schmuck, Äthiopier Elfenbein, Chaldäer Räucherwerk, Leute aus Bagdad Gewänder. Ein jedes lag, vom Rohprodukt bis zum raffiniertesten Luxusartikel, hier zur Schau gebreitet. Die byzantinischen Mosaizisten, Glaser, Juweliere, Gold- und Silberschmiede, Ziseleure, Elfenbeinschnitzer, hielten wieder die Wunder ihrer Kleinkunst in eigenen Bazarstraßen feil.
Alle paar Schritte sprang Monseigneur in dem Gewühl vom Pferd, wenn er vor einem solchen Laden die rotgefärbten Locken von Patrizierinnen oder auch weniger hochgestellten Damen sich aus ihren Perlmuttersänften über Amulette oder eine Spange neigen sah. Dann lösten jedesmal vom »Eidgeld« sich einige Solidi, um wieder in das byzantinische Nationalvermögen einzumünden.
Ohne weiteres kam man mit ihm auch nicht am Hippodrom vorüber, wo in dem schneeigen, wie frisch gelegten Riesenei »blaue« und »grüne« Lenker ihre Gespanne ausprobierten. Wie frei fortgerissen durch die Luft standen die Athletenabgötter der Masse auf ihren hohen, wippenden zweirädrigen Wagen, bloßschenklig, mit kurzer Tunika und Lederkappe, die Peitsche zwischen den Zähnen, in den Händen die gespannten Zügel der Quadriga. Auch hier schwand öfters einiges von dem »Eidgeld« für verlorene Wetten hin.
Von Ring zu Ring stiegen dann die Besucher an den Innenwänden der Arena aufwärts, wo bei den Spielen der Menschenberg sich in die Höhe staute, jetzt lagen in ihrer Marmorhelle die Reihen leer. Herrliche Statuen aus Goldbronze krönten die oberen Galerien, Meer blitzte zwischen ihnen herein. Von dieser Höhe sah man die Farbensegel der großen Triremen aus allen Richtungen nach dem Hafen ziehen, dazwischen wie ein Schwarm von Schmetterlingen die blauen und gelben Privatgondeln; sie schleiften ellenlange Schleppen aus Brokat im Wasser nach.
Mehr noch zu Hause als in dem oberen, gab sich Monseigneur im unterirdischen Zirkus. Der Hippodrom war unterbaut mit zyklopischen Gewölben voller Carzeres, Tierzwingern, eisigen Zisternen, heißen Bädern, Garderoben, Kantinen, Werkstätten. Hier im brodelnden Chaos hausten die Wahrsager, Liebestränkebrauer, Astrologen. Hier wurde orakelt, Reichs- und Privatschicksal an rätselhaften Zeichen von Säulenschäften abgelesen; was nicht einmal Unsere Liebe Frau von Blachernae in ihrem Wallfahrtsorte von der Zukunft wußte, das war den Hexenkünstlern im Unterirdischen lange kein Geheimnis mehr. Von hier ging Stimmung für oder gegen ein Unternehmen aus, hier in der Vorwelt war zuerst gegen die Caesarissa und für Johann »kalos« entschieden Worden, weil seine Glyphen günstig aus den Rätselsteinen traten.
Da tummelten sich Riesen, Zwerge, Gaukler, Clowns, da hockte jede Art von Mißgeburt und fratzenhaftem Viehzeug, im Kreis der Normbeflissenen unmöglich, doch hier an seinem legitimen Ort. Zwischen einer Nische, wo eben ein junges Krokodil vergoldet wurde, und dem Käfig eines lila eingefärbten Straußes, zog Monseigneur schon wieder seinen Beutel und zählte Gold in eine schmutzige Weiberhand, die ihm nachher ein an Geruch und Farbe unsagbar widerliches Bräu zu trinken gab. Er schloß die Augen, hielt die Nase zu und schluckte. »Absud von Ebermist«, sprach er feierlich befriedigt, »schützt gegen Unfälle zu Pferd; denn ich möchte für mein Leben gern solch eine Quadriga ausprobieren.«
»Ich dachte, der Zaubertrunk sollte Euch bei Reiterangriffen im Heiligen Krieg behüten?« frug Bohemund.
Doch der Kleine tat geheimnisvoll, sehr gegen seine sonstige Weise.
In den Bädern des Xeuxyppos verblieben ihnen dann gerade noch zwei Stunden, um nach heißen und kalten Prozeduren aus den Händen der Masseure, Epileure, Locken- und Faltenleger tadellos für die Audienz hervorzugehen.
Noch einmal begann nun der leuchtende Weg erst durch die Erzhalle, an den äußeren Garden vorbei, entlang die Marmorkorridore, wo im Schuppenpanzer, die Doppelaxt geschultert, mit fließendem Haar und einem Rubin im Ohr, vor jeder Tür ein Waräger Wache hielt. Dann begann das Rauschen schwerer Tapisserien und weißer Seidenkleider der fächertragenden Eunuchen, bis die tiefere Goldwelt aufging. Viele warteten vor ihr. Heute wurden die Empfänge wieder nach der Wasseruhr geregelt. An Hugo von Vermandois kam erst die Reihe. Ganz ohne Not sank er dreimal in die Proskynese vor Alexios, denn er hatte einen schweren Wunsch:
»Heiligster Gönner und Herr, ich bitte, mich als Geisel hierzuhalten. Es liegt in unser beider Interesse. Die Barone werden ja doch sicher ihre Eide brechen wollen. Da ist ein Pfand aus Königsblut von Wert, dafür sorgt schon mein Bruder Frankreich. Solange ich in Eurer Majestät Gewalt bin, wird draußen alles in der Reihe bleiben.«
Er sah den Kaiser flehend an. Der konnte sich des Lächelns nicht erwehren.
»Gewaltsam darf ich Euch als Pfand nicht halten. Schon einmal hat der Herzog von Bouillon mich beinahe mit Krieg überzogen, nur auf das falsche Gerücht hin, Ihr wäret meine Geisel. Zum Vergnügen aber dürft Ihr hier nicht bleiben, der Papst zu Rom täte Euch dafür in seinen Bann, wenn Ihr nicht helft, das Heilige Grab befreien; Ihr habt es ja beschworen.«
Der Kreuzritter sah so niedergeschlagen aus, daß Alexios Mitleid mit ihm hatte.
»Ihr macht Euch von der Hierosolyma ein falsches Bild«, versuchte er zu trösten. »Dieses erhabenste Heiligtum aller Christenheit ist schon zu lange in ungläubigen Händen, als daß nicht auch unheilige Bräuche, Heidenunzucht aller Art sich dort eingenistet hätten, wie zuverlässige Pilger uns berichten. Gewiß, die Kreuzherren, besonders Seine bischöfliche Gnaden von Puis, falls sie dort siegreich einziehen sollten, werden Wandel schaffen; doch geht das nicht so schnell.«
»Trotzdem, es ist nicht dasselbe, nicht dasselbe.« Traurig hing der Kleine mit den Achselhöhlen auf den Armen zweier engelgleichen Eunuchen, die ihn hinausgeleiteten, fort von seiner letzten Hoffnung.
Ohne Proskynese trat nach ihm der Normannenführer ein, beugte nur das Knie nach westlicher Sitte vor dem logoshaften Lichtkönig in der Purpurklamys: dem ärmellosen, mantelartigen Obergewand. Er hatte nun gelernt zu sehen, daß sie von der hyazinthfarbenen Oxyblattusabart war, unterschied die Perlenschwingen der Götterbotschaft an den Schuhen der Macht, die Stufung des juwelenen Diadems, und wie das alles überging zu Gestirngeistern und Throntieren an Wölbungen aus reinem Glanz: gleichnishafte Vorform eines zweiten, höheren Lebens. Daß er es nun schon oft gesehen hatte, machte es von Mal zu Mal nur tiefer schön in seiner Fülle, seinem Ernst und seiner Zartheit.
Doch er blieb fest im Widerstand.
»Wir möchten Euch noch außerhalb des Eides und anders als die restlichen Kreuzherren durch einen hohen Rang des Inneren Dienstes an unseren höfischen Kreis gebunden wissen«, begann Alexios.
Jetzt war die Gelegenheit. Bohemund verbeugte sich noch einmal, sah dem Kaiser ins Gesicht.
»Vergebung. Für einen Rang des Inneren Dienstes fühle ich, der Neuling, mich noch zu profan, wenn mir auch Bedeutsames schon klar geworden ist, in der Wandlung schaffenden Gesellschaft Eurer Majestät, so daß ich fühle, wie alles Frühere von mir abfällt. Doch habe ich gelernt: Die Türken jetzt für immer nicht nur aus Palästina, vielmehr bis in ihre kirgisischen Steppen zurückzuwerfen, ist Aufgabe der ganzen Christenheit. Dabei könnte ich mein Bestes leisten, stünde mir als Generalissimus der östlichen Streitkräfte größere Willenswirkung offen, als nur mit meiner eigenen normannischen Armee.«
Die langen Ikonenaugen in den weißen Schalen bekamen den undurchsichtigen Blick. Der Kaiser hob den Kopf ganz wenig, als schaue er über den Wartenden weit weg in eine, diesem unzugängliche Ferne. Dann sprach er langsam, wie in verwölkter Träumerei:
»Generalissimus der gesamten östlichen Streitkräfte. Seit Konstantin dem Großen liegt dieses Amt meist in den Händen eines Dukas, manchmal in denen eines Komnenos, vielleicht auch eines Kantakuzen oder Bryennius, doch wie gesagt, meistens wird es einem Dukas übertragen. Der Name bedeutet, wie Ihr wohl wissen werdet, ›Führer‹ in Byzanz. Sein erster Träger hat vor bald achthundert Jahren eben vom Gründer dieses Gottesreiches ihn erhalten. Seitdem blieb das so.«
Er sah noch weiter in eine unbestimmte Ferne. Dann, wie zum Augenblick erwachend:
»Vor kurzem wurde mein Schwager, Johann Dukas, Generalissimus dieser östlichen Armee.«
Bohemund stand wie eingefroren in die Kälte dieser Ablehnung. Der Todhaß des Osterkusses war plötzlich wieder da. Doch riß er sich zusammen, meinte dann, wie beiläufig anerkennend:
»Eine schöne Stellung, die der Dukas: ›Führer‹ in Byzanz. Doch hat die Familie seit achthundert Jahren keine wesentlichen Fortschritte mehr in ihrem Rang gemacht. Wir Hautevilles steigen rascher. Mein Vater Guiscard, ein Ahnherr, kam mit nichts als seiner Willenswucht herunter aus der Normandie; nach zehn Jahren war er schon Herr von Unteritalien, Verzeihung, dem früheren Großgriechenland, mein Onkel Roger hat soeben aus Sizilien sein – vorläufiges – Königreich gemacht.«
»Wenn Euer Geschlecht so ganz aus eigenem Genie sich zu jeder Stufe, die es will, und rasch erheben kann, dann braucht Ihr, sein berühmtester Sohn, doch nicht erst die Leiter eines byzantinischen Kommandos. Wir sind sicher, Ihr werdet über Nacht, auch ohne dieses, eigene Heere aufzubringen wissen für ein so würdiges Ziel, zum Heil der Christenheit, nachdem Ihr für private Ziele schon so viel geleistet.«
Abflauende Gespräche folgten, über nähere Angelegenheiten in Kleinasien. Huldvoll wie immer, sah Bohemund sich entlassen.
Das war die Wende seiner Politik. Also ohne Zögern, schon auf dem Kreuzzug, Feindschaft mit Byzanz. Nun hieß es, Alexios irgendwie ins Unrecht setzen, damit der eigene Eid und der der übrigen Vasallen nichtig wurde.
In einem der äußeren Säle traf er auf Bryennius.
»Schön wirken Sonnenuntergänge zwischen unseren Prinzeninseln vom Meer aus in einem Ruderboot gesehen. Ein Fremder, dem solche Lustfahrt einmal überraschend gelang, sollte sie jedoch nicht wiederholen wollen. Vollkommenheit ist so leicht zerstört, erinnerte Vollkommenheit gerade so wie wirkliche.«
Vollkommenheit – zerstört. Bezog sich das auf Maria von Alanien? Gar auf ihre Augen? Seine eigenen Lider zuckten bei der Vorstellung. Der Caesar sagte mildespöttisch: »Nein, so war es nicht gemeint. Wir blenden keine Frauen, lassen uns viel eher von ihnen blenden.« Dann, nach einer Pause:
»Ihr freilich scheint auch darin eine Ausnahme zu sein.«