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Am Schwarzen Meer

Bereits zu Epiphaniae nahmen Bohemund und Balduin bewegten Abschied vom »Schützer des Heiligen Grabes«. Während die beiden großen Figuren zwischen wuchtendem Geklirr von Schwergewappneten wieder in die Tiefen ihrer Abenteuer sprengten, kehrte Gottfried von Bouillon zum Joch des auferlegten Amtes heim. Heim zu Gott auf fremder Erde. Er wußte: Sein Herzogtum Lotharingen wiederzusehen, würde ihm so wenig mehr vergönnt sein, wie das Meditieren im Goldgehalt gezähmter Sonne, bei weißen Winterrosen, unter Therebinthensträuchern, von dem er tief geträumt.

Zu seinen vielen Bürden drückte jetzt noch eine neue: der gewichtige Patriarch: Voll Haltung wehrte er den Übergriffen Daimberts auf die Wehrmacht. Weltliche Verteidigung blieb als »Schützer des Heiligen Grabes« seine Sache, so hielt er auch persönlich den Davidsturm besetzt, selbst unerschütterlich verschanzt hinter jener berühmten überlebensgroßen Mauer seiner blonden Fleischlichkeit. Wieder hieß es durch Monate, bis Hilfe kam, mit kläglichen Beständen überschäumendes tun, freigebig sein bei leeren Kassen. Pflichtgetreu warf er seine große Kraft nach außen ins Vergängliche, doch etwas Verhangenes war zugleich in seinem Wesen, in dessen Mitte eine schmale Flamme schon unverwehbar senkrecht stand. Keinen gab es, den in diesen Zeiten sein Anblick nicht erschüttert hätte.

Gegen Sommer zu kamen Venezianer, auf einem kommerziellen Kreuzzug begriffen, mit hundertfünfzig Galeeren in das gelobte Land der neuen Handelsverträge angeschwommen. Der Flügellöwe von San Marco, grüngolden auf Purpurhintergrund, schien bei bestem Appetit zu sein. Er war bereit zu vielem, wenn man ihm dafür den Rachen mit guten Bissen stopfen wollte. Eine unvergleichliche Gelegenheit mit Venedigs Hilfe die libanesischen Hafenstädte gegen Tripolis hin einzunehmen; fast ohne Bruch verschmolzen dann die christlichen Küsten Syriens mit denen Palästinas. Gottfried von Bouillon konnte der Gesandtschaft gerade noch entgegenziehen, um den Vertrag zu schließen, dann mußte er nach Jerusalem zurück, kränker von Tag zu Tag an einer rätselhaften Tropenseuche, die sich in sein naives Fleisch geschlichen hatte. An seiner Stelle eilten Tancred und Daimbert das kriegerische Unternehmen führen. Am Tag des Aufbruches kam die Nachricht, daß Gottfried von Bouillon gestorben sei. Gereizt über solch unverläßlichen Partner frug Venedig, was nun werden solle.

»Ein Feldzug, was denn sonst«, lautete die kurz entschlossene Antwort. Im Karriere rasten der Patriarch und Tancred nach der Hierosolyma, begruben rasch den »Beschützer des Heiligen Grabes«, rasten zurück. Nicht vierundzwanzig Stunden hatte der bedauerliche Zwischenfall die Venezianer aufgehalten. Dann nahmen die Neuverbündeten Caiffa ein, und weitere schon an den Lybanon geschmiegte Häfen.

Bei Daimberts und Tancreds Heimkehr saß Graf Garnier de Grès bereits im Davidsturm und flog dort das Bouillonsche Banner. Nicht dulden wollte die Partei des Hauses Lotharingen, daß des Herzogs Testament vollstreckt werde, in welchem er dem Patriarchen auch die militärische Gewalt vermacht hatte. Mehr noch: die de Grès, Graf de Mouzon, Geldemar Carpenel, Wiric und alle Spitzen der Bewegung hatten soeben heimlich Boten nach Balduin ausgesandt, um ihm die Krone von Jerusalem zu bieten; kommen sollte er sofort mit der größtmöglichen Armee. Auch Malecorne, der Bischof von Ramla und andere hohe geistliche Würdenträger waren bei der Abordnung, zum Beweis, daß auch ein Teil des Klerus diese Lösung billige.

Der Graf zu Edessa empfing die Nachricht in gewohnter großer Haltung: betrübt zwar über den Verlust des Bruders, doch mehr erfreut noch über den Gewinn an Erbschaft. Dann galoppierte er, sobald es irgend anging, wenigstens mit ein paar tausend Reitern, mehr waren gerade nicht verfügbar, dem Heiligen Lande zu.

Doch auch Daimbert handelte beherzt. Um dem unbequemen Anwärter den Weg zu sperren, gab es nur ein Mittel: jenen Einzigen aufzurufen, der an Substanz Balduin überlegen war. So sandte er, da der Seeweg kürzer, auf der schnellsten venezianischen Trireme den eigenen Sekretär Morellus mit einem Hilfeschrei an »seinen sehr lieben Sohn«, den Prinzen von Antiochia. Als des Grafen von Edessa Oberherr, solle er ihm, und sei es mit den Waffen, verwehren gegen jedes Recht, das Testament des eigenen Bruders umzustoßen, zum Ruin der Kirche und Schaden der gesamten Christenheit. Wie sein Vater Guiscard Rom erobert habe und den Papst befreit, so möge er, der würdige Sproß, nun den Patriarchen von Jerusalem retten, sei es, daß er den Feind am Frevel noch verhindern könne oder wenn nicht, daß er selber komme, den begangenen an Ort und Stelle rächen.

Auch ein glühender Anruf Tancreds lag dem Schreiben bei. Dieser wichtigste Vasall im Heiligen Lande haßte den Grafen von Edessa mit dem alten schwarzen Todhaß aus Zilizien her. Wohin mit seinem verzehrenden Tatendrang, wenn Balduin hier befahl, denn nie würde er das Prinzentum Galiläa von den Gnaden gerade dieses Mannes behalten können oder auch nur wollen. Ihm träumte davon, daß seinem einzigen und echten Oberherrn, nämlich Bohemund selber, nach des Grafen Niederlage doch noch die Annahme der Krone von Jerusalem abzuschmeicheln sei.

Das blieben Träume. Der Brief erreichte den Ersehnten nicht. In Laodicea, ehe die normannischen Forts Morellus aufnehmen konnten, fingen ihn durch einen unglücklichen Zufall Saint Gilles' Provençalen ab. Den Boten hielten sie zurück, seine Botschaft aber gaben sie – nach Edessa weiter statt nach Antiochia.

Doch auch dort hätte dieser Brief ihn nicht erreicht.

Denn in Ketten, auf dem Rücken eines Pferdes festgeschnallt, wurde er soeben durch acht Provinzen bis ans Schwarze Meer gehastet, dann entlang an diesem, bis in die pontischen Berge hinauf nach dem unzugänglichen Niksar.

Erstarrte Leere blieb hinter ihm im syrischen Raum zurück. Sie notdürftig zu füllen, sollte Tancred her. Er gab sein Galiläa preis und kam mit allen ihm verbliebenen Kräften. Fand die Tore von Antiochia verriegelt, wie gegen einen Feind.

»Was ruft ihr erst nach mir, um mich dann auszuschließen?« ließ er sagen.

»Zuvörderst schwöre, daß du nur im Namen Bohemunds hier verwalten willst, um ihm sein Eigen, falls er noch lebt und wiederkehrt, jederzeit zurückzugeben«, lautete die Forderung aller Konnetablen: des lateinischen Klerus wie der gesamten normannischen Ritterschaft. Das konnte er beeiden mit lauterstem Gewissen.

Da jubelten sie ihm wie einem Retter zu.

Als erster umarmte ihn Salerno, der Spielgefährte, auch Torheitskamerad bei vielem, doch rasch gereift gleich ihm im Rasen dieser Weltzeit. Mit starren Sperberaugen sahen die Jünglinge einander an. Beiden stand die gleiche Falte der Verantwortung, ein lichter Strich in der verbrannten Haut, hoch bis in die Stirn hinein über ihren scharfen Nasen in den schmal gewordenen Gesichtern. Vor wenig Jahren noch hatten sie in stillen Höfen apulischer Villen sich wie weiche junge Katzen gebalgt.

Salerno schien überdies verwundet, er bewegte sich nur schwer. Nun erstattete er Tancred, dem neuen Regenten, seine Meldung. Sie wies wohl blinde Flecke auf, doch kein Augenzeuge lebte frei, um klarer zu berichten.

»Es war Verrat«, begann er, und seine Wangenmuskeln wurden hart. »Zwar nicht durch Gabriel, den armenischen Herren von Malatîya, auf dessen Bitte ein halbes Tausend unserer Allerbesten hergeeilt, um ihn gegen die Einbrüche Gümüschtekîns, Emir von Sîwas, zu beschützen. Doch seine Pfadfinder waren wohl ermordet und heimlich durch falsche im Sold dieses Danischmenditen ersetzt worden. Sie leiteten uns in den oberen Schluchten des Euphrat irr. Am Ende eines Talkessels, wo es kein Ausbrechen mehr gab, dunkelte der Himmel plötzlich, bewölkt mit schwirrenden Pfeilen, dann überstürzte von den Hängen nieder eine solche Feindesmacht die unseren, daß ganze Klumpen Skythen sich an den einzelnen hingen und ihn niederrissen. Was Bohemund da an Abwehrwundern gelang, brauche ich dir nicht zu sagen, doch auf seinen Fang war alles abgestellt von Anbeginn. Während sie am Schluß der Schlacht in die aufgebrochenen Rüstungen der Ritterschaft nur so hineinmordeten, wurde er in einer Schlinge leicht gewürgt, durch stumpfe Schläge auf den Kopf betäubt und in Ketten über einen Gaul geworfen, den Gümüschtekîn in eigener Person am Zügel nahm. Auch mich und ein paar andere aus Bohemunds nächster Umgebung schonten sie, wohl um uns in Khorasan auf den Sklavenmärkten als Kuriosa zu verkaufen, doch schien das nicht so wichtig. Die abgehauenen Köpfe der Ritterschaft auf Schwertspitzen gespießt, den Gefesselten in ihrer Mitte, umritten die Ungläubigen dann Malatîya, um Gabriel einzuschüchtern, was nicht gelang. Ich aber hielt in gleicher Nacht eine Locke Bohemunds in Händen, mir zugeschmuggelt, um sie als Zeichen höchster Not Balduin zu bringen mit der Bitte, nicht zu dulden, daß er ins Unzugängliche verschleppt werde, denn wir wußten den Grafen von Edessa in der Nähe. Auch er war von einem Nachbarfürsten Gabriels zum Beistand hergerufen worden. Wie ich trotz meiner Wunden fortkam, die Linien durchschleichen konnte, nach zweitägigem Ritt Balduin wunderbarerweise fand, weiß ich kaum zu sagen. Er benahm sich mit jener Courtoisie, die ihm in großen Augenblicken ja nicht abzusprechen ist. An der Spitze aller nur verfügbarer Eliteritter eilte er zu Hilfe, doch Gümüschtekîn war bei der Nachricht von dem Nahen neuer Kreuzherren schon nach Norden ausgewichen.«

Salerno stockte, fuhr dann erbittert fort: »Was machte ihm, dem Halbnomaden, ein Landstrich oder eine Stadt aus, gegen jene kostbarste der Beuten, die es zu sichern galt. Drei Tage lang verfolgte Balduin den Räuber. Sich weiter ins Hochplateau von Anatolien vorzuwagen mit so geringen Kräften, wäre Selbstmord gleichgekommen. Er kehrte heim, wo ihn die Nachricht vom Tode seines Bruders traf. Du weißt das übrige; auch daß er Du Bourg Edessa übergab; wärst selber sonst nicht hier. Was nun?«

Wieder starrten beide Jünglinge einander in die Sperberaugen. Von den scharfen Nasen aufwärts, die helle Falte der Verantwortung vertiefte sich. Dann sagte Tancred kurz:

»Bohemund ist unüberwindlich. Er wird ein Zeichen geben. Doch vorher unsere Kräfte in die Irre zerstäuben ohne Spur, während hier sein Reich zerfleischt wird von der Neidermeute, hieße schlecht ihm dienen. Im Gegenteil, wenn er wiederkehrt, muß Laodicea von uns hinzuerobert sein und kein Seltschuk, Araber oder Byzantiner darf mehr auf syrischem Boden stehen.«

Salerno nickte.

 

Gefangen

Am Pontos axenos, dem ungastlichen Nordufer des Schwarzen Meeres, fängt Skythenland, das Nichtgeheuere, an: Reich des Mythos, der Zauberkräuter und goldhütenden Greife, Grenze der Fabelwesen und Zwitter. Hahnenschrei dringt manchmal von dort herüber aus dem Unbekannten, wenn die Nachtmahr Besessene zu Tode reitet, unter einem barbarischen Mond. Schatten fällt herüber, wenn wohl der Vogel Rock mit gebreiteten Schwingen über dem Abgrund feindlicher Berggipfel lastet, so daß die Täler finster werden. Auch starre Riesen einer unbekannten Rasse, in ihren Gräbern vollgerüstet mit hürnerner Wehr, die Schilde aus Pferdehufen sollen seit Jahrtausenden auf Eindringlinge warten, aber niemand kommt.

Am Pontes euxenos, dem gastlichen Südufer hingegen, ist es gut sein. Hier stehen Edelkastanien hoch im Laub, Nußbäume schatten über tauige Triften, voll grasender Pferde, wo Quellen zwischen kristallinisch-klaren Steinchen springen und einer strahlend blauen Abart gleich Türkis.

»Wie schön! Diese Gegend werde ich mir nehmen«, dachte der Gefangene, als das Pferd, auf dem er angekettet lag, eben schwimmend einen hellen Fluß durchquerte. Die Strömung kühlte seine, von den Fesseln violett geschwollenen Gelenke, auch über Haar und Augen spritzten manchmal gute Wellen und brachten ihn nach langer Wirrnis ganz zu sich.

Eine pausenlose Marter war der Weg hierher gewesen, durch glühende Steppen ohne Helm. Schien er sich am Abend zu ermuntern, so gab es neue Keulenhiebe auf den Kopf, wohl nicht die Hirnschale zertrümmernde, sie fühlten sich durch Stunden nur so an und sollten ihn die Nacht hindurch an jedem Fluchtversuch verhindern, wenn er vom Pferd gehoben wurde. In Sîwas, der Hauptstadt des Danischmenditenreiches, hatte er gehofft, die wilde Reise sei beendet. Ein großer Ort bot bessere Möglichkeiten des Entkommens, doch das wußte Gümüschtekîn auch.

Wieder brausten Ereignisse an seinem erschütterten Hirn vorüber. Wieder hieß es mit blutunterlaufenen Gliedern weitergehastet werden bis zur pontischen Kette nach Nîksar, der Lieblingsveste des Skythenfürsten, seinem persönlichen Wohnsitz, wenn er nicht halb Asien gerade plündernd überzog. Den Turm umarmten Äste breiter Steineichen, und einen Herzschlag lang stockte dem Gefangenen der Atem vor Erregung über den bequemen Fluchtweg. Doch schon legten Sklaven Äxte an die Stämme. Es schien, als würde ihm zu Ehren die ganze Gegend kahlrasiert. Auch sah er sich nach unten in ein dämmriges Verließ getragen und dort angekettet, statt, wie er gehofft, zu Licht und Luft der obersten Gelasse.

Immerhin wurde das seit Wochen wenigstens der erste Abend ohne die barbarische Betäuberei. Wie es die guten Wellen klargespült, so blieb sein Hirn. Sorgenvolles Zeug damit zu denken, daran verschwendete er keinen Augenblick. Der junge Du Bourg, wenn nötig Tancred, würden sein syrisches Reich in lieu-tenanthafter Treue halten, und beiden war zur Treue auch wohl Verstand genug hinzugewachsen, um keinen voreiligen Befreiungsversuch mit untauglichen Mitteln anzuzetteln. Mindestens war das zu hoffen.

Diese »Hoffnung« aber hieß zugleich auch ganz verlassen sein und die Verlassenheit bejahen. Hieß, an ein unbekanntes Meer, nach den Tiefen eines Riesenkontinentes verschleppt sein, hieß eingeringt sein von einem Feindesreich, wehrlos festgeschmiedet sein in dem Verließ des unzugänglichsten der Türme einer Bergburg, ohne äußere Hilfe, nur auf sich selbst gestellt. In solcher Lage geradhinstrahlende Gewalt versuchen, wäre Irrsinn; nach der weichen Seite mußte es hier gehen. Tod drohte vorderhand wohl kaum, wozu denn sonst die vielen, gleichsam ärztlich abgewogenen Keulenhiebe, wenn ein einziger, hemmungsloser so bequem gewesen wäre, falls an seinem Leben wenig lag. Möglich zwar, daß man ihn für irgendwelche blutige Opferfeste sparte, nun, dem zu begegnen blieb noch Zeit genug.

Zunächst galt es Enge auflockern, Wirkungskreise weiter ziehen, über das Verließ hinaus, bis sie Gümüschtekîns Person erreichten; denn er erinnerte sich jener Mischung aus Befangenheit und Neugier, mit der die schrägen Augen des Großherrn auf ihm geweidet, bei jedesmaligem Erwachen aus Betäubung, und wie sie schleunigst wieder weggeblinzelt hatten, so unfrei-gleichgültig ins Leere, wie ein Raubtier tut, das sich unerwartet von bewußtem Menschenblick erfaßt sieht.

Als einzige Mittler zur Umwelt blieben vorderhand wohl nur die Kerkermeister.

Wenige Tage genügten, und ihre Gesichter zerbarsten schon in einem Wonnegrinsen an der Tür; denn kein todfahles Gelaß stand ihnen da bevor, wie es Naturgeschöpfen nach fünf Sekunden Gänsehaut erzeugt. Nein, warme Wogen Lebenskraft füllten jeden Winkel, und eine dunkelklare Männerstimme warf ihnen einen Morgengruß entgegen im wundersamsten Seltschuk-Türkisch, doch verständlich.

Und hätten sie ihn nicht verstanden, so blieb ja immer noch das Wunder dieses Fremden selbst. Aschblond, langschenklig, zwei Aquamarine im Kopf, lag er da und wartete geduldig auf Lockerung der Fesseln, sprang dann federnd in den Gelenken auf und füllte das miserable Loch mit seinem Arom, seinem Prestige, seiner Sicherheit und seiner Pracht.

»Ghazi« – Sieger – nannten sie ihren Gefangenen. Brachten ihm Wasser, da er sich zu säubern wünschte, auch ein Barbier erschien, niemals aber wurden ihm die Ketten völlig abgenommen, so heilten auch die Scheuerwunden nicht.

Nach einiger Zeit begannen die Wächter nicht nur oft zu wechseln, ihre Neugierde beim Dienstantritt war auch deutlich mit Resignation verhangen.

»Azaz, Sanyur, Tsakas, Mawdud, was ist mit euch?« frug ihr Häftling seine letzterschienenen Hüter, als deren trockene Steppenschädel sich gegen Wochenende immer trüber neigten.

Jekermisch, der Oberaufseher, sah den Fragenden hinter kamelhöckrigen Backenknochen hervor innig an:

»Kleiner Gott der Christen«, sprach er, »jeder, der dich sieben Tage lang bewacht hat, wird geköpft, denn dann habest du ihm diesen, seinen Kopf schon so verdreht, daß er zum Dienst nicht mehr verläßlich scheine, meint der Großherr. Jeden Abend nämlich läßt er deine Kerkermeister zur Berichterstattung kommen, und sie erzählen ihm gar viel von dir.«

»Ihr Idioten, warum denn von mir? Erzählt ihm lieber täglich, wie ich ihn bewundere, dann läßt er euch am Leben. Etwa so:«

Und Bohemund begann die Schilderung der eigenen Gefangennahme in der Euphratschlucht, wie einen Heldensang zum Ruhm Gümüschtekîns. Die Hörer hockten hingerissen, als er längst geendet.

»Nehmt den Mund so voll damit, daß euch der Lobsaft aus den Lefzen sickert«, mahnte der Belehrer, »nur das verbürgt Erfolg.

Übrigens nicht ganz mein eigener Einfall! In den Bazaren Syriens berichteten eure arabischen Glaubensbrüder ähnliches von der Tochter eines Großveziers. Sie gewöhnte ihrem mißtrauischen Sultan das Köpfen seiner Gattinnen am Morgen nach der Hochzeit durch nächtliches Erzählen fesselnder Geschichten ab, so verflochten ineinander, daß der gierige Hörer das Ende nicht vermissen wollte und die Hinrichtung von Tag zu Tag verschob. Sehr klug von der Sultana. Nur viele Mühe wäre ihr erspart geblieben, hätte sie, statt tausend und eine Geschichte über andere Leute zu erfinden, ihrem Herrn und Gebieter stets die gleiche, schmeichelhaft ihn selbst betreffende, über tausend Nächte ausgesponnen.«

Azaz, Sanyur, Tsakas, Mawdud, Jekermisch konnten mit dem Rat zufrieden sein. Die Wache wurde fortan nicht gewechselt.

 

Melaz

Am schwersten war die enge Fesselung zur Nacht ertragbar.

Dann lag er wehrlos auf dem Rücken, Hand- und Fußgelenke an vier, in den Felsenboden eingelassenen Ringen festgekettet, meistens ohne Schlaf.

Einst bei Neumond weckte ihn aus blattdünnem, horchendem Schlummer ein Geraschel. Etwa Ratten? Nein, es ging von einer einzigen Richtung aus.

Durch die silbrige Finsternis glitt jetzt ein Stück noch dichteres Dunkel. Von der Anstrengung sich aufzubäumen barsten seine Schorfe; öligweich fühlte er sein Blut zwischen rohem Fleisch und Fessel nässen. Roch es auch. Ihm war, als sögen im Verließ noch fremde, flachere Nüstern mit am Blutgeruch. Das Stück ganz tiefen Dunkels kauerte nun dicht bei ihm, und eine Zunge begann, am frischen Blut zu lecken, rund um die Gelenke. Gleich würden Zähne in die Wunden schlagen, falls sich hier ein Raubtier eingeschlichen hatte. Doch Moschusduft, gemischt mit feinem Wildgeruch, ging aus von dem Stück dunkelster Dunkelheit. So war es etwas anderes. Heilend glitt die Zunge um und um, als wäre Balsam unter ihr und süßes Wasser. Als die Blutung überraschend schnell sich stillte, begannen saugnapfartige, sinnlich tastende Hände an seinem nackten Leib entlangzuwandern. Urlebendiges sprang aus ihnen über. Nun war das dichteste Dunkel selber über ihm: schöne, fließende Formen eines Frauenkörpers lagen auf dem seinen, mit Moschus und sanftestem Wildgeruch, kühlen Armen, heißen Schenkeln, zogen ihn mit sich in eine bodenlose Strömung, immer enger, rascher, dichter. Meeresmuschelrauschen stieg in seinen Ohren. Er zitterte von prachtvoller Ekstase und drang mit einer schöpferischen Bewegung in den tiefsten Kern der Dunkelheit.

Stets von neuem stieg die Woge des Gefühls, überschlug sich stampfend, verebbte wonnigbreit, um sich, selber überstürzt von seligem Schlaf, plötzlich nicht mehr zu erheben.

Zu solchem Wohlsein war er noch in keinem Seidenbett der Welt erwacht, wie anderen Morgens auf dem Felsenboden seines Kerkers. Zu Tode also hatte ihn die Nachtmahr nicht geritten. Unter ihrer Zunge schien sogar Wunderarzenei zu wachsen, denn die ausgeleckten Wunden hatten, beinahe schorflos, sich mit einem silberrosa Häutchen überzogen.

Die Wache tat wie blind zu allem. Er selber schwieg, um die Frau nicht zu gefährden. Wer wußte denn, wie sie sich hereingelistet hatte, an den Nachtgarden vorbei, ganz anderen stets, als seine persönlichen Pfleger.

Wenn sie wiederkam, würde er das Wesentliche schon erfragen.

Als sie wiederkam, war nichts mehr wesentlich, vom ersten Rascheln fallender Kleider angefangen, als eben diese heiße, dunkle Insel eines Frauenkörpers, das Zeitlos-Abgründige aus Strom und Sturm und Flamme, in dem sein nachtendes Teil das ihre fand. Tiefe gab der Tiefe Antwort mit dem Zaubergelalle von Urlauten; da fiel jede Tagesfrage nach wer und wie dahin: klein, spitz, völlig belanglos, weggespült durch Übermächtiges.

So ging das viele Monde weiter. Fast ein Jahr.

Seinen ganz erfüllten Nächten standen lange, leere Tage gegenüber, während Wut ihn schüttelte über die unwiederbringlich verlorene Zeit. Dabei spürte er, daß seine Wirkung nicht einmal mehr Gümüschtekîns Person erreichen konnte. Der Großherr hatte Nîksar offenbar verlassen, die Besatzung der Veste aber noch verstärkt, Reiterei um sie zusammengezogen. Dumpfes Schnauben und Hufgestampf aus breitem Umkreis drang in seine Luchsohren. Und wie das Pflegetrüppchen, hundemäßig verprügelt, scheu tat! Sogar Jekermisch, der Vertraulichste, schüttelte auf alle Fragen nur bleich den Kopf.

Da verweigerte er jede Nahrung, bis sie ihm nicht Antwort geben würden, was im Gange sei. An dem hilflosen Erschrecken erkannte er das Maß der Drohung. Mit ihrem Leben hafteten sie für das seine.

Endlich erreichte ihn, wenn auch verworren, ein Echo der Ereignisse.

»Sie kommen«, wisperte Jekermisch. »Zahllose von diesen fremden Kriegerstämmen sind über das große Westwasser geschwommen in geruderten Burgen, diesmal nicht, um das Grab ihres Propheten, vielmehr um dich, den kleinen Gott der Christen selber, zu befreien.«

Ein Meervogelschrei brach aus dem Gefangenen, grellte immer wieder durch das Verließ, kreischte auf, stieß sich zwischen Wand und Wand, taumelte, viel zu groß für diese Zelle. Es schrie aus ihm die klanggewordene, grenzenlose Wikingergier nach Raum.

Jekermisch duckte flach, plattgeschlagen von dem fürchterlichen Jubel. Bohemund riß den Zitternden auf, stülpte ihn nach vorn, um auch das letzte an Nachricht, was der Steppenschädel enthalten mochte, aus ihm herauszubeuteln. Horchte atemlos.

Kunterbunt kam allerlei hervor, doch was gleich zu Anfang hingehört, erst ganz am Ende. Es lautete:

»Befehligt wird der Kriegszug der unermeßlich Vielen zu deiner Befreiung von den Emiren des Großsultans in Byzanz.«

Bohemund warf den Ausgeleerten weit beiseite, setzte sich, die Hände um das Knie geschlungen, und dachte … dachte, was das bedeuten sollte: Freunde, angeführt von seinem Todfeind.

Es kam kein neuer Meervogelschrei.

Nur jetzt das Richtige erraten.

Da die Helfer über das »große Westwasser« gerudert waren, konnten es weder Tancreds Streitkräfte noch solche aus Edessa oder Jerusalem sein. Ein neuer Kreuzzug also! Wahrscheinlich aus der Lombardei, wo schon längst Pilgertruppen sollten angeworben werden von den Grafen Blandrate und Burgund auf das dringende Flehen Bouillons um Hilfe für Jerusalem.

Ehe ihn selbst das Unglück in der Euphratschlucht erreichte, hatte er vernommen, auch Conrad, der Connetable Kaiser Heinrichs, dann der Herzog von Aquitanien nebst dem bayrischen Welf, wollten Heere rüsten zu dem gleichen Zweck.

Selbst Stephan Blois, der »Strickkletterer«, mußte wieder in den Heiligen Krieg, so wurde an den Höfen wenigstens gezischelt, zurückbeordert von seiner Frau Adela, »süßeste der Freundinnen«, um sein schmachvolles Verhalten vor Antiochia gutzumachen, sonst drohte sie, den Keuschheitsgürtel nie mehr abzulegen.

Daß die neuen Heere abermals den Weg über Byzanz nehmen würden, schien gegeben. Dort wiederholte sich das alte Spiel: Aushungerung oder Eid. Dann ging es, unter Aufsicht irgendeines griechischen Armeekorps, mit des Kaisers Segen in der großen Diagonale los nach Palästina. Sicher hatte Alexios von den frischen Vasallen bei ihrem Schwur gefordert, daß sie auf dem Weg für ihn Antiochia der »normannischen Raubbestie« und ihrem Satansküken Tancred, um jeden Preis entreißen sollten.

Nun war aus Jekermischs Steppenschädel aber ein Stück Nachricht mit herausgekollert, das in dieses Schema nirgends paßte, nämlich das Unternehmen gegen Nîksar seinetwegen.

Wie kam es, daß, kaum auf dem asiatischen Ufer angekommen, diese Kreuzfahrer, und das mußten sie ja sein, plötzlich abgeschwenkt waren, weg vom Heiligen Grab, in die verkehrte Richtung, was sicher nicht im Plan der byzantinischen Führung lag? Und doch führte sie dabei, wie sein Gewährsmann sagte, während Alexios an der möglichst dauerhaften Entfernung seines Erzfeindes aus dem Weltspiel alles liegen mußte. Dem Kaiser saß Bohemund doch gut und gern im skythischen Verließ, bis er verrottete.

Da stieg dem Sinnenden jene populäre Bewegung unter Barthélémy ins Gedächtnis. Auch damals hatten zu entscheidender Stunde die Pilgermassen der Oberleitung ihren Willen aufgedrängt und den Kreuzzug herumgerissen: hin zum Heiligen Grab, wie sie jetzt von der bereits befreiten Weihestätte wegdrängten, um lieber den populärsten Mann aus jener ersten Epopöe, Kerbogas Besieger: ihn selber, zu befreien, in einem Aufrausch bedenkenlosen Hochgefühles, ohne nach der Möglichkeit zu fragen. Ja, so mußte es gewesen sein. Der Gedankengang war richtig.

Und Byzanz? Es tat das Weiseste natürlich. Indem es einfach mittat, doch nur genau so weit, bis die verhängnisvolle Wüstenzone beginnen würde. Vor ihr lagen auf dem Nordweg eben wieder ein paar fette alte Reichsprovinzen, noch unter Türkenherrschaft, für die nach Wiederbesetzung Ablieferungspflicht bestand, wie Kappadozien, Paphlagonien, die Themen von Charsian, Sebaste und Colonea. Ganz hübsch, wenn man das alles derart billig zurückbekam, durch nicht viel mehr als einen strategischen Spaziergang neben den Eroberern.

Wo dann die Grenzen dieser Gebiete sich schließlich aufwärtsrundeten zum byzantinischen Streifen am Schwarzen Meer, mit Sinope als Hauptstadt, das nie an den Islam gefallen war, dort würde die griechische Legion gerührten oder, je nachdem, gekränkten Abschied nehmen, wie es besser paßte, auf alle Fälle aber Abschied, und den fremden Volkswillen in höchste Gefährdung, durch die furchtbar vereinigten Seltschukiden und Danischmenditen taumeln lassen; denn gegen den gemeinsamen Eindringling hatten Gümüschtekîn und Quilij Arslan trotz altem Hader sich vorderhand verbündet.

Wie stand es da mit seiner eigenen Aussicht auf Befreiung? Massen kamen, ob jedoch so erprobte, wie das gegen die Elite der Türken nötig war? Er zweifelte, kannte auch am eigenen Leibe die Härten dieser Öde, durch die er helmlos und in Fesseln auf immer wechselnden Pferden war durchgetrieben worden, kannte den Wassermangel weiter Strecken im hohen Sommer. Dieses ganze Befreiungsunternehmen hatte etwas bedenklich Kopfloses, wie eben ungeschulter Troß es ausheckt; denn viele Nichtkämpfer mit Weibern und Kindern würden auch dabei sein, hatte Gottfried von Bouillon doch immerfort gefleht um Kolonisten, nicht nur um Truppen. Und erreichten die Christenheere auch Nîksar – hier gab es Reiterei genug, ihn wohl rechtzeitig weiter zu verschleppen.

So nüchtern taten allerdings nur die Gedanken. Dafür schlugen ihm die Pulse seine Fingerknöchel an den Felsen wund vor Ungeduld.

Sie würde in der Nacht viel Blut zu lecken finden.

Wäre nur erst wieder Finsternis, in der die unerlöste Zeit versinken könnte. Zwar wollte ihm jetzt manchmal scheinen, als ob sein Wesen nicht mehr so völlig vom Bewußtlos-Purpurnen hinabgeschlungen würde wie früher, wenigstens nicht lang genug, um ihn morgens, als völlig Neugeborenen zu entlassen.

»Ghazi, du bleibst bei uns.« Das Schakalrudel seiner Wächter drängte eines Tages unter Siegesgeheul in den Kerker und berichtete ihm die Vernichtung der Befreier. Diesmal ließen sie sich nicht erst lange fragen. Wie er schon diese trockenen Tiere haßte.

Unsichtbar, unhörbar hatten die Türken ihre Opfer begleitet, hatten gewartet, bis diese sich in die Einöden vertieft; das Becken von Quizil Irmak, die Salzwüste, vor sich den Bergkamm des Lilkaz-Dagh, der überklettert werden mußte. Dann eines Tages begannen Pfeilwolken herabzuschwirren auf die ganz Erschöpften, taumelnd vor Hunger, Durst, Entmutigung.

Von nun an gab es keine Ruhe für das Kreuzheer. Gümüschtekîn. und Quilij Arslan lockten es durch unaufhörliches Geplänkel genau dorthin, wo sie dem völlig demoralisierten Gegner dann die Hauptschlacht liefern wollten, zwischen Amasia und Sîvas. An die zweimal Hunderttausend gingen hier zugrunde. Nur wenige Berittene retteten sich nach Norden, an den Pontos, bis auf byzantinisches Gebiet, um dann ganz langsam, ein Häuflein Geschlagener, schließlich Konstantinopel zu erreichen. Das gesamte Lager, alle Nichtkämpfer, Frauen und Kinder, fielen an die Türken; wer tauglich, wurde auf den Sklavenmärkten verkauft, die anderen einfach abgeschlachtet.

Ihn selber kostete das die Befreiung, doch noch ganz andere Folgen aus der Katastrophe sah der Erfahrene voraus. Jenes Prestige christlicher Unbesiegbarkeit, zu Dorylea und Antiochia durch ihn selbst erworben, war jetzt dahin, ausgelöscht im Bewußtsein des Islam ein erster siegreicher Kreuzzug durch den verlorenen zweiten. Bald würde der gesamte vordere Orient das, spüren. Er aber, der eine Welt zu tun hatte, saß machtlos hier.

Die Wächter wurden ganz betrübt von der Betrübnis ihres kostbaren Gefangenen. So war er nie gewesen. Wie gut, daß wenig später eine Freudenbotschaft für ihn eintraf.

»Kleiner Gott der Christen, deine Haft hier geht zu Ende«, schnatterten sie ihm erregt entgegen. »Heimlich verraten wir es dir schon vor der Zeit, damit du wieder fröhlich werdest. – Brüll' nicht so vor Glück! – Au! – Halt! – Langsam! Ja, es ist wirklich wahr. Malik Ghazi Gümüschtekîn ist wieder da und verhandelt um das Lösegeld mit der Gesandtschaft. Berge Goldes will man für dich geben. Solche:«

Sie standen auf den Zehenspitzen und beschrieben mit den Armen größte Kreise.

»Wer kauft mich los?« schrie er wie toll.

»Der Großsultan zu Byzanz, dein Verbündeter. Wer anders? Seine klugen Emire kehrten wohlweislich lange vor der Entscheidungsschlacht schon heim, sie sahen eben, wie aussichtslos Gewalt sei. Jetzt bieten sie friedliches Geld.«

Warum freute sich der Unbegreifliche so wenig? Sicher hatte er noch keine Ahnung, welch eine Wunderstadt ihn bei dem Glaubensfreund erwartete, und begannen zu erzählen, von dem, was sie mit Augen nie geschaut hatten, was aber Tagtraum aller Skythenhirne war.

Da sah ihr Hörer auf, so finster, daß sie ihm aus den Augen schlichen.

Also ausgeliefert an den Kaiser. In seinen Händen eine unschätzbare Geisel. Alexios konnte ihm ja den Prozeß machen, ihn blenden, hinrichten lassen, gleich so manchen anderen ungetreuen Fürsten. Oder zur Abschreckung dem Zirkuspöbel übergeben, dessen Praktik Guy so anschaulich geschildert hatte. Schon die Drohung genügte, um Tancred ohne Schwertstreich Syrien abzuzwingen. Doch warum sollte es nur Drohung bleiben? Diesmal kam er nicht in die Akropolis der Welt als unantastbarer Kreuzherr, unter dem Schutz von vier Armeen, vielmehr als ein den Türken abgenommener Rebell, und die einzige Kreuzzugsarmee zu seinem Schutz, verweste eben in den Salzsteppen vor Sîvas. Europa, konsterniert und ausgeblutet, würde sich nicht rühren. König Balduin blieb an Palästina gebunden durch die fatimidische Gefahr. Die jungen Regenten zu Edessa und Antiochia, angewiesen auf die eigenen Kräfte, rannten in den sicheren Verderb bei einem Krieg gegen solche Weltmacht.

Wohl konnte er Gümüschtekîn ersuchen, daß der ihm Frist gewähre, um vielleicht selbst die gleiche Lösesumme aufzubringen. Doch was half das! Alexios würde einfach sein Angebot verdoppeln, vervierfachen, ins Unerschwingliche für jeden anderen steigern.

Sich gerade jetzt um jeden Preis seiner Person bemächtigen, das war der kaiserliche Meisterzug.

Guys Warnung vom ersten Abend kam ihm wieder:

»Byzanz ist weise wie Gott und fast so mächtig.«

Auch der Nachsatz:

»Merk' es dir.«

In dieser Nacht blieb eine bösartige Wachheit in ihm übrig. Trotz aller Leidenschaft. Sie merkte seinen Widerstand gegen das bewußtlos sich in ihrer Finsternis Verströmen. Warb um sein kreatürliches Vertrauen, hielt Arme voller Schlaf bereit, um ihn hineinzubetten, spann mit den Lippen Zauberfäden über seine Lider. Hart nahm er ihren Körper viele Male und blieb für sich. Endlich lag sie ratlos über ihn geworfen, die Hände schlaff den Leib entlang. Er tastete danach, doch seine kurzen Ketten hielten ihm die Arme zu weit abgespreizt. Das brachte ihn zur Raserei. Mit voller Wucht schlugen seine Zähne ein in ihre Schulter.

Die List gelang. Sie warf die Arme auseinander und aufwärts, dem Schmerz entgegen, streifte dabei seine Fesseln. Blitzschnell griff er zu, hielt die geschmeidigen Gelenke so eisern, wie die Eisenringe seine eigenen hielten.

Welch ein Genuß, dieses Stück geheimnisvolle Dunkelheit einmal bis in das Tageslicht hineinzuzwingen. Mit aller Ruhe zuzuschauen, wie es nichts als ein ertapptes Weibchen würde, das man der grinsenden Wache übergab.

Langsam nahm er die Zähne aus der Wunde. Leckte nachlässig vom Blut. Tat dann das Dumm-Brutale. Wußte, daß es dumm-brutal sei. Nicht mehr gutzumachen. Spürte die künftige Reue schon voraus. Trotzdem. Er zerbrach das Kleinod Schweigen:

»Wie heißt du?«

»Melaz.«

Schon erschien die Frage klein, spitz, völlig belanglos wie immer, wieder überspült von jenem warmen Abgrund aus Strom und Sturm und Flamme, in dem sein nachtendes Teil das ihre fand.

Beschämt gab er ihre Hände frei. Sie schmolz ins Lautlos-Dunkle.

Verloren. Wer immer Melaz sein mochte. Ob eine jener freien Rossedämoninnen, wie sie jenseits des Schwarzen Meeres mit hellen Hengsten unzüchtige Kulte treiben sollten, oder die heimlich entwichene Gattin eines Emirs in Schleier und Sänfte. Er hatte das Unverzeihliche getan: ihr Nachtgesetz geschändet.

Diese Tage mußten seine Auslieferung an Byzanz bringen.

Er stählte sich dafür, als ein Sklave Kissen brachte, und gleich darauf Gümüschtekîn, der Großherr in Person, zum ersten- und wohl letztenmal bei den Gefangenen erschien. Er hatte ihn bisher gemieden, wie ein scheues Raubtier Verdächtiges meidet, das zur Falle werden kann. Nach keinem Lockbissen hatte er geschnappt. Nun, da es die Gefahr beschwatzt zu werden nicht mehr gab, wollte er seinen goldeswerten Fang wohl rasch noch selbst einmal beaugenscheinigen; zögerte sogar jetzt. Kam schrägen Blickes nur bis zu dem Kissen, ließ sich mit beherrschten Muskeln langsam nieder, wie ein geborener Reiter in den Sattel. Betastete dann den Felsboden mit kurzen, starken Fingern, einen der eingelassenen Eisenringe, weil er ihm gelockert schien. Sah plötzlich den Mann in Ketten, ihm gegenüber, ohne Blinzeln ins Gesicht und ließ im Bruchteil einer Sekunde ganz unerwartet jede Vorsicht fallen:

»Hilf mir.«

Dann brach er ab. An seiner Lederstirne tickte eine Ader.

Der Zuhörer schien höflich, doch nicht eben überrascht, erst recht nicht interessiert zu lauschen. Ein Bein gestreckt, starke, leichte Hände um das gebogene zweite Knie geschlungen, neigte er sich etwas vor, wie ein lässiger Gott zur turbulenten kleinen Erde.

Langsam kam der Großherr jetzt ins Feuer. Es ging um Quilij Arslan. Hochnäsiges Pack, diese Seltschukiden, dabei, wo sie auftauchten, gab es sicher Stunk. Aasgeier, nichts weiter. Doch gegen den unerwarteten Christeneinbruch von Byzanz her in sein Gebiet hatte Gümüschtekîn sich leider mit dem Nachbarsultanat verbünden müssen unter der Bedingung, daß, was an Beute in dem Krieg herauskam, geteilt würde. Bei den Gefangenen aus dem eroberten Lager geschah dies ungesäumt.

Nun aber verlangte dieser Vater der Frechheit noch obendrein die Hälfte des byzantinischen Lösegeldes für den Prinzen von Antiochia, der doch in Kleinarmenien lange vorher von ihm und seinen Danischmenditen allein gefangen worden. Quilij Arslan aber behauptete, das Bündnis sei eben gegen vereinigte Heere unter byzantinischer Führung geschlossen worden; was in der Folge von Byzanz sich böte an Gewinn, fiele unter den Vertrag. Der Kaiser habe mit Gewalt den Gefangenen erreichen wollen; dank der Verbündeten Hilfe sei das mißglückt, so daß der Hof zu Konstantinopel nun statt dessen eine Lösesumme biete. Weigere Gümüschtekîn, die Hälfte abzutreten, so bedeute das den Krieg. Der wäre ihm recht ungelegen gekommen – der Erzähler gab es ohne weiteres zu – er hatte gerade andere Pläne. Trotzdem vom Lösegeld sollte der Seltschukide kein Stäubchen Goldes sehen. Das niemals.

So war ihm eben der Gedanke eingefallen, das so fruchtbare Hirn des Gefangenen, von dem er Wunderdinge gehört, in Gang zu setzen, besonders, da die Sache diesen schließlich selbst betraf.

»Also hilf mir!«, schloß er seine Auseinandersetzung.

Der lässige Gott begann ganz leise mit dem gebogenen Knie zu wippen.

»Siehst du, siehst du«, sagte er mit seiner sanftesten Honigstimme, »das kommt davon, daß du mich meinem ärgsten Feind verschachern wolltest, statt, wie ich das seit Monaten erwarte, mit mir zusammen freundschaftlich diese kleine Sache der Enthaftung zu bereinigen, was damals nur uns beide angegangen wäre. Jetzt scheint das schon viel schwieriger geworden.«

»Was also ist zu tun?« Gümüschtekîn, ganz Reue und Erwartung, lauschte ungeduldig.

»So weit ich sehen kann, heißt es für dich vor allem, Quilij Arslans Rechtsansprüche schon an der Quelle zu verstopfen, was ihn wütend machen muß und ohnmächtig zugleich, also doppelt wütend. Somit darf Byzanz als mein Käufer nie mehr in Betracht kommen, was immer es auch bieten möge; denn mit jedem Goldstück, das du von dort mehr erhältst, bekommt auch der freche Nutznießer ein neues dazu. Oder willst du das am Ende?«

Mit beiden Armen hob Gümüschtekîn seinen Protest empor und warf ihn in den Himmel.

»Nun gut, es sei. Ich will dir aus der Patsche helfen, kenne natürlich den Betrag, den du jetzt mit dem Kaiser ausgehandelt.«

Der gerissene Normanne hatte keine Ahnung von der Lösesumme. »Berge Goldes« – genaueres wußten seine Wächter nicht. Er fürchtete jedoch, durch das Verraten seiner Unkenntnis den Preis im nachhinein zu steigern.

»Ich biete dir die Hälfte selber, über Zahlungsbedingungen, Bürgschaft und Pfänder werden wir uns einigen. Du erhältst somit das gleiche wie jetzt unter dem Vertrag mit Quilij Arslan; verlierst nichts, er aber alles bei dem Tausch.«

»Byzanz bezahlt mir die Million an goldenen Solidi gleich auf die Hand – wie willst denn du auch nur die Hälfte in absehbarer Zeit beschaffen?« frug der mißtrauische Großherr.

Bohemund erbleichte bei der Nennung dieser Riesensumme, mit der er sich belastet sah. Und doch, es ging nicht anders, wäre früher nicht billiger gegangen, sondern gar nicht. Im ersten halben Jahre war Gümüschtekîn von seinem Fang noch viel zu sehr berauscht, um sich von ihm zu trennen, um welchen Preis auch immer. Das hatte er längst erwogen.

»Meine Städte in Zilizien, in Kleinarmenien, durch die wir gemeinsam reiten werden, bleiben gleich dein Pfand. Alle Privatvermögen in ganz Syrien, auch das der Kirche, müssen in Barem heraus, das gibt dir wohl die erste Viertelmillion, wenn ich sogleich als freier Herrscher kommen kann, um sie selbst an Ort und Stelle einzutreiben. Eilschiffe gehen unterdessen nach Italien, alles Geld herauszunehmen aus meinen südlichen Provinzen, meine Sippe in Sizilien bürgt für den Rest.

Du sollst nichts verlieren – dein Gegner aber alles.«

Diese letzte Aussicht war es, die Gümüschtekîn bewog nach langer Überredung.

Anderen Tages ging am Mittelturm von Nîksar das Tor auf.

Sonne toste in seine Ohren.

Hufe tänzelten.

Jemand hielt den Steigbügel. Dem ungeheuren Anprall des Lichtes warf er sich entgegen mit dem ersten Galoppsprung. Immer gestreckter wurde das Rasen, mitten hinein unter lauter Geschöpfe, die sich unbegreiflich frei bewegen durften in der wehenden Grüne einer herzzersprengend schönen Welt.

Gümüschtekîn und seine Reiter waren weit zurückgeblieben. Sie grinsten gutmütig.

Die Heimkehr wurde ein Triumphzug. Alle Gaufürsten eilten ihm entgegen; als erster am oberen Euphrat Gabriel, Herr von Malathya, um dessentwillen er gefangen worden war, brachte, was er an Barem hatte als Beitrag für den Freikauf. Zwischen Aleppe und Edessa verabschiedete sich dann der Großherr mit seinen Truppen unter Beteuerungen ewiger Freundschaft, vorausgesetzt natürlich, daß die Zahlungstermine pünktlich eingehalten würden, kehrte dann um, die zilizischen und kleinarmenischen Stadtburgen als Pfänder bis auf weiteres zu besetzen. Die vierhunderttürmige Antiochia schwankte im Brausen ihrer Glocken. Bernhard von Valencia, der neue Patriarch, mit seinem Klerus in einer Wolke Weihrauch, stand zum Empfang bereit. Hinter ihm, sehr ungern hinter ihm, kam Tancred, seinem Herrn und Prinzen die Insignien der Macht zu übergeben.

Bei seinem Anblick brach Bohemund zum erstenmal seit über einem Jahr wieder in sein altes, schönes, freies Lachen aus. Lachte so, daß ihm die Tränen kamen. Seine ersten, halb erstickten Worte waren:

»Laß dich rasieren, Stierkalb.«

Tancred hatte einen langfädigen Spitzbart entwickelt, der ihm den Hals hinuntersickerte, trug eine Art Turban und befleißigte sich auch sonst sultanischer Allüren an seiner restlichen Person.

»Du gehörst wieder an die Leine.«

»Gern. Doch habe ich damals in Byzanz dir nur geschworen, jeden Mann, wenn du es willst, zum Feind zu nehmen, jede Frau, die du mir schickst, zum Weibe, unbesehen. Von meiner Haartracht schweigt der Schwur.«

»Ach, die Weiberklausel war mir ganz entfallen. Also schön, der König von Frankreich hat eine lieblich junge Tochter, die soll dafür sorgen, daß du wieder menschlich um den Mund wirst.«

Bei dem Abendfest im Herrscherpalast ging es dann ans Erzählen.

Tancred verdiente großes Lob. Er und sein junger Stab hatten jedes Mögliche geleistet, sogar Laodicea war hinzuerobert.

»Und«, schloß Salerno – die Jünglinge hatten vorher darum gewürfelt, wer die Glanzstücke der Leistungen berichten dürfe –, »Saint Gilles haben wir noch obendrein dabei gefangen.«

Jetzt war wieder Tancred an der Reihe:

»Weil der gelbe Marquis sich doch immer schon so nach der Zitadelle von Antiochia sehnte, habe ich ihn dort hineingesetzt, allerdings in Ketten und gerade so, daß er durch ein Loch des Kerkers dein Banner von der höchsten Zinne wehen sieht, die verhaßte Drachenglyphe.«

»Wie lange trägt er schon die Ketten?«

»Bald ein Jahr.«

»Das ist sehr lang. Zeit, daß er freikommt.«

Die Jünglinge sahen auf, befremdet. Er beruhigte sie.

»Nein, nicht um Gottes Lohn, ich bin dafür, daß gute Taten schon innerhalb vernünftiger Fristen ihren Lohn finden. Der meine für diese Nachsicht wird sein, daß Saint Gilles in Gegenwart des Patriarchen und seiner eigenen provençalischen Barone durch Schwur und Unterschrift sich unumgänglich von jedem Anspruch auf mein Syrien lossagt, um es weder im eigenen noch im Namen irgendeines anderen je mehr zu betreten. Noch heute nacht setz' ich die Eidesformel selber auf. Geht jetzt zur Ruhe. Es ist euer großer Tag gewesen, nicht meiner.«

Sorgen wölkten bald herab. Politische Gewitter brauten sich in Syrien zusammen in den nächsten Monaten.

Was der Erfahrene vorausgesehen als Folge des verunglückten lombardischen Kreuzzuges, geschah. Der Islam ward wieder unruhig. Quilij Arslan, wütend über den Entgang des Lösegeldes, lag seinen hohen Vettern Barkiyaruk in Persien und dem Kalifen von Bagdad in den Ohren, doch nun endlich für die Vernichtung ihres Abgesandten, des Atabeg von Mossul: Kerboga, Rache zu nehmen an dessen Besieger, ehe der neue Kraft gewann. Dabei konnte gleich jener Emporkömmling am Schwarzen Meer gezüchtigt werden für das Verbrechen, daß er ihrer aller gefährlichsten Feind wieder ausgelassen hatte, hinein in seine freche Frische, statt ihn dem Kaiser zu übergeben. Der hätte noch Berge Goldes dafür bezahlt, um ihn unschädlich zu machen.

Gefährlicher noch als diese ferne Drohung war die unheimliche Haltung von Byzanz. Zu Lande untätig, begann es, gleich nach dem Scheitern des Gefangenenkaufs, die syrische Küste zu blockieren. Dadurch gelang es Kantakuzen, die ersten Geldtransporte aus Apulien abzufangen, so daß weder Emma von Otranto noch Roger von Sizilien weitere Sendungen wagten. Mit Byzanz war überdies Venedig noch im Bunde, während Bohemunds Alliierte, die Pisaner, vor Palästina Lukrativeres zu tun fanden, als ihm beizustehen. Wann war denn je Verlaß auf diese italienischen Seerepubliken?

Alles nur, weil er – der Wikinger – noch keine würdige Flotte hatte. Oh, nur noch fünf Jahre Frist!

Jetzt also hieß es, die ganze Lösesumme schonungslos aus seinen orientalischen Provinzen herauszupressen. Die Bevölkerung revoltierte schon. Trotzdem, es mußte sein, denn ihm fehlte die Bewegungsfreiheit, so lange Gümüschtekîn die zilizischen und kleinarmenischen Festungen besetzt hielt. Alle seine lang gesammelten Kleinodien gab er her. Selbst der berühmte goldene Widder aus Kastilien mußte geschlachtet werden. Sein Inneres aber war enttäuschend, weil aus Blei.

Immer öfter ließ der Prinz von Antiochia sich jetzt verleugnen, wenn die eine oder andere fremde Gesandtschaft kam. Krankheit, so hieß es, sei der Grund. Spione trugen gleich die willkommene Nachricht zu Kantakuzen auf die byzantinische Flotte, die an der Küste kreuzte. Man munkelte etwas von Gift. Der Skythenfürst vom Schwarzen Meer habe seinen Gefangenen nur in den Tod entlassen.

Eines Tages sagte der Patient zu Tancred:

»Mein Lieber, auch ohne Cäcilie von Frankreich wird deine Bartzier fallen müssen. Auch dein hübsches Gelock. Ausgerauft fliegen sie neben Fetzen deines Mantels über die Stufen vor der Kathedrale. Oder magst du mich am Ende nicht betrauern, Anfang nächster Woche?«

Ungläubig sah der andere in die grauen Kristalle, klar und frisch wie immer, mit blauen Blitzen darin. Auf den geschmeidigen Athleten, der, locker in den Gelenken, wie ein Raubtier auf- und abging. Der Todeskandidat hielt plötzlich an, nahm Tancred bei den Schultern.

»Genug, jetzt heißt es sterben. Nur die Auferstehung hat wieder Wert für mich.«


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