Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In flottem Tempo rollte ein Kraftwagen über die Landstraße. Geradeaus nach Westen ging die Fahrt durch den sonnigen Maimorgen. Endlos dehnte sich zu beiden Seiten der Straße die flache Heide, nur hin und wieder durch vereinzelte Kiefern und Birkengruppen unterbrochen.
Nur ein jüngerer Mann, in der zweiten Hälfte der Zwanziger etwa, war im Wagen; er saß am Steuer und zog ab und zu eine Landkarte zu Rate, obwohl ein Sichverfahren in dieser Gegend kaum zu befürchten war. Jetzt ließ er den Wagen langsamer laufen, steuerte nur noch mit einer Hand, während die Finger der andern auf der Karte hin und her gingen.
Nun schien er gefunden zu haben, was er suchte, und brachte sein Gefährt an einer Stelle zum Stehen, an der ein breiter Feldweg von der Landstraße nach links in die Heide abzweigte. Ein ganz gewöhnlicher, ziemlich stark zerfahrener Feldweg war es, einzig auffällig nur durch ein Verkehrszeichen, das ihn für Fahrzeuge aller Art sperrte. Ein anderer hätte sich vielleicht über das Schild gewundert, das hier auf einem kaum dürftiges Futter für Schafe bietenden Feld stand. Der Insasse dieses Wagens aber, Mister Henry Turner aus Kansas City, USA., schien im Gegenteil etwas Derartiges erwartet und gesucht zu haben. Zunächst ließ er seinen Wagen einmal ein paar hundert Meter weiterrollen, um nicht gerade an diesem so eigenartig gekennzeichneten Seitenweg zu stehen. Dann hielt er von neuem und unterzog die Gegend zur Linken der Landstraße einer eingehenden Musterung, wobei er des öfteren den Nacken weit nach hinten bog, als ob er auch am Himmel etwas erspähen wollte.
Vereinzelte Wolkenfetzen, die der Frühlingswind über das Firmament jagte, schienen seine Beobachtung für eine kurze Weile zu stören, doch sobald sie sich verzogen hatten, setzte er seine Untersuchung fort, nahm jetzt ein gutes Fernrohr und dann sogar einen Theodoliten zu Hilfe und visierte viele Minuten hindurch, während er gleichzeitig Zahlen auf einen Notizblock niederschrieb. Nur mit außergewöhnlich scharfen Augen hätte man ohne Glas die Objekte entdecken können, denen das Interesse und die Messungen des einsamen Kraftfahrers galten. Winzige silbrig schimmernde Pünktchen waren es, die sich nach Süden hin am Firmament abzeichneten, oft durch Wolken verdeckt, oft auch in der flimmernden Luft verschwindend und nur bei größter Aufmerksamkeit überhaupt zu finden.
Ein fernes Motorengeräusch durchbrach die Stille der Heide. Für Mister Turner war es die Veranlassung, seinen Wagen wieder in Gang zu setzen und langsam weiterzufahren. Aus ganz bestimmten Gründen legte er keinen Wert auf Zuschauer bei seinen Beobachtungen und Untersuchungen. Vergeblich wartete er indes darauf, daß ein anderer Kraftwagen ihm entgegenkäme oder ihn überhole. Es mochte wohl ein landwirtschaftlicher Traktor sein, der da irgendwo auf einem Feld arbeitete und das Geräusch verursachte.
In beschleunigtem Tempo fuhr Turner weiter, aber immer wieder fühlte er sich veranlaßt, den Kopf nach links zu wenden und – was er besser unterlassen hätte – in die Höhe zu blicken, und dann war, ehe er sich's versah, das Malheur geschehen. Der Wagen eckte mit dem rechten Vorderrad an einen Prellstein an, machte einen kurzen Sprung zur Seite und landete in einem tiefen Chausseegraben.
Abgesehen von einem kräftigen Stoß, den Mr. Turner dabei von dem Steuerrad in die Magengrube bekam, war nichts Ernstliches passiert. Fahrer und Wagen waren unversehrt; nur mit dem Weiterkommen sah es windig aus, denn die steilen Grabenböschungen ließen ein Herausarbeiten mit eigener Maschinenkraft ziemlich aussichtslos erscheinen. Vergeblich versuchte der Amerikaner es ein paarmal; auf dem glatten, schlammigen Grabenboden drehten sich die Räder nur auf der Stelle und wühlten sich immer tiefer ein, ohne das Fahrzeug vom Fleck zu bringen. Mißmutig setzte er den Motor wieder still und schickte sich eben an, aus dem Wagen herauszuklettern, als er einen Mann auf der Chaussee daherkommen sah.
Offenbar ein Eingeborener des Landes, dachte Turner, während er den Näherkommenden schärfer ins Auge faßte. Der muß mir Hilfe auftreiben, irgendeinen Bauern mit einem Gespann, der mir die Karre aus dem Graben zieht. Kleidung und Aussehen des Fremden schienen der Vermutung Turners recht zu geben. Ein alter Havelock aus einem Lodenstoff, der vor Jahren vielleicht einmal grün gewesen war. Ein Filzhut, der ebenfalls die Spuren von manchem Wind und Wetter zeigte. Dazwischen ein faltiges Gesicht mit einem langen, grauen Rübezahlbart; unter buschigen Brauen ein Paar scharf spähende Augen. Vielleicht ist's ein Schäfer, der hier irgendwo seine Schnucken hütet, ging es Turner weiter durch den Kopf, als der alte Mann bei ihm haltmachte und sich kopfschüttelnd die Sachlage besah. Turner öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als der andere ihn schon ansprach.
»Wie haben Sie das fertiggebracht, Herr? Der Weg hier ist doch wirklich breit genug. Na, 'raushelfen müssen wir Ihnen. Ich werde einen Bulldog vom Feld dahinten herholen. Zehn Minuten wird's dauern, so lange müssen Sie Geduld haben.«
Der Amerikaner ließ sich am Grabenrand nieder und blickte dem Alten nach, der nach rechts hin über die Heide wanderte. Unwillkürlich beschäftigte er sich in Gedanken weiter mit dem Mann und versuchte sich über den Eindruck, den er in knappen Sekunden von ihm gewonnen hatte, klarzuwerden . . . Ein alter Schäfer oder Bauer? Vielleicht, nach der Kleidung sogar wahrscheinlich . . . aber diese eigenartigen blitzenden Augen, der ganze Schnitt des Gesichts, das wollte zu dieser Mutmaßung nicht recht passen, und Mister Turner hatte Erfahrung in solchen Dingen. Sein Beruf führte ihn mit vielen Menschen zusammen, und es hing für ihn viel davon ab, daß er sie von Anfang an richtig erkannte und einschätzte . . . Die Sprache? Der Mann hatte hochdeutsch mit ihm geredet, aber mit einem unverkennbaren Einschlag der niederdeutschen Mundart, die hier in der Heide üblich war. Trotzdem . . . es wollte ihm nicht recht eingehen, daß der Alte zeit seines Lebens nur hinter dem Pfluge gegangen sei oder Schafe gehütet habe . . .
Motortacken riß Turner aus seinem Grübeln, wurde schnell lauter und kam näher. Er trat aus dem Graben auf die Landstraße und sah einen Traktor herangerasselt kommen. Aha, das hatte der Alte gemeint, als er von einem Bulldog sprach. Mr. Turner hatte es vorhin nicht recht verstanden. Ein stämmiger landwirtschaftlicher Traktor; dem würde es wohl ein leichtes sein, den Wagen aus dem Graben zu ziehen. Nun hielt die Zugmaschine dicht neben dem Wagen an.
»Joa, doa wär'n wi nu, Herr Zacharias«, sagte der junge Mann, der am Steuer der Zugmaschine saß, während der Alte von dem Hintersitz abstieg.
»Geben Sie uns Ihr Seil, Herr«, wandte er sich an Turner. Der ging an den Werkzeugkasten seines Wagens, kramte eine Weile darin und richtete sich dann achselzuckend auf.
»Dumme Sache, Sir, ich habe kein Seil bei mir.«
»Wat schall nu war'n, Herr Zacharias?« fragte der Traktorführer, während er sich bedenklich hinter dem Ohr kratzte. Was der Alte ihm darauf in einem vollkommenen Heideplatt antwortete, blieb für Mr. Turner unverständlich, aber es bekräftigte ihn wieder in seiner ersten Meinung, daß er doch einen echten »Eingeborenen der Heide«, einen »genuine native«, wie er ihn bei sich nannte, vor sich habe, und im nächsten Augenblick war er sogar geneigt, den alten Mann für einen ausgewachsenen Trottel zu halten. Der suchte geruhsam in seinen Manteltaschen, als ob er da etwas für den augenblicklichen Zweck Geeignetes finden könnte, und brachte schließlich ein kleines Knäuel zum Vorschein, das er sorgfältig abzuwickeln begann. Für einen einfachen Bindfaden hielt Turner es beim ersten Anblick. Erst bei schärferem Hinsehen erkannte er, daß es eine aus vielen feinen Drähten gesponnene Litze war. Aber was sollte das hier nützen? Ein schweres Stahldrahtseil, wenigstens fingerstark, wäre nach Turners Meinung nötig gewesen, um seinen Wagen über die steile Grabenböschung herauszuholen.
»Nonsense, Sir!« brummte er vor sich hin, während der Alte das dünne Geflecht mit einer sicheren Schlinge in den klobigen Zughaken des Traktors legte. »Mann, was wollen Sie da machen? Das ist ja zwecklos!« fuhr er laut fort, als der Alte nun in den Graben kletterte und dort das andere Litzenende am Vorderteil des Kraftwagens festmachte.
»Abwarten, lieber Herr!« meinte der Helfer, während er sich an das Steuer des Wagens setzte. »He, Hermann, treck an!« rief er dem Fahrer der anderen Maschine zu. Schon brummte deren Motor auf, sie ruckte an, und die dünne Schnur spannte sich . . . bis zum Zerreißen, wie es Turner schien. Er sprang ein paar Schritte beiseite, um nicht etwa von den zurückschnellenden Enden getroffen zu werden. Stand dann und sah sprachlos, was weiter geschah.
Sein Wagen kam, von dieser lachhaft dünnen Schnur gezogen, in Bewegung und rollte ein Stückchen auf dem Grabenboden weiter. Dann sprang auch der Wagenmotor an. Geschickt schaltete der alte Mann am Steuer auf den dritten Gang um, schärfer tackte einen Augenblick der Motor des Bulldogs, und dann stand der Wagen des Amerikaners wieder heil auf der Landstraße. Schon hatte der Alte seinen Platz am Steuer verlassen, hatte diese merkwürdige Schnur von beiden Fahrzeugen gelöst und war dabei, sie wieder zusammenzuwickeln.
»Dank di oak schön! Fohr wedder los, Hermann!« rief er dem Traktorführer zu, während Turner immer noch nicht wußte, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Konnte er ihm ein Trinkgeld für seine Hilfe anbieten? Ein alter Schäfer hätte das sicherlich gern genommen; blieb nur noch die Frage, ob der Mann nicht doch etwas anderes war. Die Art und Weise, wie er den Motor und die Schaltung des Wagens bedient hatte, verriet zweifellos, daß er mit der Lenkung eines Kraftfahrzeuges gut Bescheid wußte.
Und dann die merkwürdige Schnur, mit der er den durchaus nicht leichten Wagen des Amerikaners aus dem Graben gezogen hatte! Die interessierte Mister Turner ganz besonders, über die mußte er unter allen Umständen noch Genaueres in Erfahrung bringen. Aber wenn er das wollte, durfte er den Mann jetzt nicht mit einem einfachen »Danke schön!« weggehen lassen.
»Ich bin Ihnen äußerst verpflichtet, Herr – Herr –« begann er.
»Ich heiße Zacharias«, warf der andere dazwischen.
»Mein Name ist Turner«, stellte der Amerikaner sich vor. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen; ohne Ihren Beistand hätte ich hier noch lange im Graben stecken können. Darf ich Sie vielleicht ein Stückchen in meinem Wagen mitnehmen?«
Nach einem kurzen Blick auf den Amerikaner und seinen Wagen nahm der alte Zacharias die Einladung an.
»Sie können mich bis zum nächsten Dorf mitnehmen«, meinte er, während er neben ihm Platz nahm, »aber –« ein leichtes Lächeln huschte über das faltige Gesicht, »fahren Sie möglichst nicht wieder in den Graben. Sie haben vorhin wohl ein bißchen zu sehr nach links geschaut.«
Turner biß sich auf die Lippen und spürte zu seinem Ärger, daß er einen roten Kopf bekam. Hatte der Alte ihn vielleicht schon längere Zeit beobachtet und etwas von seinen nicht ganz unverdächtigen Manipulationen gesehen? Er hielt es nicht für wahrscheinlich.
»Ihre Vermutung ist nicht ganz unbegründet, Herr Zacharias«, sagte er möglichst unbefangen. »Zur Linken der Landstraße soll hier ein atmosphärisches Elektrizitätswerk stehen. Das interessiert mich natürlich. Wir haben bei uns in Kansas auch eine Versuchsstation in Betrieb.«
»Kann Ihr Interesse begreifen, Herr Turner«, lachte der Alte in seinen schütteren Bart, »aber Sie haben wohl nicht viel davon zu sehen bekommen? Man hat es absichtlich mitten in die einsame Heide hineingesetzt. Es gibt zu viel Neugierige.«
Turner entschloß sich, geradeswegs auf ein Ziel loszugehen. »Etwas davon habe ich doch gesehen«, meinte er, »wenigstens die Ballone, die das Fangnetz tragen. Schätze, daß das Netz achttausend Meter über dem Erdboden liegt. Großartige Leistung, Herr Zacharias, wenn ich mich nicht verschätzt habe. Bei uns sind wir noch nicht so weit. Wir sind zufrieden, daß wir's in dreitausend Meter Höhe halten können . . .«
Die ersten Häuser des Dorfes waren inzwischen aufgetaucht, und jetzt rollte der Wagen über ein holpriges Straßenpflaster.
»Ich bin hier zu Hause. An der nächsten Ecke möchte ich 'raus«, sagte der Alte.
»Gewiß – wie Sie wünschen«, erwiderte Turner, aber seine Worte entsprachen nicht seiner wirklichen Meinung. Brennend gern wollte er länger mit dieser neuen Bekanntschaft zusammenbleiben, um noch mehr über die Dinge zu erfahren, die ihn so sehr interessierten.
»Es ist gerade Mittag, Herr Zacharias«, warf er mit einem Blick auf die Wagenuhr hin. »Vielleicht können wir hier einen Lunch bekommen. Darf ich Sie einladen?«
»Ist mir zum Essen noch ein bißchen zu früh, Herr Turner«, erwiderte Zacharias nach kurzem Besinnen. »Auf einen Schoppen Apfelwein will ich Ihnen gern noch Gesellschaft leisten. Wir haben hier eine recht brauchbare Wirtschaft im Dorf, in der Sie ein vernünftiges Frühstück bekommen können. Sehen Sie das Haus da vorn mit dem hohen Fachwerkgiebel? Da ist es.«
Während der Wagen die kurze Strecke bis zum Krug zurücklegte, drehten sich alle Gedanken des Amerikaners um das kleine Knäuel, das sein Nachbar wieder lässig in die Manteltasche gesteckt hatte. Um jeden Preis wollte er das in seinen Besitz bringen . . . Über das Wie war er sich noch unklar, aber irgendein Weg, so hoffte er wenigstens, würde sich wohl finden lassen, wenn sie erst einmal zusammen in der Wirtschaft säßen.
»Da sind wir!« riß ihn der Alte aus seinem Nachdenken. »Heute ist es im Garten schöner als in der Gaststube. Kommen Sie nur mit, Herr Turner, ich weiß hier Bescheid.«
Unter einer alten Linde nahmen sie an einem runden Tisch Platz, und bald sah Turner, daß sein Begleiter nicht zuviel versprochen hatte: Das Essen war gut und der Wein ebenfalls.
»Gibt es keine Möglichkeit, Ihr AE-Werk hier zu besichtigen?« fragte der Amerikaner, als er mit seinem Gericht fertig war.
Sein Gegenüber schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich glaube nicht, Herr Turner. Die Werkleitung läßt sich nicht gern in die Karten gucken. Der Sicherheitsdienst soll sehr scharf sein.«
Turner zog ein mißmutiges Gesicht. »Schade, Herr Zacharias; ich hätte es gern besucht. Gerade weil ich die amerikanische Station kenne, interessiert es mich.«
Während Turner die Worte sprach, zündete er sich eine Zigarre an und beobachtete dabei durch die Finger der vorgehaltenen Hand aufmerksam das Gesicht seines Gegenübers. Ein rätselhafter Zug schien um dessen Augen und Lippen zu liegen, der sich mehr und mehr vertiefte, um dann in ein Lächeln überzugehen.
»Sie müßten sich eine Erlaubnis in Berlin besorgen, Herr Turner«, meinte er, während er nach seinem Glase griff.
»Das wird wahrscheinlich nicht ganz einfach sein«, wandte Turner ein.
»Sicherlich nicht, Herr Turner. Die Herren sehen sich ihre Leute sehr genau an. Man hat wohl schlechte Erfahrungen gemacht.«
Turner kaute verdrießlich an seiner Zigarre und brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Ein Verdacht stieg in ihm auf, daß der alte Mann in dem verschlissenen Lodenmantel da vor ihm mehr um dieses deutsche Werk wissen mochte, als er sich anmerken ließ. Sollte er dem etwas davon erzählen, wo die Leute in Kansas der Schuh drückte, oder war es besser, damit vorläufig noch hinter dem Berge zu halten? Er beschloß, dem Gespräch zunächst eine andere Wendung zu geben.
»Was war das eigentlich für eine Art von Seil, Herr Zacharias«, fragte er, »mit dem Sie meinen Wagen aus dem Graben gezogen haben?«
Der Alte griff in seine Tasche und brachte das Knäuel wieder zum Vorschein. »Sie meinen das hier, Herr Turner? Eine Drahtlitze – ist wohl Aluminium oder etwas Ähnliches . . .« Er reichte ihm das Knäuel über den Tisch hin, und während Turners Finger fast gierig danach griffen, glaubte er wieder das eigenartige Mienenspiel, das er schon einmal beobachtet hatte, bei Zacharias zu bemerken. Langsam begann er das Knäuel abzuwickeln und ließ die Litze durch die Finger gleiten. Immer rätselhafter wurde es ihm dabei, wie diese feine Metallschnur den gewaltigen Zug des Traktors ausgehalten hatte.
»Merkwürdig, Herr Zacharias!« begann er kopfschüttelnd. »Darf man wissen, wo Sie das herhaben?«
»Ich habe es gefunden, als ich vor ein paar Tagen über die Heide ging . . .«
»Ah – gefunden?«
»Ja, Herr Turner. In der Nähe von Ihrer heutigen Unfallstelle. Auf dem Feldweg, der da von der Landstraße abgeht.«
»Hm! So . . . sehr interessant . . .« Turner murmelte noch etwas Unverständliches vor sich hin, während er die Litze mit beiden Fäusten packte und eine Bewegung machte, als ob er sie mit Gewalt zerreißen wollte.
Der Alte lachte. »Geben Sie sich keine Mühe, Herr Turner! Was der Traktor nicht fertiggebracht hat, wird Ihnen erst recht nicht gelingen. Die Litze . . . ich habe mal so was sagen hören . . . soll eine Zerreißlänge von hundert Kilometer haben.«
Turner ließ beide Hände auf die Tischplatte fallen. Diese letzten Worte seines Gegenübers verschlugen ihm die Sprache. Was war das für ein Mensch, der wie ein alter Schäfer aussah und hier wie ein Ingenieur von Zerreißungen sprach? Und vor allem, was war das für ein Metall, das Leichtigkeit und höchste Festigkeit in so wundersamer Weise vereinigte? Auf jeden Fall mußte er dieses Knäuel an sich bringen, und wenn er den Alten deswegen niederschlagen sollte. Die Gelegenheit war günstig; ein schneller Blick überzeugte ihn, daß sie allein im Kruggarten saßen. Schon strafften sich die Muskeln seines rechten Arms, als der andere weitersprach:
»Wenn es Sie interessiert, Herr Turner, können Sie das Ding gern behalten. Ich lege keinen Wert darauf. Nehmen Sie es als Andenken nach Amerika mit.«
Ein wenig sträubte sich der Amerikaner noch der Form halber, dann ließ er das Knäuel unter Dankesworten in seiner Brusttasche verschwinden. Darauf entdeckte er nach einem Blick auf seine Uhr sehr bald, daß es für ihn hohe Zeit sei, weiterzufahren. Er verabschiedete sich.
Während der Wagen mit Mr. Turner um eine Biegung der Dorfstraße verschwand, stand Johannes Zacharias vor dem Krug und blickte ihm sinnend nach. »Ich denke, er wird es an James Headstone weitergeben«, murmelte er vor sich hin.
*
»All right, Sir!« Oberingenieur John Fosdick von der amerikanischen Versuchsstation sprach die Worte in das Telephon und legte den Hörer wieder auf die Gabel, während seine Miene unverkennbar verriet, daß die Sache alles andere als all right war.
Eine Weile blieb er noch in seiner Office an dem Schreibtisch sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen bisweilen geschlossen, als müsse er das Gespräch, das er eben geführt hatte, erst noch einmal überdenken. Dann sprang er plötzlich auf, als ob ihm das Zimmer zu eng würde, und eilte hinaus. Sein Weg führte ihn über einen kurzen Flur. Dann betrat er den Hauptraum der Station und warf die Tür kräftig hinter sich zu.
George Cowper, der Zweite Ingenieur, stand vor einer mit allerlei elektrischen Meßgeräten besetzten Schalttafel und drehte sich bei dem plötzlichen Geräusch verwundert um. »Hallo, Fosdick, was ist los? Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«
»Habe Grund dazu, Cowper«, knurrte Fosdick unwillig. »James Headstone und Direktor Brooker werden uns besuchen!«
Cowper pfiff durch die Zähne. »Nette Überraschung! Wann wollen die Herren uns denn die Freude machen?«
»Bald, Cowper! Sind schon im Auto unterwegs. Headstone hat eben von einer Tankstelle aus angeklingelt. Können vielleicht schon in einer Viertelstunde hier sein. Was sagen Sie dazu?«
Cowper zuckte die Achseln. »Da ist nicht viel zu sagen, Fosdick. Außerdem pflegt das Reden bei solchen Gelegenheiten ja Mister Headstone selber zu besorgen. Für uns ist es die Hauptsache, daß wir unsere Station in Ordnung haben.« Während der Ingenieur weitersprach, wandte er sich wieder der Schalttafel zu und deutete auf die Meßinstrumente. »Da sehen Sie die Stationsleistung, Fosdick: Sechshunderttausend Volt und zehn Ampere, und wenn sich Mister Headstone zehnmal auf den Kopf stellt, mehr läßt sich eben mit dem Fangnetz und unseren Strahlkollektoren nicht herausholen.«
Oberingenieur Fosdick machte eine unsichere Bewegung.
»Ich fürchte, Cowper«, begann er zögernd, »Headstone wird wieder allerlei auszusetzen haben. Bei dem Gespräch mit ihm hatte ich den Eindruck, als ob er wieder neue Nachrichten über die deutsche Station bekommen hätte.«
Cowper nickte. »Kann sehr leicht möglich sein. Die deutsche Anlage hält er uns ja bei jeder Gelegenheit vor. Warum zum Teufel verschafft er sich denn durch seine Agenten nicht die Pläne von den deutschen Strahlkollektoren? Wir wissen doch, daß die besser sein müssen als unsere. Das wäre jedenfalls viel vernünftiger, als daß er –«
Eine Autohupe klang in seine letzten Worte. Der unerwünschte Besuch war schon vor der Tür. Fosdick eilte hinaus, um ihn am Portal zu empfangen.
Zwei Herren saßen in dem großen Kraftwagen, der vor der Treppe hielt. Der eine von ihnen, Direktor Brooker, hager und lang, wohl schon Anfang der Sechziger, winkte Oberingenieur Fosdick näher heran.
»Hallo, Mister Fosdick, steigen Sie ein! Wir wollen erst über das Feld fahren.«
Der andere, James Headstone, begrüßte Fosdick nur mit einem kurzen Kopfnicken. Er mochte etwa zwanzig Jahre jünger als Brooker sein. Auf einem ein wenig untersetzten Körper trug er einen massigen Kopf, dessen Züge verhaltene Energie und Intelligenz verrieten. James Headstone war es, der die Idee eines atmosphärischen Kraftwerkes den Kapitalisten der United Electric zuerst mundgerecht gemacht und die Errichtung einer Versuchsstation durchgesetzt hatte. Seit vielen Monaten galt sein unablässiges Mühen der Weiterentwicklung dieser Anlage, und selten konnten die Ingenieure es ihm recht machen.
Fosdick hatte kaum in dem Wagen Platz genommen, als Headstone ohne weitere Vorrede die Besprechung eröffnete.
»Wie groß ist die Leistung der Station?«
Fosdick nannte ohne Zögern die Werte. »Sechshunderttausend Volt, zehn Ampere, Mister Headstone.«
»Haben Sie's gehört, Brooker«, wandte sich Headstone an den Direktor, »nur sechshunderttausend Volt! Wenn wir das Fangnetz in acht Kilometer Höhe hätten, könnten wir 1,6 Millionen aus der Atmosphäre herausholen.«
Brooker beschränkte sich darauf, zustimmend zu nicken, während Fosdick sich zu einer Entgegnung aufraffte. »Das ist vollkommen ausgeschlossen, Mister Headstone. Drei Kilometer sind das höchste, was wir unseren Halteseilen für die Ballone zumuten dürfen.«
Der Wagen war inzwischen ein gutes Stück weiter über das Feld gefahren und hielt nunmehr neben einer Verankerungsstelle. Von einem mächtigen in den Boden versenkten Betonblock stieg ein starkes Stacheldrahtseil fast senkrecht empor. Die Insassen des Wagens mußten die Köpfe weit zurückbiegen, um hoch im blauen Äther einen winzigen silbrigen Ball von der scheinbaren Größe eines Apfels zu entdecken. Daß es tatsächlich ein mächtiger Ballon war, der von der Drahttrosse festgehalten wurde und zusammen mit sechs anderen gleich großen Fesselballonen in dreitausend Meter Höhe das große metallene Fangnetz für die Luftelektrizität tragen half, war von hier unten nicht zu erkennen.
»Nicht drei, sondern acht Kilometer, Mister Fosdick, die müssen geschafft werden!« Headstone stieß die Worte so kurz und hart heraus, daß sie wie ein Befehl klangen, gegen den es keinen Widerspruch gibt. Trotzdem riskierte Fosdick eine Erwiderung:
»Unsere Seile haben nur acht Kilometer Zerreißlänge. Bei acht Kilometer Höhe würden sie schon unter ihrem eigenen Gewicht zu Bruch gehen.«
Während Fosdick sprach, hatte Headstone die Rechte in seine Manteltasche gesteckt; jetzt zog er sie wieder heraus und hielt ein kleines Knäuel zwischen den Fingern.
»Wie erklären Sie es sich, Fosdick«, fragte er, als der Oberingenieur mit seinem Einwand fertig war, »daß die Deutschen ihr Netz in acht Kilometer Höhe verankert haben?«
Fosdick machte eine unschlüssige Bewegung. »Ich kann kaum glauben, daß die Deutschen ihr Netz –«
»Ich weiß sicher, daß es so ist!« fiel ihm Headstone bissig ins Wort.
»Dann müssen die deutschen Ingenieure ganz andere Seile von einer viel größeren Zerreißlänge verwenden, Mister Headstone.«
»Da, hier!« Headstone warf ihm das Knäuel zu, das vierzehn Tage früher in einem deutschen Heidekrug in die Hände des Agenten Turner gekommen war. »Hunderttausend Meter Zerreißlänge! Damit arbeiten die Deutschen! Was sagen Sie dazu, Fosdick?«
Der Oberingenieur hatte das Knäuel aufgefangen und wog es in den Händen. Er wickelte ein wenig von der Litze ab und zerrte und riß an den einzelnen Drähten. Sie hielten seinen Anstrengungen stand.
»Geben Sie uns solche Seile, Mister Headstone, und wir werden Ihre Wünsche erfüllen«, sagte er, als er sein vergebliches Bemühen einsehen mußte. Headstone schien von der Antwort zufriedengestellt zu sein.
»Ich werde Ihnen diese Seile so schnell wie möglich verschaffen, Fosdick«, fuhr er in umgänglicherem Tone fort. »Die Aluminium Corporation hat vor acht Tagen ein Stück von diesem hier als Probe bekommen. Ich hoffe, daß unsere Techniker das Geheimnis schnell ergründen werden.«
Während Headstone sprach, hatte Direktor Brooker sich einige Notizen gemacht. »Sie meinen, Headstone, unsere Station würde sechzehntausend Kilowatt liefern, wenn wir das Netz in achttausend Meter Höhe verankern können?« fragte er jetzt.
»Das ist mit Sicherheit anzunehmen, Brooker. Jeder Meter höher gibt zweihundert Volt mehr«, beantwortete Headstone die Frage.
»Hm, hm!« Brooker rechnete in seinem Notizbuch weiter, wobei er den Kopf immer häufiger und immer lebhafter schüttelte.
»Sind Sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden, Brooker?« fragte ihn Headstone ungeduldig.
Der Direktor ließ das Notizbuch sinken. »Wenn ich's offen sagen soll, ja! Die Kosten unserer Anlage sind im Verhältnis zur Leistung zu hoch. Wir müßten die dreifache Stromstärke aus unserem Fangnetz gewinnen, wenn wir billiger als ein Kohlenkraftwerk arbeiten wollen. Haben Sie nichts Genaueres über die Leistung der deutschen Station in Erfahrung bringen können, Headstone?«
Headstone zog ein schiefes Gesicht. »Leider nein, Mister Brooker. Meine Leute haben es vergeblich versucht. Die Deutschen schließen sich hermetisch ab. Um ein Haar wäre mein bester Mann ihrem Sicherheitsdienst in die Hände gefallen . . . Wollten Sie etwas fragen, Fosdick?« fragte er den Oberingenieur, der unruhig auf seinem Sitz hin und her rückte.
»Die deutschen Strahlkollektoren!« platzte der Gefragte heraus. »Ich fand darüber eine kurze Notiz im ›Electric Engineer‹. Wenn die Zahl, die dort steht, richtig ist, müßten sie ungefähr dreimal so ergiebig sein wie unsere . . .«
»Im ›Electric Engineer‹? Haben Sie das Heft hier, Fosdick?«
»In meiner Office, Mister Headstone.«
Headstone gab dem Chauffeur Auftrag, zur Station zurückzukehren. Während der Fahrt dorthin blieb er schweigsam; die Einwände Brookers und die letzte Mitteilung Fosdicks gaben ihm Anlaß zum Nachdenken.
Als der Wagen wieder vor der Treppe des Stationsgebäudes hielt, war Headstone sich über die nächsten Schritte klar. Das bessere deutsche Tragseil hatte er von Turner, seinem besten Mann, glücklich beschafft, und noch nachträglich sollte der ein hohes Sonderhonorar dafür erhalten. Aber auch hinter das Geheimnis des besseren deutschen Strahlkollektors mußte er kommen, koste es was es wolle. Was dem Redakteur des »Electric Engineer« geglückt war, das mußte einem Mann wie Turner noch besser und vollständiger gelingen. Waren nicht Hindernisse immer nur dazu da, um schließlich doch überwunden zu werden?
Unwillkürlich kamen Headstone dabei die hinter ihm liegenden, an Arbeit und Enttäuschung so reichen Monate wieder in die Erinnerung. Wie sie es hier zuerst mit einem einfachen Stahldrahtnetz in geringer Höhe versucht hatten, wie sie das Netz allmählich hoch und immer höher in den Äther hinaufließen, bis schließlich die Ingenieure eine Verantwortung für noch größere Höhen ablehnten. Wie sie dann das Fangnetz mit Kollektorflammen besetzten. Erst mit einfachen Lötlampen anfingen und die Blaubrenner von Woche zu Woche weiter verbesserten, bis sie schließlich die heutige Leistung erreicht hatten . . .
Ein gutes Stück waren sie in kurzer Zeit vorwärtsgekommen. Aber immer noch hatten die Deutschen einen großen Vorsprung, und – das schien Headstone im Augenblick am allerwichtigsten – Direktor Brooker war nicht zufrieden, der Mann, der die Gelder für alle diese Versuche zur Verfügung gestellt hatte und noch weitere Summen bewilligen mußte, wenn die Versuche energisch weitergeführt werden sollten.
James Headstone hatte seine Beschlüsse gefaßt, als er den Wagen verließ und in die Station trat. Zunächst ging er mit Fosdick in die Office und ließ sich von ihm die Nummer des »Electric Engineer« heraussuchen. Wort für Wort las er sorgfältig die Notiz über die deutsche Anlage. Es war nur ein kurzer Beitrag von wenigen Zeilen, aber die Zahlenangaben, die er enthielt, interessierten Mister Headstone höchstlich. Wenn sie zutrafen, mußte die deutsche Anlage in der Tat beträchtlich leistungsfähiger sein als die amerikanische. Aber trafen sie auch wirklich zu? Bei diesem Punkt kam Headstone wieder ins Grübeln. Wo hatte der Mitarbeiter des »Electric Engineer« diese Mitteilung her? Daß er in das deutsche Werk gekommen und sich dort die Informationen geholt hätte, schien Headstone nach seinen eigenen Erfahrungen mehr als unwahrscheinlich.
Wie kam der Berichterstatter dann aber dazu, hier genaue Angaben über die Wirkung der deutschen Strahlkollektoren zu machen? Das mußte geklärt werden. Headstone schnitt den Beitrag aus dem Heft heraus. Bevor er ihn in seine Brieftasche steckte, überflog er ihn noch einmal. Mit J. Z. war die Notiz unterzeichnet. Bei der Redaktion des »Electric Engineer« würde er wohl erfahren können, wer sich hinter diesen beiden Buchstaben verbarg.
Eben stand er im Begriff, sich von seinem Platz wieder zu erheben, als ein dröhnendes, knatterndes Geräusch, das von außen her kam, ihn aufmerken ließ.
»Was ist das, Mister Fosdick?« fragte er den Oberingenieur.
»Die Schutzfunkenstrecke draußen arbeitet, Mister Headstone. Es ist Überspannung in der Atmosphäre. Die überschüssige elektrische Energie schlägt draußen direkt in die Erde.
Headstone warf einen Blick durch das Fenster. Der Himmel, der vor kurzem noch in klarem Blau erglänzte, hatte sich verändert. Er zeigte eine eigenartig gelbliche Färbung; einzelne Wolkenfetzen jagten mit großer Geschwindigkeit dahin und ballten sich hier und dort zu größeren Gebilden zusammen. Durch das Fenster konnte Headstone eines der nächsten Ankerseile sehen. Es schwankte stark hin und her, ein Zeichen dafür, daß der Wind in den höheren Schichten der Atmosphäre beträchtlich an Stärke zugenommen hatte. Im stillen nahm er bei diesem Anblick viel von dem zurück, was er in früheren Wochen den Ingenieuren wegen ihrer übergroßen Ängstlichkeit gesagt hatte. Jetzt war es ihm doch lieb, daß sie bei allen ihren Maßnahmen stets einen hohen Sicherheitsgrad vorgesehen hatten.
Immer stärker war in wenigen Minuten auch das Knattern der Funkenstrecke draußen geworden. In langen grellen Blitzen fuhr die überschüssige Spannung, welche die Anlagen der Station nicht mehr aufzunehmen vermochten, in die Erde.
Gefolgt von Fosdick verließ Headstone die Office und ging hinüber in den Stationsraum. Er traf dort Direktor Brooker und Cowper, die vor der Schalttafel standen und mit bedenklichen Mienen den Stand der Spannungsmesser betrachteten. Weit über die normalen sechshunderttausend Volt waren die Zeiger hinaufgeklettert und zitterten jetzt schon um die Million herum.
Nur kurze Zeit blieb Headstone neben den beiden anderen stehen, dann trat er an eines der hohen Fenster und schaute hinaus.
Mit Unbehagen mußte er feststellen, daß die Gewalt des Sturmes inzwischen weiter gewachsen war. Schwere Sandwolken jagten mit einer schwer schätzbaren Geschwindigkeit über das weite Feld. Wild schwankten die Ankerseile hin und her, soweit sie sich in den aufgewirbelten Staubmassen noch erkennen ließen. Immer stärker wurde der Aufruhr der Elemente, während ein dauerndes Krachen und Donnern der Funkenstrecke draußen jedes andere Geräusch übertönte. Und dann sah Headstone etwas, das ihm das Blut in den Adern erstarren ließ. Das nächste Halteseil, das eben noch fast senkrecht gestanden hatte, verlor plötzlich seine Straffung; von der Gewalt des Tornados in großer Höhe abgerissen, kam es in jähem Sturz nach unten. Schwer schlug es auf das Dach der Station auf.
Im gleichen Augenblick verstummte auch das Knattern und Dröhnen der Funkenstrecke. Nur noch das Brausen und Pfeifen des Sturmes war zu vernehmen.
Sieben Ballone trugen das Fangnetz der amerikanischen Station. Sechs davon bildeten die Ecken eines regelmäßigen Sechsecks. Der siebente stand in der Mitte zwischen ihnen. Strahlenförmig ging das Fangnetz von ihm zu den übrigen sechs aus, und das stählerne Halteseil dieses mittleren größten Ballons diente gleichzeitig dazu, die von dem Netz aus der Atmosphäre eingefangene elektrische Energie nach unten zur Station hinzuleiten. Jetzt war dieses Seil gerissen, und die Station lag stromlos.
In der Höhe ging das Unheil weiter. Fast hatte es den Anschein, als ob die metallenen Halteseile eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf die riesenhafte, von den Wolken bis dicht zur Erde hinabreichende Windhose ausübten. Eins nach dem anderen wurde von dem düsteren, sich in rasendem Wirbel drehenden Sturmtrichter gepackt und zerrissen. Eins nach dem andern krümmte sich für Sekunden in wilden Windungen in der Luft, um dann in schwerem Aufschlag zu Boden zu fallen – jetzt das sechste schon – jetzt auch das siebente, das letzte.
Bleich, die Kiefer fest zusammengepreßt, stand James Headstone am Fenster und verfolgte die Vorgänge. Für einen kurzen Augenblick sah er durch eine Wolkenlücke hindurch in schwindelnder Höhe etwas Glitzerndes, Glänzendes mit Sturmeseile nach Westen ziehen. Es war das Fangnetz. Von der Last der Halteseile befreit, von den Ballonen getragen und auf noch größere Höhe gehoben, trieb es vor dem Unwetter nach Westen ab auf das Felsengebirge zu.
Die wilden Sturmstöße ließen in ihrer Häufigkeit nach und wurden schwächer. Fast ebenso schnell, wie die Elemente in Aufruhr geraten waren, kamen sie auch wieder zur Ruhe. Blaue Stellen am Firmament wurden größer und flossen zusammen. Schon brach die Sonne wieder durch und ließ ihre Strahlen über das weite Feld spielen. Ein Bild der Verwüstung beleuchteten sie: geknickte Bäume, zerbrochene Leitungsmasten und die Ueberreste der zerrissenen Halteseile, die in wildem Wirrwarr den Boden bedeckten.
James Headstone löste sich langsam aus seiner Erstarrung und erblickte Brooker; der stand schon lange neben ihm, ohne daß er ihn bisher bemerkt hätte. Headstone fuhr sich über das Gesicht, als ob er etwas fortwischen müsse.
»Was soll jetzt geschehen, Brooker?« Rauh und tonlos kamen die Worte heraus.
Brooker öffnete den Mund, um zu sprechen. ›Schluß mit der ganzen Geschichte, Headstone!‹ – Headstone erwartete diese Worte, vermeinte sie schon fast zu hören, als Brooker endlich zu sprechen begann:
»Wir müssen mit der Station aus dem Tornadogebiet heraus, Headstone. Weit weg von hier, vielleicht nach Florida oder Kalifornien. Darüber werden wir noch sprechen, wenn wir die neuen Seile haben.«
»Es wird Millionen kosten, Brooker!«
»Die Millionen werden da sein, Headstone! Sorgen Sie nur für die Seile und bessere Kollektoren!«
»Ich werde deswegen nach Deutschland fahren, wenn es nicht anders geht, Brooker.«
Direktor Brooker nickte. »Tun Sie es, Headstone! Suchen Sie erst mit der Aluminum Corporation klarzukommen. Jetzt wollen wir zurückfahren. Hier ist für uns nichts mehr zu tun.«
*
»Sehen Sie, Professor, das ist unser alter Zacharias, wie er leibt und lebt.«
»In der Tat, Herr Geheimrat, und wie hingegeben er mit seinen Blumen hantiert! Fast könnte man ihn darum beneiden!«
Die Worte wurden zwischen zwei Leuten gewechselt, die hinter einem dichten Holunderbusch am Zaun eines ländlichen Gartens standen; sie galten einem alten Manne, der eifrig damit beschäftigt war, Rosenwildlinge zu veredeln.
Geraume Zeit beobachteten die beiden, denen der Hollerstrauch eine gute Deckung gab, wie der Alte mit liebevoller Sorgfalt ein Edelauge nach dem anderen unter die Rinde der Wildlinge schob und mit Faden und Baumwachs hantierte.
»Unerklärlich bleibt's mir doch«, brach endlich der Professor das Schweigen, »Zacharias ist kaum älter als Sie, Herr Geheimrat. Er könnte noch heute der Generaldirektor unseres Konzerns sein. Das alles so plötzlich hinzuwerfen und sich hier in die ländliche Einsamkeit zurückzuziehen! Eine rechte Erklärung dafür kann ich nicht finden.«
»Aber ich bitte Sie, Herr Professor Livonius«, widersprach ihm der andere, »die Erklärung hat Zacharias vor seinem Austritt klipp und klar gegeben. Er sagte uns doch damals, daß er nicht Lust hätte, in den Sielen zu sterben, sondern seinen Lebensabend sorgenfrei und nach seinem Geschmack verbringen wolle.«
»Mag's meinetwegen so sein«, meinte Professor Livonius kopfschüttelnd. »Mein Geschmack wäre es nicht, auf meine alten Tage hier zwischen Heidebauern zu sitzen.«
Geheimrat Bergmann lachte. »Über den Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten, mein lieber Professor, aber das dürfen Sie ja nicht glauben, daß unser alter Zacharias hier Gefahr läuft, zu verbauern. Sein Interesse an den wissenschaftlichen Fragen unseres Konzerns ist so lebhaft wie je. Nur mit dem kaufmännischen Kram will er, wie er mir einmal sagte, nichts mehr zu tun haben.«
»Ach so – wissenschaftliches Interesse!« Während Professor Livonius es sagte, trat er einen Schritt vom Zaun zurück. »Das hängt wohl mit diesem ein wenig mysteriösen Doktor zusammen?«
Geheimrat Bergmann nickte. »Ganz recht, Herr Professor. Doktor Frank ist eine persönliche Entdeckung von ihm. Er ist stolz darauf, und ich glaube, er hat auch einigen Grund dazu. Denken Sie nur an die Halteseile, die wir dem Doktor und indirekt unserm Freunde Zacharias verdanken. Keine andere Stelle der Welt hätte das in solcher Vollkommenheit zustande gebracht.«
Der Alte im Garten, dem dies Gespräch galt, war inzwischen mit seiner Arbeit zu Ende gekommen. Er raffte Bast und Baumwachs zusammen und schickte sich an, in das Haus zu gehen. Geheimrat Bergmann trat an eine offene Stelle und rief über den Zaun: »Hallo, Johannes, da sind wir!«
»Tag, Franz! Guten Tag, Professor!« erwiderte der Angerufene den Gruß und winkte mit der Hand. »Bitte nach rechts, Herrschaften! Da hat der Zimmermann eine Tür in den Zaun gemacht.«
Lachend folgten Geheimrat Franz Bergmann und Professor Livonius der Weisung und kamen in den Garten. Noch einmal eine herzliche Begrüßung mit kräftigem Händedruck, dann gingen sie mit dem alten Zacharias in eine lichte Buchenlaube und machten es sich auf einer Rundbank bequem.
»Ich bekam gestern nachmittag deinen Brief und bin darauf heute morgen gleich mit Livonius losgefahren«, eröffnete Geheimrat Bergmann das Gespräch.
»Und ich bekam heute früh dein Telegramm. Der Doktor ist benachrichtigt. Wir brauchen uns hier nicht lange aufzuhalten; wenn's dir recht ist, können wir gleich zu ihm 'rübergehen.« Er wollte sich erheben, als Bergmann ihn mit einer Armbewegung zurückhielt.
»Halt! Einen Augenblick noch! Das muß ich erst wissen: Hat er's geschafft?«
Zacharias nickte. »Es ist so, wie ich's dir schrieb. Sie ist da.«
»Wirklich, Johannes?«
»Wirklich und wahrhaftig, Franz! Die kalte Kathode ist da.«
Professor Livonius wiegte nachdenklich seinen schmalen Gelehrtenkopf hin und her. Langsam kamen die Worte von seinen Lippen: »Die kalte Kathode – länger als ein Menschenalter haben die besten Köpfe aller Völker daran gearbeitet – keinem ist es bisher gelungen . . .« Lebhafter sprach er weiter: »Werden wir sehen dürfen, wie er's gemacht hat, Herr Zacharias?«
Der Alte schaute ihn einen Augenblick an, und seine Stimme klang ernst, als er sprach: »Wir haben keine Geheimnisse vor Ihnen. Nur will ich Sie an Ihre Verpflichtung zu unbedingter Verschwiegenheit erinnern; Sie wissen selbst am besten, Herr Professor, wieviel von der Geheimhaltung abhängt, bis alle Patente genommen sind. Ein einziges unvorsichtiges Wort, vorher gesprochen, könnte viel verderben.«
Professor Livonius streckte ihm die Rechte hin.
»Meine Hand darauf: Über meine Lippen soll kein Wort kommen!«
Zacharias schlug ein, Geheimrat Bergmann legte als dritter seine Hand darauf. »Ein neuer Rütlischwur«, versuchte er zu scherzen. »Aber du hast recht, Johannes. Absolute Verschwiegenheit ist hier Pflicht. Außer uns beiden wird niemand aus dem Konzern etwas davon erfahren. Livonius wird die Patentschriften selber nach den Angaben deines Doktors fertigmachen.«
»Das ist gut, mein lieber Franz«, stimmte ihm Zacharias bei. »Dann wollen wir jetzt hinübergehen.«
»Unser Auto haben wir beim Krug gelassen«, sagte Bergmann, als sie aus dem Garten auf einen breiten Feldweg hinaustraten.
»Da kann es ruhig bleiben«, meinte Zacharias, »die fünf Minuten können wir zu Fuß gehen.«
Während er vorausging, blieben die beiden anderen ein paar Schritte zurück. »Ist Doktor Frank so wohlhabend, daß er seine Versuche aus eigenen Mitteln bestreiten kann?« fragte Livonius den Geheimrat halblaut. Der zuckte die Achseln.
»Ich weiß es nicht, Professor. Vielleicht hat Freund Zacharias aus seinem Vermögen dazu beigesteuert. Wundern sollte es mich nicht, denn seiner ganzen Denkungsart würde es entsprechen.«
»Ich bin gespannt, was wir zu sehen bekommen werden«, setzte Livonius die Unterhaltung gedämpft fort.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Professor – lassen Sie sich lieber überraschen«, meinte Bergmann. »Da vorn sehen Sie übrigens schon das Haus, in dem der Doktor haust und arbeitet.«
Ein kurzes Stück Wegs noch, und sie traten in ein Gebäude, das, nur von einem Drahtzaun umgeben, mitten in der freien Heide stand. Die ganze Bauform und die Ausführung in massivem Beton unterschieden es beträchtlich von den sonst hier üblichen Fachwerkbauten, und der Eindruck, daß es erst vor kurzem errichtet sein konnte, verstärkte sich noch, als die Besucher in eine geräumige blitzblanke Diele kamen, in der Dr. Frank sie erwartete.
Der Geheimrat begrüßte den Doktor als einen Bekannten. Professor Livonius, der ihn zum ersten Male sah, war von seinem Anblick gefesselt und fast ein wenig überrascht. Das Alter des Mannes war schwer abzuschätzen. Er mochte vielleicht Anfang der Dreißiger sein, aber ebensogut auch schon die vierzig erreicht haben. In einem hageren, knochigen Gesicht, dessen Farbe an vergilbtes Pergament erinnerte, stand über einer scharfgeschnittenen Nase ein Paar großer, tiefschwarzer, brennender Augen.
Ein Paar Augen, die man nie vergißt, dachte Livonius bei sich, als er den Händedruck des Doktors erwiderte. Die Augen eines Monomanen, eines Besessenen, sinnierte er weiter, während er den beiden andern folgte. Dann staunte er, als sie in den Arbeitsraum kamen. Das war kein Laboratorium in den sonst wohl üblichen bescheidenen Ausmaßen, sondern ein gewaltiger Saal, dessen elektrische Einrichtung allein ein nicht ganz kleines Vermögen gekostet haben mochte, abgesehen von dem mannigfachen chemischen und physikalischen Gerät, das außerdem noch vorhanden war.
In der Mitte des Raumes hatte Dr. Frank eine Versuchsanordnung aufgebaut. Vom Hintergrund her führte, von mächtigen, halbmannshohen Stützisolatoren getragen, ein blanker Draht bis dorthin. An seinem andern freien Ende trug er ein metallisches Gebilde, das etwa an eine kleine Lampe erinnerte. Das war einer der Strahlkollektoren, mit denen das deutsche AE-Werk zur Zeit noch arbeitete und für die James Headstone vor kurzem ein so brennendes Interesse gezeigt hatte.
Dr. Frank machte sich an dem Kollektor zu schaffen, brachte ein brennendes Streichholz daran, und im gleichen Augenblick stand eine brausende lichtblaue Flamme von der Form eines Kammes darüber. Professor Livonius machte ein enttäuschtes Gesicht und stieß Geheimrat Bergmann an. »Warum zeigt er uns den alten Flammenkollektor?« raunte er ihm zu. Bevor Bergmann noch etwas erwidern konnte, klang die Stimme des Doktors dazwischen:
»Ich möchte Ihnen zum besseren Vergleich erst noch einmal diesen Flammenkollektor vorführen. Beobachten Sie, bitte, den Stromzeiger dort, während ich jetzt fünfhunderttausend Volt auf den Draht gebe.«
Während er die letzten Worte sprach, ging er an die hintere Saalwand und bewegte einen Schalter. Das dumpfe Brummen eines Transformators und ein leichtes Knistern an dem blanken Draht wurden hörbar. Gleichzeitig begann der Zeiger des Meßinstrumentes langsam über die Skala zu kriechen.
»Zehn Milliampere . . . zwölf Milliampere . . . fünfzehn Milliampere . . .« las Bergmann halblaut ab. Auf der Fünfzehn blieb der Zeiger stehen. Während Geheimrat Bergmann auf die unter der Einwirkung der elektrischen Hochspannung eigenartig vibrierende Flamme schaute, sprach Dr. Frank weiter:
»Die Fähigkeit der blauen Flamme, Elektronen auszustoßen, ist begrenzt. Mit hundert Verbesserungen und Schikanen haben wir es glücklich erreicht, daß ein Brenner fünfzehn Milliampere hergibt. Weiter haben wir es trotz aller Bemühungen nicht bringen können. Sechsundsechzig Kollektoren mußten wir in das Fangnetz setzen, um die Stromstärke von einem einzigen Ampere zu erzielen . . .«
Unwillkürlich nickten Livonius und Bergmann, denn nur allzu genau war ihnen bekannt, was Dr. Frank eben erzählte. Seit reichlich einem Jahr stand die Leistung der Strahlkollektoren bei diesem Wert, und es war nicht gelungen, sie auch nur um den Bruchteil eines tausendstel Ampere weiterzutreiben.
Dr. Frank ging wieder nach hinten und schaltete die Hochspannung aus. Als er zurückkam, hatte er eine Metallkugel von etwa Apfelgröße in der Hand. Mit ein paar kurzen Griffen schraubte er den Blaubrenner los und befestigte an seiner Stelle die Kugel an dem Draht.
»Jetzt werde ich Ihnen die Leistung meiner kalten Kathode zeigen«, erklärte er dabei weiter. »Sie sehen, daß es eine einfache kalte Metallkugel ist. Ich gebe wieder Spannung auf den Draht. Achten Sie, bitte, auf das Meßinstrument!«
Von neuem klang das Transformatorbrummen auf, aber Bergmann und Livonius hörten es kaum. Wie gebannt hingen ihre Augen an dem Zeiger des Instruments, der sich schnell über die Skala bewegte, die Hundert erreichte, die Hundertfünfzig überschritt und erst dicht vor der Zweihundert zur Ruhe kam.
»Zweihundert Milliampere?« Wie unter einem Zwang stieß Livonius die Worte heraus.
»Zweihundert Milliampere?« flüsterte auch Bergmann vor sich hin.
»Zweihundert Milliampere, meine Herren«, wiederholte Dr. Frank zum drittenmal die Worte. »Fünf dieser Kugeln schaffen ein Ampere, etwa zweihundert werden wir, denke ich, in das jetzige Netz setzen können . . .«
»Warum nicht mehr?« fuhr Livonius mit einer Frage dazwischen.
»Eine größere Anzahl würde sich gegenseitig stören«, gab Dr. Frank zur Antwort. »Sie müssen die elektrische Raumladung berücksichtigen, die sich naturgemäß um jede einzelne dieser Kugeln bildet.«
Der Doktor wurde lebhafter, als er weitersprach. »Zweierlei ist mir gelungen: Erstens habe ich eine besondere Legierung gefunden, die dem Austritt der Elektronen in die freie Umgebung einen wesentlich geringeren Widerstand entgegensetzt als die früher bekannten; und zweitens ist es mir geglückt, diesen Widerstand durch eine besondere elektrische Nachbehandlung der Legierung noch weiter zu verringern. Das Resultat sehen Sie hier: Diese kleine kalte Kugel strahlt einen dreizehnmal stärkeren Elektronenstrom aus als die heiße Flamme des Blaubrenners. Aber –«, der Doktor zuckte ironisch die Achseln, »auf die Elektronen, die nun aus der Kugel in die Umgebung ausgestrahlt werden, habe ich bedauerlicherweise keinen Einfluß mehr. Die müssen eben Raum und Gelegenheit finden, sich in der Atmosphäre auszubreiten, und deshalb dürfen wir die Kugeln nicht zu dicht, also nicht in zu großer Zahl auf das Netz setzen.«
»Sie nannten die Zahl von zweihundert Stück, Herr Doktor?« fragte Bergmann.
»Ganz recht, Herr Geheimrat.«
»Nun . . .«, Bergmann rechnete, während er weitersprach, »damit würden wir immerhin vierzig Ampere erzielen. 1,6 Millionen Spannung haben wir, das würde 64 000 Kilowatt ausmachen. Ich glaube«, er wandte sich an Livonius, »damit dürfen wir zufrieden sein.«
»Na also, Franz! Habe ich dir da zuviel versprochen?« Zacharias strahlte über das ganze Gesicht, während er die Frage an Bergmann richtete.
»Nein, wahrhaftig nicht, Johannes! Was uns Doktor Frank gezeigt hat, übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Für die Geschichte der Elektrotechnik ist der heutige Tag ein Markstein. Seit der Erfindung der Elektronenröhre hat es etwas Ähnliches nicht mehr gegeben. Ich sage nicht zuviel, lieber Freund, wenn ich behaupte, daß mit dem heutigen Tag eine neue Ära in der Energiewirtschaft beginnt.« Während Geheimrat Bergmann in solcher Weise seiner Begeisterung über das Gesehene Luft machte, war Professor Livonius mit dem Doktor ins Gespräch gekommen.
»Ich möchte mit Doktor Frank gleich das Nötige wegen der Patente besprechen«, meinte Livonius jetzt zu Bergmann. »Wie lange Zeit werden wir dazu ungefähr brauchen?« fragte er weiter den Doktor.
»Ich habe alles gut vorbereitet«, erwiderte der, »aber trotzdem – eine gute Stunde werden wir doch zu tun haben.«
Bergmann blickte auf seine Uhr. »Es ist recht, Professor, bringen Sie das in Ordnung und holen Sie mich nachher bei Zacharias ab. Komm«, fuhr er fort, während er den Arm unter den seines alten Freundes schob, »laß die Herren hier ihre Sache besorgen. Wir wollen uns in deinen Garten setzen und unsere alten Herzen am Frühling erfreuen.«
Gemächlich wanderten die beiden über den Feldweg zurück und sprachen dabei miteinander.
»Köstlich, Johannes«, rief der Geheimrat plötzlich stehenbleibend und lachte laut auf. »Mit dem Frankschen Seil hast du den Amerikaner aus dem Graben gezogen?«
»Natürlich, Franz. Eine bessere Gelegenheit konnte ich gar nicht finden, um den Abgesandten Headstones damit zu verleckern.« Jetzt mußte auch Zacharias bei der Erinnerung an die Geschichte lachen. »Urkomisch war das, Franz«, fuhr er fort, »als wir nachher zusammen im Krug saßen. Wie ein Aal wand und drehte sich dieser gerissene Yankee, bis er eine Gelegenheit fand, wieder auf das Seil zu sprechen zu kommen. Richtige Stielaugen bekam er, als ich's dann wieder aus der Tasche holte. Ich glaube, in dem Augenblick wäre er zu allem fähig gewesen, um es in seinen Besitz zu bringen. Und dann sein wahrhaft schafsdämliches Gesicht, als ich's ihm hinwarf . . .«
Zacharias konnte nicht mehr an sich halten, er mußte wieder laut auflachen.
»Das Gesicht Turners kann ich mir ungefähr vorstellen«, meinte Bergmann, ebenfalls lächelnd. »Aber noch lieber hätte ich das von Headstone gesehen, als er die Probe erhielt.«
»Hast du neue Nachrichten aus Amerika?« fragte Zacharias.
»Nichts Bestimmtes, Johannes. Ich weiß nur sicher, daß Headstone die Probe bekommen hat und damit bei der Aluminum Corporation gewesen ist. Einige Zeit wird es natürlich dauern, bis die Herrschaften begreifen, daß sie es allein nicht schaffen können, und zu uns kommen. Aber kommen müssen und werden sie; darauf kannst du dich verlassen.«
»Was gedenkst du zu tun, Franz, wenn sie kommen?«
»Darüber bin ich mir noch nicht schlüssig. Man könnte ihnen die Seile einfach liefern . . . man könnte auch einen Lizenzvertrag mit ihnen schließen. Dann müßte man ihnen allerdings das Herstellungsverfahren bekanntgeben – aber das sind ja kaufmännische Dinge, für die interessierst du dich doch nicht mehr.«
»In diesem Falle doch, Franz! Höre auf meinen Rat: Liefere ihnen die Seile, aber gib das Verfahren nicht preis! Ich habe meine bestimmten Gründe dafür«, fuhr er fort, als er das Erstaunen Bergmanns bemerkte. »Glaube es, du wirst mir später recht geben.«
»Wie du wünschst, Johannes«, sagte der Geheimrat, während sie durch den Garten gingen. »Vorläufig ist es ja noch nicht soweit; zur gegebenen Zeit werde ich deinen Rat befolgen.«
Eine Weile danach saßen sie in der Laube und sahen schweigend dem Spiel der Amseln und Meisen zu, aber Bergmanns Gedanken kamen dabei nicht von Amerika los.
»Was hältst du eigentlich von Headstone?« fragte er unvermittelt.
»Ein tüchtiger Kerl, aber das Stehlen kann er nicht lassen.«
Bergmann unterdrückte ein Lächeln. »Nicht sehr schmeichelhaft für den Mann, dein Urteil, aber ich glaube, du hast damit ins Schwarze getroffen. Wie er seine Agenten, den tüchtigen Mister Turner an der Spitze, um unser AE-Werk herumschnüffeln läßt, das geht allmählich über die Hutschnur. Ich weiß nicht, ob man nicht doch einmal zupacken und die ganze Gesellschaft auffliegen lassen sollte.«
Zacharias schüttelte lebhaft den Kopf. »Wäre total verkehrt, Franz. Diese Leute kennen wir. Wenn du sie verschwinden läßt, schickt Headstone neue, die wir erst kennenlernen müssen. Lieber wollen wir mit den alten noch ein wenig Scherz treiben. Ich könnte mir das etwa so denken . . .« Und nun sprach Zacharias eine ganze Zeit mit gedämpfter Stimme auf Bergmann ein.
Einige Male machte der Geheimrat Einwände: »Unterschätze Headstone und Turner nicht, mein lieber Johannes. Sie sind zehnmal gerissener und ausgekochter, als du vielleicht glaubst. Die geringste Unvorsichtigkeit, und sie riechen den Braten.«
»Keine Sorge!« beschwichtigte ihn Zacharias. »Ich habe auch meine Leute, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn mir Mister Turner nicht ein zweites Mal auf den Leim ginge.«
»Meinetwegen denn«, stimmte Bergmann schließlich zu, »mach es, wie es dir gut scheint – – da kommt übrigens Livonius zurück. Wir wollen uns verabschieden und losfahren.«
Ein vergnügtes, fast spitzbübisches Lächeln lag auf dem Gesicht des alten Zacharias, als er den beiden nachwinkte.
*