Hans Dominik
Flug in den Weltraum
Hans Dominik

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Im Laufe einer knappen Woche hatte die Höhle bei dem Landhaus Hidetawas ein verändertes Aussehen bekommen. Wo vordem ewige Dunkelheit herrschte, erhellten jetzt elektrische Lampen das mächtige Gewölbe bis in die letzten Winkel. Transformatoren waren aufgebaut und Blitzröhren betriebsbereit. In Schränken und auf Tischen standen alle Chemikalien, die man vielleicht benötigen würde. Darüber hinaus aber war noch etwas geschehen. Jene weichen Bastmatten, auf deren Fertigung sich das Inselvolk des Fernen Ostens so meisterhaft versteht, waren in großer Anzahl an den Höhlenwänden aufgehängt und dämpften den vorher so störenden Widerhall bis zum Verschwinden. So war aus einer unwirtlichen, ja fast unheimlichen Grotte in kurzer Zeit ein behaglicher Raum geworden, in dem es sich wohl arbeiten ließ.

Schon am frühen Morgen hatten Yatahira und Saraku sich hier eingefunden, aber vergeblich warteten sie auf ihren Meister Hidetawa, während die Stunden verrannen. Um über die Zeit hinwegzukommen, begannen die beiden ein gleichgültiges Gespräch; doch ohne es zu wollen, kamen sie dabei schnell zu den Dingen, um die sich all ihr Denken drehte.

»Was halten Sie von dem Brand des physikalischen Institutes in Washington?« hatte Yatahira gefragt, und fast zwangsläufig kam die Antwort Sarakus.

»Ich glaube, daß er mit dem Strahlstoff zusammenhängt, den man am Boulder-Damm gesammelt hat.«

»Es ist möglich, daß Ihre Vermutung zutrifft, Saraku, aber das wird sich niemals mehr feststellen lassen, denn das Institut ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Man hat in Washington keine Erklärung dafür, wie das Feuer entstanden ist. Man weiß nur, daß es unheimlich schnell um sich gegriffen hat. Ein Angestellter des Institutes soll von den Flammen überrascht und zu Tode gekommen sein.«

Ein leichtes Lächeln glitt über die Züge Sarakus, während er antwortete. »Denken Sie an unsere Erfahrungen in Deutschland. Nur ein Milligramm des Stoffes hatten wir mit einem anderen Stoff vermischt und mußten schwer gegen die Atomglut kämpfen. Vielleicht haben die Männer in Washington denselben Versuch mit einer größeren Menge gemacht.«

»Sie haben recht, Saraku. Das würde den Ausbruch des Brandes erklären. Vielleicht . . ., wahrscheinlich ist es so gewesen. Ein bitterer Verlust ist es für die amerikanische Wissenschaft.«

»Für uns eine nützliche Warnung, Yatahira, wenn wir durch unseren eigenen Versuch nicht schon genügend gewarnt wären. Man darf den Strahlstoff nachträglich nicht mehr vermischen. Die Deutschen sind auf dem richtigen Weg, wenn sie zuerst eine Mischung herstellen und dann das Gemenge in der Blitzröhre aktiv machen.«

Sie brachen ihr Gespräch ab, denn durch die Stollen her kam in diesem Augenblick Hidetawa in die Höhle. Seine ersten Worte waren eine Entschuldigung für sein verspätetes Kommen.

»Ich erhielt heute nacht Strahlstoff vom Boulder-Damm und habe ihn sofort analysiert«, fügte er erklärend hinzu. Als er die Überraschung der beiden andern bemerkte, fuhr er fort: »Durch einen amerikanischen Mittelsmann bekam ich die Proben. Sie haben genau die gleiche Zusammensetzung wie der Strahlstoff, den Sie mir aus Deutschland mitgebracht haben. Ich halte es für sicher, daß der Stoff in beiden Fällen aus derselben Quelle stammt.«

»Sie glauben, Meister?« Saraku sprach zögernd, fast ungläubig. »Die Kugel, die wir aus dem deutschen Werk entfliehen sahen, wäre weitergeflogen . . . über das Westmeer . . . über den amerikanischen Kontinent bis zum Boulder-Damm hin?«

Hidetawa lächelte. »Mit einigen Zwischenlandungen, Saraku. Die eigenartigen Vorkommnisse der letzten Wochen . . . ich schreibe sie sämtlich der aus dem deutschen Werk entflogenen Strahlkugel zu. Wer kann wissen, ob sie nicht bis zu unsern Inseln gekommen wäre, wenn nicht der Sperrdamm in Amerika ihrem Irrflug ein Ende gesetzt hätte?«

»Bis zu unseren Inseln?« Zweifelnd wiederholte Yatahira die Worte Hidetawas. »Ein Flug um mehr als die Hälfte des Erdballes?«

Hidetawa nickte. »Das ist nicht viel für den Strahlstoff. Eine etwas andere Richtung beim Abflug, und die Kugel könnte in den Fernen des Weltraumes verschwinden. Einmal der anziehenden Kraft unserer Erde . . . unserer Sonne entronnen, könnte sie im endlosen Raum treiben . . . Jahre . . . Jahrzehnte . . . bis ihre letzte Kraft verstrahlt wäre . . . bis vielleicht eine andere Sonne ihren ausgebrannten Rest an sich risse . . .«

Schweigend lauschten Yatahira und Saraku dem greisen Gelehrten, der von seinen eigenen Worten hingerissen zu sein schien. Selten . . . sehr selten nur geschah es, daß Hidetawa über die strengen Gesetze nüchterner Wissenschaft hinausging und solchen phantastischen Möglichkeiten Ausdruck gab. »Möglichkeiten einer fernen Zukunft . . .« Er fuhr mit der Hand über seine Augen, als wolle er Bilder verjagen, fortwischen, und ging unvermittelt zu etwas anderem über. »Unsere Arbeit ruft. Wir wollen Strahlstoff nach dem deutschen Verfahren herstellen. Ist alles für den Versuch vorbereitet?«

»Es steht alles bereit.« Saraku gab die Antwort und geleitete ihn in eine Nebenhöhle, in der die Apparatur aufgebaut war.

Saraku und Yatahira hatten ihre Zeit in dem deutschen Werk nicht verloren und aus den dort begangenen Fehlern gelernt. Obwohl sie die neue Röhre Dr. Hegemüllers, die erst nach ihrem Fortgang gebaut wurde, niemals gesehen hatten, stand hier in dieser Grotte ein massives Gebilde, das ihr nicht unähnlich war.

»Unsere Röhre wird unter dem Druck der strahlenden Masse nicht zerbrechen«, erklärte Yatahira mit dem Stolz des erfolgreichen Erfinders.

»Und wenn sie zerbräche, könnte uns der Stoff doch nicht entfliehen. Die Höhle hält ihn sicher fest«, fügte Saraku hinzu.

Die Arbeit begann. So wie Yatahira und Saraku es schon getan hatten, mischten sie die Stoffe, formten sie unter hydraulischem Druck und brachten sie in die Röhre. Elektrische Hochspannung pulste durch die Kabel, traf den Stoff in der Röhre, erschütterte seine Atome und ließ ihn radioaktiv werden.

Kein Zwischenfall störte die Versuche. Genauso, wie sie es erwarteten, vollzogen sich die Umwandlungen in der Röhre, und ebenso wie in dem Werk auf der anderen Seite des Erdballes lag auch hier in der Grotte Hidetawas bald eine Reihe von Strahlkugeln, bereit für eine weitere Verwendung.

Überrascht hatten Saraku und Yatahira zunächst feststellen müssen, daß diese Strahlkugeln gar keine Neigung zeigten, nach irgendeiner Richtung zu entfliehen. Entmutigt glaubten sie zuerst, daß ihre Versuche mißlungen seien, aber Hidetawa belehrte sie schnell eines Bessern. Er wies eine starke Strahlung nach, zeigte ihnen, daß der Stoff durch seine ganze Masse hindurch aktiv geworden war, und sorgte dafür, daß sie sich durch starken Bleischutz gegen die gefährliche Strahlung wappneten.

Drei Tage verstrichen in unablässiger Arbeit. Es wurde kräftig geschafft, aber trotzdem war Hidetawa nicht befriedigt.

»Wir müssen jetzt aus eigener Kraft weiterkommen, neue Versuchsreihen ansetzen, die Eigenschaften des Strahlstoffes unter veränderten Bedingungen studieren. Nur so können wir einen Fortschritt erzwingen.«

Willig hörten Yatahira und Saraku die Ausführungen ihres Meisters an. Nur einmal widersprachen sie ihm, als der die Möglichkeit erwog, den fertigen Strahlstoff noch weiter zu vermischen, und erreichten durch ihre Warnungen, daß er den Gedanken vorläufig aufgab.

In langen Beratungen stellten sie danach zu dritt ein neues Arbeitsprogramm auf. Viele andere Metalle noch außer dem Blei sollten in die Blitzröhre gebracht und andere Beimengungen ihnen zugefügt werden. Tage hindurch fuhr ein Lastkraftwagen zwischen Tokio und Hidetawas Landsitz hin und her, um die benötigten Chemikalien heranzubringen. Viele Flaschen hatte das Fuhrwerk geladen, die in Staubform alle bekannten Metalle vom Uran bis zum Lithium enthielten. Andere mit flüssigen Kohlenwasserstoffen gefüllte Gefäße, große Glasballons zum Teil, schleppte es auf den folgenden Fahrten heran. Hidetawa beaufsichtigte selbst das Ausladen der wertvollen Fracht und stand dabei, als Hunderte von Flaschen und Ballons in die Höhle gebracht und in eine Nebengrotte getragen wurden, in der bereits ein halbes Hundert inzwischen fertiggestellter Strahlkugeln lagerte. Befriedigt blickte er auf die gestapelten Vorräte, nachdem der Wagen seine letzte Fahrt gemacht hatte.

»Das gibt uns Arbeit für Monate, vielleicht für Jahre«, sagte er zu seinen beiden Gehilfen. »Morgen ist ein Feiertag, übermorgen wollen wir mit den Arbeiten beginnen. Jedes Metall werden wir in die Blitzröhre bringen. Die Mischungen der Metalle unter sich mit den Zusatzstoffen werden wir strahlend machen. Wir werden Neues entdecken. Wenn das Schicksal uns günstig gesinnt ist, werden wir noch Größeres schaffen.«

Ein Feiertag im Frühsommer. Ein Volksfest für die japanische Hauptstadt; ein Tag der Ruhe und Sammlung für Hidetawa und seine Gehilfen. Schon stand die Sonne im Westen, als ein unterirdisches Grollen den Boden erzittern ließ. Ein leichter Erdstoß, ein schwaches Beben. Auf dem vulkanischen Boden der Inseln Nippons war ein derartiges Vorkommnis keine Seltenheit. Solange die Kräfte der Tiefe sich nicht stärker regten, kümmerte sich das Millionenvolk der Hauptstadt nicht allzusehr darum, und bald kam der zitternde Boden auch wieder zur Ruhe.

Viel stärker aber war die Erschütterung südwärts der Metropole nach Yokohama hin in dem Küstenstrich, wo das Besitztum Hidetawas lag. Bebenfest war das Landhaus des greisen Gelehrten nach Plänen erbaut, die er selbst entworfen hatte. Ein in sich fest vernietetes stählernes Fachwerk, fast so widerstandsfähig wie ein massiver Block, bildete das Gerippe des Hauses und trug die elastischen, leichten Wandungen. Auch schwere Erdstöße konnten diesem Bau kaum etwas anhaben. Mit einem so jähen Ruck und so stark bebte jetzt aber der Boden, daß Hidetawa gestürzt wäre, wenn nicht Saraku hinzugesprungen wäre und ihn aufgefangen hätte.

In langen Schwingungen pendelte die Ampel an der Decke des Gemaches, polternd stürzte eine schwere Porzellanvase um und rollte auf dem Fußboden hin und her, als ein zweiter und dritter Erdstoß folgte. Behutsam ließ Saraku, von Yatahira unterstützt, Hidetawa auf eine Matte gleiten, die den Fußboden bedeckte; ließ sich selbst neben ihm nieder und schaute besorgt um sich; halblaut sagte er zu Yatahira: »Draußen wird größere Sicherheit sein. Wollen wir den Meister ins Freie bringen?«

Hidetawa hatte es gehört und gab ihm Antwort. »Mein Haus ist sicher, Saraku. Die Erde müßte sich unter ihm spalten, wenn es . . .« Er brach jäh ab. Ein anderer Gedanke war ihm gekommen. »Die Höhle, Saraku! Die Strahlkugeln! Wenn sie auch ins Rollen gekommen sind. Unsere Flaschen und Gefäße . . .« Er raffte sich empor und stand aufrecht vor den beiden. »Wir müssen hin! Kommen Sie!«

Er wandte sich nach der Tür hin, schritt eilig auf sie zu. Rasch folgten ihm Saraku und Yatahira, von Sorge erfüllt, daß ein neuer Erdstoß den Alten zu Boden werfen könnte. Doch die Erde blieb ruhig, die Gewalt der unterirdischen Kräfte schien sich in drei heftigen Stößen erschöpft zu haben.

Sie kamen ins Freie. Mit schnellen Schritten eilte Hidetawa durch den Garten den Weg entlang, der zu den Bergen führte. Jetzt hatte er den Stollenmund erreicht, wollte hinein und taumelte wieder zurück. Ein heißer Schwaden fegte ihm entgegen. Luft drang aus dem Höhlengang, so glühend, daß sie ihm im Augenblick die Brauen versengte, ja sogar seine Kleidung in Brand gesetzt hätte, wenn Saraku ihn nicht jäh zur Seite gerissen hätte.

Weiter zur Seite und noch immer weiter, denn wie aus einem Vulkankrater schossen jetzt die feurigen Gase aus dem Stollen; ein wildes Gemenge von Rauch und Flammen, das jeden Baum und Strauch, den es erreichte, im Nu verdorren und verbrennen ließ. Schritt für Schritt mußten die drei sich immer weiter zurückziehen, bis sie endlich in Sicherheit haltmachen konnten.

Wie mochte es in der Höhle selbst aussehen? Das war die Frage, die sie alle gleichermaßen bewegte. Fast hundert Meter lang und mehrfach gewunden war der Stollen, der zu ihr führte. Welche Energien mußten in der Tiefe des Berges entfesselt sein, wenn es hier noch zu solchem gewaltsamen Ausbruch kam?

Auf halbem Wege zwischen der Bergwand und dem Landhaus befand sich an einer Böschung eine Rasenbank. Am Arm Sarakus ging Hidetawa bis dorthin und ließ sich niedersinken, erschüttert von dem jähen Schlag, den seine Pläne und Arbeiten durch ein Elementarereignis erlitten hatten. Schweigend verharrten Saraku und Yatahira an seiner Seite, kaum weniger bewegt als Hidetawa selbst.

Während die Minuten verrannen, überdachten sie das Geschehene und erkannten mit Grauen die Gefahr, der sie nur durch einen Zufall entgangen waren. Wären die Erdstöße etwas früher oder später gekommen, zu einer Zeit, da sie sich in der Höhle befanden . . . im Bruchteil einer Sekunde wären sie vernichtet, in stiebende Asche verwandelt worden. Unvorstellbare Gefahren barg der neue Strahlstoff. Heimtückisch bedrohte er jeden, der seine Eigenschaften nicht kannte. Traumhaft kamen den beiden Gehilfen Hidetawas Erinnerungen an Sprengstoffexplosionen, an Katastrophen vergangener Zeiten, da Dynamitwerke und Nitroglyzerinfabriken mit der gesamten Belegschaft in die Luft geflogen waren. Das mochte wohl der Blutzoll sein, den die Natur so oft forderte, wenn menschlicher Forscherdrang es unternahm, ihr ein Geheimnis zu entreißen.

Die Stimme Hidetawas riß sie aus ihrem Sinnen. Er hatte seine Schwäche überwunden. Straff aufgerichtet schaute er nach den Bergen hinüber, während die Worte von seinen Lippen kamen: »Der Ausbruch hat aufgehört, wir wollen noch einmal hingehen.«

Es schien in der Tat so zu sein. Die Stelle, an der sie sich befanden, etwa hundertfünfzig Meter von der Bergwand entfernt, bot einen freien Ausblick auf den Eingang zu der Höhle. Wie ein schwarzes Loch gähnte jetzt wieder der Stollenmund, aus dem noch vor kurzem die entfesselte Energie hervorgebrochen war. Rötlichgrau hob sich der Fels um die Mündung herum ab. In etwa fünfzig Meter Höhe ging der steile Hang in ein begrüntes Plateau über, an das sich erst in größerer Entfernung wieder eine Steigung anschloß. Einen malerischen Hintergrund für den Parkgarten bildete der Fuß des Gebirges; eine sichere Arbeitsstätte hatte der Berg ihm für seine Arbeiten gewähren sollen, und nun war alles plötzlich so ganz anders geworden. Wenn auch jetzt Ruhe zu herrschen schien, so sprachen doch die verdorrten und verbrannten Bäume in der Umgebung des Höhlenschlundes eine beredte Sprache und erzählten von der Katastrophe, die sich hier abgespielt hatte.

»Wir wollen hingehen«, wiederholte Hidetawa seine Aufforderung und erhob sich von der Rasenbank, wollte den Fuß vorsetzen, verhielt aber seinen Schritt wieder, wie gebannt von dem, was seine Augen sehen mußten. Eine Baumgruppe auf dem Plateau oberhalb des Stolleneingangs geriet ins Wanken. Die Stämme erzitterten, die Laubkronen neigten sich gegeneinander . . . und dann waren die Bäume plötzlich wie weggewischt, von der Fläche verschwunden, zusammen mit dem Boden, auf dem sie standen, in die Tiefe gestürzt. Der Fels war in sich zusammengebrochen. Viele tausend Tonnen Gesteins, die das Dach der Höhle bildeten, waren in sie hineingestürzt und füllten sie mit Trümmermassen.

Dröhnend, polternd und krachend drang der Lärm des Bergsturzes zu Hidetawa und seinen Begleitern. Zitterte die Erde schon wieder unter ihren Füßen? Kam ein neues Erdbeben auf? Nein! Es war nur die Erschütterung durch die stürzenden Felsmassen, die sie verspürten. Die Erde blieb ruhig. Die entfesselte Energie des Strahlstoffes hatte die Zerstörung bewirkt. Als wollte die Natur eine Bestätigung dafür geben, brachen jetzt Qualm und Flammen aus dem Einsturzkrater auf der Plateaufläche hervor. Das Schauspiel war noch nicht zu Ende. In der Tiefe des Berges raste die Atomkraft weiter.

Eine Stunde verstrich und noch eine. Der Abend sank herab. Schon wurden die ersten Sterne am Himmel sichtbar. Ein dämonisches Bild bot der neue Krater nun in der einfallenden Dunkelheit. Hell strahlte seine Glut den Nachthimmel an; gespenstisch zuckten Flammen aus ihm empor. Wie Raketen schossen hin und wieder glühende Brocken aus dem brodelnden Schlund pfeilgerade in die Höhe.

Viel wußten die japanischen Zeitungen in der nächsten Zeit von einem Vulkan zu berichten, der bei dem letzten Erdbeben in der Nähe der Straße von Tokio nach Yokohama entstanden war. Für mehrere Wochen lieferte das ungewöhnliche Naturereignis ihnen Stoff für ihre Spalten, denn Wochen hindurch dauerte es, bis die Atomenergie sich erschöpft hatte und der Berg wieder zur Ruhe kam.

* * *

Chefingenieur Grabbe hatte mit Professor Lüdinghausen in dessen Zimmer eine Besprechung, als der Institutsdiener eine Besuchskarte hereinbrachte. Lüdinghausen murmelte etwas von unerwünschter Störung, als er sie in Empfang nahm, doch seine Miene veränderte sich, sowie er einen Blick darauf geworfen hatte.

»Was halten Sie davon?« fragte er, während er sie Grabbe hinhielt. Auch der war überrascht, als er den Namen darauf gelesen hatte.

»Was, unser alter Freund Saraku meldet sich wieder? Ich denke, der sitzt in Tokio und arbeitet mit Hidetawa zusammen.«

»Der Herr ist unten in der Anmeldung«, sagte der Diener. »Er will den Herrn Professor nicht lange stören, er hätte nur persönlich einen Brief abzugeben.«

»Es ist gut, führen Sie den Herrn hierher«, befahl Lüdinghausen. Kaum hatte der Diener die Tür hinter sich zugezogen, als der Professor sich kopfschüttelnd an Grabbe wandte. »Die Sache ist mir unverständlich.«

»Mir ebenfalls, Herr Lüdinghausen. Ich hatte seinerzeit den Eindruck, daß Saraku und sein Landsmann Yatahira etwas verschnupft von hier fortgegangen seien; ich habe keine Ahnung, weshalb er jetzt wiederkommt und was für einen Brief er uns zu bringen hat.«

»Nun, das werden wir ja gleich erfahren.« Noch während Lüdinghausen es sagte, kam der Diener zurück und führte Saraku in den Raum.

Eine kurze höfliche Begrüßung von beiden Seiten, dann begann Saraku sofort mit dem Zweck seines Besuches.

»Ich habe die Ehre, Herr Professor, Ihnen ein Schreiben meines Lehrers, des Herrn Hidetawa, zu übergeben, und bin befugt, eine Antwort von Ihnen entgegenzunehmen.«

Lüdinghausen nickte.

»Es ist auch mir eine Ehre und ein besonderes Vergnügen, ein Schreiben Ihres berühmten Landsmannes zu empfangen.«

Er öffnete den Briefumschlag, entfaltete die Einlage und begann zu lesen. Je weiter er mit der Lektüre kam, desto bewegter wurde sein Mienenspiel.

»Gestatten Sie, Herr Saraku«, sagte er, während er das Schriftstück dem Chefingenieur Grabbe reichte.

»Ein Vorschlag, über den sich vielleicht reden läßt«, meinte er, nachdem er das Schreiben gelesen hatte. »Für uns neu ist die Mitteilung der Amerikaner. Es war uns unbekannt, daß sie mit einem ähnlichen Strahlstoff arbeiten. Herr Hidetawa führt den Brand in der Howard-Universität auf einen durch diese Arbeiten verursachten Energieverbrauch zurück. In den Zeitungsmeldungen war von einem Kurzschluß die Rede, aber . . . wir wissen ja, was man nicht definieren kann, das sieht man für 'nen Kurzschluß an.«

»Es war kein Kurzschluß, weder in Washington noch in unserem Laboratorium an der Straße von Yokohama. In beiden Fällen waren es Ausbrüche atomarer Energie.«

Saraku hatte es leise, aber bestimmt gesagt.

Chefingenieur Grabbe pfiff durch die Zähne. »An der Straße nach Yokohama? Wo ein neuer Vulkan entstanden ist? Sprechen Sie davon, Herr Saraku?«

»Jawohl, Herr Grabbe. Durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen kam dort Strahlstoff mit anderen Substanzen in Berührung. Das Gemenge, das sich dabei bildete, explodierte wie Dynamit . . . nur hunderttausendmal stärker. Meinen verehrten Lehrer veranlaßte das Vorkommnis zu der in seinem Schreiben enthaltenen Anregung. Herr Hidetawa glaubt, daß ein ständiger Erfahrungsaustausch zwischen den beteiligten Stellen – eine Art von Interessengemeinschaft, wenn ich es so nennen darf – die Gefahren verringern könnte.«

»Wir kennen diese Gefahren recht genau, Herr Saraku.« Etwas wie Ablehnung klang aus den Worten Grabbes.

»Wir wissen das, Herr Chefingenieur«, beeilte sich Saraku zu erwidern. »Herr Hidetawa sprach mit viel Bewunderung von Ihren Arbeiten. Er hob besonders hervor, wie geschickt Sie bei der Änderung der Mischungsverhältnisse die explosive Phase übersprungen hätten . . .«

»Ja, was wissen Sie denn davon?« fiel ihm Grabbe verwundert ins Wort, »wir haben die Mischungsverhältnisse niemals bekanntgegeben.«

»Sie vergessen, Herr Grabbe, daß mehrfach Strahlstoff aus Ihrem Werk entwichen ist. Wer etwas davon fand und analysierte, konnte die Mischung ergründen. Am Boulder-Damm haben die Amerikaner Stoffproben gesammelt . . . und wir auch. Die Zusammensetzung Ihres Strahlstoffes ist kein Geheimnis mehr.«

Für eine kurze Zeit schwiegen die drei, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Verflucht, daß die anderen unsere Mischung kennen! dachte Chefingenieur Grabbe ärgerlich.

Was hat der Japaner eben von einer explosiven Phase gesprochen? Davon ist uns nichts bekannt. Hidetawa scheint mehr von diesen Dingen zu wissen als wir, ging es Lüdinghausen durch den Sinn, während Sarakus Gedanken nach Washington schweiften.

»Man müßte wissen, wie die Amerikaner sich dazu stellen.« Unvermittelt warf Grabbe die Bemerkung hin.

»Mein Freund Yatahira ist zu dieser Stunde bei Professor O'Neils, um ihm den gleichen Vorschlag zu machen. Ich erwarte heute noch Drahtnachricht von ihm.«

Lüdinghausen war inzwischen mit seinen Überlegungen ins reine gekommen. Jedes Wort langsam abwägend, begann er jetzt zu sprechen.

»Herr Hidetawa schlägt einen Austausch von Erfahrungen vor, um uns vor Katastrophen zu schützen. Wenn wir überhaupt zu einem Abkommen gelangen, werden wir meines Erachtens noch einen Schritt weiter gehen müssen.«

Erwartungsvoll blickte Saraku ihn an, als er fortfuhr.

»Wir werden wirklich eine Interessengemeinschaft – Sie erwähnten das Wort bereits, Herr Saraku – aufbauen müssen. Ich verstehe darunter nicht nur einen Austausch von Erfahrungen, sondern von Patentrechten und Patenten, die sicher bald zu nehmen sein werden.«

Chefingenieur Grabbe zog die Stirn bedenklich in Falten, als die Worte Patent und Patentrechte fielen. Lüdinghausen bemerkte es und fuhr fort: »Ich halte es für richtig, Herr Grabbe, daß wir ganze Arbeit machen. Das Abkommen, an das ich denke, würde jedes Gegeneinanderarbeiten und jede unnütze Doppelarbeit ausschließen und für alle Teile das Vorteilhafteste sein.«

»Aber die Amerikaner?« warf Grabbe ein.

»Wir werden abwarten, wie sich die Leute in Washington zu dem Vorschlag des Herrn Hidetawa stellen. Wenn sie klug sind, nehmen sie an und erweitern ihn auch in dem von mir angedeuteten Sinne. Im Augenblick, Herr Saraku, können wir nichts anderes tun als abwarten.«

Die Wartezeit währte nicht allzulange. Noch am gleichen Nachmittag konnte Saraku Lüdinghausen melden, daß O'Neils dem Vorschlag Hidetawas wohlwollend gegenüberstand, und nun begann der Draht zwischen Gorla und Washington zu spielen, während gleichzeitig Funksprüche zwischen Saraku und Hidetawa hin- und herflogen.

Es lag auf der Hand, daß ein Abkommen wie das hier geplante nicht von heute auf morgen zustande gebracht werden konnte. Aber die Verhandlungen ließen sich beschleunigen, und das geschah in diesem Falle mit allen Mitteln. Die Juristen der drei Partner wurden aufgeboten und gingen daran, vielparagraphige Verträge zu schmieden. Chiffrierte Texte flogen durch den Äther und kamen mit kleineren oder größeren Abänderungen zurück. Arbeitsgebiete wurden abgegrenzt, vorhandene Rechte bewertet und für die Verteilung der noch zu erwerbenden ein Schlüssel vereinbart. Schon nach wenigen Tagen war es klar, daß die Interessengemeinschaft sicher zustande kommen würde.

Daß die Partner so schnell ihre Bereitwilligkeit erklärten, war der geschickten Taktik Yatahiras zu verdanken. Der Japaner schilderte O'Neils nicht nur die noch zu erwartenden Gefahren in starken Farben, sondern verstand es auch, den Wert der bereits auf diesem Gebiet gewonnenen Erfahrungen ins rechte Licht zu setzen.

»Das hätte sich vermeiden lassen, Herr Professor«, meinte er, als ihr Weg sie an der Brandstätte des Instituts vorbeiführte, »wenn wir schon vorher zusammengegangen wären. Es ist genau das gleiche, was wir erlebten. Eine unserer wichtigsten Vorschriften verbietet es uns grundsätzlich, den Strahlstoff und die Zusatzstoffe in demselben Raum aufzubewahren. Ein unglücklicher Zufall, der die Stoffe durcheinanderbringt, ist immer möglich, und dann ist die Katastrophe da.«

»Bei uns, Herr Professor, erfolgte der Ausbruch in einer Felshöhle, die wir als Arbeitsstätte eingerichtet hatten, und es entstand ein feuerspeiender Berg.« Yatahira sprach weiter und berichtete von dem gewaltigen Energieausbruch auf Hidetawas Landsitz, während O'Neils mit steigender Ergriffenheit zuhörte. »Ein zweites Mal wird uns das nicht passieren. Heute sind wir gewarnt«, schloß Yatahira seinen Bericht und konnte kurz danach bereits an Saraku funken, daß der Amerikaner zu einem Abkommen bereit sei.

Zurückhaltend verhielten sich zunächst noch Thiessen und Hegemüller. Sie vertraten beide den Standpunkt, daß sie bisher die Hauptarbeit geleistet hätten und die andern sich nun in ein gemachtes Bett legen wollten. Doch die letzte Entscheidung lag bei Lüdinghausen, und der hatte seinen Entschluß längst gefaßt.

»Na, denn man los!« meinte Dr. Thiessen danach resigniert zu seinen Leuten. »Dann werden die Herren von der Direktion mir hier wohl einen Amerikaner und einen Japaner ins Labor setzen. Dafür können Sie beide ins Ausland gehen. Was meinen Sie, Hegemüller . . . so als Austausch-Professor nach Tokio?«

Hegemüller fuhr ärgerlich empor. »Ich denke gar nicht daran, Herr Thiessen. Schicken Sie meinethalben den Kollegen Stiegel dorthin. Ich sitze hier an meiner neuen Aufgabe . . .«

»Die sie bald gelöst haben werden, wenn Sie so weitermachen wie bisher«, unterbrach ihn Dr. Thiessen lachend. »Haben Ihnen heute vormittag nicht die Ohren geklungen?«

»Ich wüßte nicht, warum«, brummte Hegemüller.

»Weil Lüdinghausen sich zu Grabbe und mir überaus anerkennend über das von Ihnen in so kurzer Zeit Erreichte äußerte. Der Professor meinte, daß man an Hand Ihrer Ergebnisse bald an die fabrikmäßige Herstellung von Strahlmotoren und Strahlturbinen gehen könnte.«

»Mag er meinetwegen, wenn's ihm Spaß macht«, knurrte Hegemüller immer noch mißgestimmt. »Ist ja schon richtig so. Wir entwickeln die Maschinen, nehmen die Patente darauf, und unsere neuen Vertragsfreunde haben den Nutzen davon.«

»Lieber Kollege, jetzt werden Sie ungerecht«, erwiderte Thiessen mit Entschiedenheit. »Sie wissen vielleicht nicht, daß auch Hidetawa bereits mit Erfolg an Motoren und Turbinen gearbeitet hat. Ich war selber überrascht, als mir Lüdinghausen gestern die Pläne und Berechnungen zeigte, die Saraku ihm zu treuen Händen überlassen hatte. Wir werden uns sehr dranhalten müssen, sonst könnten uns die Japaner am Ende noch überflügeln.«

»Das soll den Herrschaften aber verdammt schwerfallen!« rief Hegemüller und schnitt eine Grimasse, als ob er den ersten Japaner, der ihm in Reichweite käme, mit Haut und Haar verschlingen wollte.

»Schaffen Sie sich eine bessere Laune an, Kollege«, meinte Thiessen und ging in sein eigenes Büro.

Eine Weile blieb Hegemüller über seine Zeichnungen gebeugt am Tisch sitzen; dann sprang er auf und begann im Zimmer hin und her zu laufen, während er halblaut Worte und abgerissene Sätze vor sich hin murmelte.

»Die Herrschaften in Tokio wollen Turbinen bauen . . . War von Hidetawa zu erwarten . . . Stellt sich die Sache wohl einfacher vor, als sie ist . . . Ist aber ein langer Weg von einer winzigen Lichtmühle bis zu einer anständigen Turbine, alter Freund . . . Wirst dich noch über allerhand dabei zu wundern haben . . .« Er blieb stehen, starrte zur Decke empor und sprach weiter. »Baut meinetwegen, soviel ihr wollt! Verzettelt euch damit! . . . Der Strahlstoff bietet noch ganz andere Möglichkeiten . . . Gott sei Dank, daß ihr davon keine Ahnung habt.«

* * *

In einer längeren Unterredung mit dem Chefingenieur Grabbe hatte Dr. Hegemüller durchgesetzt, was er wollte. Mit dem Argument »es spart uns Zeit und Geld, Herr Grabbe«, hatte er schließlich die letzten Bedenken Grabbes überwunden und die Erlaubnis erhalten, sich die Versuchskammer aus dem Laboratorium C III für einige Wochen auszuleihen.

Nur widerwillig hatte die Abteilung C III sich dem Befehl von oben gefügt.

»Nur auf vierzehn Tage, Herr Doktor! Für jede Beschädigung müssen Sie mir geradestehen!« rief der Leiter der Abteilung Hegemüller noch nach, als er das strittige Objekt durch seine Leute aufladen ließ, um es in sein eigenes Labor zu schaffen.

»Keine Sorge, Herr Kollege!« winkte Hegemüller lachend ab. Wer hat der hat, dachte er bei sich, als er mit seiner Beute abzog.

Nun stand die Versuchskammer in seiner Abteilung. Es war ein aus daumenstarkem Eisenblech zusammengenieteter Zylinder von doppelter Manneshöhe mit einem Durchmesser von rund zwei Meter. Vier kleine runde Fenster, etwa den Bullaugen der Seeschiffe vergleichbar, gestatteten einen Einblick in das Innere, eine luftdicht verschließbare Eisentür war für den Zugang vorhanden. Diese Kammer war, wie ihr Name besagte, für Versuche bei verschiedenem atmosphärischem Druck bestimmt. Der Experimentierende war dabei in ihr von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen; doch sorgten Sauerstoffbehälter und andere Vorrichtungen dafür, daß die Luft in dem Zylinder auch bei Dauerversuchen stets atembar blieb.

Von Strahlungsmessungen, die er in seiner isolierten Atmosphäre vornehmen müsse, hatte Hegemüller dem Chefingenieur allerlei erzählt, aber in Wirklichkeit hatte er ganz etwas anderes vor.

Wie ein wertvolles, mühsam errungenes Beutestück betrachtete er die Versuchskammer, ging mehrmals um sie herum, streichelte ihre eisernen Wände mit der Hand und griff dann nach einem Schreibblock, dessen oberstes Blatt mit einer technischen Skizze bedeckt war. Er nahm weiter ein Stück Kreide und begann auf der zylindrischen Wandung der Kammer nach den Angaben der Skizze hier und dort kleine Kreise zu malen und allerlei Linien anzureißen.

Ein Techniker, der dem Dr. Hegemüller dabei über die Schulter gesehen hätte, würde wohl bald erkannt haben, daß der zylindrische Körper auf der Skizze die Versuchskammer darstellen sollte, aber er wäre vielleicht auch über die Änderungen erschrocken gewesen, die nach eben dieser Zeichnung nun noch weiter daran vorzunehmen waren. Unbeschädigt wollte die Abteilung C III ihre Kammer zurück haben, aber jeder der kleinen Kreise, die Hegemüller auf ihre Wandungen zeichnete, bedeutete nach der Skizze eine Bohrung, geradeheraus gesagt also ein Loch, und die Aussichten von C III, das Leihobjekt unversehrt wiederzubekommen, mußten danach verschwindend gering erscheinen. Doch das scherte Dr. Hegemüller sehr wenig. Er verfolgte einen schon seit langem gefaßten Plan und hatte nur den einen Wunsch, daß ihm niemand vorzeitig in die Karten sah.

Von Thiessen hatte er kaum etwas zu befürchten, denn der war voll und ganz mit der Entwicklung der Strahlturbine beschäftigt. Aber Chefingenieur Grabbe liebte es leider, zu unerwarteter Stunde in den Laboratorien seiner Abteilung aufzutauchen, und selbst vor Professor Lüdinghausen war man niemals ganz sicher. Solchen unerwünschten Überraschungen mußte vorgebeugt werden, und Hegemüller fand einen geeigneten Weg dafür.

Die Räume, die ihm für seine Arbeiten zugewiesen waren, lagen in einem Hallenbau, von dem senkrecht ein anderer abging. Der Winkel, der dadurch entstand, war durch einen hohen Bretterzaun abgeschlagen; auf diese Weise hatte man einen ziemlich geräumigen, gesicherten Platz gewonnen, auf dem wetterfeste Maschinen und Geräte, wenn sie nicht im Laboratorium gebraucht wurden, abgestellt werden konnten. Gewöhnlich lagerten dort Transformatoren, Kabel und ähnliches. Jetzt kam auch die Versuchskammer dorthin und war auf diese Weise den Blicken aller derjenigen, die in Hegemüllers Laboratorium kamen, entzogen.

Aber es war ihr nicht vergönnt, dort ein so geruhsames Dasein zu führen wie die anderen auf dem Abstellplatz lagernden Geräte. Maschinen wurden angesetzt und bohrten ein reichliches Dutzend zollstarker Löcher in die Wandungen der Kammer. Danach aber wurden Teile herangeschafft, die inzwischen nach den Zeichnungen von Dr. Hegemüller an anderen Stellen des Werkes fertiggestellt worden waren. Eine Montage begann, die das Aussehen der Versuchskammer so stark veränderte, daß die Abteilung C III ihr Eigentum so leicht nicht wiedererkannt hätte.

Luftdichte Stopfbuchsen wurden aus den Bohrlöchern, durch die kräftige Stahlstangen führten. Außen trugen die Stangen größere Flächen aus starkem Eisenblech, im Innern der Kammer endeten sie in Handgriffen, so daß man die Stangen und somit auch die an ihnen befestigten Flächen drehen konnte. Schließlich aber wurden die außen befindlichen beweglichen Flächen auf einer Seite noch mit einer Bleiplatte und darüber einer starken Schicht Strahlstoff belegt.

Möglichst geräuschlos und gewissermaßen nebenher ließ Dr. Hegemüller diese Arbeiten ausführen, während er selbst im Labor über den ihm vom Werk übertragenen Aufgaben saß und sich nur hin und wieder für Minuten auf dem Lagerplatz zeigte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Etwa eine Woche war darüber verstrichen; auf etwa zwei Tage schätzte Hegemüller die Zeit, die noch nötig sein würde, um das, was er plante, ganz zu Ende zu bringen, als die Leute von C III bei ihm anriefen. Sie brauchten ihre Versuchskammer für eine dringliche Arbeit selber.

»Augenblicklich ganz unmöglich«, lehnte Hegemüller das Begehren ab, »gerade jetzt benötige ich die Kammer jede Stunde und jede Minute.«

Vergeblich wurde die Stimme am anderen Ende der Leitung immer dringender. Hegemüller blieb unerbittlich und verschanzte sich hinter der Autorität des Chefingenieurs, auf dessen Anordnung hin er die Kammer erhalten hatte. C III wurde grob am Apparat, Dr. Hegemüller ließ alles von sich ablaufen und warf schließlich den Hörer auf die Gabel.

Eine verdammte Geschichte! Hegemüller fuhr sich nachdenklich über die Stirn. Für heute – es war bereits um die vierte Nachmittagsstunde – würde er vor der Gesellschaft Ruhe haben; aber morgen? . . . Dr. Schneider, der Chef der Abteilung C III, war ein zäher Kunde. Morgen würde er bestimmt bei Grabbe Sturm laufen, um die Versuchskammer zurückzubekommen.

Hegemüller versuchte es sich vorzustellen, wie die Dinge dann weitergehen würden. Der Chefingenieur würde Dr. Schneider natürlich zunächst abweisen. Der würde aber nicht lockerlassen, und schließlich . . . so um die Mittagsstunde herum etwa . . . würde der Chefingenieur zu ihm, Hegemüller, kommen und einen Kompromißvorschlag machen. Dabei aber würde er auch wahrscheinlich die Versuchskammer sehen wollen, und – und dann war Holland in Not.

Als Dr. Hegemüller in seinen Überlegungen so weit gekommen war, sprang er von seinem Stuhl auf und ging im Zimmer hin und her, angestrengt auf einen Ausweg sinnend. Verhindern ließ sich die Entwicklung, die er so klar voraussah, nicht. Nur eine Möglichkeit gab es, der Sache die Spitze abzubrechen. Grabbe mußte vor eine vollendete Tatsache gestellt werden. Wenn er sah, was hier in aller Stille geschafft worden war, würde der Chefingenieur sich vielleicht auf seine Seite stellen.

Hegemüllers Entschluß war gefaßt. Er rief die Leute, die mit der Montage der Versuchskammer beauftragt waren, zusammen und eröffnete ihnen mit kurzen Worten, daß sie diese Nacht durcharbeiten müßten. Morgen früh müsse die neue Maschinerie für eine Besichtigung fertig sein.

Als die Werkuhren die fünfte Morgenstunde schlugen, war die Montage beendet. Die Werkleute packten ihr Handwerkszeug zusammen und verließen die Halle, um sich wohlverdienter Ruhe hinzugeben; Dr. Hegemüller blieb allein zurück.

Im Frühlicht des neu heraufkommenden Tages ging er auf den Abstellraum hinaus. Noch einmal überprüfte er diese wunderliche, nach seinen Ideen und Plänen an die Versuchskammer angebaute Maschinerie, öffnete die Tür der Kammer und betrat ihr Inneres. Verschiedene Hebel und Handgriffe betätigte er drinnen und stellte fest, daß sie leicht jedem Druck gehorchten. Mit zufriedener Miene verließ er nach einiger Zeit die Kammer wieder und ging in sein Arbeitszimmer. Eine Weile blieb er dort noch an seinem Schreibtisch sitzen, und seine Gedanken begannen zu wandern.

Was er erstrebte, hatte er erreicht. Die wenigen Minuten in der Versuchskammer hatten ihm Gewißheit darüber gegeben. Mochte dieser Tag nun bringen, was er wollte, Dr. Hegemüller war bereit, dem Kommenden entgegenzutreten. Er griff nach Hut und Mantel. Dem verschlafen aufblickenden Nachtportier vergnügt einen guten Morgen wünschend, trat er durch das Portal auf die Straße hinaus. Jetzt nach Hause gehen und sich noch einmal ins Bett legen? Er verspürte keine Lust dazu; er zog es vor, sich die Zeit bis zum Werkbeginn durch einen Spaziergang zu vertreiben. Über taufrische Wiesen, durch im Frühsommerlaub stehenden Wald wanderte er dahin, bis es Zeit wurde, wieder ins Werk zu gehen.

Fast genauso, wie er es vorausgesehen, spielten sich die Ereignisse im Laufe des Vormittags ab. Ein Anruf von C III . . . nochmalige schroffe Weigerung Hegemüllers . . . wiederum eine Weigerung, und dann – es war um die elfte Morgenstunde – erschien Grabbe selbst in der Abteilung Hegemüllers.

Offensichtlich lag dem Chefingenieur daran, die Dinge zu einem friedlichen Ende zu bringen. Nur mit halbem Ohr hörte er die Einwendungen Dr. Hegemüllers an, während seine Blicke in der Halle hin und her gingen.

»Wo haben Sie die Kammer?« unterbrach er ihn.

»Auf dem Abstellplatz, Herr Grabbe. Es schien mir nicht zweckmäßig, die Versuche hier vorzunehmen, wo möglicherweise ein Unbefugter davon Kenntnis bekommen könnte.«

»Auf dem Abstellplatz? . . . Hm, eigenartig . . . Ich möchte die Kammer einmal sehen, Herr Dr. Hegemüller.«

»Bitte sehr, Herr Chefingenieur«; Hegemüller sagte es scheinbar ruhig, obwohl sein Herzschlag in diesen Sekunden beträchtlich schneller als vorher ging.

Seite an Seite verließen sie die Halle und kamen auf den Abstellplatz.

»Ja, zum Teufel, wo steht denn die Kammer?« fragte der Chefingenieur, nachdem er sich vergeblich nach allen Seiten umgeschaut hatte.

»Bitte hier, Herr Grabbe.« Es war begreiflich, daß der Chefingenieur das Streitobjekt nicht erkannte, obwohl er direkt davorstand. Er hatte die Versuchskammer als einen glatten, aufrecht stehenden Zylinder in der Erinnerung, hier aber sahen seine Augen etwas ganz anderes. Reichlich ein Dutzend teils größerer, teils kleinerer, teils senkrecht, teils waagrecht angeordneter Stahlblechflächen, auf den ersten Blick ein unübersehbares Gewirr, verschleierten die Zylinderform bis zur Unkenntlichkeit. Es dauerte ein Weilchen, bis Grabbe die Versuchskammer als den tragenden Kern dieser Konstruktion erkannte. Kopfschüttelnd schritt er um das absonderliche Bauwerk herum, blieb dann vor Hegemüller stehen.

»Sie sagten mir, Herr Doktor Hegemüller, daß Sie die Kammer für Strahlungsmessungen nötig hätten. Unter der Bedingung, daß Sie diese unbeschädigt zurückgeben, wurde sie Ihnen leihweise überlassen. Mit keinem Wort war von derartigen Umbauten die Rede. Was hat das da . . .« er wies auf die von Grund auf veränderte Kammer, »mit Messungen zu tun?«

»Messungen des Strahlungsdruckes, Herr Grabbe. Darf ich Sie bitten, mir zu folgen.« Hegemüller öffnete, während er es sagte, die Tür zu der Kammer, nötigte den Chefingenieur mit einer einladenden Handbewegung, einzutreten, folgte ihm und schloß die Tür wieder. Verwundert blickte der Chefingenieur auf die mannigfachen Hebel und Handgriffe im Innern der Kammer, während Hegemüller in seiner Erklärung fortfuhr.

»Ich kenne das Gewicht der Konstruktion, Herr Grabbe. Das Gewicht von uns beiden kann ich schätzungsweise mit hundertfünfzig Kilogramm in Rechnung stellen. Es fragt sich nun, welche Größe genügt, um diese Gewichte durch den Strahlungsdruck zu kompensieren. Da habe ich nun Flächen angebracht, die jetzt noch senkrecht stehen und sich ihre strahlenden Seiten zukehren. Wenn ich sie aber mehr oder weniger waagrecht stelle . . . sehen Sie, durch diese Hebel hier, Herr Grabbe, dann kann der Strahlungsdruck frei wirken . . .«

Noch während er es sagte, bewegte Hegemüller die Hebel aus ihrer Lage, und im gleichen Augenblick ging ein leichtes Schüttern durch die Kammer.

»Hegemüller! Was machen Sie? Sind Sie toll geworden?« Grabbe stieß die Worte heraus, während sein Blick an einem der Kammerfenster hing. Durch das Glas hindurch sah er draußen die Hallenwand sich langsam nach unten bewegen. Schon glitt die Oberkante eines der hohen Fenster vorüber. Jetzt kam die Dachtraufe in Sicht, als Hegemüller wieder in die Hebel griff.

Sofort verlangsamte sich der Aufstieg der Kammer und kam in der nächsten Minute ganz zum Stehen. In umgekehrter Folge glitten die Einzelheiten der Hallenwand wieder vor Grabbes Augen vorüber. Die Dachkante, das Fenster. Immer langsamer wurde der Fall der Kammer nach unten, während Dr. Hegemüller die Hebel kaum merklich verstellte. Ein leichtes Scharren, ein kaum fühlbarer Stoß zum Schluß. Sie stand wieder fest auf dem Boden, Hegemüller öffnete die Tür.

Kein Wort war während der kurzen Fahrt mehr aus Grabbes Mund gekommen. Mit zusammengepreßten Lippen, jeden Muskel gestrafft, hatte er durch das Fenster gestarrt. Jetzt entspannten sich seine Züge wieder, er wollte sprechen, aber Hegemüller kam ihm zuvor.

»Ich wollte jetzt bei Tageslicht nicht höher gehen, Herr Chefingenieur. Unbefugte hätten dabei die Strahlrakete sehen können, das Geheimnis wäre nicht mehr gewahrt geblieben.«

Jetzt erst kam Grabbe zu Wort. »Sie sind des Teufels, Hegemüller!« war das einzige, was er hervorzubringen vermochte. Noch suchte er nach Worten, als Dr. Hegemüller weitersprach.

»Wir können schneller steigen. Die Strahlenplatten waren nur um dreißig Grad auseinandergeschwenkt. Den vollen Auftrieb liefern sie erst bei hundertachtzig Grad.«

»Hören Sie auf!« fuhr ihm Grabbe dazwischen, aber Hegemüller ließ sich in seinem Vortrag nicht stören.

»Der Mond ist fast voll. Wie denken Sie über einen kleinen Nachtflug in die Stratosphäre?«

»Danke für die freundliche Einladung, Herr Doktor Hegemüller.« Abweisende Ironie klang aus den Worten Grabbes. »Ich möchte meine Knochen nicht unnötig riskieren. Ich will Ihnen sogar glauben, daß Sie mit Ihrer improvisierten Strahlkutsche bis in die Stratosphäre kommen . . . aber sicher zurückkommen werden Sie kaum. Es fehlt Ihnen ja die Orientierung nach unten.«

»Verzeihen Sie, Herr Grabbe, das ist ein Irrtum.« Mit dem Fuß schob Hegemüller eine Bodenklappe beiseite. Glas kam darunter zum Vorschein, die Scheibe eines in den Boden eingesetzten Fensters.

»Hm! So, so! Daran haben Sie auch gedacht. Nicht übel. Na, Schneider wird sich freuen, wenn er seine Kammer wieder zu Gesicht bekommt.«

»Die kriegt er nicht wieder, Herr Grabbe.« Hegemüller sagte es so überzeugungstreu, daß Grabbe trotz seiner Erregung lachen mußte. »Auch gut, meinetwegen!« lenkte er ein. »Wir werden Herrn Schneider eine neue Kammer bauen müssen; aber auch Sie, Verehrtester, werden mir mit diesem provisorischen Vehikel hier keine halsbrecherischen Versuche mehr anstellen. Was Sie da gemacht haben, Herr Hegemüller, ist gut. Daß es mal wieder gegen alle Werksbestimmungen verstößt, sind wir nachgerade von Ihnen gewöhnt. Jetzt wollen wir die Sache aber mal vernünftig und mit den richtigen Mitteln angreifen. Kommen Sie mit in mein Büro. Wir müssen die Angelegenheit besprechen.«

Als Hegemüller in seinem Arbeitszimmer seinen Hut vom Haken nahm, klingelte das Telefon. »Sofort . . . einen Augenblick.« Er reichte dem Chefingenieur den Hörer. »Herr Doktor Schneider möchte Sie sprechen.«

»Hat mir gerade noch gefehlt!« Grabbe sprach eine Minute in das Mikrophon und warf den Hörer auf die Gabel zurück.

»Ein verfluchter Kerl, der Hegemüller«, sagte am anderen Ende der Leitung Dr. Schneider ärgerlich zu dem Physiker Krause.

»Wie ist's? Will er die Kammer nicht 'rausrücken?« fragte dieser.

»Kein Gedanke daran. Er braucht sie noch. Herr Doktor Hegemüller geruht unsere Kammer noch auf unbestimmte Zeit zu gebrauchen.«

»Aber das geht doch nicht, Herr Schneider. Das ist ganz unmöglich. Was sollen wir denn da machen?«

»Wir sollen uns eine andere bauen, hat der Chefingenieur dekretiert. Eine andere bauen. Verstehen Sie, Herr Krause? Aber wie lange das dauert, danach fragt er nicht. Ich finde es unverschämt!«

»Ich finde es großartig, Herr Doktor Schneider.«

»Großartig?! Wieso?«

»Wir wollten schon längst eine bessere und größere Kammer haben, Herr Doktor. Eine bessere Gelegenheit, billig dazu zu kommen, gibt es gar nicht. Jetzt können wir bauen, was wir uns schon lange wünschen; der Chefingenieur wird die nötigen Summen anweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.«

Zu derselben Zeit, in der dies Zwiegespräch in der Abteilung C III stattfand, sagte Grabbe zu Hegemüller:

»Hoffentlich geben die Kerle sich zufrieden. Ich habe ihnen gesagt, daß sie sich eine neue Kammer bauen sollen, denn die hier können sie natürlich nicht wiederbekommen.«

In Grabbes Büro gab es danach eine lange Besprechung zwischen ihm und Hegemüller. Viele Einwände hatte Grabbe zu machen, viele Bedenken auszusprechen; doch fast stets konnte Hegemüller sie widerlegen. In der Tat hatte er an alle Möglichkeiten gedacht, und aus dem unvollkommenen Mittel, das die Versuchskammer für diesen Zweck ja schließlich nur war, das Bestmögliche gemacht.

»Trotz allem, mein lieber Hegemüller«, beendete Grabbe die Unterredung, »wollen wir nicht unnötig Gefahr laufen, sondern neu bauen, wie wir es eben besprochen haben. Machen Sie die Zeichnungen fertig und bringen Sie diese mir. Ich werde die einzelnen Teile an verschiedenen Stellen anfertigen lassen, damit das Geheimnis gewahrt bleibt.«

Als Hegemüller am nächsten Morgen in das Werk kam, galt sein erster Gang dem Abstellraum. Verdutzt rieb er sich ein paarmal die Augen, aber es blieb so, wie er es auf den ersten Blick gesehen hatte. Der Platz, auf dem die so stark veränderte Versuchskammer gestanden hatte, war leer. Seine Strahlrakete war spurlos verschwunden.

* * *


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