Hans Dominik
Die Spur des Dschingis-Khan
Hans Dominik

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Nummer achtzehn steuerte von Norden her den Orenburger Hafen an. Es fuhr schwerfällig, als ob ein Teil seiner Maschinen außer Betrieb sei. Der mächtige Rumpf lag nach Backbord über, als ob das Gleichgewicht gestört sei. Aber es fuhr doch mit eigener Kraft und kam dem Flughafen von Minute zu Minute näher.

Jetzt konnte man auch mit unbewaffnetem Auge erkennen, daß sein Rumpf an mehr als einer Stelle schwere Verletzungen aufwies. Ein Teil seiner Propeller war zerstört. Geknickt und zertrümmert hingen die Bruchstücke in den Lagern. Auf der Backbordseite zeigte der Rumpf große Risse und Löcher. Nur mit Mühe konnte der Führer sein Schiff in der Luft halten und vor dem Kentern bewahren.

Jetzt senkte es sich über der Plattform und warf die Leinen aus. Geschickt griffen die Schaffner zu. Aber sie hatten heute viel länger als sonst zu richten und zu dirigieren, bevor das Schiff endlich über dem Gleis stand und seine starken Räder in die Schienen eingriffen.

Im gleichen Moment begannen die hydraulischen Pressen der Station zu arbeiten. Wie von Zauberhänden bewegt, klappten zu beiden Seiten des Schiffes mächtige eiserne Wände empor, schoben sich hoch und vereinigten sich über ihm. Nur wenige Minuten, und von der aufsteigenden Halle völlig umgeben, stand es dort sicher vor Wind und Wetter geborgen. Treppen wurden ausgeklappt, Türen geöffnet, und in breitem Schwarm ergossen sich die Passagiere aus dem Schiffsinnern in das Freie.

Aber das Bild war heute anders als sonst. Der Schrecken des Überfalles lag den Reisenden in den Gliedern. Es hatte Treffer und auch unter den Passagieren Verwundungen gegeben. Wenn sonst hier ein Schiff der großen europäisch-asiatischen Linie landete, waren seine Promenadendecks stets dicht besetzt, und schon von weitem grüßte Winken und Tücherschwenken. Diesmal dauerte es viel länger, bis das gewohnte Leben und Treiben in Gang kamen. Viele Gesichter zeigten noch die Blässe, die von überstandener Gefahr sprach. Der Überfall, so schnell er auch bestraft wurde, war doch dem Luftverkehr dieses Tages nicht günstig. Die Beamten der Station hatten alle Hände voll zu tun, um Fahrscheine, die nach Omsk oder Andischan weiter galten, für die Eisenbahn umzustempeln. Viele Reisende zogen den langsameren, aber nach ihrer Meinung sicheren Landweg für die Weiterreise vor.

Jetzt lenkte Propellerschwirren die Blicke von neuem aufwärts. In windender Fahrt kam das Wachtschiff der E. S. C. an. Auf der Wölbung des Rumpfes schimmerte in leuchtenden Farben das Kompagniewappen. Die drei Ähren mit der Sichel und die verschlungenen Initialen E. S. C.

Sicher und schnell, ohne die Hilfe der Schaffner abzuwarten, setzte das Schiff auf der Plattform auf. Seine Treppe wurde ausgelegt. Georg Isenbrandt und Wellington Fox traten in Begleitung des Kommandanten ins Freie.

Zu dritt bestiegen sie einen der Fahrstühle, fuhren in die Tiefe und begaben sich zum Posthotel.

Georg Isenbrandt wandte sich an Herrn von Löwen:

»Während Sie sich mit dem Kommandanten von Nummer achtzehn besprechen und das Weitere in die Wege leiten, werde ich mit Mr. Fox im Hotel eine Erfrischung nehmen. Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, es uns wissen zu lassen, wenn Sie abfahrtbereit sind.«

In der kleinen Trinkstube hinter dem großen Speisesaal fanden die beiden Freunde eine wohnliche Ecke, in der sie allein und ungestört sitzen konnten.

Der Raum war im Stile der alten deutschen Ratsstuben gehalten, wie man sie heute noch in den baltischen Hansestädten an der Ostsee findet. Man konnte sich hier in das sechzehnte Jahrhundert zurückversetzt glauben. Nur der Funkenschreiber, der auf einem Tischchen an der Wand stand und unablässig Depeschen aus aller Welt aufschrieb, verriet, daß die Zeit inzwischen ein halbes Jahrtausend weitergegangen war.

Wellington Fox sprang auf und trat an den Apparat heran. Einen kurzen Moment haftete sein Blick auf den Schriftzügen des Papierstreifens. Dann wandte er sich an den Oberingenieur.

»Höre mal, Georg, was die Wun-Fang-Ti-Agentur meldet . . .«

Georg Isenbrandt machte eine abwehrende Handbewegung.

»Laß, Fox! Sie lügen, wie nur Chinesen zu lügen verstehen. Dagegen kommen sogar die Korrespondenten der glorreichen amerikanischen Presse nicht auf.«

Wellington Fox machte ein beleidigtes Gesicht.

»Keine Anzüglichkeiten, Georg! Die Korrespondenten werden leider zu wenig unterstützt. Darüber werden wir noch zu reden haben. Die Agentur meldet: Peking, den 7. April. Die erleuchtete Güte wandelt auf dem Wege der Genesung. Der wachsende Mond wird Seiner Himmlischen Majestät die volle Kraft zurückbringen . . .«

Georg Isenbrandt zuckte mit den Achseln.

»Lügen haben kurze Beine. Mit allen ihren Lügen können sie das Leben des Kubelai-Khan um keine Minute verlängern. Wenn kein Wunder geschieht, stirbt der Kaiser in wenigen Tagen an der Kugel, die Wang Tschung auf ihn abfeuerte.«

»Ja, zum Teufel, warum lügen die Kerle so gräßlich? Seit Wochen und Tagen ist's immer dieselbe Leier mit den Bulletins aus Peking. ›Es geht der Verhüllten Weisheit um einen Grad besser, es geht dem Himmelsgeborenen um zwei Grade besser‹ . . .«

Ein sarkastisches Lächeln ging über die Züge Isenbrandts.

»Fox, du alter Fuchs, du müßtest den Braten doch riechen. Kubelai-Khan, der als Kaiser Schitsu den Thron des Gelben Riesenreiches bestieg, hat nur einen unmündigen Sohn. Die Kugel des Republikaners, die ihn niederwarf, bedroht den Weiterbestand der neuen mongolischen Dynastie. Die ganze Lebensarbeit des Kubelai-Khan ist umsonst gewesen, wenn es nicht gelingt, in Peking eine starke Regentschaft einzusetzen, bevor der Tod des Kaisers öffentlich bekannt wird. Darum glaube ich, Fox, wir werden Bulletins der bisherigen Tonart noch lange zu lesen bekommen.«

Wellington Fox saß wieder am Tisch und stützte den Kopf in die Hand.

»Ich glaube, du hast recht, Georg. Das neue Gelbe Reich wurde erst vor zwanzig Jahren von dem kriegerischen Mongolengeneral und seinen Unterfeldherren zusammengeschweißt. Was bedeuten zwanzig Jahre in der viertausendjährigen Geschichte dieses Riesenreiches?«

»Nichts, Fox! Darum die Furcht, daß die junge Herrschaft wieder in Stücke geht. Nur die mongolische Kriegstüchtigkeit und die japanische Intelligenz halten das Riesenreich zusammen. Entsinken die Zügel der Regierung den Händen des Kubelai-Khan, ohne daß eine andere starke Faust sie ergreift, dann ist es um die Einigkeit des Gelben Reiches und um seine Stoßkraft nach außen geschehen.«

»Einverstanden, Georg! Die Konferenz in Berlin hat ja auch ihre Kriegspläne davon abhängig gemacht. Kaum glaublich, daß der Name Schitsu-Kubelai-Khan auf ganz Europa wirkt wie ein Habichtsschrei auf den Taubenschwarm. Deine Vollmachten müßten dir in der Tasche brennen bei dem ewigen Gedanken: Wird er leben? Wird er sterben?«

»Gut, daß ich die Gewißheit darüber habe. Die Vollmachten brennen nicht. Meine Pläne sind fertig.«

Wellington Fox nahm einen tiefen Zug aus seinem Glase.

»Weißt du auch, Georg, daß derselbe Mann, der in Berlin sprengte und deine Pläne stahl, heute den Überfall auf das Postschiff inszenieren ließ, in dem man dich vermutete?«

»Meinst du diesen Collin Cameron? Den Menschen, von dem du mir schon in Berlin erzählt hast?«

»Den meine ich, Georg! Gerade den! Hüte dich vor Collin Cameron! . . . Ich möchte wohl wissen, wie Mr. Granson, der dir das Kompagnieschiff schickte, von dem Streich zur rechten Zeit Wind bekommen hat.«

Ein Sergeant des Kompagniekreuzers trat in den Raum und meldete, daß das Schiff in zehn Minuten abfahrtbereit sei.

* * *

Am Nordufer des Kisil, dort, wo er bei Kaschgar dem Yarkand zuströmt, lag die Villa Witthusen. Auf steinernem Untersatz ein stattliches Holzhaus im Bungalostil. Rings um das ganze Gebäude zog sich, von dem flachen Dach mit überdeckt, eine breite Veranda. Das Innere des Hauses enthielt große und luftige Räume. Die Einrichtung der einzelnen Zimmer zeugte für den Reichtum des Besitzers.

Hier saß Theodor Witthusen, der Chef des großen Handelshauses Witthusen & Co., im Gespräch mit Mr. Collin Cameron, dem Vertreter der angesehenen amerikanischen Firma Uphart Brothers. Ein beträchtlicher Teil des Handels, der aus dem gelben Osten über Kaschgar nach Westen geht, lag in den Händen dieser beiden Firmen. Das russische Haus Witthusen & Co. importierte Häute und Teppiche, während das Haus Uphart Brothers mit Tee und Seide handelte. Collin Cameron war soeben von seiner Europareise zurückgekommen und hatte die erste Gelegenheit wahrgenommen, den Chef des befreundeten Hauses aufzusuchen.

Theodor Witthusen strich sich über den langen, leicht ergrauten Vollbart. Seine Züge verrieten Besorgnis.

»Wir sitzen hier in der Wetterecke, Mr. Cameron. Das politische Barometer ist gefallen und fällt noch weiter. Ich merke es an meinem Hauptbuch. Haben Sie Bestellungen aus dem Westen mitgebracht?«

Collin Cameron schlug sich auf die rechte Brusttasche.

»Gewiß, mein lieber Witthusen. Eine ganze Tasche voll! Die Nachfrage war sehr stark. Ich habe Aufträge für ein halbes Jahr mitgebracht.«

Theodor Witthusen schüttelte den Kopf.

»Ich habe seit Wochen keine Bestellungen mehr. Meine Lager sind voll bis unter das Dach. Man traut dem Frieden nicht. Die Auftraggeber halten zurück . . .«

»Sie sehen unnötig schwarz. Ich komme aus England. Man traut überall . . . Warum auch nicht . . . Es gab eine Krise, ich will es zugeben. Kurz nach dem Attentat auf den Kaiser. Die Gefahr ist überwunden. Ich habe zuverlässige Nachrichten. Die Kugel ist entfernt. Das Befinden des Schitsu bessert sich von Tag zu Tag. Wir haben nichts mehr zu fürchten . . .«

Theodor Witthusen war der Rede Collin Camerons Wort für Wort mit wachsender Aufmerksamkeit gefolgt.

»Ich weiß, Sie haben gute Verbindungen. Im Westen und auch hier bei unseren Behörden. Wenn Sie es sagen, glaube ich es. Ich hatte schon den Plan erwogen, Kaschgar zu verlassen und nach Rußland hinüberzugehen. Weg von hier nach Andischan . . . oder sonst irgendwohin ins Ferghanatal.«

»Sie weg? . . . Weg von hier? . . . Und Ihre Lager? . . . Millionenwerte . . . Ihre alte Firma, die Sie in zwanzig Jahren aufgebaut haben . . . passierte wirklich etwas, käme es zu Verwicklungen, so wäre das alles schutzlos feindlichen Zugriffen preisgegeben. Nein! Das dürfen Sie nicht . . . Schon Ihrer Tochter wegen nicht, der Sie das Vermögen erhalten müssen . . .«

»Gerade meiner Tochter wegen, Mr. Cameron. Ich bin ein alter Mann, und wenn man mich hier totschlägt, so . . . aber um meine Tochter bin ich in Sorge. Sie ist von Riga nach hierher unterwegs. Ich hätte sie warnen sollen . . . ich möchte sie heute noch warnen . . . ihr telephonieren, daß sie auf russischem Gebiete bleibt . . . ich werde auch telephonieren . . . Maria Feodorowna soll in Andischan warten, bis ich ihr weitere Nachrichten gebe.«

Collin Cameron war den Ausführungen seines Geschäftsfreundes mit unbeweglicher Miene gefolgt. Kein Zucken der ebenmäßigen Züge seines Gesichtes verriet, was hinter seiner Stirn vorging.

»Ich glaube, mein bester Witthusen, Sie sind viel zu ängstlich . . . so ängstlich geworden, weil Sie hier jahraus, jahrein an dem gleichen Fleck sitzen. Ich komme von England . . . war auch in Deutschland . . . Kein Mensch denkt an kriegerische Verwicklungen. Von Ihnen werde ich direkt zum Bürgermeister gehen, ihm meine Aufwartung machen. Wenn der Taotai irgendwelche Befürchtungen hat, wird er es mich wissen lassen. Ich stehe gut mit ihm . . . seit Jahren. Sie wissen, ich verstehe mich auch darauf, die Glocken etwas früher läuten zu hören als mancher andere.

Morgen gehe ich über Peking–Jokohama nach Frisko. Glauben Sie mir, es ist in den Staaten jetzt ungemütlicher als hier in Kaschgar. Sollte ich beim Taotai irgend etwas hören, gebe ich Ihnen noch Nachricht. Aber Ihre Besorgnisse sind sicherlich unnötig.«

Mit einem Händedruck empfahl sich Collin Cameron, um den Bürgermeister aufzusuchen.

Vor dem Hause wartete sein Kraftwagen auf ihn. Ein kurzer Wink Collin Camerons, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Es rollte durch die von alten Platanen eingefaßte Allee am Ufer des Kisil entlang, überschritt den Fluß auf der neuen eisernen Brücke und wand sich durch die engen emporsteigenden Straßen der Stadt, um das hochgelegene Amtsgebäude des Taotai zu erreichen.

Collin Cameron sah nichts von den Schönheiten dieser Fahrt. Seine Gedanken waren bei dem großen Spiel, das jetzt gemischt wurde. Bei dem gewaltigen Spiel, das die Auseinandersetzung der gelben und weißen Rasse bringen mußte.

Er fuhr zum Taotai. Eine Einladung . . . ja beinahe ein Befehl rief ihn dorthin. Das Blatt knisterte in seiner Tasche. In eben derselben Tasche, auf die er vorher geschlagen hatte, als er zu Theodor Witthusen von den vielen Aufträgen für seine Firma sprach.

Seine Gedanken flogen zurück. Wie lange schon steckte er in diesem Spiel? Er überzählte die Jahre . . . acht Jahre . . . neun Jahre. Vor neun Jahren war es, an einem bösen Wintertage. Da waren die Würfel gefallen, die über sein weiteres Leben entschieden. Da war nach Jahren des Kampfes und der Ungewißheit der große Prozeß zu seinen Ungunsten entschieden, der ihm die Lordschaft Lowdale bringen sollte. Das Urteil wies seine Ansprüche ab und brachte ihm Prozeßkosten in einer ungeheuren Höhe.

Damals stand er mit sich und der Welt zerfallen auf dem Londoner Pflaster. An jenem Tage . . . in ruhigen Momenten spürte er es oft . . . war er auf die schlimme Seite gefallen. Mit Leib und Seele hatte er sich in seiner Verzweiflung den Gelben verschrieben. Um jenes Tropfens gelben Blutes halber, der ihm die Pairie raubte, war er ein Feind der weißen Rasse geworden. Obwohl sein Fühlen und Denken ganz arisch waren, obwohl er das unwürdige Spiel, zu dem er hier die Hände bot, klar durchschaute.

Das Knistern des Papiers riß ihn aus seinen Gedanken. Er zog es aus der Tasche und entfaltete es. Eine Einladung des Taotai. Mit chinesischen Lettern auf zähes Papier gepinselt. In der blumigen und schwülstigen Sprache des Ostens abgefaßt. Unverfänglich für jeden, der nur den Text las und das unscheinbare Zeichen neben dem Namenszug des Taotai übersah.

Das Zeichen der Schanti-Partei.

Als Kubelai-Khan vor zwanzig Jahren mit stürmender Hand vorbrach, das neue Reich schuf und als Kaiser Schitsu den Thron bestieg, war Toghon-Khan sein bester Feldherr. Jahre des Friedens folgten auf die wilden Erobererzeiten. Seit Jahren saß Toghon-Khan als Vizekönig von Kaschgarien in Dobraja. Ebenso wie der Kaiser hatte er einen chinesischen Namen angenommen. Als Schanti herrschte er unter dem Zepter des Schitsu, wie er als Toghon an der Seite des Kubelai in die Schlachten geritten war.

Viele Augen im Reiche richteten sich auf den klugen und mächtigen Vizekönig, der hier an der westlichen Grenze des Reiches Wache hielt und ein starkes, schlagfertiges Heer unter seinen Fahnen hatte.

Solange Schitsu herrschte, würde Schanti als treuer Paladin stets an seiner Seite stehen. Aber auch der Kaiser war ein Mensch. Auch seiner Herrschaft konnte der Tod ein Ende bereiten, und Schanti hatte seit langem für sich und seine Herrschaft vorgesorgt. In aller Stille und mit jener Geheimhaltung, die nur der ferne Osten kennt, war die große, auf den Namen des Schanti eingeschworene Organisation entstanden. Ein Staat im Staate. Unsichtbar nach außen. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Mannes, dessen Namen sie trug und der sie im rechten Augenblick zu gebrauchen wußte.

Collin Cameron blickte auf das winzige Zeichen neben der Unterschrift am Fuße der Einladung und wußte, daß nicht der Taotai, der einfache Bürgermeister, ihn erwartete.

Nun hielt der Wagen vor dem Amtsgebäude. Collin Cameron schritt die Treppe empor. Tief verneigten sich die Diener vor ihm. Lautlos wiesen sie ihm den Weg. Jetzt schob er einen Vorhang zur Seite und sah, daß er recht vermutet hatte. Nicht der Taotai empfing ihn. Er stand vor Wang Ho. Der Generalstabschef der Armee des Schanti war es, der seinen Besuch gefordert hatte.

Wang Ho, der alle Floskeln und Weitläufigkeiten beiseite ließ und scharf und schnell sofort auf sein Ziel lossteuerte.

»Das Berliner Unternehmen, zu dem Sie uns veranlaßten, ist mißlungen.«

Schroffe Abweisung trat auf die Züge des Angeredeten.

»Nicht meine Schuld, Herr General. Ich hatte in meinem Bericht ausdrücklich betont, daß die Hauptpanzer zu sprengen wären. Die Sprengung ist mit ganz unzulänglichen Mitteln unternommen worden. Ich muß die Verantwortung für die Durchführung dieser Unternehmung ablehnen.«

»Auch das Orenburger Unternehmen ist mißlungen!«

Fragend blickte Collin Cameron den Generalstabschef an.

»Es ist mißlungen, Mr. Cameron! Vor fünf Minuten ist der telephonische Bericht eingegangen. Sie hatten uns gemeldet, daß der Oberingenieur Isenbrandt im fahrplanmäßigen Postschiff fährt. Wir haben das Schiff angreifen lassen. Unser Schiff ist von einem Kompagniekreuzer vernichtet worden. Der Oberingenieur ist nicht in dem Postschiff gefahren. Er hat im Gegenteil das Kompagnieschiff kommandiert. Wie erklären Sie Ihren unzutreffenden Bericht?«

Collin Cameron fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sekunden hindurch verharrte er in nachdenklichem Schweigen.

»Die Meldung kam von einem unserer zuverlässigsten Moskauer Agenten. Der Betreffende hat mit eigenen Augen gesehen, wie der Oberingenieur das Postschiff bestieg, und dann telephoniert . . .«

»Wie erklären Sie dann, daß er nicht in dem Schiff war? . . . Wie erklären Sie das plötzliche Auftauchen des Kompagniekreuzers?«

»Erklären? . . . Es gibt nur eine Erklärung. Ich vermute . . . ich fürchte, hier hat ein Verräter seine Hände im Spiel.«

»Ein Verräter . . . dann wird es Ihre Aufgabe sein, ihn zu finden. Ihre Pläne hat er gestört . . .«

Noch stärker als zuvor machte sich der abweisende Zug in den Mienen Collin Camerons bemerkbar.

»Herr General, ich lehne jede Verantwortung für das Mißlingen meiner Pläne ab. Den Verräter zu suchen, ist Ihre Aufgabe. Für mich ist die Sache erledigt . . . Zu etwas anderem . . . Bitte, lesen Sie . . .«

Cameron griff in die Brusttasche, entfaltete schweigend ein Papier und überreichte es dem General.

Wang Ho hatte seine Mienen in der Gewalt. Kaum merklich war das Zucken seiner Züge, als er die Schriftzeichen überflog. Unwillkürlich neigte er das Haupt, als er die eigenhändige Unterschrift des Schanti erblickte. Mit unbewegter Miene gab er das Papier zurück.

»Sie haben recht, Mr. Cameron. Es geht um größere Dinge.«

Sorgfältig barg Collin Cameron das Papier wieder in der Brieftasche. Ruhig sprach er weiter. Aber die Rollen schienen jetzt vertauscht zu sein. Jetzt war es nicht mehr der General, der inquirierte, sondern Collin Cameron.

»Sie haben die Pläne des Ilidreiecks erhalten, Herr General?«

»Sie sind in meiner Hand. Die Toresani hat sie durch einen zuverlässigen Boten von Andischan an mich geschickt.«

»Die Wichtigkeit wird von Ihnen richtig gewürdigt?«

»Die Wichtigkeit liegt auf der Hand, Mr. Cameron. Die Kompagnie zeichnet Dämme und Schmelzanlagen auf chinesisches Gebiet ein. Voraussetzung dafür ist, daß sie das Gebiet in ihre Gewalt nimmt.«

»Sie wird es tun, Herr General! Sie wird es in kürzester Zeit versuchen. Dann ist der Konflikt da. Der europäische Staatenbund wartet nur auf die entscheidende Meldung aus Peking, um vorzugehen.«

»Der Bund wird uns nicht unvorbereitet finden, Mr. Cameron. Diese Pläne hier geben uns einen guten Grund, unsere Vorbereitungen in großem Maßstabe zu treffen. Wir werden uns jetzt vor jeder Überrumpelung zu schützen wissen.«

»Was werden Sie mit den Ausländern in den Grenzgebieten machen? In Aksu, in Yarkand, in Khotan, auch hier in Kaschgar sitzen zahlreiche europäische Familien.«

»Wir werden sie von heute an überwachen. Sowie es losgeht, schieben wir sie in Konzentrationslager nach dem Innern des Landes ab.«

»Ich habe es nicht anders vermutet. Im bedrohten Grenzgebiet ist die Maßregel berechtigt. Nur in einem besonderen Falle möchte ich selbst den Schutz oder, wenn Sie so wollen, die Aufsicht übernehmen. Meine Firma unterhält freundschaftliche Beziehungen zu dem hiesigen Hause Witthusen. Ich bitte Sie um die nötigen Vollmachten . . .«

Wang Ho beugte sich über den Tisch und schrieb. Collin Cameron nahm das beschriebene Blatt, trocknete es sorgfältig ab und steckte es zu den übrigen Dokumenten in seine Brieftasche. Eine Order des Generalsstabschefs. Das unscheinbare Blatt legte das Schicksal zweier Menschen bedingungslos in die Hände Collin Camerons.

* * *

Der Sergeant, der die Meldung des Barons von Löwen an Georg Isenbrandt überbrachte, vergaß, bei seinem Fortgehen die Tür hinter sich zu schließen. So blieb sie halb offen stehen und gestattete den Freunden, zu sehen und zu hören, was in dem anstoßenden Hotelsaal vor sich ging.

Aus dem Stimmengewirr, das herüberklang, hoben sich deutsche Worte heraus. Eine Frauenstimme war es. Ein junges Mädchen, das mit einem der Platzschaffner, einem deutschen Wolgakolonisten, sprach. Wellington Fox sah ein feines Gesicht von rein deutschem Typ. Lichtblondes Haar umrahmte die schmale Stirn, unter der lichtblaue Augen erglänzten.

Sie beklagte sich über den Ausfall des Schiffes nach Andischan. In diesem Augenblick sprach sie mehr zu sich selbst als zu dem Schaffner.

»Mein Vater erwartet mich. Was wird er sagen, wenn ich ausbleibe? . . . Er wird in Angst um mich sein . . . Was soll ich nur tun?«

Der gutmütige Schaffner suchte sie zu trösten. Wie ein Koloß stand seine riesenhafte Figur vor ihrer zarten Gestalt.

»Wir können ja telephonieren. Wohin wollen Sie denn . . . nach Kaschgar . . . ein bißchen weit . . . telephonieren wir doch . . .«

Wellington Fox wiederholte mechanisch die letzten Worte.

»Nach Kaschgar will sie . . . wer mag sie sein?«

»Wer mag sie sein . . .«

Schwer und langsam waren die Worte von den Lippen Georg Isenbrandts gefallen. Wie traumverloren und geistesabwesend saß er auf seinem Stuhl. Wellington Fox wandte ihm halb den Rücken zu, so daß er die plötzliche Veränderung nicht bemerken konnte, die im Wesen seines Freundes vorging. In seiner leichten Weise plauderte er weiter.

»Weißt du, als Ritter ohne Furcht und Tadel sollten wir uns des armen Dinges annehmen. Wir haben den ganzen Luftkahn für uns. Was steht dem im Wege, daß wir sie bis Ferghana mitnehmen . . . Soll ich zu ihr gehen, es ihr anbieten?«

Er erhielt auf seine Frage keine Antwort und wandte sich um.

»Na! . . . Georg! Wie denkst du darüber?«

Noch einmal kam die kurze Frage von den Lippen Georg Isenbrandts: »Wer mag sie sein?«

Jetzt wandte Wellington Fox sich ganz um.

»Was hast du denn, Georg . . . was ist dir?«

Georg Isenbrandt stützte seine Stirn in die Hände.

»Eine Erinnerung . . . aus schönen, allzu schnell vergangenen Tagen.«

Isenbrandt sprach. Langsam und stockend, als ob ihm die Worte nur schwer von den Lippen wollten:

»… Dieses junge Mädchen . . . wie ich die Stimme hörte . . . als ob ich sie hörte . . . als ich ihre Gestalt sah . . . als ob ich sie wiedersähe . . . Maria . . . Maria Ortwin . . .! So war sie . . . Maria Ortwin . . . so sprach sie . . . so sah sie aus . . .«

Wellington Fox versuchte sich die Szene zu erklären. Er wußte von dem kurzen Liebesglück seines Freundes. Lodernde, brennende Liebe . . . eine Verlobung . . . ein reiches Glück und dann die jähe Trennung durch den Tod. Aus blühendem Leben wurde Maria Ortwin in wenigen Tagen dahingerafft.

Wellington Fox war damals in den Vereinigten Staaten. Er hatte die verstorbene Braut seines Freundes nie gesehen. Aber er begriff wohl, daß hier eine täuschende Ähnlichkeit obwalten müsse. Eines jener so seltenen Naturspiele, das Ähnlichkeiten der Stimme und des Aussehens bis zum Verwechseln schafft. Er sah, wie sehr Georg Isenbrandt unter dem Eindruck dieser Ähnlichkeit stand, unter ihr litt, von ihr bewegt wurde.

»Ich glaube, Georg, wir tun ein gutes Werk, wenn wir die junge Dame mitnehmen. Soll ich sie auffordern?«

»Ja . . . wenn sie mit uns fahren will. Sprich du mit ihr.«

Mit großer Geschwindigkeit ging Wellington Fox daran, diesen Auftrag zu vollziehen. Georg Isenbrandt sah, wie sein Freund dienerte, sprach und lachte. Wie das junge Mädchen erst erstaunt und dann erfreut aufsah, ebenfalls lächelte und die Einladung mit Dank annahm. Er sah, wie der ewig muntere und immer gut gelaunte Wellington Fox sofort in flotter Unterhaltung war, und dachte: Wie schwer ist doch dein eigenes Blut. Wie schwer trägst du an allem, was dieser da spielend überwindet . . .

Und dann stand Wellington Fox bei ihm und machte ihn mit Maria Feodorowna Witthusen bekannt.

»Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie mir die Möglichkeit geben, sofort nach Ferghana weiterzukommen.

»Ich bin glücklich, wenn ich Ihnen diesen Dienst erweisen kann . . .«

Er stockte und schwieg. Auch das Mädchen schwieg. Eine leichte Röte flutete über ihre Wange. Wie im Traum schritt Georg Isenbrandt an ihrer Seite. Sprunghaft überflogen seine Gedanken die letzten Jahre. Wie im Traum glaubte er an der Seite derjenigen zu schreiten, die er einst so sehr geliebt hatte und die nun schon so lange im Grabe lag.

Zu dritt bestiegen sie den Kompagniekreuzer und nahmen in der reservierten Kabine Platz.

In forcierter Fahrt schoß der Kreuzer über die Hungersteppe dahin. Der alte Name hatte heute nur noch historische Bedeutung. Wo sich früher eine dürftige und trostlose Steppe dehnte, da grünten jetzt üppige Felder. Ein fruchtbarer Boden war es, der unter den warmen, gleichmäßig über das ganze Jahr verteilten Regengüssen hier reiche Ernten gab.

Zu dritt betrachteten sie das herrliche Landschaftsbild.

Maria Feodorowna, frohen Herzens, daß jede Propellerdrehung sie ihrem Reiseziel, dem väterlichen Hause in Kaschgar, näher brachte. Wellington Fox vollkommen in seinem Fahrwasser als Kavalier und Cicerone. Georg Isenbrandt noch schweigsamer und nachdenklicher, als es sonst seine Art war.

Wellington Fox trug die Kosten der Unterhaltung. Bald erklärte er die Einzelheiten der unter ihnen fortziehenden Landschaft, bald machte er seiner schönen Reisegefährtin allerlei Komplimente. Während er sprach, ruhte der Blick Maria Feodorownas häufig auf dem Oberingenieur. Isenbrandt saß so, daß sie ihn von der Seite im vollen Profil erblickte. Verstohlen betrachtete sie diese energischen, durchgeistigten Züge, deren natürliche Härte durch einen Anflug von Trauer gemildert schien.

Georg Isenbrandt erhob sich, um eine Karte aus dem Nebenraum zu holen. Forschend schaute ihm Maria Feodorowna nach. Dann richtete sie eine Frage an Wellington Fox.

»Ist Ihr Freund immer so schweigsam und ernst?«

»Immer . . . Nein! . . . Nicht immer . . . Gewiß, sein Charakter ist ernst. Heute kommt ein besonderer Grund hinzu . . . Wissen Sie, Fräulein Witthusen, warum wir so schnell bereit waren, Sie mitzunehmen?«

Ein leichtes Erstaunen glitt über die Züge Maria Feodorownas.

»Aus welchem Grunde? . . . Ich habe darüber noch nicht nachgedacht . . . Ich war so angenehm überrascht, schnell weiterzukommen, daß ich Ihre Einladung gern angenommen habe, ohne viel über die Gründe nachzudenken . . . aber ich nehme an, Herr Fox, daß Ihre Ritterlichkeit Sie bewog, einer Dame in der Verlegenheit beizuspringen . . . Sollte ich mich darin täuschen?«

»Aber nein, Fräulein Witthusen, wir hätten wohl in jedem Falle so gehandelt. In Ihrem Falle kam aber noch ein besonderer Grund hinzu . . . Ein Grund, der Ihnen auch die besonders ernste Stimmung meines Freundes erklären kann . . .«

»Sie machen mich neugierig, Mr. Fox. Darf man den Grund wissen?«

»Ich sehe nicht ein, warum ich ihn verheimlichen sollte. Sie gleichen in Stimme und Gestalt einer Frau, die Georg Isenbrandt vor Jahren über alles geliebt hat . . .«

». . . einer Frau, die Ihr Freund liebte? . . . Wo ist sie geblieben . . . und warum . . .«

»Sie ist tot . . . in wenigen Tagen wurde sie aus blühendem Leben dahingerafft . . . Ich war in Amerika, als sie Maria Ortwin begruben. Als ich zurückkam, war mein Freund ein stiller Mann geworden, der nur noch seiner Arbeit lebte . . .«

Wellington Fox legte den Finger an die Lippen. Georg Isenbrandt kam wieder in den Raum. Er trug die Karten und breitete sie auf dem Tisch aus. Wellington Fox begann von den Arbeiten zu sprechen, während Georg Isenbrandt nur wenige erläuternde Worte hinzufügte. Sein Blick umfing die Gestalt Maria Feodorownas, und sein Ohr sog den Klang ihrer Stimme in sich auf.

Maria Witthusen horchte auf die Erklärungen von Wellington Fox. Der Kreuzer hatte jetzt reinen Südostkurs. Im Südwesten stand eine gewaltige Wolkenwand an dem bisher so klaren Himmel. Eine mächtige Bank brodelnden und wogenden Wasserdampfes.

Wellington Fox erklärte:

»Der erste der großen kochenden Seen. Alles Wasser, was von den Alpen in den See strömt, dampft hier auf und wird von den Winden nach Norden mitgenommen.« Er deutete auf Isenbrandt: »Und hier ist der Oberkoch, der die Alpen dampfen und die Seen brodeln läßt.«

Marias Blicke flogen zu Georg Isenbrandt hinüber. Nachdem sie den Grund seiner Schweigsamkeit vernommen hatte, gewannen diese scharfen und entschlossenen Züge ein besonderes Interesse für sie.

Ohne daß sie es recht merkte, sprang die ernste und nachdenkliche Stimmung Isenbrandts auf sie selbst über. Sie lachte und scherzte nicht mehr mit Wellington Fox wie zum Beginn der Fahrt. Ruhig hörte sie die Erklärungen des Amerikaners an, aber ihre Gedanken beschäftigten sich mit der Person Isenbrandts.

Wellington Fox riß sie aus ihren Gedanken. Er fand sich in der Karte nicht zurecht und rief Georg Isenbrandt zu Hilfe.

»Hallo, Georg, was haben wir denn hier? Ich kann diese Siedlungen auf der Karte nicht finden.«

Georg Isenbrandt rückte näher heran. Einen kurzen Blick in die Tiefe unter ihnen, und er war im Bilde.

»Neue Siedlungen . . . hier brandenburgische . . . dort hinten westfälische . . . da vor uns niedersächsische . . . wir sind über dem Gebiete der neuen deutschen Kolonien. Die Kolonisten werden jetzt nicht mehr willkürlich angesetzt, sondern in größeren Gebieten von etwa tausend Quadratmeilen nach Nation und Sprache zusammen. Es erleichtert und verbilligt die Verwaltung und läßt die Siedler die neue Heimat leichter liebgewinnen.«

Während der Kreuzer mit unveränderter Geschwindigkeit seinen Kurs verfolgte, traten die Wolkenmassen über dem Aralsee allmählich zurück. Georg Isenbrandt blickte ihnen kurze Zeit nach. Dann wandte er sich an Maria Feodorowna.

»Wir müßten viel weiter südlich fliegen. Wir müßten dem Hochgebirge folgen. Dann würden Sie unsere Arbeiten sehen können. Dort unten brodelt und braust es auf den Firsten. Da dampft und nebelt es unaufhörlich. Da heben wir die Wassermengen in den Äther, die das Land bis in den hohen Norden warm und fruchtbar machen . . .«

»O ja! Ich sah etwas davon in Kaschgar. Da sehen wir es im Westen und im Norden dampfen und nebeln, soweit das Auge den Horizont zu erfassen vermag. Sie können viel, Herr Isenbrandt . . . Aber den Winden können Sie doch noch nicht gebieten. Auch in den seit Menschengedenken regenlosen Monaten fallen jetzt öfters drüben bei uns schwere Regengüsse.

Der Wind tut Ihnen nicht immer den Gefallen, nach Norden zu wehen. Bläst er nach Osten, so bekommen wir den ganzen Segen. Auch unsere Flüsse dort fließen stärker, seitdem die Berge im Norden und Westen brennen.«

Wellington Fox griff den Faden auf.

»Ja! Sag mal, Georg . . . Fräulein Witthusen hat recht. Da scheitern deine Künste. Die unerwünschte Windrichtung tritt ja Gott sei Dank nur selten ein. Bedenklich wäre es aber doch, wenn es dem guten Gott der Winde gefiele, ein paar Monate hintereinander auf Abwegen zu wandeln. Das könnte peinlich für die Gelben und katastrophal für die Siedler werden.«

Georg Isenbrandt preßte die Lippen zusammen. Die leicht hingeworfenen Worte seines Freundes betrafen ein Problem, das ihm schon manche schlaflose Nacht bereitet hatte, an dessen Lösung er im stillen schon seit Jahren arbeitete. Noch nie war die Frage so brennend gewesen wie jetzt. Seit langen Wochen waren die Winde unregelmäßig geworden. Er wußte auch, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Abweichungen und den immer größer werdenden Schmelzarbeiten bestehen müsse. Schon waren aus einzelnen Siedlungsgegenden im Norden Berichte gekommen, die über Regenmangel klagten und mehr Wasser forderten.

Wellington Fox unterbrach sein Grübeln.

»Sieh hier, Georg! Wieder neue Dörfer . . . Auf der Karte nicht eingetragen . . . merkwürdiger Baustil . . . das sieht ja beinahe amerikanisch aus.«

Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen Isenbrandts.

»Es ist auch amerikanisch, Fox! Deutsch-Amerikanisch! Pfälzer aus den Seestaaten, die dort zweihundert Jahre ihre deutsche Sprache bewahrt haben und jetzt nach hierhin übergesiedelt sind. Sie konnten auch in die englischen Kolonien gehen, haben aber die deutschen Siedlungen vorgezogen.«

Wellington Fox schüttelte den Kopf.

»Alle Wetter, Georg, ein Kompliment für die Staatskunst von Uncle Sam ist das gerade nicht.«

»Es hat aber seine Gründe, Fox. Die Deutschen fühlten sich an den amerikanischen Seen nicht mehr wohl. Das schwarze Volk wird ihnen zu aufdringlich.«

»Die Schwarzen . . .«

Georg Isenbrandt hatte das Stichwort zu einem Thema gegeben, das Wellington Fox nur allzusehr am Herzen lag.

Die Schwarzen in den Vereinigten Staaten! Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt waren sie zahlreicher, gebildeter und mächtiger geworden. Längst waren die Zeiten vorbei, in denen die Regierung sie durch Ausnahmegesetze niederhalten konnte. Überall beanspruchten sie gleiches Recht mit den Weißen, und es war schwer, abzusehen, wie dieser Streit um die Macht einmal enden würde. Seitdem schwarze Regimenter auf amerikanischer Seite gegen Weiße gekämpft hatten, war dem schwarzen Element in den Staaten das Gefühl der eigenen Bedeutung und Macht gekommen.

Wellington Fox wurde wild, wenn er davon sprach. Von der Kurzsichtigkeit der amerikanischen Regierungen, die dem Wachsen der Gefahr so lange tatenlos zugesehen hatten. Er sprang auf und lief in dem Gemach hin und her.

»Amerika den weißen Amerikanern! . . . Das schwarze Volk gehört nach Afrika, von wo es hergekommen ist . . . Sie wollten auch hin . . . Sie wollten wieder zurück . . . warum hat unsere Regierung die Bewegung nicht unterstützt. Warum haben wir sie bei uns behalten. Arbeiterfrage natürlich . . . kurzsichtiger Kapitalismus!«

Georg Isenbrandt unterbrach den zornigen Amerikaner. Das Schiff stand jetzt über Perowsk und folgte eine größere Strecke dem vielfach gewundenen Lauf des Sir Darja.

Isenbrandt deutete in die Tiefe, wo der breite, grüne Strom deutlich zu sehen war.

»Jetzt sind wir am Sir, am alten Iaxartes. Bis hierhin ist der große Alexander auf seinen Eroberungzügen vorgedrungen. Hier mußte er wieder umkehren und hinterließ keine Spur von seinen Taten. Wir sind weitergekommen. Fünfhundert Meilen weiter nach Osten. Wir schmelzen und dampfen bis in das Himmelsgebirge. Wir schaffen Neuland für Hunderte von Millionen Menschen. Unsere Arbeit lohnt sich . . . Die Hochalpen brennen, aber die Ebene wird fruchtbar . . .«

Maria Feodorowna spann seinen Gedankengang weiter:

»Ein gewaltiges Werk! Doch die Gelben sehen es nicht gern. Ich höre, wie sie bei uns in Kaschgar darüber sprechen. Fremde Teufeleien, die dem Gelben und dem Blauen Fluß das Wasser nehmen. Seitdem die Berge um Kaschgar dampfen, sieht man uns scheel an . . . Vielleicht müssen wir eines Tages den Ort verlassen, an dem wir seit zwanzig Jahren wohnen.«

Prüfend ruhte der Blick Georg Isenbrandts auf den Zügen der Sprecherin.

»Der Tag kann schneller kommen, als Sie denken. Ich werde Sie warnen. Versprechen Sie mir, meiner Warnung zu folgen . . .«

Maria Feodorowna streckte dem Reisegefährten die Rechte entgegen. Ihre Blicke trafen sich und hingen sekundenlang aneinander.

»Ich danke Ihnen, Herr Isenbrandt!«

Der Kreuzer hatte jetzt den Stromlauf verlassen. Während der Fluß einen weiten Bogen nach dem Süden schlug, verfolgte er den Südostkurs, überflog die Alpen bei Chotkal und stand jetzt schon dicht vor Andischan. Es wurde Zeit, an den Abschied zu denken.

Auf dem Hangar neben dem Endbahnhof der Strecke Andischan–Osch–Kaschgar landete das Kompagnieschiff.

Erst die Technik des Dynotherms hatte es ermöglicht, in kurzer Zeit und mit geringen Baukosten den großen Tunnel durch das gewaltige Terekmassiv zu bohren und die neue Linie bis Kaschgar durchzuführen.

Georg Isenbrandt und Wellington Fox begleiteten Maria Witthusen zum Zug. Sie standen dort, bis das Abfahrtszeichen gegeben wurde und der Zug sich in Bewegung setzte. Wellington Fox zog ein seidenes Tuch und winkte. Georg Isenbrandt sprang mit plötzlichem Entschluß auf das Trittbrett des rollenden Zuges. Er beugte sich zu Maria Feodorowna, flüsterte ihr wenige Worte zu und war mit einem Sprunge wieder neben seinem Freunde. Dort stand er und blickte dem ausfahrenden Zuge noch lange nach.

* * *

Der Knall des Schusses, der den Kaiser des Himmlischen Reiches auf das Schmerzenslager warf, war bis in die letzten Erdenwinkel gedrungen. Immer noch, bald schwächer, bald stärker, hallte sein Echo wider. Millionen Herzen erbebten . . . bebten . . . wie immer, wenn das Schicksal einen ganz Großen unter den Menschen traf, von dessen Sein oder Nichtsein dasjenige von Millionen Kleiner abhing. Und je länger die Zeit des Wartens, desto unerträglicher wurde die Spannung.

Wann endlich Gewißheit? Würde er sterben . . . der Große, oder leben bleiben und sein großes Werk vollenden?

Die Bulletins der Ärzte waren dunkel wie die Sprüche des delphischen Orakels. Ein dreifaches enges Gitter von Bajonetten umgab jetzt, nachdem das Unheil geschehen war, die Anlagen von Schehol, dem chinesischen Sanssouci.

Wie alljährlich, hatte sich der Herrscher auch diesmal zu Wintersausgang nach Schehol begeben, um hier Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte zu suchen. Hier, wo die strenge Bewachung seiner Person nicht so scharf wie in Peking durchgeführt wurde, hatte ihn die Kugel eines als Jägerbursche verkleideten Republikaners getroffen.

Der Schuß war tödlich. So lautete der Bericht der Ärzte für die wenigen Vertrauten der nächsten Umgebung. Aber die Lage des Reiches verbot eine Veröffentlichung dieses Berichtes.

Kaum zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem der junge, tatkräftige Mongolengeneral Kubelai die Herrschaft des Riesenreiches an sich gerissen hatte. Bis dahin war China eine Republik, deren beste Kräfte durch nie zur Ruhe kommende Wirren aufgezehrt wurden. Eine Riesenfarm, die von den Völkern des Abendlandes nach Möglichkeit ausgenutzt wurde.

Auf schneller, blutiger Bahn war der Mongolenkhan an die Spitze des Riesenreiches geeilt, alles niederwerfend, was sich ihm in den Weg stellte. Dann hatte er das Spiel gespielt, das von jeher jedem Usurpator geläufig war. Um seine Herrschaft zu festigen, wurde das chinesische Nationalbewußtsein mit allen Mitteln einer geschickten Diplomatie aufgepeitscht, bis alle Augen gegen den äußeren Feind gerichtet waren.

Und wieder hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. In zähem Ringen hatte er den Europäern eine Position nach der anderen entrissen, bis er das Land von den »Bedrückern«, den »Blutsaugern« befreit hatte. In der kurzen Zeit von zehn Jahren hatte er dieses Ziel erreicht. Mit der gleichen Energie und Tatkraft widmete er sich dann dem Ausbau der inneren wirtschaftlichen Kräfte seines Landes. Wohl schufen ihm die Reformen, die er ohne Rücksicht auf die alten Sitten und Gewohnheiten durchführte, viele Gegner. Doch die mußten sich beugen, und in einem halben Menschenalter war ein Werk vollbracht, um das führende Geister sich jahrhundertelang vergeblich bemühten, das Kenner des Landes für unmöglich gehalten hatten.

Mit seinen Erfolgen wuchs sein Ehrgeiz ins Unermeßliche. Träume wurden in rastloser Gehirnarbeit geformt, bis sie als erreichbare Möglichkeiten vor seinem Auge standen, und dann schuf er die Pläne zu ihrer Verwirklichung.

Schon bevor die Europäische Siedlungsgesellschaft ihre Tätigkeit in Turkestan begann, hatte sich sein Auge auf diese Gebiete gerichtet, die ja größtenteils von mongolischen Brüdern bewohnt waren. Doch damals schien ihm der mögliche Gewinn den Preis der hohen Opfer nicht wert.

Erst als die Pläne der Siedlungsgesellschaft bekannt wurden, Pläne, die dort ein großes, weißes Kulturland zu schaffen versprachen, erschienen ihm jene Länder begehrenswert. Um so begehrenswerter, je größer die Erfolge der Siedlungsgesellschaft wurden.

Ein neues Schlagwort war bald gefunden: Panmongolismus! Vereinigung aller Gelben mit dem großen Himmlischen Reich. Schnell wurde es aufgenommen. Bald war eine rege Irredenta in den bis dahin politisch völlig indifferenten Gegenden im Gange.

Die gelben Emissionäre fanden einen Boden, dessen Bearbeitung ihnen die Siedlungsgesellschaft selbst notgedrungen sehr erleichterte. Da die dort ansässigen mongolischen Stämme durch die europäischen Siedler in ihrer Nomadenwirtschaft gehindert oder gar verdrängt wurden, gab es Unzufriedene genug. Die öffentliche Meinung Chinas forderte täglich mehr oder weniger laut das Vorgehen der Regierung. Das diplomatische Spiel hatte bereits begonnen, zum mindesten waren die Karten dazu gemischt . . . da krachte der verhängnisvolle Schuß.

Über den Gärten von Schehol lag eine milde Frühlingssonne. Sie vergoldete die Mauern der Schlösser und Tempel und ließ deren glasierte Ziegel in allen Farben erglänzen.

Auf einer weiten Dachterrasse des Palastes, deren Rand mit blühenden Kirschbäumen in großen Bronzekübeln besetzt war, stand das niedere Lager, auf dem der Kaiser ruhte. Auf den weißen Seidenkissen wirkte das Antlitz, nur von unten her ein wenig von dem Blutrot der Seidendecke angestrahlt, wie das eines Toten. Die Stirn des Kranken war kahl, steil und gefurcht wie ein zerhauener Helm.

Die Blicke des Kaisers hingen starr am Horizont. Dort hinten . . . hinter den Schneegipfeln des Thian-Schan lag das Reich seiner Feinde, der Westländischen.

Lebensgier und Drang des Lebendigen zerrten an ihm. Für China leben . . . leben für die Flut der Aufgaben, die ihn ein halbes Menschenalter bedrängt hatten, die zu erfüllen ihm jetzt nur noch Stunden blieben. Noch klammerte er sich mit schwachen Händen an das Strauchwerk, schon unter sich den Abgrund. Sein stählerner Körper, von Tatenlust durchglüht, so lange das vollkommene Werkzeug einer übermenschlichen Arbeit, war jetzt durch zehrendes Wundfieber gebrochen.

Die Lippen des todkranken Kaisers murmelten die Worte, die einst Wischnu in seiner achten Inkarnation als Gott Krischna sprach. Jene Worte, die das Leitmotiv seines Lebens gewesen waren: »Stehe auf und kämpfe mit einem entschlossenen Herzen, gleichgültig gegen Lust und Schmerz, gegen Gewinn und Verlust, gegen Sieg und Niederlage. Kämpfe mit allen deinen Kräften.«

Kampf war sein Leben von frühester Jugend an gewesen. Nun stand vor ihm der Kampf, der den Traum so vieler Jahrhunderte, den Traum von dem alle Mongolen umfassenden einheitlichen Reich zur Erfüllung bringen sollte.

Ein leichter Glanz belebte die starr blickenden Augen. Wie sie ihn fürchteten . . . da drüben hinter den Mauern des Himmelsgebirges!

Und jetzt? . . . Wie würden sie frohlocken, wenn er tot . . .

Er stöhnte unterdrückt in abgebrochenen Lauten. Seine Hand tastete nach einer Schale mit goldenen Kugeln und ließ eine davon in ein klingendes Bronzebecken fallen. Hinter einem seidenen Vorhang wurde ein Diener sichtbar.

»Toghon-Khan!«

Seit er die Gewißheit hatte, daß er sterben müsse, hatte er sie zu sich gerufen . . . die Großen seines Landes . . . einen Starken zu finden, der für seinen unmündigen Sohn das große Reich leiten und schützen könne.

Und alle hatte er wieder weggehen lassen, als zu leicht befunden. Keiner darunter, der würdig war, den Ring zu tragen, dessen schweres Gold den Mittelfinger der kaiserlichen Rechten umschloß.

Ein einziger noch . . . der letzte, der in Frage kam. Schanti, der Herr von Dobraja und Aksu. Nicht nur ein tüchtiger General, sondern auch ein hervorragender Staatsmann, hatte er es in zäher Energie verstanden, hinter das Geheimnis des Schmelzpulvers der Weißen zu kommen. Zwar war es ihm noch nicht gelungen, Arbeiten in so großzügiger Weise auszuführen, wie sie die Europäische Siedlungsgesellschaft in Russisch-Turkestan betrieb, doch war immerhin ein viel verheißender Anfang gemacht.

Aber würde Toghon-Khan auch der gewaltigen Aufgabe gewachsen sein, die ihm die Regentschaft über das ganze Riesenreich bringen mußte? . . . Würde er dem schweren Kampf mit dem Abendlande aus dem Wege gehen? . . . Würde er ihn annehmen und . . . unterliegen?

Wieder ließ der Kaiser eine Kugel in die klingende Schale fallen. Die seidenen Vorhänge rauschten auseinander, und ein Mann in Generalsuniform trat auf die Terrasse. Ein markantes Gesicht. Der kahle Schädel lud in eine niedere, vorspringende Stirn aus. Die dunklen, kleinen Augen rollten in tiefen, gelben Höhlen. Um die Brauen war die Haut in ein Gewebe tiefer, verwirrter Runzeln gefaltet. Das ganze Äußere zeugte für ein glutvolles und leidenschaftliches Temperament.

Einen kurzen Moment ruhten die Augen des Eingetretenen auf dem todgeweihten Herrn.

Langsam ließ er sich auf die Knie nieder. Auf den Knien legte er die letzten Schritte bis zum Lager des Kaisers zurück und beugte die Stirn, bis sie den Boden berührte.

Eine kalte, feuchte Hand fühlte er auf seinem Haupte. Schwach, wie aus weiter Fern« kommend, schlug eine Stimme an sein Ohr.

»Ich danke dir, Toghon, daß du meinem Ruf schnell gefolgt bist . . . schnell gefolgt . . . meine Zeit ist kurz, die Ahnen rufen mich . . .«

Regungslos verharrte Toghon-Khan, die Stirn am Boden. Leise und flüsternd kam seine Antwort:

»Himmlische Weisheit, du wirst das Reich noch lange lenken . . .«

»Nein, Toghon . . . die Ahnen rufen mich. Ich gehe . . . gehe bald . . . Aber schwer ist mein Herz . . . Die Sorge um mein Land und mein Haus . . .«

Erschöpft schwieg der Kaiser. Minuten verflossen, bis er neue Kraft fand. Toghon-Khan sprach: »Die Blüte der Lotos ist von der allerhöchsten Weisheit gesegnet . . .«

»Nein, Toghon . . . Mein Sohn ist ein Knabe und spielt mit den Frauen im Palast. Jetzt wollte ich ihn zu mir nehmen . . . einen Mann aus ihm machen . . . Die Vorsehung hat es nicht gewollt. Ich liege auf dem Lager, von dem ich nicht wieder aufstehen werde . . .«

»Du wirst genesen . . .«

Toghon-Khan fühlte, wie die matte Hand auf seinem Haupte zitterte.

»Nein, Toghon. Ich sterbe . . . in Sorge um das Reich. Wolken stehen am Himmel. Von Westen drohen sie. Wer wird das Reich führen? . . . Ich habe sie alle gehört . . . Die Statthalter des Nordens und des Südens . . . den Hohen Rat und die Ratskammer . . . Kleine Köpfe . . . kleine Mittel . . . alle . . . alle. Du bist der letzte! . . . Wirst du mich auch enttäuschen? . . . Was hast du zu sagen . . .«

»Die Wolken, die dein Herz beschweren, die das Land bedrohen, werden vor der Sonne weichen . . . Aber wenn sie der Sonne nicht weichen, wird ein Blitzstrahl sie zerreißen. Ein Blitzstrahl des Himmels wird den Himmel wieder klarmachen.«

»Ein Blitzstrahl des Himmels . . . des Himmels?«

Der Kaiser wechselte die Sprache und sprach Mongolisch weiter:

»Nur denen hilft der Himmel, die sich selber helfen.«

Langsam erhob Toghon-Khan die Stirn vom Boden. Seine Hände ergriffen die kalte Hand des Kaisers, seine Lippen preßten sich darauf. Langsam hob sich sein Haupt, bis es die Kissen erreichte, bis seine Lippen das Ohr des Kaisers berührten. Flüsternd, auch hier kaum hörbar, drangen die mongolischen Worte in das Ohr des Kaisers.

Leichte Röte trat in das Antlitz des Kranken. Glanz kehrte in seine erloschenen Augen zurück. Straff wurden seine von langem Leiden matten Züge, während Toghon-Khan flüsternd weitersprach.

Stärker ging der Atem des Kaisers. Noch höher kam das Haupt Toghon-Khans. Neben dem Haupte des Kaisers lag es jetzt auf dem Kissen.

Stärker wurde der Glanz in den Augen des Kaisers. Er reckte den rechten Arm und ballte die Hand zur Faust. Noch einmal schienen die schwindende Kraft und das fliehende Leben zurückzukehren. Sein Oberkörper hob sich vom Lager. Seine Arme legten sich um den Hals des Sprechenden. Neben dem Kaiser saß Toghon-Khan aufrecht auf dem Lager, und weiter drang flüsternd seine Rede in des Kaisers Ohr.

Jetzt schwieg er. Der Kaiser ließ die Hand sinken. Er öffnete die Faust und legte die Rechte über die Augen. Die Rechte, an deren viertem Finger der kaiserliche Ring mit den Zeichen des Dschingis-Khan glänzte und gleißte. Minuten hindurch saß Schitsu, der sterbende Kaiser des Riesenreiches, so in den Armen des Toghon-Khan. Dann kamen Worte von seinen Lippen:

»Toghon, du Treuester aller Treuen . . . Auch im Tode verläßt du mich nicht . . . Du Freund meiner Jugend, meiner Kämpfe . . . meiner Herrschaft.«

Von der abgezehrten Rechten streifte der Kaiser den Ring. Mit immer kälter und schwächer werdenden Händen griff er die Linke des Toghon-Khan und schob ihm den Ring auf den vierten Finger.

»Du bist . . . du wirst das Reich verwesen, bis mein Sohn . . .«

Betäubt und geblendet starrte Toghon-Khan auf den Ring an seiner Linken. Nur ein Gedanke erfüllte sein Herz . . . Ich bin's! Ich bin's . . .

Noch einmal kamen dem sterbenden Kaiser Kraft und Sprache zurück.

»Geh! Geh, Toghon! Du hast den Ring . . . Ich bin müde . . . Nein . . . müde war ich immer und konnte nie schlafen . . . Jetzt werde ich schlafen . . . geh . . .«

Der Körper des Kaisers sank auf das Lager zurück. Nur noch stoßweise und röchelnd kamen abgerissene Worte von seinen Lippen. Dann wurde er ganz ruhig. Langsam erhob sich Toghon-Khan. Den Körper geneigt, das Gesicht gegen das Lager des Kaisers gewandt, schritt er rückwärts langsam dem Ausgange zu. Von unsichtbaren Händen ergriffen, öffneten sich die faltigen Seidenvorhänge, als er sie erreichte. Noch eine tiefe Verneigung zum Lager des stillen Kaisers. Toghon-Khan wandte sich um und trat in den Vorsaal.

Lange war er allein bei dem Kaiser gewesen. Lange hatten die im Palast versammelten Würdenträger des Reiches geharrt, daß er vom Lager Schitsus zurückkehren möchte. So schnell wie vorher die Statthalter von Suchau, Yarkand oder Tali. So still und niedergeschlagen wie die Vizekönige von Kanton oder Mugden. Anders kam Toghon-Khan zurück. Starr und unbeweglich waren seine Mienen, als er hinaustrat. In wachsender Ungeduld hatten die Würdenträger im Vorsaal gewartet. Hatten durch die leichten Vorhänge den Anfang der chinesisch geführten Unterredung erhascht. Hatten mongolische Worte aus des Kaisers Mund vernommen. Wenige nur und undeutlich und dann nur noch ein leises und immer leiseres Flüstern.

Was brachte Toghon-Khan? . . . Was hatte der Kaiser mit ihm beschlossen? In den Herzen aller brannte die Frage, aber nichts verrieten die steinernen Züge des Toghon-Khan. Bis in die Mitte des Saales schritt er. Blieb dort hochaufgerichtet stehen und ließ den Blick über die Versammlung schweifen, die Arme zusammengeschlagen, die Hände unter den verschränkten Armen verborgen.

Fünfzig Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Suchend flog sein Blick durch den Raum und haftete einen kurzen Moment an einem anderen Augenpaar.

Ein kurzer Wink. Ein mongolischer General eilte auf ihn zu.

»Mangu-Khan übernimmt den Befehl über die Palastwache. Geh!«

Der Angeredete verharrte überrascht und zögernd. Auch auf den Gesichtern der übrigen Anwesenden prägten sich Staunen und Zweifel.

Wie konnte Toghon-Khan solchen Befehl geben?

»Geh!«

Zum zweitenmal fiel das Wort scharf und knapp von den Lippen des Schanti. Die verschränkten Arme öffneten sich. Die Linke wies gebieterisch zur Tür.

»Niemand betritt oder verläßt den Palast ohne meine Erlaubnis!«

Es war ein neuer, schwerwiegender Befehl. Doch allen sichtbar glänzte an der ausgestreckten Hand der kaiserliche Ring, und im Augenblick wandelte sich das Bild im Saale. Sie alle, die eben noch einen Gleichberechtigten, einen Mitbewerber erwartet hatten, sehen jetzt den vom Kaiser bestimmten Regenten vor sich stehen. Den, der mit kaiserlicher Macht das Reich zu verwalten hatte, bis er eines Tages den Ring des Dschingis-Khan von seiner Hand ziehen und dem Kaisersohn auf die Rechte stecken würde.

Tief neigten sich jetzt die Rücken, ehrfurchtsvoll waren die Verbeugungen. Niemand wagte es, dem vom Kaiser selbst ernannten Regenten die schuldige Achtung zu verweigern. Dem Regenten mit dem Ringe des Kaisers an der Hand und mit einer großen Armee hinter sich, die dem alten Mongolengeneral mit Leib und Leben verschworen war. Vorbei an gebeugten Rücken und gesenkten Köpfen schritt der neue Regent des Gelben Reiches durch den Saal.

* * *


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