Hans Dominik
Flug in den Weltraum
Hans Dominik

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Was Thiessen einmal kurz nach der Schließung des Paktes zwischen Washington, Tokio und Gorla mehr im Scherz als im Ernst gesagt hatte, war nicht eingetroffen, denn Dr. Stiegel und Dr. Hegemüller waren in dem deutschen Institut geblieben; der eine bei Thiessen, der andere in seiner eigenen Abteilung, aber ausländischer Besuch war vorhanden. Noch immer hielt sich Saraku in Gorla auf und arbeitete mit Thiessen an der Entwicklung der Strahlturbine. Außerdem war Henry Watson mit Aufträgen und Vorschlägen O'Neils' vor einigen Tagen von Washington eingetroffen und hatte in der Hauptsache ebenfalls in der Abteilung Thiessens zu tun.

Durch den Brand in der Howard-Universität waren die Amerikaner in ihren Arbeiten stark behindert, doch mit bemerkenswerter Energie hatte es O'Neils verstanden, provisorische Arbeitsstellen zu schaffen, so daß auch in Washington die Forschung auf dem neu erschlossenen Gebiet kräftig weiter vorgetrieben werden konnte. Die Ergebnisse, die O'Neils aus Washington und Hidetawa aus Tokio fast täglich drahteten, erwiesen sich für die Arbeiten in Gorla als wertvolle Förderungen. Auch Thiessen, der anfangs nicht besonders für das Dreierabkommen eingenommen war, mußte das anerkennen, und dementsprechend war auch sein Verhalten gegenüber den beiden ausländischen Gästen seiner Abteilung freundlicher geworden. Er zeigte sich ihnen gegenüber weniger zugeknöpft als in den ersten Tagen, wenn er auch in seinem Inneren immer noch einen kleinen Rest von Mißtrauen bewahrte.

»Ich halte die beiden für unbedingt ehrlich und zuverlässig«, meinte Dr. Stiegel, dem gegenüber er sich einmal vertraulich äußerte. »Von dem Japaner glaube ich es auch«, pflichtete Thiessen seinem Assistenten bei, »aber Mr. Watson ist mir etwas zu neugierig. Haben Sie einmal seine Augen beobachtet? Keinen Augenblick bleiben sie ruhig, unaufhörlich gehen seine Blicke hin und her, als ob sie etwas Neues erspähen, irgend etwas Wichtiges entdecken wollten . . .«

»Das ist nun einmal seine Art«, versuchte Dr. Stiegel ihn zu beruhigen. »Ewig quecksilbrig, aber es steckt nichts dahinter.«

»Hoffen wir, daß Sie recht haben«, schloß Thiessen die Unterhaltung.

Dr. Thiessen hatte gut beobachtet. In der Tat waren die Augen Watsons überall und sahen manches, was andern entging. Sie erblickten auch die Strahlrakete Hegemüllers während der kurzen Sekunden, die sie über den Bretterzaun bis zur Dachtraufe der anderen Halle emporschwebte, um dann wieder zurückzusinken. Und ebenso wie die Augen waren die Gedanken Watsons, als er jetzt das in einem kurzen Moment Erhaschte zu verarbeiten begann.

Etwas Neues hatte Dr. Hegemüller, der grundsätzlich keinem Fremden Eintritt in seine Arbeitsstätte gewährte, dort gefunden und weiterentwickelt, so weit schon, daß seine Konstruktion stieg . . . eine neue Art von Flugschiff, nicht mehr durch Motorkraft, sondern durch Strahldruck der neuen Substanz getrieben. Ein Fortschritt von grundlegender Bedeutung, das erkannte Watson im Augenblick. Aber kein Wort war bisher darüber verlautbart. Hielt Gorla trotz seines Abkommens mit wichtigen Dingen hinter dem Berg? Dann verstieß es gegen den Vertrag und dann . . . ja dann mußte man sich eben auf anderem Wege Kenntnis davon verschaffen. So schnell wie Watson diese Erkenntnis kam, war auch sein Plan gefaßt. Kurz vor Werkschluß in einem unbeobachteten Augenblick in einem sicheren Versteck verschwinden, die Nacht abwarten und sich dann die Sache in aller Ruhe besehen.

Daß das unter keinen Umständen fair war, daß es einen Mißbrauch der ihm gewährten Gastfreundschaft bedeutete, beunruhigte ihn nur wenig. Er setzte sich darüber mit dem Gedanken hinweg, daß Gorla zuerst unfair gehandelt hätte, und führte seinen Plan so aus, wie er ihn sich vorgenommen hatte.

»Unser Mr. Watson ist heute früher als sonst verschwunden«, sagte Dr. Thiessen zu Stiegel, als sie sich anschickten, das Werk zu verlassen.

»Ja, Herr Thiessen, er schien es heute eilig zu haben«, meinte Stiegel, während sie auf dem Wege zum Werkportal an einem Kellerhals vorüberkamen, in dem, vor unerwünschten Blicken sicher geborgen, derjenige steckte, von dem sie gerade sprachen. »Weiß der Teufel, was Mr. Watson im Ort so Wichtiges zu tun hat«, brummte Thiessen, als sie durch das Portal auf die Straße traten. Watson hatte die Worte vernommen, die Dr. Stiegel im Vorbeigehen zu Thiessen sprach, und sich daraufhin noch enger in seinem Winkel zusammengekauert. Während draußen der Werklärm verebbte und die Wächter begannen, ihre Runden abzugehen, mußte er die Entdeckung machen, daß das von ihm gewählte Versteck mancherlei zu wünschen übrig ließ. Noch herrschte draußen die volle Helligkeit eines Julinachmittags, und ein Wächter, der pflichtgemäß in den Kellerhals hineinschaute, vielleicht sogar einige Stufen die Treppe hinabstieg, mußte ihn unfehlbar entdecken.

Jetzt war es eben siebzehn Uhr, und erst in drei Stunden war mit einfallender Dunkelheit zu rechnen. Bei dem Gedanken daran war es Watson nicht wohl zumute. In dem Dämmerlicht, das hier unten herrschte, ertastete er eine hölzerne Tür, erfaßte die Klinke und drückte sie nieder. Die Tür war unverschlossen, sie gab nach, und Watson sah vor sich einen fast leeren, durch ein paar kleine Luken nur schwach erleuchteten Kellerraum. Schnell trat er ein, schloß die Tür hinter sich und schob den Riegel vor. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, fürs erste war er hier in Sicherheit.

Noch drei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Eine kurze Frist, wenn man im Büro über seiner Arbeit saß, eine endlose Zeit, wenn man sie hier tatenlos verbringen mußte. Seine Augen hatten sich inzwischen an das schwache Dämmerlicht gewöhnt. Er blickte sich in dem Raum um und entdeckte in einer Ecke einen Stapel von Plantüchern, die wohl zum Verpacken von Maschinen und Geräten gedient hatten; kein allzu bequemes Lager, aber immerhin ein Lager, auf dem er sich niederlassen und die vom langen Kauern und Stehen steif gewordenen Glieder strecken konnte.

Mr. Watson tat es. Auf dem Rücken liegend, die Hände unter dem Kopf gefaltet, starrte er zur Decke empor und versuchte seine Lage zu überdenken. Unmerklich fielen ihm darüber die Augen zu, und ehe er sich's versah, war er eingeschlafen. Ein klingendes Dröhnen, das Schlagen der Werkuhren, drang an sein Ohr und rief ihn in das Bewußtsein zurück. Er brauchte Minuten, um sich zu ermuntern, denn lange und fest hatte er geschlafen. Volles Dunkel war um ihn, als er die Augen aufschlug. Er ließ seine Taschenlampe aufleuchten, erkannte in ihrem Schein die ungewohnte Umgebung, den Keller, die Plandecken, auf denen er lag; jäh kam ihm wieder ins Bewußtsein, warum er hierhergegangen war und was er vorhatte.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Zweiundzwanzig Uhr. Fünf Stunden hatte er geschlafen. Noch war nichts verloren . . . Er hatte noch reichlich Zeit für sein Vorhaben. Jedes Geräusch vermeidend, schob er den Riegel der Tür zurück, öffnete sie, sah die Treppe vor sich im Mondlicht liegen. Schnell huschte er sie hinauf, suchte Schattendeckung an einer gegenüberliegenden Wand und bewegte sich vorsichtig in der Richtung auf den Abstellplatz zu.

Weit und breit war niemand zu erblicken; es war wohl gerade die Zeit zwischen zwei Wächterrunden. Ungesehen erreichte er den Zaun, der den Abstellplatz umgab. Die Tür war verschlossen. Gut doppelte Mannshöhe hatte der Zaun, aber Watson war ein geschickter Turner. Schnell hatte er das Hindernis überklettert. Leicht ließ ihn das Mondlicht weiter seinen Weg finden, und bald stand er vor dem, was er suchte. Da war sie, die Strahlrakete Hegemüllers, das Geheimnis, das die Deutschen nicht preisgeben wollten.

Staunend betrachtete Watson das Gebilde. Er wußte nichts von einer Versuchskammer, glaubte, daß Dr. Hegemüller das alles von Grund auf geschaffen hätte, und bewunderte es desto mehr. Ein paarmal umschritt er die Rakete und betrachtete sie mit Blicken, als ob er sie verschlingen wollte. Keine Einzelheit entging ihm, jede der Triebflächen, die aus dem Zylinder herausragten, untersuchte er fachkundig, dabei Worte und Sätze murmelnd, die Anerkennung für den Schöpfer der Konstruktion bedeuteten.

Nun war er damit zu Ende. Sollte er jetzt wieder gehen? Nach Hause eilen, das Ganze dort nach dem Gedächtnis aufzeichnen? . . . Nein, es war noch nicht genug. Auch das Innere der Rakete mußte er sehen. Er öffnete die Tür, trat in den Zylinder, schloß die Tür halb unbewußt wieder hermetisch hinter sich. Gering nur war jetzt das Licht, das durch die vier Luken hereinfiel. In dem ungewissen Schein erkannte er zwei Hebel, die sicherlich zum Verstellen der Haupttriebflächen dienten. Schon lagen seine Hände daran, schon hatten sie die Hebel herumgelegt, viel weiter ausgedehnt, als Dr. Hegemüller es bei dem kurzen Versuch am Vormittag getan hatte. Im gleichen Moment spürte er einen Ruck, hatte das Gefühl, daß sein Körpergewicht sich verdoppelte; seine Knie gaben nach, er stürzte zu Boden.

Die Zeit verstrich, viele Sekunden . . . eine halbe Minute, bevor es ihm gelang, sich wieder emporzuraffen, denn schwer lastete der Beschleunigungsdruck der steil zum Himmel emporjagenden Rakete auf ihm. Endlich hatte er seine Glieder wieder in der Gewalt, stand aufrecht auf seinen Füßen und erschrak bis ins Mark, als sein Blick durch eins der Fenster ins Freie glitt.

Weithin dehnte sich tief unter ihm die mondbeschienene Landschaft. Wie verstreutes Spielzeug lagen Dörfer und Weiler zwischen Äckern, Wiesen und Waldungen. Watson war häufig geflogen und vermochte die Höhe ungefähr zu taxieren, vier Kilometer . . . fünf Kilometer . . . vielleicht schon sechs Kilometer . . . ging es ihm durch den Sinn, während er nach den Hebeln griff und sie in die alte Stellung zurückbrachte.

Augenblicklich wich der schwere Druck von ihm; ja noch mehr geschah. Sein Körper wurde gewichtslos. Eine leichte, kaum merkliche Bewegung seiner Füße, und er schwebte plötzlich frei im Raum, wäre frei schweben geblieben, wenn er nicht noch die Hände an den Hebelgriffen gehabt und sich so wieder zum Boden der Rakete hätte niederziehen können.

Watson war Physiker und wußte die eigenartige Erscheinung zu deuten. Durch die Zurückstellung der Hebel hatte er den Auftrieb von der Rakete wieder fortgenommen. In freiem Fall stürzte sie jetzt nach unten. Mit Geschoßgeschwindigkeit würde sie bald . . . sehr bald auf den Erdboden aufschlagen und zersplittern, wenn er den Fall nicht rechtzeitig bremste.

Langsam zog er die Hebel wieder auseinander, vorsichtig bewegte er sie Zentimeter um Zentimeter und fühlte, wie sein Körper wieder Gewicht gewann.

In Eile und Heimlichkeit hatte Dr. Hegemüller seine Rakete zusammenbauen müssen, und mancherlei fehlte noch. Ein Höhenzeiger war nicht vorhanden, und so war Watson jetzt bei seinem abenteuerlichen Flug lediglich auf sein Gefühl angewiesen. Nur nach seinem Körpergewicht konnte er schätzen, ob die Rakete Beschleunigung nach oben oder nach unten hatte. Fühlte er sich schwerer als gewöhnlich, so ging es mit beschleunigter Fahrt nach oben, fühlte er sich leichter, ging es im Sturz nach unten. Glaubte er sein natürliches Gewicht zu haben, dann durfte er zwar annehmen, daß weder eine Beschleunigung noch eine Verzögerung stattfand, aber die gleichmäßige Geschwindigkeit, mit welcher die Fahrt vor sich ging, wußte er auch dann noch nicht. Nur das wußte er, daß seine Lage mehr als kritisch war.

Nach unten mußte er, das war ja klar. Aber gefährliche Geschwindigkeiten hieß es dabei vermeiden, und den einzigen Anhaltspunkt, den er dafür hatte, konnte ihm nur die Beobachtung der Landschaft draußen geben. Ein Stück tiefer war er inzwischen schon wieder gekommen, denn enger war der Horizont, größer waren die Häuser der Weiler und Dörfer geworden. Nur noch auf etwa tausend Meter schätzte er jetzt die Flughöhe, wenige Minuten später nur noch auf fünfhundert Meter. Die Rakete war also in einem verhältnismäßig langsamen Fall begriffen. Es mochte noch ein bis zwei Minuten so weitergehen, bevor es Zeit wurde, den Fall noch mehr zu verlangsamen. Doch etwas anderes erfüllte ihn jetzt mit Besorgnis. Das Gorlawerk lag nicht mehr unter ihm, sondern so weit seitlich ab, daß er es durch eine der Seitenluken sehen konnte.

Die Bodenluke, durch die er das Gelände direkt unter sich hätte beobachten können, hatte er bei dem schwachen Licht nicht entdeckt. Die Bedeutung der anderen Hebel, durch die eine Steuerung der Rakete in seitlicher Richtung möglich war, hatte er noch nicht ergründet. Ausgeschlossen war es danach für ihn, zu dem Abstellplatz zurückzukehren, von dem er abgeflogen war. Nur überhaupt wieder mit heilen Gliedern die Erde zu erreichen, war der einzige Wunsch, der ihn bewegte.

Auf Kirchturmhöhe schätzte er jetzt den Abstand zur Erde. Laubwälder erblickte er zu allen Seiten unter sich. Mehrere Kilometer weit bis zu einem in der Nähe von Gorla stehenden Buchenwald war die Rakete seitlich abgetrieben. Wieder griff er in die Hebel, bremste den Fall vorsichtig ab, sah Laub und Zweige an den Fenstern vorübergleiten, vernahm ein Scharren und Kratzen, als starke Äste die Wandungen der Rakete streiften, spürte gleich darauf einen schwachen Stoß. Sein Gefährt war zum Stillstand gekommen.

Sekundenlang verharrte Watson regungslos, dann öffnete er die Tür und sah Zweige und Laub um sich; die Rakete hatte sich in der Krone einer Buche verfangen. Zögernd setzte er den Fuß auf einen Ast, ging, sich an den Seitenzweigen entlangtastend, ein paar Schritte voran und konnte nun seine Lage übersehen.

Zwischen vier starken Ästen, in die sich die Baumkrone an dieser Stelle gabelte, hatte der zylindrische Körper der Rakete sich eingeklemmt. So fest und sicher stand sie hier, daß selbst ein Sturm sie kaum losgerissen hätte; so hoch über dem Erdboden hatte das eigenwillige Projektil sich einen Ruheplatz gesucht, daß Watson nichts von ihm erblicken konnte.

Mit einem schnellen Entschluß warf er die Tür zu und begann behutsam von Ast zu Ast nach unten zu klettern. Doch bald war es damit zu Ende. Er hatte die untersten Zweige der Krone erreicht. Glatt wie eine Säule verlief der Baumstamm weiter nach unten, und immer noch befand er sich reichlich zehn Meter über dem Erdboden. Unmöglich, den starken Stamm mit seinen Armen zu umfassen, an ihm hinabzuklettern. Schon beim ersten Versuch wäre er rettungslos in die Tiefe gestürzt. Was sollte er tun?

Noch einmal nach oben steigen, noch einmal in die Rakete gehen? Sie noch einmal aufsteigen lassen und die Landung an einer anderen, günstigeren Stelle versuchen? Es schauderte ihn bei dem Gedanken, sich dem unheimlichen Gefährt noch einmal anzuvertrauen. Hier oben warten, bis der Tag anbrach? Ausharren, bis vielleicht Menschen in die Nähe kamen, die ihm Hilfe bringen konnten? Wie würde er hinterher dastehen? Mit Schimpf und Schande würde er das Werk danach verlassen müssen. Ein anderer Ausweg mußte gefunden werden, und nach langem Grübeln fand er ihn.

Ohne ein Opfer ging es dabei freilich nicht ab. Seine Kleidung mußte dabei herhalten. Watson entsann sich der Tatsache, daß die Eingeborenen die hohen, glatten Stämme der Dattelpalmen mit Hilfe von Stricken erklommen. Was sonst unmöglich erschien, ging bei Benutzung dieses Hilfsmittels überraschend schnell und sicher vonstatten, und er war überzeugt, daß es auch hier gute Dienste tun würde. Aber wenigstens zwei Stricke waren dazu notwendig. So spielte sich im Laub der Baumkrone zunächst einmal eine Entkleidungsszene ab. Als sie beendet war, trug Henry Watson seinen Anzug auf der bloßen Haut; zu Stricken zusammengewürgt, um den Baumstamm herumgeworfen, mit seinen Händen und Füßen verbunden, gab ihm der Rest seiner Garderobe jetzt die Möglichkeit, ohne unmittelbare Lebensgefahr an dem glatten Stamm hinabzugleiten. Ohne verschiedene Schrammen und Schrunden ging es freilich nicht ab, und er sah ziemlich mitgenommen aus, als er den festen Boden endlich wieder unter seinen Füßen fühlte.

Jetzt schleunigst fort von hier war sein einziger Wunsch, als er wieder zu Atem kam. Der Mond war inzwischen tief hinabgesunken. Eben noch vermochte Watson sich danach zu orientieren, dann verschwand das Gestirn unter dem Horizont. In der einfallenden Dunkelheit machte er sich auf den Heimweg. Als er nach langer Wanderung glücklich vor seiner Tür stand, schlugen die Uhren bereits die zweite Morgenstunde. Sein Unternehmen hatte länger gedauert, als er angenommen hatte.

Noch lange blieb er wach, ging unruhig in seinen Räumen hin und her und überdachte die voraussichtlichen Folgen seiner Tat. Natürlich würde man die Rakete vermissen. Zweifellos würde man auch nach ihr suchen, aber finden würde man sie so leicht nicht. Die steckte ja sicher verborgen in der dichten Krone eines hohen Baumes. Später, im Herbst vielleicht, wenn das Laub fiel, würde man auf ihre Spur kommen. Einstweilen würde man sich vergeblich den Kopf zerbrechen, auf welche Weise sie abhanden gekommen war, würde hin und her raten und hundert Möglichkeiten erwägen; auf ihn, Watson, würde wohl kaum jemand verfallen. Vor einer Entdeckung glaubte er sich gesichert. Mit einem Gefühl der Beruhigung warf er sich in einen Sessel . . . und fuhr im nächsten Augenblick wieder auf, denn etwas anderes fiel ihm ein. In dem Drang, schnell von der Landungsstelle fortzukommen, hatte er die aus seinen Kleidungsstücken zusammengedrehten Stricke achtlos in das Unterholz geworfen. Wenn man sie fand . . . wenn man die Zeichnung in den Wäschestücken las – die Buchstaben H. W. –, ihm wurde schwül bei dem Gedanken daran. In der Übereilung hatte er hier einen Fehler begangen, der verhängnisvoll werden konnte.

Noch einmal zurückkehren? Die Stelle wieder aufsuchen, die verräterischen Stücke an sich nehmen? Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Jetzt in der Dunkelheit hätte er den Platz schwerlich wiedergefunden, wäre überdies zu spät in das Werk gekommen. Für heute war es auf jeden Fall unmöglich, doch vielleicht später.

Er nahm sich vor, es morgen oder übermorgen bei Tage zu versuchen, obwohl er sich klar darüber war, daß es auch dann nicht leicht sein würde, den abseits von Weg und Steg zwischen Hunderten von seinesgleichen stehenden Baum wiederzufinden.

* * *

Professor O'Neils war in bester Laune und hatte auch Grund dazu, denn in erfolgreicher Zusammenarbeit mit Robert Jones war es ihm nicht nur geglückt, den neuen Strahlstoff weiter zu verbessern, sondern auch darüber hinaus beherrschte er die Herstellung jetzt so sicher, daß plötzliche Ausbrüche atomarer Energie und ähnliche unliebsame Zwischenfälle kaum noch zu befürchten waren.

»Unsere Zusammenarbeit mit Gorla und Tokio trägt ihre Früchte«, meinte er während einer Arbeitspause zu Jones, »ich bin stolz darauf, daß wir dabei nicht nur die Empfangenden, sondern auch Gebende sind . . .« Er brach ab, weil ein Bote hereinkam und ihm einen Brief brachte. Das Schreiben kam von Watson, und O'Neils machte sich sofort darüber her.

Neue Nachrichten aus Gorla. Seit mehreren Tagen war dort eine tausendpferdige Strahlturbine in Betrieb und bisher tadellos gelaufen. Man hatte daraufhin die Weiterentwicklung eines Strahlmotors mit hin- und hergehendem Kolben einstweilen zurückgestellt.

O'Neils nickte, als er das las, denn er war der gleichen Meinung. Wozu einen Motor bauen, wenn man den gewollten Zweck mit einer Turbine einfacher und besser erreichen konnte? Sehr bald würde auch er sich diesem Problem zuwenden und mit dem verbesserten Strahlstoff vielleicht noch etwas Vollkommeneres schaffen.

Weiter lief sein Blick über die Zeilen, und seine Lippen preßten sich zusammen, als er zu den nächsten Seiten des Briefes kam. Man beschäftigte sich in Gorla also bereits mit dem Raketenproblem. Gut! Früher oder später würde man sich auch in Washington und Tokio damit befassen. Seit man über den Strahlstoff verfügte, war es ja nur noch eine reine Konstruktionsaufgabe, bei der es sich lediglich darum handelte, bereits Bekanntes und Erforschtes richtig zu verwerten.

O'Neils ließ das Schreiben sinken, und seine Gedanken begannen in die Zukunft zu wandern. Ein neues Zeitalter sah er im Geiste heraufziehen. Strahlraketen sah er an Stelle der bisherigen Motorschiffe ihre Bahnen durch den Äther ziehen, sah die Luftflotte kommender Jahrzehnte sich über die Stratosphäre hinaus in den freien Weltraum erheben. Weiter schweiften seine Gedanken. Wie in einer Vision sah er unentdeckte Welten, von anderen Lebewesen bewohnt . . .

Er raffte sich zusammen, verscheuchte die Bilder und Gedanken, griff wieder nach dem Brief Watsons und vertiefte sich in die ihm beigefügte Zeichnung. Wie er aus ihr und dem zugehörigen Text ersah, hatte man in Gorla in aller Stille mit primitiven Mitteln eine Strahlrakete gebaut. O'Neils hatte begreiflicherweise keine Ahnung von dem eigenmächtigen Vorgehen Hegemüllers und wunderte sich, wie man in Gorla etwas derartig Unvollkommenes zusammenbringen konnte, anstatt von Anfang an sorgfältig und mit dem Einsatz aller verfügbaren Mittel zu konstruieren. Dr. Hegemüller hätte wahrscheinlich einen roten Kopf bekommen, wenn er die Beurteilung gehört hätte, die Professor O'Neils seiner Strahlrakete zuteil werden ließ. Der Amerikaner fuhr in seiner Lektüre fort und erschrak, als er nun das Husarenstück Watsons las . . . bei Nacht . . . heimlich . . . in eine fremde Abteilung eingedrungen . . . eine Rakete untersucht . . . skizziert . . . O'Neils bedauerte, daß er nicht, wie er es anfangs wollte, Jones an Stelle Watsons nach Gorla geschickt hatte. Sein Entschluß, diesen Fehler schleunigst wiedergutzumachen, wurde noch fester, als er in den nächsten Zeilen lesen mußte, daß sein Assistent mit der Rakete sogar einen Flug gewagt und die Maschine nicht wieder an ihren Platz zurückgebracht hatte. Lebhaft malte er sich die Aufregung aus, die wegen der verschwundenen Rakete jetzt in dem Werk herrschen mochte. Mit Schrecken dachte er an die Folgen, die sich für Watson ergeben mußten, wenn die Deutschen hinter seine Schliche kamen. Unverzüglich ging er daran, den Brief zu beantworten. Sein Schreiben enthielt den strikten Befehl für Watson, zurückzukommen. In einem anderen Brief an Professor Lüdinghausen motivierte er den beabsichtigten Personalwechsel so sachlich und überzeugend, daß Lüdinghausen nicht anders konnte, als seine Zustimmung zu geben.

* * *

Die Vermutung O'Neils', daß das Verschwinden der Rakete in Gorla schwere Aufregung verursachen würde, traf zu. Wie außer sich stürzte Hegemüller zu Grabbe ins Zimmer.

»Die Rakete ist weg!« Er schrie es so laut in den Raum, daß der Chefingenieur vor allen Dingen erst einmal die offenstehenden Fenster schloß.

»Unmöglich, Herr Doktor!« wandte er sich an Hegemüller, doch der wurde dadurch nur noch aufgebrachter.

»Sie ist weg, Herr Grabbe! Verschwunden! . . . Gestohlen!«

Nur mit Mühe gelang es Grabbe, den Aufgeregten so weit zu bringen, daß er ihm einen zusammenhängenden Bericht über das gab, was er gesehen und festgestellt hatte. Zu zweit machten sie sich auf den Weg zum Abstellplatz.

»Es ist ja unmöglich«, wiederholte Grabbe im Gehen seine schon einmal geäußerte Ansicht. »Die Rakete wog fast tausend Kilogramm. Wie hätten die Täter sie fortbringen sollen?«

Seine Worte waren für Hegemüller Anlaß, sich von neuem zu erhitzen. »Fortgeflogen ist der Dieb damit!« brach er los. »Ich könnte mich selber ins Gesicht schlagen. Ich habe es ihm ja leicht gemacht, habe den Türschlüssel steckenlassen!«

»Zu welcher Tür, Herr Doktor?« warf Grabbe dazwischen.

»Zu der Tür der Versuchskammer. Der Mensch konnte ohne weiteres in das Innere gelangen; brauchte nur einen Hebel zu bewegen, und die Rakete flog davon.«

Während Hegemüller so seinem Herzen Luft machte, wurde er etwas ruhiger, doch dafür sprang die Erregung jetzt auf den Chefingenieur über. Ein Unbekannter, ein Fremder mit der Rakete davongeflogen? Das war ein Fall, der sofort Professor Lüdinghausen gemeldet werden mußte. Kaum eine Minute hielt er sich auf dem Abstellplatz auf, auf dem es ohnehin nichts von Belang zu sehen gab. Die Rakete war eben verschwunden, und nur schwache Eindrücke in dem ziemlich harten Boden verrieten die Stelle, wo sie gestanden hatte. Fußspuren, nach denen der Chefingenieur sich noch umsah, waren nirgends zu entdecken und bei der Bodenbeschaffenheit auch nicht zu erwarten.

»Kommen Sie mit zu Professor Lüdinghausen!« entschied er sich kurz. »Wir müssen die Angelegenheit mit ihm besprechen.«

Auch Lüdinghausen wurde ernst, als er den Bericht Grabbes gehört hatte. Seit Jahr und Tag war kein Fall von Werkspionage in Gorla mehr vorgekommen, und der Vorfall, der sie jetzt beschäftigte, sah doch stark danach aus.

»Es ist kaum ein Zweifel möglich«, begann Lüdinghausen, jedes Wort sorgfältig abwägend, »daß sich eine oder mehrere Personen in unserem Werk befinden, die sich für Dinge interessieren, die sie nichts angehen. Es ist unsere Aufgabe, diese Leute zu finden.«

»Es braucht auch bloß einer zu sein, und der ist mit meiner Rakete längst über alle Berge«, polterte Hegemüller dazwischen.

»Wenn er sich nicht inzwischen das Genick gebrochen hat«, warf Grabbe ein, »ich halte es für ein ungeheures Wagnis, mit dieser Erstkonstruktion einen größeren Flug zu riskieren.«

»Ich traue den Fremden nicht«, mischte sich Hegemüller wieder ein. »Wir haben verschiedene Ausländer im Werk. Wer weiß, ob es nicht einer von denen gewesen ist?«

»Halt, Herr Doktor! Keine haltlosen Verdächtigungen!« unterbrach ihn Lüdinghausen. »Auf diese Weise kommen wir nicht weiter. Wir müssen logisch und systematisch vorgehen, wenn wir etwas erreichen wollen. Als sicher nehme ich zunächst an, daß es bei unserer scharfen Kontrolle für einen nicht zur Belegschaft Gehörenden unmöglich ist, sich in das Werk einzuschleichen. Daraus folgt, meine Herren?«

»Daß der Täter ein Mitarbeiter sein muß«, beantwortete Chefingenieur Grabbe die Frage Lüdinghausens.

»Richtig, Herr Grabbe. Also werden wir weiter festzustellen haben, wer von unserer Belegschaft heute unentschuldigt fehlt. Der Betreffende, sei er, wer er wolle, könnte der Tat verdächtig sein.«

Weder Grabbe noch Dr. Hegemüller konnten gegen die Schlußfolgerung Lüdinghausens etwas einwenden. Der griff zum Apparat und telefonierte mit verschiedenen Stellen im Werk, wobei er sich Notizen machte.

»Kein Grund zu einem Verdacht«, sagte er nach Beendigung des letzten Gespräches. »Alles, was gestern im Werk war, ist auch heute wieder zur Arbeit gekommen. Die wenigen, die fehlen, sind schon seit einigen Tagen krank geschrieben. Daraus läßt sich nur der Schluß ziehen . . . nun, meine Herren, was muß man daraus folgern?«

Langsamer als zuvor fand Grabbe eine Antwort. »Man müßte daraus schließen, Herr Lüdinghausen, daß der Täter sich jetzt im Werk befindet . . . wenn uns in unseren Voraussetzungen kein Fehler unterlaufen ist.«

Lüdinghausen machte eine abwehrende Bewegung. »Unsere Voraussetzungen sind stichhaltig, Herr Grabbe. Der Schluß, den Sie daraus gezogen haben, ist richtig. Aber das ist noch nicht alles. Es läßt sich noch mehr daraus folgern. Kommt keiner von Ihnen darauf?«

Er wartete vergeblich auf eine Antwort und sprach selbst weiter. »Wenn der Täter heute früh wieder zur rechten Zeit ins Werk gekommen ist, so kann er seinen Flug nicht allzu weit ausgedehnt haben; also muß sich auch Ihre Rakete, Herr Doktor Hegemüller, noch in der näheren Umgebung von Gorla befinden . . .«

»Ja, aber wo, Herr Professor?« platzte Hegemüller heraus.

»Das ist die Frage, um die es sich dreht, Herr Doktor Hegemüller.« Ein kaum merkliches Lächeln glitt über die Züge Lüdinghausens, während er es sagte. »Wenn wir den Ort wüßten, würden wir sie schnell haben. Gehen wir weiter logisch vor. Angenommen, der unbekannte Täter wäre um Mitternacht mit der Rakete aus dem Werk geflogen und eine halbe Stunde später gelandet, dann blieben ihm gerade noch acht Stunden Zeit bis zum Werkbeginn. Nehmen wir weiter an, daß er den Rückweg zu Fuß machen mußte, so kann die Rakete kaum weiter als dreißig Kilometer von hier entfernt sein . . .«

»Oh, oh!« Grabbe kratzte sich die Stirn. »Ein Kreis mit einem Radius von dreißig Kilometer. Das gibt eine Fläche von beinahe dreitausend Quadratkilometer. Eine verteufelte Aufgabe, auf einem solchen Riesenareal unsere Rakete wiederzufinden.«

»Nicht ganz so schwierig, Herr Grabbe, wie es auf den ersten Blick scheint«, fuhr Lüdinghausen fort; »wir müssen zwei Fälle unterscheiden. Entweder ist die Maschine auf freiem Feld niedergegangen oder in bewaldetem Gelände. Auf freiem Feld ist sie weithin sichtbar; steckt sie irgendwo in einem Gehölz, ist der Fall schwieriger.«

Während Lüdinghausen kühl und klar dozierte, als ob er auf dem Katheder stünde, war Hegemüller von Sekunde zu Sekunde unruhiger geworden. Jetzt hielt er nicht länger an sich.

»Wenn sie auf freiem Feld gelandet ist, wenn irgendein wandernder Handwerksbursche oder Ackerknecht sie entdeckt, aufmacht, 'reingeht, an den Hebeln spielt . . . es ist ja kaum auszudenken, was dann noch alles passieren kann.«

»Ruhig, Doktor! Verlieren Sie Ihre Nerven nicht«, versuchte ihn Grabbe zu beschwichtigen, während Lüdinghausen schon wieder zum Telefon griff. Er sprach mit verschiedenen Stellen der Kreisverwaltung, und der Chefingenieur konnte nicht umhin, ihn zu bewundern, denn mit diplomatischer Meisterschaft verstand es Lüdinghausen, die von ihm angerufenen Behörden auf das zu suchende Objekt scharf zu machen, es als gefährlich und unter Umständen explosiv hinzustellen, ohne jedoch von seiner Raketennatur etwas zu verraten.

»So!« sagte Professor Lüdinghausen, während er den Hörer wieder auflegte, »die Landjägerschaft ist auf die Spur gesetzt. Was könnten wir jetzt noch tun?«

»Selber im Flugzeug losgehen und nach der Rakete suchen«, schlug Hegemüller vor.

»Gut, Herr Doktor.« Wieder griff Lüdinghausen zum Apparat. »Unser Pilot steht Ihnen mit dem Werkflugzeug zur Verfügung«, wandte er sich nach Beendigung des Gesprächs an Hegemüller. »Nehmen Sie ein paar von Ihren Leuten, die an der Rakete gearbeitet haben, mit und fliegen Sie die Gegend ab. Geben Sie mir Bericht, wenn Sie von Ihrem Flug zurück sind.«

Während Hegemüller das Zimmer verließ, um sich zum Flugzeug zu begeben, holte Lüdinghausen eine Karte von der Umgebung Gorlas heraus und breitete sie vor sich aus. »Die Sache wird schwieriger, wenn die Rakete in dichtem Gehölz steckt«, meinte er zu Grabbe. »Wir wollen uns mal überlegen, wo sich etwas Derartiges hier in der Gegend befindet.«

Grabbe trat neben ihn, gemeinsam studierten sie die Karte und mußten schnell feststellen, daß es fast ein Dutzend Waldungen innerhalb des Gebietes gab, die für den Verbleib der Rakete in Betracht kommen konnten.

»Dumme Geschichte«, brummte Grabbe, »es wird Tage, wenn nicht Wochen beanspruchen, alle diese Plätze gründlich abzusuchen.«

»Hilft aber nichts, Herr Grabbe«, entschied Lüdinghausen. »Wenn wir die Rakete nicht im freien Feld entdecken, müssen wir uns der Mühe unterziehen.«

Zu derselben Zeit ging der Bauer Gustav Schanze durch eins der Gehölze, deren Lage Lüdinghausen und Grabbe gerade auf der Karte betrachteten. Er hatte wenig Sinn für den Buchenwald, in dessen Kronen die schrägen Strahlen der Morgensonne in grüngoldenen Reflexen spielten; seine Gedanken waren vielmehr bei seinem am Rande der Waldung gelegenen Haferfeld, in dem Sperlinge und Wildtauben es reichlich arg getrieben hatten. Wenn Bauer Schanze von seinem Acker überhaupt noch etwas in die Scheune bringen wollte, dann mußte jetzt etwas gegen die gefiederte Plage geschehen, und deswegen hatte er sich auf den Weg gemacht. Während er so durch den Wald dahintrollte, sah er seitwärts vom Wege etwas Weißes in dem Unterholz schimmern. Unwillkürlich verhielt er den Schritt, schaute schärfer hin und ging schließlich darauf zu.

Beim Näherkommen erkannte er, daß es sich um zusammengewürgte Wäschestücke handelte. Schanze machte sich keine Gedanken darüber, wie das Zeug wohl hierhergeraten sein mochte, doch eine andere Idee war ihm bei dem Anblick gekommen. Aus den Lumpen ließ sich sicherlich eine Vogelscheuche herstellen, die seinen bedrohten Hafer schützen könnte.

Ohne langes Besinnen griff er zu, drehte das Leinen auseinander und hielt zu seiner Verwunderung Stücke einer feinen Leibwäsche in seinen Händen; eigentlich noch viel zu schade für eine Vogelscheuche, wenn sie nicht an mehreren Stellen zerrieben und zerfetzt gewesen wäre. Moos und Rindenteile hafteten an den schadhaften Stellen, als ob jemand damit gewaltsam einen Baum abgewischt hätte. Für ihn selber war sie doch nicht mehr zu gebrauchen, stellte Schanze mit Bedauern fest und zog mit seiner Beute zu dem Feld hin, um dort einen Spatzenschreck daraus zu fabrizieren.

Gegen elf Uhr vormittags lief bei Lüdinghausen die Meldung ein, daß die Landjäger bei ihren Streifen nichts entdeckt hätten, auf das die gegebene Beschreibung passen könnte. Eine halbe Stunde später kam Hegemüller von seinem Erkundungsflug zurück. Auch er hatte von seiner Rakete nichts gesehen.

»Dann steckt das vertrackte Ding also doch in einer der Waldungen«, sagte Lüdinghausen durchs Telefon zu Grabbe. »Wir werden sie der Reihe nach absuchen müssen.« Die Antwort Grabbes vernahm er nicht mehr. Der hatte den Hörer schon wieder aufgelegt, als ein kräftiges »Schweinerei, verfluchte!« seinen Lippen entfuhr.

Vielleicht hatte der Chefingenieur die Fenster doch nicht schnell genug geschlossen, als Hegemüller mit seiner ersten Meldung von der entflogenen Rakete zu ihm kam, vielleicht hatte auch der eine oder andere von den Werkleuten Hegemüllers ein Wort zuviel gesagt, jedenfalls hub schon in den Morgenstunden ein Wispern und Raunen unter der Belegschaft des Werkes an, und es wurde nicht schwächer, als man bald darauf Dr. Hegemüller mit dem Werkflugzeug starten sah.

Von einer Rakete wurde gemunkelt, von einer entflogenen Rakete . . . bald darauf von einer gestohlenen und wenig später sogar von einer geraubten Rakete. Von Halle zu Halle, von Labor zu Labor schwirrte das Gerücht und wurde dabei nicht kleiner. Als es in die Abteilung von Thiessen gelangte, der mit Dr. Stiegel und Saraku eben beschäftigt war, eine Verbesserung an der tausendpferdigen Strahlturbine zu erproben, da wollte es bereits von einem nächtlichen Einbruch ausländischer Spione wissen, die sich gewaltsam einer Strahlrakete bemächtigt hätten und damit ungehindert über die Grenze entkommen seien.

Ein Bote, der die zweite Post in die Abteilung Thiessen brachte, hielt sich länger als notwendig auf und hatte etwas mit dem Laboratoriumsdiener zu flüstern. Einem andern wäre es vielleicht kaum aufgefallen, aber Watson merkte es und pirschte sich vorsichtig näher heran, um etwas von dem Gespräch zu erhaschen. Übernächtig fieberisch erregt, von Zweifeln hin und her gerissen, war er an diesem Morgen in das Werk gekommen. Mit Mühe hatte er nach außen hin eine gleichmütige Maske zur Schau getragen, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß von irgendwoher Alarm kommen könnte, und fast unerträglich war die Spannung für ihn geworden.

Längst mußte man ja das Fehlen der Rakete gemerkt haben. Zweifellos mußte auch der Sicherheitsdienst des Werkes schon unterrichtet sein und Maßnahmen eingeleitet haben. Bei jedem Blick, der ihn traf, bei jedem Wort, das an ihn gerichtet wurde, mußte Watson sich zusammennehmen, um nicht durch eine ungewollte Gebärde oder ungeschickte Antwort sein Schuldbewußtsein zu verraten. Zum hundertsten Male verwünschte er es im stillen, daß er sich auf das Abenteuer eingelassen hatte . . . und jetzt tuschelten die beiden, der Bote und der Diener, so verdächtig in einer Ecke . . . warfen, wie er sich einbildete, hin und wieder forschende Blicke nach ihm. War man ihm etwa auf der Spur?

Er strengte seine Ohren an, horchte gespannt und fing Bruchstücke des Gespräches auf. »Landjägerei alarmiert . . . Umgebung von Gorla wird abgesucht . . . Dr. Hegemüller mit Flugzeug unterwegs . . .«

Es verschlug Watson den Atem, als er es hörte. Vom Flugzeug konnte man die Baumkronen einsehen . . . Wenn Hegemüller die Rakete entdeckte? . . . Man würde die Landjäger nach der Stelle schicken, sie würden die mit seinen Initialen gezeichneten Wäschestücke finden . . . Er mußte sich gegen die Wand stützen, hörte mit geschlossenen Augen weiter . . . Ausländer sollen es gewesen sein . . . Man hat auch schon einen bestimmten Verdacht, geht einer gewissen Spur nach . . . Wenn das Glück günstig ist, werden die Räuber noch heute vormittag gefaßt.

Watson fühlte seinen Herzschlag aussetzen. Wie im Traum vernahm er die Worte des Boten: »Mach's gut, Karl, ich muß weiter.« Dann hörte er eine Tür klappen. Nur allmählich kam er wieder zu sich, ging leicht wankend mit verstörtem Gesicht zu seinem Tisch und sank auf einen Stuhl.

»Ist Ihnen nicht gut, Kollege?« Die Stimme Dr. Stiegels klang an sein Ohr. Mit letzter Anstrengung riß er sich zusammen. Nur jetzt nicht schwach werden, sich nicht verraten!

»Nichts von Bedeutung, Herr Doktor Stiegel. Eine Magenverstimmung; ich fürchte, ich habe gestern abend zuviel von dem schwarzen Brot gegessen.« Er strich sich über den Leib, als ob er dort Schmerzen spürte.

»Gehen Sie ins Kasino und lassen Sie sich einen handfesten Weinbrand geben, Kollege«, riet ihm Stiegel.

»Ich will Ihren Rat befolgen.« Watson verließ das Laboratorium. Erst draußen in der frischen Luft wurde ihm etwas leichter ums Herz. Im Kasino ließ er dem ersten Weinbrand bald einen zweiten folgen, überlegte dabei noch einmal Wort für Wort, was er soeben gehört hatte, und merkwürdigerweise kam es ihm jetzt nicht mehr ganz so schlimm vor. Als er eine Viertelstunde später wieder in die Abteilung Thiessen zurückkehrte, war ihm die überstandene Schwäche nicht mehr anzumerken.

* * *

Chefingenieur Grabbe starrte verdrießlich auf den Deckel eines vor ihm liegenden Aktenstückes. Er kam nicht dazu, es zu lesen, denn immer wieder kehrten seine Gedanken zu der verschwundenen Rakete Hegemüllers zurück. Fast zwei Wochen waren nun seit diesem aufregenden Ereignis ins Land gegangen, und keinen Schritt war man weitergekommen. Nach wie vor blieb die Rakete verschwunden, obwohl man die Nachforschungen nach ihr viele Tage hindurch eifrig betrieben hatte. Keinen Schuldigen, ja nicht einmal einen Verdächtigen, vermochte der Sicherheitsdienst des Werkes zu ermitteln, obwohl er sich redlich darum bemühte. Zweifel überkamen den Chefingenieur. Hatte Lüdinghausen mit seiner Theorie recht – und Grabbe konnte keine schwache Stelle in der Beweisführung des Professors entdecken –, dann mußten der oder die Täter, welche die Rakete weggenommen hatten, nicht nur zur Gefolgschaft gehören, sondern sich auch jetzt noch im Werk befinden. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn bei dem Gedanken daran; unwillkürlich liefen ihm Namen und Personen durch den Sinn, die möglicherweise verdächtig sein konnten und die es nun zu finden galt.

Für sich allein versuchte er jetzt das, was Lüdinghausen in seiner oft bildhaften Ausdrucksweise »mit Zirkel und Lineal konstruieren« nannte. Zwei Möglichkeiten stellte er gegeneinander. Die erste: Der Täter war ein Deutscher, der im Solde irgendwelcher Agenten handelte. Dann mußte es in der Tat sehr schwer, wenn nicht unmöglich sein, ihn aus der großen Zahl der Werkangehörigen ausfindig zu machen; oder aber zweitens: Es war einer von den wenigen Ausländern, die in dem Institut tätig waren. Dann war er doch wohl nur unter denen zu suchen, die um den neuen Strahlstoff wußten und selbst mit ihm zu tun hatten. Watson oder Saraku? Fast ohne es zu wollen, hatte er die beiden Namen vor sich hin gesprochen.

Der Amerikaner? Schon vor Tagen hatte er auf Wunsch O'Neils' Deutschland verlassen, war längst wieder in Washington, während sein Landsmann Jones in dem deutschen Institut arbeitete. Der kam also überhaupt nicht mehr in Betracht. Der andere, der Japaner? Grabbe hielt ihn ebenso wie Watson für einen grundanständigen Menschen, wollte keinem von den beiden die Tat zutrauen und war nun in seinen Überlegungen doch auf sie gestoßen, grübelte und sinnierte weiter und kam mit seinen Gedanken nicht mehr zurecht. Hegemüller hatte ja seine Sache ganz im geheimen betrieben. Weder Watson noch Saraku konnten darum wissen. Während er noch nach einer Lösung suchte, meldete sich das Telefon auf seinem Tisch. Saraku bat um eine Unterredung.

»Ja, es ist mir recht. Ich bin im Augenblick frei. Sie können gleich kommen, Herr Saraku.« Grabbe legte den Hörer wieder auf, dachte dabei: Ich werde gesprächsweise die Strahlrakete erwähnen und ihn dabei genau beobachten. Wenn er in die Sache verwickelt ist, wird er sich vielleicht doch verraten . . . obwohl . . . die Söhne Nippons haben sich in der Gewalt . . .

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Betrachtungen. Saraku kam herein und ging nach einer höflichen Begrüßung sofort auf den Zweck seines Kommens los.

»Ich bekam Nachrichten von meinem verehrten Lehrer Hidetawa, Herr Chefingenieur«, sagte er und legte einen großen Briefumschlag vor sich hin.

»Von unserem Freunde Hidetawa?« fragte Grabbe. »Hat er neue Vorschläge wegen der Strahlturbine zu machen?«

Saraku machte eine verneinende Bewegung. »Nein, Herr Chefingenieur. Er kommt mit einem anderen Vorschlag, der ihn, wie er schreibt, schon seit Wochen beschäftigt. Er schickt Pläne zu einer Strahlrakete.«

Grabbe biß sich auf die Lippen, um Worte zu unterdrücken, die ihm auf der Zunge lagen.

»Von einer Strahlrakete? Das ist interessant.« Er brachte es scheinbar gleichmütig heraus, obwohl seine Gedanken wild durcheinanderwirbelten. »Herr Hidetawa hat bereits Pläne entworfen?«

»Hier sind sie, Herr Grabbe.« Saraku zog mehrere Bogen aus dem Briefumschlag, faltete sie auseinander und breitete sie vor dem Chefingenieur aus. Dessen Augen gingen wechselweise zwischen den Zeichnungen und dem Japaner hin und her. Auf den ersten Blick erkannte er, daß die Entwürfe Hidetawas schon weit ins einzelne gingen. Wer das Problem bereits so weit beherrscht, hat es nicht nötig, sich an dem primitiven Apparat Hegemüllers zu vergreifen, war die Erkenntnis, die sich ihm zwangsläufig aufdrängte und vor der jeder Verdacht gegen Saraku dahinschwand.

Mit ungeteiltem Interesse vermochte Grabbe sich jetzt den Entwürfen Hidetawas zu widmen, und immer wieder mußte er die Voraussicht bewundern, mit der jede Eventualität hier gemeistert, jeder Einzelteil für seinen Zweck geformt und durchkonstruiert war. Unbeweglich saß Saraku ihm gegenüber und wartete geduldig ab, wie sich Grabbe zu den Plänen äußern würde. Jetzt stutzte der. Sein Finger blieb auf einer Nebenzeichnung haften, die den Bewegungsmechanismus der strahlenden Treibflächen darstellte.

»Herr Hidetawa hat hier ein selbstsperrendes Getriebe vorgesehen?« wandte er sich an Saraku. »Warum das?«

»Herr Hidetawa hat mit der Möglichkeit gerechnet, daß Kräfte von außen her die Treibflächen verstellen könnten, und sich durch eine Selbstsperrung dagegen geschützt. Er dachte an den Luftwiderstand während des Fluges in der Atmosphäre. Er hat wohl auch mit der Möglichkeit gerechnet, daß ein Unbefugter die Flächen von außen her verstellen könnte . . .«

Die Flächen von außen her verstellen könnte . . . die letzten Worte Sarakus hallten wie ein Echo im Ohr des Chefingenieurs nach . . . ein Unbefugter von außen . . . Konnte es bei der Rakete von Dr. Hegemüller nicht ebenso gewesen sein? . . . Mit Leichtigkeit ließen sich an dessen Maschine die Flächen von außen her verstellen. Nicht einmal ein Mensch brauchte es gewesen zu sein. Ein leichter Druck genügte ja schon dazu. Irgendein Tier konnte es verursacht haben . . . eine Katze vielleicht . . . es waren einige davon in dem Werk vorhanden.

Saraku hatte einen Brief aus dem Umschlag gezogen. Das leichte Knittergeräusch des bewegten Papieres rief Grabbe in die Wirklichkeit zurück. Er sah wieder die Pläne vor sich, den Japaner sich gegenüber und begann zu sprechen.

»Ich beglückwünsche Herrn Hidetawa zu dieser Arbeit. Sie ist ein Meisterstück. Wir werden heute noch gemeinsam darüber beraten. Für den Augenblick bitte ich Sie um Entschuldigung. Ich muß Herrn Professor Lüdinghausen noch sprechen, bevor er zu Tisch geht. Vielleicht können wir heute nachmittag mit ihm zusammen eine Konferenz haben.«

Saraku erhob sich und verließ mit einer Verbeugung das Zimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Grabbe schon zum Telefon griff und Lüdinghausen anrief.

»Sehr gut, Grabbe«, klang's ihm von der anderen Seite der Leitung entgegen. »Ich wollte Sie auch noch sprechen. Kommen Sie, bitte, gleich.«

»Ja, mein lieber Grabbe«, empfing Lüdinghausen den Chefingenieur. »Mit unseren Nachforschungen in der Sache Hegemüller scheinen wir ja nun endgültig festgefahren zu sein. Nirgends auch nur eine Spur von dem Täter. Ich glaube nicht mehr, daß wir den Menschen fassen werden.«

»Vorausgesetzt, daß es ein Mensch ist, Herr Professor.« Lüdinghausen sah den Chefingenieur groß an. Der ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, sondern breitete die Zeichnungen Hidetawas gemächlich vor sich aus. Eine kurze Weile ließ ihn Lüdinghausen gewähren, dann fragte er ungeduldig:

»Wie meinen Sie das, Herr Grabbe? Ich denke, über den Täter sind wir uns doch einigermaßen klar.«

»Ich habe es auch geglaubt, Herr Lüdinghausen, bis ich vorhin Pläne Hidetawas für eine Strahlrakete . . .«

»Nun und? Was hat das mit unserm Fall zu tun?«

Grabbe schob ihm eine der Zeichnungen hin und wies auf eine Stelle darauf.

»Wollen Sie sich das einmal genau ansehen, Herr Professor?«

»Was ist daran Besonderes zu sehen? Die Bewegung der Treibflächen durch einen Schneckentrieb – übrigens keine schlechte Idee – imponiert mir . . . tüchtige Arbeit. Aber lassen wir das jetzt. Kehren wir zu unserem Fall zurück, Herr Grabbe.«

»Wir sprechen bereits die ganze. Zeit darüber, Herr Lüdinghausen. Sehen Sie, hier unterscheidet sich die Konstruktion grundsätzlich von der Hegemüllerschen. Hier stehen die Treibflächen in jeder Stellung unverrückbar fest. Bei unserer Rakete konnte man sie von außen her mit Leichtigkeit verstellen . . .«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Es hätte jemand die Flächen unserer Rakete von außen verstellen können . . . braucht gar nicht mitgeflogen zu sein . . . ja, bester Herr Grabbe, das wirft ja alle unsere Schlußfolgerungen über den Haufen. Dann kann die Rakete sich ja Gott weiß wo befinden . . . vielleicht auf halbem Wege zum Mond sein . . .«

»Wäre das Beste, was uns passieren könnte. Dann wären wir wenigstens sicher davor, daß sie einem Unberufenen in die Hände fällt. Offen gesagt, Herr Professor, solche Scherze wie damals bei den Fundland-Bänken und am Boulder-Damm möchte ich nicht noch mal erleben. Damals hat die Welt noch an einen Meteoriten geglaubt; wenn aber Hegemüllers Rakete in Amerika oder sonstwo zu Boden stürzt, würde die Welt verflucht hellhörig werden.«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!« wehrte Lüdinghausen ab. »Im übrigen bringt uns das alles nicht weiter. Nach wie vor haben wir die Aufgabe, den Kerl festzustellen, der uns das eingebrockt hat.«

»Sie sagen Kerl, Herr Lüdinghausen. Es könnte auch ein Tier gewesen sein.«

»Ein Tier?!«

»Allerdings! Ich denke da zum Beispiel an die Katzen, die unsere Pförtner sich halten. Die Tiere streunen gerade in dieser Jahreszeit die liebe lange Nacht herum und machen sich reichlich bemerkbar.«

Lüdinghausen warf sich in seinen Sessel zurück und lachte laut heraus. »Großartig, Grabbe! Der Täter entpuppt sich als ein verliebter Kater. Ich kann nur nicht daran glauben.«

»Aber ich, Herr Lüdinghausen. Zufällig hörte ich von einem unserer Wächter, daß die Biester es in der fraglichen Nacht besonders arg getrieben haben. Es ist ihre Ranzzeit. Sie sollen steinerweichend konzertiert haben.«

Lüdinghausen wurde wieder ernst. »Sollte das wirklich des Rätsels Lösung sein, Herr Grabbe? Je länger ich darüber nachdenke, um so möglicher erscheint es mir. Ja, was sollen wir denn dann noch weiter unternehmen?«

»Gar nichts, Herr Professor. Die Dinge einstweilen laufen lassen, wie sie laufen, und den Bau unserer neuen Rakete mit allen Mitteln beschleunigen. Ich möchte nicht, daß Hidetawa uns zuvorkommt. Unsere eigenen Entwürfe sind auch nicht schlecht. Nur den Mechanismus für die Bewegung der Treibflächen wollen wir von dem japanischen Projekt übernehmen. Da uns Hidetawa seine Pläne unterbreitet hat, müssen wir auch ihm gegenüber mit offenen Karten spielen. Ich schlage vor, daß wir uns heute nachmittag mit Saraku darüber besprechen.«

Lüdinghausen machte sich eine Notiz auf seinem Terminkalender.

»Ist recht, Herr Grabbe. Heute nachmittag um vier Uhr. Kommen Sie schon eine Viertelstunde früher, damit wir uns vorher über alles Wichtige klar werden.«

Zur festgesetzten Zeit stellte sich Chefingenieur Grabbe am Nachmittag wieder bei Lüdinghausen ein und entnahm seiner Mappe die von Dr. Hegemüller entworfenen und von ihm selbst weiterverarbeiteten Pläne über die neue Rakete.

»Ja, sehen Sie, lieber Grabbe, das ist es, was ich erst unter vier Augen mit Ihnen besprechen wollte, bevor wir uns mit unserem Japaner zusammensetzen«, eröffnete Lüdinghausen die Unterredung und griff nach einem mit roter Tinte ausgefertigten Schriftstück. »Ich glaube, unsere Fertigungs- und Liefertermine behalten wir vorläufig lieber für uns.«

»Ich wollte Ihnen das gleiche vorschlagen, Herr Professor«, erwiderte Grabbe. »Ich meine, hier handelt es sich um eine interne Betriebsangelegenheit, über die wir niemandem Rechenschaft schuldig sind.«

Lüdinghausen vertiefte sich in das durch seine Farbe so auffällige Dokument und nickte dabei zustimmend.

»Sehr gut, Herr Grabbe. Der Raketenkörper ist bereits in die Abteilung Hegemüller geliefert worden.« Er zog eine der Zeichnungen heran. »Alle Wetter, ein tüchtiger Brocken. Wie haben Sie das Stück so schnell beschaffen können?«

Grabbe lachte. »Ich habe mich durch unsern Freund Hegemüller inspirieren lassen. Ich habe den Raketenkörper bei der Firma bestellt, die uns bereits mehrere Versuchskammern geliefert hat.«

»Hm, so! Haben die Leute nicht etwas gemerkt? Lunte gerochen, wie man zu sagen pflegt?«

»Glaube ich nicht, Herr Professor. Wir haben es natürlich vermieden, der Firma unser Geheimnis auf die Nase zu binden. Die Zeichnungen, die wir ihr gaben, waren so hergerichtet, daß sie glauben mußte, es handelt sich auch hier wieder um eine Versuchskammer. Die Sache wurde noch täuschender, weil wir auch gleich die Lufterneuerungsanlage und einige Meßinstrumente von dieser Firma in den Körper einbauen ließen. Sie sehen hier die Sauerstoffflaschen; hier« – er fuhr mit dem Finger über die Zeichnung – »die Kalipatronen, um die durch die Atmung frei werdende Kohlensäure zu binden, und hier die Manometer. Die Firma hat sich mächtig 'rangehalten, das muß man ihr lassen. Sie hat uns das Stück zehn Tage nach der Bestellung angeliefert, hat deswegen unsern anderen Auftrag auf die Versuchskammer für C III zurückgestellt, obwohl Dr. Schneider erheblichen Krach geschlagen hat.«

Lüdinghausen hatte sich schon wieder der roten Liste zugewandt und die nächsten Zeilen überflogen. »Das Instrumentenbrett ist auch bereits eingebaut und komplett«, meinte er anerkennend.

Grabbe nickte. »Jawohl, Herr Lüdinghausen; sowie der Raketenkörper im Werk war, hat sich Hegemüller mit seinen Leuten darüber hergemacht. Es waren ja naturgemäß einige Änderungen notwendig. Zwei von den vier Manometern mußten mit der Außenluft verbunden werden. Thermometer und Beschleunigungsmesser waren einzubauen. Das alles hat sehr schön geklappt. Auch die Treibflächen sind bereits eingetroffen. Nur der Bewegungsmechanismus für sie ist noch nicht fertig, und das ist kein Fehler, denn den wollen wir jetzt nach den Plänen Hidetawas gestalten.«

»Gut, sehr gut, Herr Grabbe. Wann, meinen Sie, wird die neue Rakete startbereit sein?«

»In wenigen Tagen. Hegemüller sitzt bereits über den Zeichnungen für die wenigen noch fehlenden Teile. Wir werden die Stücke bei uns im Werk herstellen lassen und die Sache dringlich machen. Wenn Sie auch noch etwas Druck dahintersetzen, Herr Professor, können wir schon für die kommende Woche mit einem Probeflug rechnen.«

Lüdinghausen warf einen Blick auf den Kalender. »Wir werden fast Neumond haben. Das paßt ganz gut. Also machen Sie mit Volldampf weiter, und jetzt wollen wir uns Saraku kommen lassen.«

Sorgsam faltete Grabbe die rote Liste zusammen und ließ sie in seiner Brusttasche verschwinden, während Lüdinghausen den Japaner durch den Fernsprecher zu sich bat.

»Wir sind Meister Hidetawa zu Dank verpflichtet«, empfing er den Eintretenden. »Die Pläne, die Sie in seinem Auftrag überbrachten, sind sehr interessant und lehrreich für uns, aber wir haben auch nicht geschlafen. Wollen Sie sich das bitte ansehen.« Er führte Saraku zu einem andern Tisch, auf dem ein vollständiger Satz der von Hegemüller entworfenen Raketenpläne ausgebreitet war, und fuhr fort: »Ich übergebe Ihnen die Zeichnungen zu treuen Händen, Herr Saraku, mit der Bitte, sie Herrn Hidetawa zu übermitteln.«

Überrascht schaute der Japaner auf die vor ihm ausgebreiteten Zeichnungen. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigte ihm, daß die Partner ihre Zeit in der Tat nicht verloren hatten. Auch hier war alles für eine Strahlrakete Erforderliche bis in die Einzelheiten durchkonstruiert, und in der Hauptsache stimmte es mit den von Hidetawa gewählten Anordnungen überein.

Grabbe griff nach einer Liste und reichte sie dem Japaner, während er dazu erklärend bemerkte: »Sie finden hier eine Aufstellung der Patente, die wir gemeinsam nehmen wollen. Neu für uns war der Bewegungsmechanismus der Treibflächen. Wir halten ihn für sehr wichtig und wollen ihn möglichst ausgiebig schützen lassen. Für Sie wird vielleicht die von uns gewählte Anordnung der Instrumente interessant sein. Von diesen zwei Punkten abgesehen, stimmen unsere Konstruktionen wie gesagt fast vollständig überein.«

Saraku hatte sich über die Zeichnungen gebeugt und vertiefte sich in ihre Einzelheiten.

Äußerlich war ihm die Überraschung nicht anzumerken, die diese Entwürfe ihm bereiteten. Etwas ganz Neues hatte er dem deutschen Werk zu bringen geglaubt und mußte nun feststellen, daß man hier schon ebensoweit war wie in Tokio.

»Bauen ist jetzt die Hauptsache, Herr Saraku«, nahm Lüdinghausen wieder das Wort. »In Stahl und Eisen muß jetzt Form gewinnen, was hier auf dem Papier steht, und zwar möglichst bald.« Saraku nickte zustimmend. Er dachte in diesem Augenblick an ein anderes nur für ihn bestimmtes Schreiben Hidetawas, in dem sein alter Lehrer ihm auch einiges über den Stand der Bauarbeiten an seiner Rakete mitteilte. Mochten die Deutschen sich noch so sehr beeilen, es würde ihnen kaum gelingen, seinen Vorsprung einzuholen.

»Ich weiß nicht, Herr Professor«, begann er zögernd, »ob es erlaubt ist, davon zu sprechen.« Er stockte wieder und schwieg.

»Bitte, heraus mit der Sprache!« ermunterte ihn Grabbe.

»Reden Sie nur offen, wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

»Ich hörte«, begann Saraku wieder, ». . . es sind nur Gerüchte . . . man sprach im Werk von einer Rakete, die bereits fertig war und auf unerklärliche Weise entflogen sein soll.«

Verstohlen tauschten Grabbe und Lüdinghausen einen schnellen Blick miteinander. Für einen kurzen Augenblick flammte der alte Verdacht wieder in Grabbe auf. Fragen überstürzten sich in seinem Kopf. Was wußte der Japaner in Wirklichkeit?

Lüdinghausen enthob ihn der Mühe, eine Antwort zu finden. »Gerüchte, Herr Saraku . . . Sie wissen selbst, was man davon zu halten hat. Ein Körnchen Wahrheit und viel unnützes Geschwätz. Herr Doktor Hegemüller hatte ein paar kleine Strahlflächen an ein Gestell montiert, wollte am nächsten Tag ihre Treibkraft messen. In der Nacht kamen streunende Katzen darüber her und brachten die Konstruktion in Unordnung, mit dem Endergebnis, daß die ganze Geschichte sich senkrecht in den Äther empfahl. Ein belangloser Zwischenfall; der Himmel mag wissen, wie das Vorkommnis überhaupt bekanntgeworden ist. Wir legen ihm keine weitere Bedeutung bei.«

Mit einer höflichen Verneigung quittierte Saraku die Mitteilung Lüdinghausens. Friß die Lüge oder ersticke daran! dachte Grabbe bei sich.

Noch ein kurzer Meinungsaustausch über das Bauprogramm, und die Konferenz war beendet.

»Wir müssen sehr schnell bauen, wenn uns Hidetawa nicht zuvorkommen soll«, sagte Grabbe, nachdem Saraku gegangen war. »Wir werden mit Tag- und Nachtschichten arbeiten«, bestätigte Lüdinghausen die Meinung des Chefingenieurs.

* * *


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