Hans Dominik
Himmelskraft
Hans Dominik

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Zwei Whiskys, Joe!«

Ingenieur Cowper machte die Bestellung an einem sonnigen Herbsttag in einer kleinen Bar in Blanctown, einem Landstädtchen in der Nähe der amerikanischen Station. Die Eichen und Ahornbäume draußen prangten bereits in allen Tönen des Indianersommers, vom grellen Scharlach bis zum Altgold. Ein lichtblauer Himmel lachte über der Farbenpracht, aber die Stimmung Cowpers war ebenso düster wie diejenige Fosdicks, für den der zweite Whisky bestimmt war.

Mit einem Ruck kippte Cowper sein Glas herunter. »Ich suche mir einen andern Job, Fosdick«, sagte er, als er das Glas wieder auf den Tisch setzte.

»Joe, noch eine Lage!« befahl Fosdick und sah sich in der Bar um. Außer den beiden Ingenieuren war nur noch ein Gast in dem Raum. Der saß ziemlich weit von ihnen entfernt in einer Fensterecke und war in eine Zeitung vertieft, während er ab und zu an seinem Glas Ingwerbier nippte.

»Leicht gesagt, aber schwer getan!« meinte Fosdick nachdenklich. »Ein guter Job ist heute in den Staaten schwer zu finden. Sie werden sich's noch überlegen!«

Cowper ging seinem zweiten Glas auf den Grund. »Dabei ist nicht viel zu überlegen«, sagte er danach. »Was haben wir die letzten Wochen anderes gehabt als Kummer und Elend, schlaflose Nächte und jammervolle Tage . . .« In seiner Erregung sprach er lauter, ohne auf den Fremden zu achten. »Der Teufel ist in die neue Station gefahren! Keinen Moment können wir die richtige Spannung einhalten. Kaum haben wir sie, wollen die Station auf die Landleitung schalten, da blitzt es schon wieder in der Schutzstrecke. Die Spannung steigt, wir können nicht schalten. Nein, Fosdick!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich spiele nicht mehr mit! Headstone soll sich anderswo einen Dummen suchen! . . . He, Joe«, rief er, als sein Blick auf das leere Glas fiel, »noch eine Lage hierher!«

»Trinken Sie nicht zu schnell!« warnte Fosdick.

»Ah, bah!« warf Cowper hin. »Mir dröhnen noch die Ohren von dem ewigen Krach der Funkenstrecke. Heut ist Sonnabend! Endlich mal Feierabend nach der verfluchten Plackerei! Ihre Gesundheit!«

Nach amerikanischer Sitte mußte Fosdick Bescheid tun und die nächste Lage kommen lassen. Dabei lief das Gespräch in der bisherigen Bahn weiter. Cowper hatte viel gegen Headstone auf dem Herzen und machte seinem Ärger gründlich Luft.

Auch Fosdick wurde unter dem Einfluß des Alkohols gesprächig und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge.

Der Dritte im Raum ließ seine Zeitung sinken und folgte interessiert der Unterhaltung. Bald nickte er zu einer Bemerkung, die an dem Tisch der beiden Ingenieure fiel, bald schüttelte er den Kopf zu einer anderen. Fosdick bemerkte es und machte seinen Kollegen darauf aufmerksam. Cowper drehte sich um und prostete dem Fremden zu. Der tat aus seinem Glase Bescheid, ein Wort gab das andere, und nach kurzem folgte er der Einladung, an den Tisch der beiden Ingenieure zu kommen.

Zu dritt ging die Unterhaltung weiter. Obwohl der Fremde ein recht gutes Englisch sprach, erkannten Fosdick und Cowper schnell an seinem Akzent, daß er Deutscher war. Daß er außerdem auch merkwürdig gut über AE-Stationen Bescheid wußte, fiel ihnen in ihrer gehobenen Stimmung nicht mehr auf. Auch entging es ihnen, daß er bei jeder neuen Lage den größten Teil seines Glases geschickt wegkippte. Sie fanden nur, daß der Fremde ein famoser Kerl sei, mit dem man über alle Dinge, die ihnen am Herzen lagen, frei sprechen konnte.

Schräg fielen die Sonnenstrahlen in den Raum, schnell brach die herbstliche Dämmerung herein. Der Barkeeper drehte das elektrische Licht an und warf einen zweifelvollen Blick auf Fosdick und Cowper.

Es war ein langer und stellenweise schwieriger Weg von Blanctown bis zur AE-Station. Der Wirt hatte Bedenken, ob die beiden mit ihrem Wagen heil nach Hause kommen würden. »Merkwürdig, wieviel der Dutchman vertragen kann!« brummelte er vor sich hin und ging wieder hinter seine Theke.

Vorsichtig brachte inzwischen auch der Fremde, der sich im Laufe der Unterhaltung als Dr. Frank bekannt gemacht hatte, das Gespräch auf die Heimfahrt. Zunächst wollten Fosdick und Cowper noch nicht viel davon hören. Sie kamen wieder auf die Station und ihre eigenen Sorgen und Schmerzen zu sprechen.

»Doch nichts einfacher als das, Gentlemen«. warf der Doktor unvermittelt hin. »Man schaltet einen Kondensator parallel zur Funkenstrecke.«

»Kondensator!« sagte Cowper mit etwas glasigen Augen, steckte den Zeigefinger in einen Whiskyfleck und malte das Wort »Kondensator« auf die Tischplatte.

»So klug sind wir selber, Dok!« erwiderte Fosdick. »Wir hätten's längst getan, wenn's einen Kondensator gäbe, der das aushielte!«

»Es gibt ihn, Mister Fosdick!« entgegnete der Doktor kurz. Fosdick bestritt es. Der Doktor verteidigte seine Meinung. Cowper mischte sich ein und schlug eine Wette vor.

»All right, Dok! Wetten wir um – um tausend Dollar!« nahm Fosdick die Anregung auf.

»Sagen wir tausend von mir gegen hundert von Ihnen!« schlug der Deutsche vor.

Der Barkeeper kam wieder an den Tisch. Er hatte den stillen Wunsch, seine Gäste auf gute Weise loszuwerden, und wußte nicht recht, wie er's anfangen sollte.

»Ich werde meine Freunde nach Hause fahren«, sagte Dr. Frank zu ihm. »Ihr Wagen kann bis morgen hier stehenbleiben.«

»Gewiß, Sir!« pflichtete der Wirt erleichtert bei. »Ich lasse den Wagen morgen früh zur Station bringen.« –

Der Barkeeper stand vor seinem Haus und blickte den Abfahrenden nach. »Die Boys haben verdammt schwer geladen, aber die Achsen werden sie nicht zerbrechen«, lachte er vor sich hin, während das Gefährt in der Ferne verschwand. In der Tat war es ein eigenartiger Wagen, mit dem der Deutsche durch das Land fuhr. Äußerlich zweifellos ein Personenauto, aber so kräftig und massig gebaut, als müsse es eine Last von vielen Tonnen mit sich nehmen.

Sicher steuerte ihn der Doktor, während Fosdick und Cowper es sich auf den Polstern der Hintersitze bequem machten. Die frische Nachtluft tat ihnen wohl und dämpfte die Geister des Alkohols.

»Famoser Kerl, der Dutchy!« meinte Fosdick.

»Kondensator!« sagte Cowper und streckte sich bequem in seiner Ecke, um ein Schläfchen zu machen.

Hat wieder zu schnell getrunken, dachte Fosdick und hing schweigend seinen eigenen Ideen nach.

Der Wagen hielt vor der AE-Station. Ein Wächter kam heran und fragte den ihm unbekannten Fahrer, was er hier wolle.

»Bringe meine Freunde Fosdick und Cowper«, sagte Dr. Frank und wies hinter sich. »Helfen Sie ihnen mal ein bißchen beim Aussteigen!«

Der Wächter öffnete die Wagentür. »Hallo, Jacky!« begrüßte ihn Fosdick und stieg aus. Schwerer ging es mit Cowper. Der Wächter hatte zu tun, ihn munter zu bekommen. Doch dann stand auch der auf seinen Beinen. Dr. Frank traf Anstalten, sich zu empfehlen; doch Fosdick ließ es nicht zu.

»Unsere Wette, Dok. Kommen Sie mit 'rein, wir müssen noch besprechen, wie wir sie austragen wollen.«

»Es ist schon spät, Gentlemen«, versuchte Dr. Frank zu widersprechen.

»Morgen ist Sonntag, da können wir ausschlafen!« blieb Fosdick hartnäckig.

»Morgen ist Sonntag!« sekundierte ihm Cowper, den der Schlaf ernüchtert hatte.

Dr. Frank ließ sich nicht länger nötigen und folgte der Einladung. Durch einen Gang führte ihn Fosdick in einen mit behaglichen Klubmöbeln ausgestatteten Wohnraum. Cowper folgte und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Endlich mal Ruhe in der verdammten Bude!« sagte er aufseufzend. Fosdick ging in einen Nebenraum und kehrte nach kurzem mit einem Tablett zurück, auf dem alles stand, was zu einem kalten Büfett gehört. »Bedienen Sie sich, Sir!« sagte er und schob dem Doktor Teller und Besteck zu.

»Cowper hat recht!« fuhr er während des Essens fort. »Endlich mal wieder Ruhe.«

»Sie haben das Netz geerdet? Das vernünftigste, was Sie tun konnten!« meinte Dr. Frank.

»Bis Montag haben wir Ruhe. Danach geht die Plage wieder los«, mischte sich Cowper ein.

»Dauerblitze von zehntausend Kilowatt und mehr. Man muß dabei verrückt werden«, vervollständigte Fosdick die Bemerkung seines Kollegen.

»Wenn man keinen Kondensator dazwischenschaltet«, sagte Dr. Frank trocken.

»Erst haben und dann schalten!« schrie Cowper verzweifelt.

»Ja, unsere Wette!« nahm Fosdick den Faden auf. »Wie steht es damit? Wann werden Sie ihn uns bringen, Doktor?«

»Ja wann?« fragte Cowper.

Dr. Frank schlürfte gemächlich eine eisgekühlte Zitronenlimonade.

»Wann, Gentlemen?« sagte er, während er das Glas wieder niedersetzte. »Wann Sie wollen. Ich habe den Kondensator in meinem Wagen.«

Gabeln und Messer fielen klirrend auf die Teller, zwei Augenpaare starrten ihn erstaunt an. »Sie haben den Kondensator hier?!« fragte Fosdick.

»Da können wir die Wette ja sofort austragen!« fiel Cowper dazwischen.

Dr. Frank nickte. »Wenn Sie wollen, sofort.«

Einen Augenblick zögerte Fosdick. Einen Fremden in die Station lassen – noch dazu einen Deutschen? Es ging wider alle Instruktionen. Die Erinnerung an seine Verantwortung, an das, was James Headstone vielleicht dazu sagen könnte, kam ihm zurück. Er stand auf und ging in sein Arbeitszimmer nebenan, um mit sich zu Rate zu gehen. Durfte er es riskieren? – Was konnte schlimmstenfalls dabei geschehen?

Nichts! war das Resultat, zu dem er immer wieder kam. Wie alle andern Kondensatoren, die sie schon versucht hatten, würde auch der des Deutschen nach wenigen Sekunden von der Riesenenergie zerstört werden. Dann war die Funkenstrecke wieder kurzgeschlossen, und er konnte tausend Dollar für seine Wette einstreichen.

Unschlüssig blickte er umher, sah auf seinem Schreibtisch ein Telegramm liegen, griff danach und riß es auf. Eine neue dringende Mahnung von Headstone, die Station in Ordnung zu bringen. Fast schon mehr eine Drohung als eine Mahnung. Er zerknitterte die Depesche. Jeder Versuch war jetzt gerechtfertigt. Zum Teufel mit allen Vorschriften und Instruktionen!

Cowper lehnte es ab, mit in den Maschinenraum zu kommen. »Heute ist Feiertag!« erklärte er kategorisch und rührte sich nicht vom Fleck.

»Der Boy ist mit seinen Nerven fertig«, flüsterte Fosdick dem Doktor zu.

Zu zweit gingen sie in den Maschinenraum, und mit schnellem Blick musterte Dr. Frank die Anlage. Abgesehen von den Größenverhältnissen unterschied sie sich nicht wesentlich von derjenigen des deutschen Werks. Hier wie dort ein Transformator und ein Vakuumunterbrecher, der den atmosphärischen Gleichstrom zerhackte, um ihn für den Transformator schmackhaft zu machen.

Fosdick ließ den Unterbrecher angehen. Mit einem zweiten Griff beseitigte er den Kurzschluß der Funkenstrecke. Im Augenblick begann der Spannungszeiger zu klettern, erreichte eine Million, stieg weiter auf 1,6 Millionen Volt. Dumpf brummte der Transformator auf, als er die Spannung bekam. Schweigend standen Fosdick und Dr. Frank. Beider Blicke hingen an dem Spannungszeiger. Dieser pendelte langsam hin und her, fiel bald nach unten, stieg bald wieder nach oben. In langsamem Rhythmus schwankte die Spannung des atmosphärischen Stromes um mehrere hunderttausend Volt.

»Sehr ungünstige Verhältnisse haben Sie hier, Mister Fosdick«, sagte Dr. Frank, als der Zeiger die zweite Million Volt erreichte. »In Deutschland sind die Schwankungen –«

Der Rest seiner Worte ging in einem krachenden Donner verloren. Die Überspannung war durch die Funkenstrecke außerhalb des Gebäudes als mächtiger Blitz in die Erde gefahren.

Fast unnatürlich erschien die Stille danach. Noch betäubt von dem Donnergrollen, vernahmen die Ohren kaum das tiefe Brummen des Transformators. Nur langsam gewöhnten sie sich an die Ruhe, als der Zeiger schon wieder zu klettern begann, langsam aber sicher der zweiten Million zustrebte – und dann ein zweiter, nicht minder kräftiger Donnerschlag . . .

Die Tür wurde aufgerissen. Mit verzerrten Mienen stand Cowper auf der Schwelle und gestikulierte wie ein Wahnsinniger.

»Ausschalten, Fosdick! – Ausschalten! Heute ist Feiertag!« brüllte er, bis seine Stimme sich überschlug.

Auf einen Wink des Doktors schloß Fosdick die Funkenstrecke wieder kurz. Fragend blickte er auf Dr. Frank, der eine unerschütterliche Ruhe bewahrte.

»Die Verhältnisse sind ungünstiger als in Deutschland«, vollendete der Deutsche seinen Satz. »Trotzdem – es könnte doch gehen.«

Er zog sein Notizbuch, ließ sich von Fosdick verschiedene elektrische und magnetische Werte des Transformators geben und machte eine kurze Rechnung auf.

»Es wird gehen, Mister Fosdick«, sagte er, während er das Buch wieder zuklappte. »Wir können den Kondensator anschalten.« Er sah sich in dem Raum um. »Sie haben hier einen Deckenkran – zehn Tonnen Tragkraft. Das genügt. Ich müßte mit meinem Wagen hier hereinfahren. Ist das möglich?«

Fosdick drückte auf einen Hebel. Ein Elektromotor lief an. Eine breite eiserne Schiebetür öffnete sich und gab eine Einfahrt frei, durch die ein großer Lastwagen passieren konnte.

Zwei Minuten später fuhr Dr. Frank mit seinem Auto in den Maschinenraum. Eine Blechhaube am hinteren Teil des Wagens wurde geöffnet. Neugierig schaute Fosdick hinein. Ein Kasten aus einem dunkel glänzenden Metall stand darin, kaum größer als ein mittlerer Handkoffer.

»Bringen Sie den Kran heran, Mister Fosdick!« sagte Dr. Frank. Fosdick tat es kopfschüttelnd. Es ging ihm nicht in den Sinn, warum man für solch einen kleinen Kasten einen Zehntonnenkran in Bewegung setzen sollte. Langsam kam der Kranhaken herunter; Dr. Frank steckte ihn in eine kräftige Tragöse des Kastens, die Fosdick erst jetzt auffiel.

»Anheben!« kommandierte der Doktor. Ächzend und knarrend lief die Krankette über ihre Rollen. An dem Geräusch merkte Fosdick, daß eine beträchtliche Last an dem Kran hängen mußte. Ohne etwas zu sagen, führte er die weiteren Befehle des Doktors aus, bis der merkwürdige Kasten an der gewünschten Stelle stand.

Fosdick brachte den Kran an seinen alten Platz zurück, und Dr. Frank schickte sich an, seinen Wagen wieder herauszufahren.

»Lassen Sie den Wagen doch hier«, sagte Fosdick. »Wenn Ihr Transformator durchgeschlagen ist, müssen Sie ihn ja doch wieder mitnehmen.«

»Er wird nicht durchschlagen!«

War es der Ton der wenigen Worte, war es der Blick, mit dem der deutsche Doktor ihn dabei ansah – Fosdick spürte in diesem Augenblick ein unbeschreibliches Gefühl. Erwartung, Furcht vor dem, was kommen sollte? Er hätte es nicht zu sagen vermocht. Geduldig wartete er, bis Dr. Frank zurückkam. Rollend fuhren die eisernen Schiebetüren wieder zusammen.

Zwei lange Drähte gingen von dem geheimnisvollen Kasten aus. Sie schienen aus dem gleichen dunkel schimmernden Metall zu bestehen wie dieser; nur an ihren Enden ließ sich erkennen, daß sie im Innern aus Kupfer bestanden und jenes Dunkle nur ein dünner Überzug war. Mit wenigen Griffen befestigte Dr. Frank den einen Draht an der blanken Erdleitung, befahl dann eine Leiter, um den andern Draht oberhalb des mammutförmigen Isolators anzubringen, in dem der Transformator nach oben endete.

»Helfen Sie mir, Mister Fosdick!« bat er, als er, den Draht hinter sich herziehend, die ersten Leitersprossen erklommen hatte. Fosdick griff zu und wunderte sich. Der dünne Draht hatte das Gewicht eines schweren Bleikabels. Er mußte wuchten und ziehen, um ihn in die Höhe zu bringen. Die Leiter zitterte unter seinen Tritten, während er emporstieg.

Dann war auch das geschafft. Fosdick brachte die Leiter beiseite und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unfaßbar war ihm das Ganze. Da lag ein dünner Draht auf der Erde, kaum stärker isoliert als ein gewöhnlicher Klingeldraht, und in ihm sollte eine Spannung von mehr als zwei Millionen Volt auftreten, sobald man den Kurzschluß von der Funkenstrecke fortnahm.

»Machen Sie den Kurzschluß auf!« befahl Dr. Frank. Fosdick sah ihn scheu an und zögerte. Im Geiste sah er die entfesselte Energie hier im Saal ausbrechen. Sah Tod und Verderben über sie kommen . . .

Und dann war es geschehen, Dr. Frank hatte selbst den Hebel bewegt, den Kurzschluß aufgehoben. Schon gingen die Spannungszeiger in die Höhe. Bei 1,6 Millionen blieben sie stehen. Langsam pendelten sie um diese Zahl herum, aber geringfügig waren jetzt die Schwankungen. Als mächtiger Ausgleicher wirkte der Zauberkasten, den der Doktor dort hingestellt hatte. Kein Blitzen und Donnern mehr. Der Kondensator fraß die überschüssigen Elektronen in sich hinein und gab sie wieder zurück, sobald die atmosphärische Spannung abfiel, Dr. Frank zog sich einen Schemel heran, setzte sich und sah auf seine Uhr. Fosdick lehnte sich gegen die Wand und griff sich an den Kopf.

»Unfaßbar, Doktor!«

»Eine Viertelstunde wollen wir warten. Dann telephonieren Sie in die Zentrale nach Detroit, daß wir die Station auf die Überlandleitung schalten.«

Fosdick wollte etwas erwidern. Er fühlte, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte. »Noch eine Viertelstunde . . .« brachte er heiser hervor und ging in den Wohnraum zurück. Langsam folgte ihm Dr. Frank. Cowper sah sie kommen.

»Endlich wieder Ruhe!« sagte er mit einem wilden Blick auf den Doktor. »Ruhe bis Montag – Montag werde ich nicht mehr hier sein.«

»Warum nicht, Mister Cowper?« fragte Dr. Frank sehr ruhig.

»Weil kein Mensch das aushalten kann!« schrie Cowper aus. »Ich bin fertig! Headstone, der Schuft, hat mich auf dem Gewissen. Lieber Tramp auf der Landstraße als hier Ingenieur . . .«

Dr. Frank griff nach einem Glas und zwang Cowper, ein paar Schluck Eiswasser zu trinken. Fosdick sah es, griff nach einem andern Glase, trank es aus einen Zug aus und warf sich in einen Sessel. Sein Blick fiel auf die Wanduhr.

»Noch zehn Minuten, Doktor.«

»Noch zehn Minuten, Mister Fosdick. Dann . . .«

»Dann!? Was dann . . .?« schrie Cowper dazwischen.

»Dann schalten wir unsere Station auf das Überlandnetz, mein lieber Cowper.«

»Nein!« fuhr Cowper auf. »Ich laufe sofort weg, wenn Sie die Funkenstrecke wiederaufmachen.«

Er wollte sich erheben, aber Dr. Frank drückte ihn in den Sessel zurück.

»Keine Sorge, Mister Cowper. Die Station arbeitet bereits, die Funkenstrecke ist offen.« Verzweifelt preßte Cowper die Hände an die Ohren, als fürchte er jeden Augenblick einen neuen Blitz, ein neues Krachen. Dr. Frank sah es und lächelte.

»Keine Furcht, Mister Cowper! Wir haben eine Mausefalle hingestellt, die alle Blitze wegfängt. Sie können ruhig schlafen.«

»Ruhig schlafen . . .« flüsterte Cowper vor sich hin. Er fühlte plötzlich eine große Mattigkeit und sank in sich zusammen.

»Es wird Zeit, Mister Fosdick«, sagte Dr. Frank mit einem Blick auf die Uhr, »telephonieren Sie mit Detroit!«

Fosdick ließ sich die Verbindung geben. Ein kurzes Hin und Her am Telephon. Er legte den Hörer auf und stand wieder mit dem Doktor im Maschinenraum. Ein kurzes Schaltmanöver. Als die Phasenlampen dunkel wurden, schlug Dr. Frank den Hebel ein. Gebändigt strömte die atmosphärische Elektrizität in die Überlandleitung, um irgendwo, Hunderte von Kilometern entfernt, nützliche Arbeit zu leisten.

Mitternacht schlug die Werkuhr, als Dr. Frank aufstand. »Ich muß weiter, Gentlemen. Sie können die Nacht ruhig schlafen, die Station braucht keine Aufsicht.«

»Unmöglich, Herr Doktor! Sie können nicht einfach fortgehen. Wir müssen nach New York berichten. Müssen verrechnen . . .«

»Ach so, ganz richtig, Mister Fosdick«, lachte der Doktor. »Die Wette habe ich gewonnen, um hundert Dollar möchte ich gebeten haben.«

»Selbstverständlich, Herr Doktor!« Fosdick kramte in seiner Brieftasche, brachte hundert Dollar zusammen und gab sie dem Doktor.

»Ist mir lieber, als wenn ich tausend von Ihnen bekommen hätte. Aber der Kondensator? Was kostet der?«

»Nichts, Mister Fosdick.«

»Nichts?! Wie soll ich das verstehen?«

Wieder ging ein Lächeln über das Gesicht des Deutschen. »Eine kleine Aufmerksamkeit für Mister Headstone. Bestellen Sie ihm einen Gruß von mir, wenn Sie ihn sehen.«

»Sie kennen Headstone?«

»Noch nicht persönlich, Mister Fosdick; doch ich denke bald mit ihm zusammenzutreffen.«

Dr. Frank machte sich zum Fortgehen fertig.

»Ihre Adresse wenigstens, Herr Doktor!« forderte Fosdick dringlich.

»In Gottes Namen! Hier haben Sie sie.« Dr. Frank drückte ihm eine Karte in die Hand und ging zu seinem Wagen.

In einer traumhaften Stimmung kehrte Fosdick in das Haus zurück. Wild gingen seine Gedanken durcheinander. Er kam in den Wohnraum und sah Cowper in seinem Sessel schlafen. Er ließ sich in einen andern fallen und seufzte tief auf. Bald ging sein Seufzen in ein Gähnen über, und der Schlaf überkam auch ihn.

*

Seit Tagen befand sich James Headstone in Buffalo. Unter seiner Aufsicht wurde in der Hochspannungsabteilung der United die neue Versuchsanlage für zehn Millionen Volt zusammengestellt. Schritt für Schritt überwachte er den Aufbau und kümmerte sich um jede Einzelheit. Hätte er nicht Kragen, Schlips und Cut getragen, man hätte ihn für einen der Ingenieure oder Werkleute halten können, die hier in weißen und blauen Kitteln tätig waren.

Noch eine letzte arbeitsvolle Nacht, und die Anlage war fertig. Zu kurzer Rast verließen die Werkleute die Abteilung; James Headstone blieb allein zurück. Ein ähnliches Bild bot sich seinen Blicken wie Wochen vorher in Detroit. Auch hier Transformatoren und die große Blitzröhre. Schalter und Meßinstrumente an der Wand. Ein Hebeldruck würde genügen, um den Weg freizugeben, zehn Millionen Volt auf die Blitzröhre loszulassen. Würde die Anlage diesmal standhalten? . . . Headstone schloß die Augen. Auch mit geschlossenen Lidern sah er ein Bild der Verwüstung . . . ein Flammenmeer . . . Energie, die ihre Fesseln sprengte . . . Brand und Einsturz . . . Würde es hier wieder so gehen wie damals in Detroit . . .?

»Mister Headstone!« Der Ruf riß ihn aus seinem Sinnen. Ein Bote stand vor ihm und hielt ihm eine Depesche hin. Headstone riß sie auf und las: »AE-Station arbeitet seit vierundzwanzig Stunden gut auf Überlandnetz. Fosdick.«

. . . Die Station arbeitet . . . gut . . . James Headstone fühlte eine Erleichterung von dem schweren Druck, unter dem er seit Wochen daherging. Die Station arbeitet! Das hieß, daß Brooker bei der Stange bleiben würde . . . daß die Arbeit so vieler Wochen und Monate nicht verloren war. Nur den Geheimnissen der Deutschen mußte man jetzt noch auf die Spur kommen . . . mußte herausbekommen, mit welchen Mitteln sie ihre Legierungen behandelten, bis solche Wunderdinge daraus entstanden wie Halteseile, kalte Kathoden und anderes mehr.

In ganz anderer Stimmung war James Headstone jetzt nach dem Empfang der Depesche von Fosdick. Ein Glückstag war heute, an dem auch noch mehr gelingen mußte. Mit schnellem Schritt ging er zur Wand und legte einen Schalter um. In magischem Licht schimmerte die große Röhre, in allen Farben leuchtete der Stein unter ihr. Dumpf und gleichmäßig erfüllte das tiefe Brummen der Transformatoren den Raum.

In sich versunken stand Headstone vor der funkelnden Röhre, als die ersten Ingenieure und Werkleute zurückkamen. Leise Bemerkungen flogen zwischen ihnen hin und her, als sie die Anlage schon in Betrieb sahen. Headstone achtete nicht darauf. Mehr mit Gesten als mit Worten erteilte er seine Befehle. Metallitzen, die schon bereitlagen, wurden herbeigeschafft und auf den leuchtenden Stein gelegt, wo die aus der Röhre rasenden Elektronen sie mit voller Wucht treffen mußten. Unbeweglich wie eine Statue stand Headstone dabei. Nur sein Blick wanderte hin und her zwischen den feinen Metalldrähten und dem Zeiger der Uhr. Gedanken an Blutopfer längst vergangener Zeiten liefen ihm durch den Sinn. War der leuchtende Stein vor ihm nicht auch solch ein Opferstein? Schienen sich die Drähte auf ihm unter der Qual des Elektronenhagels nicht auch zu winden und zu bewegen wie einst einmal gefesselte Gefangene unter dem Messer des Schamanen?

Ein Blick auf die Uhr rief ihn in die Gegenwart zurück.

»In die Zerreißmaschine!« befahl er knapp und scharf. Schon schnitten seine Ingenieure das bestrahlte Stück aus der Litze heraus und spannten es in die Maschine. Mit hydraulischer Macht fuhren die Backen der Zerreißmaschine auseinander und strafften die Litze. Mit angehaltenem Atem verfolgte Headstone den Zeiger des Kraftmessers, sah ihn steigen und immer weiter steigen . . . fünfzig Prozent . . . siebzig Prozent . . . achtzig Prozent von der Festigkeit der deutschen Halteseile waren erreicht – da riß die Litze.

Achtzig Prozent! . . . Viel mehr, als die Leute von der Aluminum Corporation jemals erreicht hatten . . . aber immer noch nicht die deutsche Leistung. Von wechselnden Gefühlen wurde Headstone hin und her gerissen, bis das Bewußtsein überwog, daß er auf dem rechten Wege war. In tausend Variationen würden seine Ingenieure diesen Versuch wiederholen, bis der deutsche Rekord erreicht . . . vielleicht überboten wurde.

Etwas anderes kam ihm in die Erinnerung: jenes eigenartige Blättchen mit dem rätselhaften Gewicht, das der deutsche Professor ihm gab. Er erteilte Auftrag, es zu holen, ließ es wie ein Fensterchen in eine mächtige Platte aus Isolierstoff einfügen, die zehn Millionen Volt sicher aushielt, gab danach Befehl, zehn Millionen Volt auf das hauchdünne Blättchen loszulassen. Kopfschüttelnd taten seine Ingenieure, was er forderte, und standen wie versteint, als sie sahen, was geschah. Wie blaues Elmsfeuer lief die Millionenspannung über das Blättchen hin – aber zu durchschlagen vermochte sie es nicht. Über die große Isolierplatte züngelte sie weiter dahin, bis sie den Rand erreichte und unter Blitz und Donner ihren Ausgang durch die Luft fand.

»Ein neues Wunder!« stammelte Headstone, als die Anlage stillgesetzt war. Er ließ das Blättchen wieder herausnehmen. Mit einem Staunen, in das sich fast abergläubische Furcht mischte, betrachteten es seine Ingenieure.

Dieser Hexenstoff mußte chemisch untersucht werden. Das war nach Headstones Meinung das nächstliegende. Er ließ das Blättchen auf einen Amboß legen. Mit Meißel und Hammer sollte ein dünner Streifen für das chemische Laboratorium abgetrennt werden. Ein Werkmann setzte den schärfsten und härtesten Meißel, den sie hatten, auf das Blättchen, ein zweiter schlug zu: erst mit einem einfachen Handhammer, dann mit schweren und immer schwereren Vorschlaghämmern. Das Blättchen blieb unversehrt. Aufgestaucht und verdorben war der Meißel, als ob er aus weichem Blei und nicht aus härtestem Edelstahl bestünde.

Vor einem neuen Rätsel standen Headstone und seine Ingenieure. Allen Versuchen, die sie unternahmen, allen Anstrengungen, die sie machten, schien dies unscheinbare Blättchen zu spotten. Es zerbrach das schwerste Messer der großen Maschinenschere, in die sie es brachten. Es ließ eine schwere Stanze zu Bruch gehen, mit der sie es danach versuchten. Es verdarb jeden Werkstahl, mit dem sie es ritzen wollten.

»Man müßte versuchen, es zu schmelzen«, sagte jemand. Headstone griff den Ratschlag auf. Eine Platinschale wurde gebracht; schwer fiel das Blättchen hinein und ließ sie erklingen. Knallgasbrenner wurden entzündet. Blau und heiß züngelten ihre Flammen um die Schale. Schon glühte sie rot auf, strahlte bald in heller Weißglut. Man mußte achtgeben, daß man das Platin in der Hitze nicht zum Schmelzen brachte. Nur noch auf das Blättchen waren jetzt die heißen Flammen gerichtet. Würde es auch einer Glut von viertausend Grad widerstehen?

Leicht begann es sich zu krümmen und zu kräuseln. Zu gewaltig wurde die Wärmebewegung der Moleküle. Die Fessel, in die Dr. Frank die Atome seiner Legierung schlug, als er den Schwerstoff herstellte, begann zu reißen. Einen Augenblick wogte und kochte es in der Schale. Verschwunden war das Blättchen. Verzwanzigtausendfacht hatte sich in Sekunden sein Volumen. Glutflüssig und brennend lief es über den Rand der Schale, lief auf den steinernen Boden und brannte lodernd weiter. Ein wenig Dampf und Rauch war alles, was übrigblieb . . . Ebenso plötzlich und unerwartet, wie der zauberische Schwerstoff in Headstones Hände gekommen war, war er wieder verschwunden. Es gab keine Möglichkeit mehr, ihn zu untersuchen. Nur noch von seinen märchenhaften Eigenschaften, von dem Wunderbaren, das so viele Augen in diesen Minuten gesehen hatten, würden sie reden können, wenn nicht . . .

. . . Wenn es nicht gelang, neue Proben aus Deutschland zu beschaffen. Klar stand dieser Gedanke in Headstones Kopf, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Fürs nächste hatte er hier nichts mehr zu tun. Tage und Wochen würden Ingenieure und Laboranten ja zu schaffen haben, um erst einmal das Geheimnis der deutschen Tragseile zu ergründen.

Neue Proben des Schwerstoffes . . . Wer war der rechte Mann, sie zu beschaffen? In Gedanken wählte Headstone und verwarf. Immer wieder kam er auf Turner zurück. Wenn überhaupt jemand, dann vermochte es nur der. Neue Befehle und Instruktionen, von Headstone selbst verschlüsselt, gingen am gleichen Tage nach Deutschland.

*

Johannes Zacharias war in seinem Garten dicht am Zaun in der Nähe der Tür. Jochen Dannewald hielt die Leiter, auf der er stand. Zacharias' Tätigkeit galt einem Pflaumenbäumchen. In der linken Hand hielt er ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit, in der rechten einen Pinsel, den er immer wieder in das Fläschchen tauchte, um die letzte einsame Frucht, die der Baum noch trug, damit zu bestreichen.

»War verkehrt, Jochen, daß wir so dicht an den Zaun gepflanzt haben«, sagte er zu seinem Faktotum. »Vier Pflaumen haben die Bengel mir schon weggeholt. Na, wer die fünfte maust, der kann sich den Mund wischen!«

Einfache Jodtinktur war in dem Fläschchen. Der Alte wußte, daß er auch die letzte Viktoriapflaume nicht vor den Dorfjungen retten konnte, aber er wußte auch, daß Jod schlechter als schlecht schmeckt; deshalb stand er hier und pinselte, bis die Türglocke ihn in seiner Beschäftigung unterbrach. Er drückte Jochen das Fläschchen und den Pinsel in die Hand und ging zur Pforte. Der Briefträger stand draußen.

»Ein Brief aus Amerika für Sie, Herr Zacharias.«

In der Aufschrift erkannte der Alte die Züge von Dr. Frank. Eilig griff er nach dem Brief und warf dabei einen Blick in die Tasche des Postboten.

»Da haben Sie ja noch einen andern Brief aus den Staaten.«

»Ist für den Amerikaner im Heidekrug«, erwiderte der Beamte.

»So so! Der ist immer noch hier . . .« meinte Zacharias nebenhin.

»Scheint hier ansässig werden zu wollen«, sagte der Postmann lachend und empfahl sich. Zacharias setzte sich auf eine Gartenbank und las seinen Brief.

»Headstone ist störrisch wie ein Maulesel«, schrieb Dr. Frank. »Es ist bei ihm zu einer fixen Idee geworden, unsere Erfindungen noch einmal von sich aus zu machen.«

Er wird wenig Glück damit haben, dachte der Alte.

»Brooker ist umgänglicher«, ging es in dem Brief weiter. »Er ist Kaufmann und hat Verständnis dafür, daß es vorteilhafter sein kann, eine Erfindung fertig zu kaufen, als sie selbst zu machen. Vorläufig ist er jedoch noch stark im Schlepptau von Headstone. Wir müssen den Ausgang der Patentangelegenheit abwarten, bevor wir weitere Schritte tun können.«

Ungeduldig las Zacharias weiter. Er brannte darauf, etwas über das Schicksal des Schwerstoff-Kondensators zu erfahren, den der Doktor in die Staaten mitgenommen hatte, und schließlich kam Dr. Frank in seinem Brief auch zu diesem Thema. Zacharias schmunzelte vergnügt, als er die Schilderung las.

»Großartig gemacht!« murmelte er vor sich hin. »Die beiden Burschen beim Wochenend abgefangen . . . das Kuckucksei in das fremde Nest gelegt . . . ich möchte das Gesicht von Headstone sehen, wenn er in die Station kommt!« –

Zur gleichen Zeit studierte Turner in der Gaststube des Heidekruges seinen Brief, und er war weniger vergnügt dabei als Zacharias. Von einem fabelhaften Schwerstoff schrieb Headstone . . . unbedingt notwendig, eine Probe davon zu beschaffen, mit allen Mitteln versuchen . . . auf Biegen oder Brechen.

Seufzend faltete Turner das Blatt wieder zusammen und warf einen Blick in den leuchtenden Herbsttag. Innerlich verwünschte er die Stunde, in der er sich Headstone verschrieben hatte . . . sinnierte darüber, wie anders alles sein könnte, wenn er jetzt einen netten klaren Job in den Staaten hätte, anstatt hier in Deutschland dunklen Geschäften nachgehen zu müssen.

Eine Probe des neuen Stoffes beschaffen? . . . Natürlich wurde das Teufelszeug in dem unheimlichen Bau hergestellt, mit dem Voucher so üble Erfahrungen machen mußte. Es grauste Turner vor dem Gedanken, dort etwas zu unternehmen. Aber der Stoff blieb ja nicht dort. Professor Livonius hatte Headstone etwas davon gegeben. Man brachte ihn also von der Erzeugungsstelle nach den Bergmann-Werken, vermutlich um ihn dort weiterzuverarbeiten.

Turner führte seine Schlußkette weiter. Lastautos würden das Zeug transportieren. Von hier bis zu den Bergmann-Werken war ein langer Weg. Nur während des Transportes konnte man es versuchen . . . so einen Wagen ausfindig machen . . . sich mit den Chauffeuren anfreunden. Es würde nicht leicht sein . . . vielleicht den einen oder anderen betrunken machen . . . nicht so einfach. Die Leute waren auf ihren Fahrten ja stocknüchtern. Vielleicht andersrum? . . . Turners Gedanken wanderten zu der Reiseapotheke in seinem Auto, die neben manchem anderen auch ein paar ganz hübsche Schlaf- und Betäubungsmittel enthielt. Es war eine Möglichkeit, aber – darüber war der Agent sich nicht im unklaren – eine verzweifelte, er riskierte Kopf und Kragen, wenn die Sache schiefging. Doch vergeblich sann er auf einen andern Weg. Kein brauchbares Mittel wollte ihm einfallen. Den Kopf in die Hände gestützt, starrte er verdrießlich vor sich hin, als die Tür geöffnet wurde.

Turner blickte erst auf, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Der alte Zacharias stand neben ihm.

»Morgen, Mister Turner! Erlauben Sie?« Er ließ sich an den Tisch von Turner nieder. »Schlechte Laune heut? Sehen so verdrießlich aus. Haben Sie unangenehme Nachrichten aus USA?«

Turner dachte an den Brief in seiner Tasche. Unwillkürlich nickte er: »Geht manches nicht so, wie man möchte, Sir.«

»Wird sich bald ändern, mein lieber Turner. Ich bekam heute auch einen Brief aus den Staaten.«

»Auch?« fragte Turner verwundert.

»Ja, Mister Turner. Ich sah bei der Gelegenheit, daß der Postbote auch einen für Sie in der Mappe hatte.«

Turner sann auf eine Ausflucht. »Sie haben richtig gesehen, Mister Zacharias. Es war ein Brief von meinen Verwandten in Oswego.«

Ungeschickter Schwindel! dachte der Alte, der den Poststempel »Buffalo« deutlich auf dem für Turner bestimmten Brief gesehen hatte.

»Erinnern Sie sich noch an unsere letzte Fahrt nach Neustadt, Mister Turner?«

Der Agent machte eine zustimmende Bewegung. Die Unterhaltung während dieser Fahrt kam ihm wieder in den Sinn. Er hatte Headstone darüber berichtet, doch der war mit keinem Wort darauf eingegangen.

»Sie sprachen damals von einem Mister – Mister Headstone«, sagte Turner zögernd, als müsse er sich auf den Namen besinnen.

»Ganz recht, von James Headstone. Es ist höchste Zeit, ihm die Augen zu öffnen. In wenigen Tagen kann es dafür zu spät sein.«

Turner sah den Alten unsicher an. »Ich verstehe absolut nicht, was Sie meinen, Mister Zacharias.«

Der Alte fuhr unbeirrt fort: »Headstone interessiert sich jetzt für einen neuen Schwerstoff, der in Deutschland hergestellt wurde. Er verlangt von seinen Agenten, daß sie ihm Proben davon verschaffen . . .«

Turner wurde abwechselnd rot und wieder blaß. War der Alte, der ihm schon so viele Rätsel aufgegeben hatte, mit dem Teufel im Bunde? Konnte er durch den Anzugstoff hindurch lesen, was in dem Brief Headstones stand? Unwillkürlich griff Turner nach seiner Brusttasche und fühlte das leise Knistern des Papiers.

»Headstone würde seine Agenten nicht mit solchen Aufträgen bemühen«, sprach Zacharias gelassen weiter, »wenn er wüßte, daß er den neuen Stoff schon tonnenweise in seiner AE-Station hat. Aber er weiß es nicht. Ein Mann müßte kommen . . . ein Mann ohne Furcht, Mister Turner, der es ihm sagte. Der Mann könnte vielleicht sein Glück machen . . .«

Turner saß mit offenem Munde da und starrte den Alten wie ein Gespenst an. »Ich habe damals –« ›unsere Unterredung an ihn berichtet‹, wollte Turner herausschreien und preßte im letzten Moment die Lippen zusammen.

»In Deutschland wird der Stoff nicht mehr zu beschaffen sein«, sagte Zacharias. »Was davon vorhanden ist, liegt in den Bergmann-Werken unter doppeltem und dreifachem Verschluß. Auch der tüchtigste Agent könnte nicht herankommen.«

Turner schwieg. Er sah den Plan, mit dem er sich vor kurzem noch beschäftigte, wie ein Kartenhaus zusammenfallen . . .

»Warum erzählen Sie mir das alles?« Gequält kamen die Worte aus Turners Mund; er saß mit halb geschlossenen Augen da und wagte es nicht, seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen. So sah er auch nicht das eigenartige Lächeln, das um dessen Lippen spielte.

»Ich dachte, es könnte Sie interessieren, Mister Turner. Ich sagte Ihnen schon, daß ich heute auch einen Brief von drüben erhielt. Die Verhandlungen zwischen dem deutschen Konzern und der United haben begonnen. Der Erfinder des Schwerstoffes ist seit einiger Zeit in den Staaten. Mit Direktor Brooker hat er bereits gesprochen. Mit Headstone wird er auch bald zusammenkommen. Dann, Mister Turner, wird es für den Mann in Deutschland zu spät sein, das befreiende Wort zu sprechen . . .«

Turner empfand jedes der Worte wie einen gegen ihn gerichteten Schlag. Gewaltsam raffte er sich zusammen.

»Wer sind Sie, Mister Zacharias?«

Der Alte blieb gelassen. »Sie kennen meine Geschichte, Mister Turner. Ich bin ein alter Farmer, der hier in der Heide seinen Lebensabend verbringt.«

»Nein! Sie sind nicht, was Sie scheinen wollen. Sonst könnten Sie nicht um alle diese Dinge wissen!« Erregung zitterte in den Worten des Agenten. Der alte Zacharias ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen.

»Gestatten Sie mir eine andere Frage, Mister Turner: Wer sind Sie?«

Der Gegenschlag traf Turner unerwartet. Unsicher kam seine Antwort.

»Ich bin ein amerikanischer Tourist, Mister Zacharias.«

Der Alte lachte. »Lassen wir's dabei, Mister Turner. Ich bin Farmer, Sie sind Tourist! Auf Wiedersehen ein andermal! Ich will gehen, habe einen Brief an meine Freunde in Amerika zu schreiben.« –

Turner saß allein am Tisch und hatte das Gefühl, als ob der eichengedielte Boden unter ihm wankte . . . Nun und nimmer war der Alte das, was er zu sein vorgab. Viel zuviel wußte er um die Geschehnisse zwischen der United und dem deutschen Konzern. Das war für den Agenten jetzt sicher. Aber auch ihn hatte der alte Mann, der sich hier als Bauer und Heideläufer tarnte, durchschaut. Zu deutlich war der Doppelsinn seiner letzten Worte. Wie eine Warnung hatte es aus ihnen geklungen, das unfruchtbare Spiel hier aufzugeben und einen andern Weg zu gehen, bevor es zu spät war . . . zu spät, wenn die andern dem nicht länger untätig zuschauten . . . wenn sie zugriffen, ihn packten.

Mit dem Entschluß, seine Rolle hier aufzugeben, stand Turner auf.

*

In verdrossener Laune kam James Headstone von Buffalo her in seinem Flugzeug in New York an. Die Versuche im Hochspannungswerk hatten zu keinen weiteren Fortschritten geführt. Es blieb bei den Werten, die man schon im ersten Ansturm erreicht hatte und die zwanzig Prozent unter den deutschen Leistungen lagen. Headstone zerbrach sich den Kopf, woran es liegen könne, und kam immer wieder auf denselben Gedanken zurück: Die Spannung über die zehn Millionen Volt hinaustreiben, größere, stärkere Blitzröhren nehmen . . . Gewiß hatten's die Deutschen ebenso gemacht und auf diese Weise ihre Wunderseile hergestellt.

Während ihn das Auto vom Flugplatz zum Hause der United brachte, gingen ihm andere Fragen durch den Kopf. Die Auslegung der deutschen Patente in Washington bedeutete einen schweren Schlag. Zwar hatte die United sofort Einspruch gegen die Anmeldungen erhoben, und wer die Ausführungen ihrer Patentanwälte las, mußte den Eindruck gewinnen, daß dem amerikanischen Konzern durch die Deutschen blutiges Unrecht angetan worden sei. Aber Headstone selbst machte sich keine Illusionen mehr, nachdem er die Eingangsdaten der deutschen Anmeldungen gesehen hatte . . . und die letzte große Erfindung, der fabelhafte Schwerstoff – davon hatte man bei der United bis zu jenem Besuch von Livonius überhaupt nichts gewußt. Hatte danach erst in aller Eile ein paar reichlich verschwommene Ansprüche angemeldet . . . Nur wenn es gelang, ihn in Buffalo wirklich herzustellen, bestand eine winzige Aussicht, auch patentrechtlich etwas zu erreichen.

Mit dem Gedanken an diesen Schwerstoff betrat Headstone sein Arbeitszimmer. Ein Telegramm aus Deutschland lag auf seinem Tisch. Er riß es auf und ging daran, es zu entschlüsseln.

War Turner wahnsinnig geworden? Was kabelte der Mensch?

»Mehrere Tonnen des neuen Schwerstoffes befinden sich in Michigan in der AE-Station.« Headstone griff nach seinem Hut und eilte aus dem Raum. Ein Auto brachte ihn zum Flugplatz zurück.

»Michigan, Flugplatz Blanctown!« befahl er dem Piloten. Motorknattern, Propellerschwirren, das Flugzeug stieg auf. –

Die Ingenieure Fosdick und Cowper hatten ein Schachbrett zwischen sich stehen und spielten geruhsam eine Partie.

»Achten Sie auf Ihre Dame, Cowper!« sagte Fosdick, als das Geräusch eines anfahrenden Autos die friedliche Stille des Herbsttages unterbrach.

»Wir bekommen Besuch«, meinte Cowper und wandte sich nach dem Fenster hin. »Ein Auto. Wenn ich richtig sehe, der Wagen unseres Barkeepers in Blanctown. Will uns der alte Giftmischer hier eine Visite machen?«

Auch Fosdick war aufgestanden und blickte auf den Platz hinaus, zuckte plötzlich zusammen und packte seinen Kollegen bei der Schulter.

»Heiliger Geist, steh uns bei! Da klettert Headstone aus dem Wagen!«

Mit einem Satz sprang Cowper zurück und ließ Schachbrett und Figuren in einem Schrank verschwinden, griff nach einer Bürste und tat damit einige Striche über seinen Rock, drückte sie dann dem andern in die Hand.

»Mut, Fosdick! Der Boß ist da! Flucht unmöglich! Wir müssen dem Unheil die Stirn bieten.«

Headstone war noch ein Stückchen von dem Stationsgebäude entfernt, als Fosdick und Cowper heraustraten und den Chef mit einer höflichen Verbeugung empfingen. Zusammen gingen sie in das Haus zurück, und Fosdick begann zu rapportieren.

»Die Station arbeitet nach wie vor gut, Mister Headstone. Von der Zentrale in Detroit liegen keine –«

»Weiß ich, Fosdick!« unterbrach ihn Headstone kurz. »Deswegen bin ich nicht gekommen.«

Fosdick schwieg. Mit Befremden bemerkte er, wie Headstone sich unaufhörlich nach allen Seiten hin umsah, als ob er etwas suche.

Was hat der Alte bloß? dachte Cowper, während sie über den Flur gingen. Was guckt er so wunderlich in den Schirmständer und hinter die Schrankecken? Wieder mal eine verrückte Laune vom Boß.

Durch Flur und Vorraum kamen sie in den Maschinensaal, und auch hier standen Headstones Augen keinen Moment still. Nur flüchtig glitten seine Blicke über die Meßinstrumente, dann blieben sie an einem metallisch dunkel schimmernden Kasten haften, der neben dem Transformator stand.

»Was ist das, Fosdick?«

»Ein Kondensator, Mister Headstone, mit dem wir die Spannungsschwankungen abfangen.«

»Wo haben Sie den her? Hat die United ihn geliefert?«

Fosdick biß sich auf die Lippen. »Nein, Mister Headstone. Wir haben ihn von einer andern Stelle bekommen«, sagte Cowper.

»Hm! Arbeitet gut?« Headstone hörte kaum auf die Antwort Cowpers und ging weiter. Es war unverkennbar, daß er etwas suchte. Jeden Schrank und jede Schublade im Maschinenraum riß er auf, kramte minutenlang in den Metallabfällen von einer Feilbank.

Verdrossenheit malte sich in seinen Zügen, als er sich wiederaufrichtete. Noch einmal blickte er sich prüfend in dem Saal um. Hier war das verwünschte deutsche Schwermetall nicht. Er erinnerte sich, draußen einen Haufen Eisenschrott gesehen zu haben. Sollte es am Ende dazwischengeraten sein? Er schob den Hut ins Genick und schickte sich an, zur Tür zu gehen, als sein Fuß gegen einen dünnen Draht auf dem Fußboden stieß. Mit einer lässigen Beinbewegung wollte er ihn beiseite schieben und wäre dabei um ein Haar zu Fall gekommen, wenn Fosdick ihn nicht gestützt hätte.

»Was ist das, Fosdick?«

Headstone bückte sich und griff nach dem Draht. Nicht stärker als eine mäßige Schnur war der, doch Headstone staunte über das Gewicht, als er ihn anhob.

»Was ist das?« fragte er zum zweitenmal.

»Eine Verbindungsleitung vom Kondensator zum Transformator, Mister Headstone.«

Mit beiden Händen packte Headstone den Draht, riß ihn mit Gewalt empor, folgte ihm, wie ein Jäger einer Spur folgt, bis er vor dem schwarzen Kasten stand. Der eigenartige dunkle metallische Schimmer . . . hatte nicht das Blättchen, das Professor Livonius ihm gab, ganz ähnlich ausgesehen?

Seine Hände fuhren über die glatte Fläche des Kondensators, sie strichen über die starke Kranöse. James Headstone wußte, daß er gefunden hatte, was er suchte.

»Wo haben Sie den Kondensator her?« Er sah, wie Fosdick blaß wurde und Cowper betreten zu Boden blickte.

»Kommen Sie mit!« Headstone ging voraus in den Wohnraum; schweigend folgten ihm die beiden Ingenieure.

»Nehmen Sie Platz!« Headstone sagte es, während er sich selbst in einen Sessel niederließ. Zögernd folgten Fosdick und Cowper seinem Beispiel.

»Ich verlange jetzt absolute Offenheit von Ihnen«, hub Headstone an. »Bei der ersten Unwahrheit liegen Sie auf der Straße. Wenn Sie die volle Wahrheit sagen, kann die Sache zu Ihrem Vorteil ausschlagen. Ich frage noch mal: Wo haben Sie den Kondensator her?«

Fosdick war unfähig, ein Wort herauszubringen. Cowper hatte so oft mit dem Gedanken gespielt, selber zu gehen, daß ihn die Drohung Headstones nicht schreckte.

»Von Doktor Frank, Mister Headstone«, beantwortete er die Frage.

Headstone pfiff durch die Zähne. Ein Doktor Frank von dem deutschen Konzern war bei Brooker gewesen . . . Dr. Frank? Waren nicht die deutschen Patente in Washington auf den gleichen Namen angemeldet? Verschwommen noch wie durch einen Nebel, aber doch schon ungefähr erkennbar glaubte Headstone einen Zusammenhang zu erblicken, und die plötzliche Erkenntnis ließ seinen Herzschlag einen Augenblick stocken . . . Dr. Frank, der deutsche Erfinder? . . . Der Inhaber der Patente? . . . Dr. Frank hier in seiner Station, ohne daß er, Headstone, etwas wußte, auch jetzt noch ohne Ahnung wäre ohne das Kabelgramm Turners? Für einen Augenblick bedauerte er es fast, daß er oft unnötig schroff zu dem Agenten gewesen war.

Er setzte das Verhör fort: »Wie sind Sie an Doktor Frank gekommen?«

Nur zögernd und bruchstückweise kamen die Antworten. Von einem Wochenend in Blanctown sprach Cowper und verschwieg, wieviel dabei getrunken wurde.

»Also eine Bekanntschaft am Biertisch?« warf Headstone dazwischen. »Und den Mann nehmen Sie so ohne weiteres in die Station mit?«

»Unser Auto hatte eine Panne«, log Cowper, »Doktor Frank hat uns in seinem Wagen hierher gebracht. Er hörte von unsern Sorgen. Er schien etwas von AE-Werken zu verstehen . . .«

Headstone murmelte etwas durch die Zähne. »Idioten!« glaubte Cowper herauszuhören.

»Doktor Frank ist der Fachmann, verstehen Sie, der erste Fachmann des deutschen AE-Werkes!« platzte Headstone dann heraus. »Den Menschen lassen Sie hier in unsere Station! Unglaublich, Fosdick – was haben Sie sich dabei gedacht? Waren Sie betrunken?«

Fosdick wußte nichts zu erwidern. Er hielt den stechenden Blick Headstones nicht aus und wandte den Kopf zur Seite. Cowper beschloß, alles auf eine Karte zu setzen.

»Warum soll ich's leugnen, Mister Headstone? Ein paar Whiskys hatten wir zum Wochenend genommen. War ganz gut, daß Doktor Frank uns nach Hause fuhr. Noch besser, daß er uns den Transformator hier ließ. War ein Glück, sonst säßen wir immer noch auf dem alten Fleck. War ein Glück, Mister Headstone, wie es nur Betrunkene haben können.«

So, du altes Ekel, dachte Cowper, als er zu Ende war, jetzt wirf mich in Gottes Namen 'raus – meine Meinung hast du gehört!

Schweigend wiegte Headstone den Kopf hin und her.

Cowper griff nach seinem Hut. »Soll ich gehen, Mister Headstone, mir einen andern Job suchen?«

»Unsinn, Sir!« Headstone warf ihm einen Blick zu, der selbst den zu allem entschlossenen Cowper einschüchterte. »Sie und Fosdick bleiben hier. Sie machen hier Ihren Kram weiter . . . und halten den Mund über den Kondensator und den Doktor zu jedermann. Das will ich mir ausgebeten haben. Kommen Sie jetzt!«

Sie gingen in den Maschinenraum zurück. Headstone besah sich noch einmal den Draht. Er war reichlich lang. Man könnte wohl ein Stück davon abschneiden und mit dem Rest immer noch die Verbindung zum Transformator wiederherstellen.

Auf seine Anordnung setzten die beiden Ingenieure die Station still und machten sich daran, ein Stück von dem Draht abzutrennen. Der Versuch war vergeblich; Meißel zersplitterten, Zangen zerbrachen, sie hätten es ebensogut unternehmen können, harten Stahl mit einem Hornmesser zu schneiden. Entmutigt standen sie zwischen den Trümmern der verdorbenen Werkzeuge.

Wie spielend ließ Cowper eine abgebrochene Zangenbacke von einer Hand in die andere gleiten, fuhr mit den Fingern über die Schneide, während seine Lippen Worte formten:

»Naturharter Edelstahl . . . zerdrückt wie Blei . . . unausdenkbar . . .«

»Philosophieren Sie nicht! Handeln Sie, Cowper!« herrschte Headstone ihn ärgerlich an.

Cowper ließ das Stück fallen. »Was wünschen Sie, daß wir tun sollen, Mister Headstone?«

Headstone knirschte vor Wut mit den Zähnen. »Bringen Sie Schweißbrenner her! Wir werden das Stück abschmelzen.«

Fosdick und Cowper führten den Befehl Headstones aus. Die heißen Flammen der Knallgasbrenner zischten auf und richteten sich gegen jene Stelle des Drahtes, von welcher der beste Stahl eben wirkungslos abgeglitten war. Rot glühte es, gelb und hellweiß danach. Auf blauweiße Hitze kam die Stelle. Längst wäre jedes andere Metall in solcher Höllenglut zerschmolzen. Der wunderbare Schwerstoff Dr. Franks hielt stand, bis plötzlich die Wärmebewegung der Moleküle zu gewaltig wurde. Der Draht blähte sich an der erhitzten Stelle auf, gewann in Bruchteilen einer Sekunde an Stärke, brannte im nächsten Augenblick mit heller Flamme.

»Weg mit den Brennern!« schrie Headstone.

Fosdick und Cowper sprangen zurück, schlossen die Brennerhähne, starrten auf das Schauspiel, das sich ihren entsetzten Blicken bot.

Die Glut fraß weiter an dem Draht. Funken sprühend, blendendes Licht verbreitend floß geschmolzenes Metall auf den Boden. Wie der Brand einer entzündeten Lunte lief das Feuer weiter. Eben noch ein feiner schwarz schimmernder Draht, im nächsten Augenblick eine weißglühende Riesenschlange . . . und dann schmelzendes, brennendes Metall und wabernde Lohe, so kroch es auf den Kondensator zu.

Bis an die Wand des Saales mußten die beiden Ingenieure und Headstone zurückweichen, um sich vor der strahlenden Hitze zu schützen. Wurden auch hier bedroht, rannten zur Tür, rissen sie auf, sahen, wie das fressende Feuer den Kondensator Dr. Franks erreichte. Würde es hier zum Stillstand kommen? Für einen Augenblick schien es fast so . . . doch nur für einen Augenblick. Das Feuer schien zu verlöschen. Sie konnten nicht sehen, daß es sich in das Innere des Kondensators weiterfraß. Sie sahen nur, wie ein leichtes Zittern durch den schwarzen Kasten ging. Ein leichtes Beben schien es zuerst, ein Zittern dann – und dann –

Sie glaubten, daß ein böser Spuk am hellen Tage sie äffe. Der Kasten begann zu wachsen. In die Höhe und Breite quoll er auseinander . . . Wuchs und dehnte sich . . . eben noch ein Kasten, jetzt schon ein massiger Würfel . . . unaufhaltsam quoll es weiter, erreichte die Höhe des Transformators, stieß auch in die Breite wachsend gegen ihn vor . . . glühte plötzlich hell auf, floß schmelzend auseinander, endlose Flammenbäche in den Raum versendend.

Headstone fühlte es kaum, wie seine Ingenieure ihn in das Freie hinausrissen. Fühlte nicht, daß seine Kleidung von der strahlenden Glut versengt war, hier und da zu glimmen begann.

Mit geschlossenen Augen stand er da. Wild jagten seine Gedanken und kreisten um eine andere Szene. Ein winziges Blättchen nur war es damals, das in der Hitze der Blaubrenner in feurigem Brand zerging. Tausendmal größer war hier die Masse des rätselhaften Schwerstoffes, den er durch seinen unbesonnenen Versuch der Fesseln entledigt hatte. Tausendmal größer auch waren Glut und Verheerung, die notwendig erfolgten.

Er hätte es wissen müssen . . . er selbst hatte das Unheil verschuldet.

Benommen schlug er die Augen wieder auf – sah die Fensterscheiben des Stationshauses klirrend zerspringen, sah grellen Feuerschein dahinter.

Vom Fundament bis zum Giebel war das Stationshaus aus Eisenbeton erbaut. Es konnte nicht brennen, es hielt den Gluten stand; aber zu Asche verging alles Brennbare, das sich in ihm befand. Verkohlte Brandreste, zerschmolzene Meßinstrumente, ein zerstörter Transformator – das war alles, was in dem Gebäude übrigblieb. Auch die zweite amerikanische AE-Station war ein Opfer entfesselter Naturgewalten geworden . . . weil ein Vorwitziger sich an einen Stoff gewagt hatte, den er nicht zu meistern vermochte.

James Headstone hatte sich auf einen Baumstumpf niedergelassen. In sich zusammengesunken, die Hände vor den Augen, saß er da wie ein Träumender. Eine Stimme riß ihn in die Gegenwart zurück, eine Stimme, die Cowper gehörte.

»Was sollen wir jetzt tun, Mister Headstone?« fragte der Ingenieur. Er mußte die Frage ein zweites und drittes Mal wiederholen, bis Headstone ihn verstand.

»Sie haben Urlaub, Cowper. Sie und Fosdick auch . . .«

Wird wohl ein Urlaub für immer sein, dachte Cowper.

»Gehen Sie vorläufig nach Blanctown«, sprach Headstone weiter. »Warten Sie dort, bis die neuen Maschinen kommen.«

Mit eigenartig steifen, fast marionettenhaften Bewegungen ging Headstone zum Kraftwagen.

»Flugplatz Blanctown«, rief er dem Fahrer zu.

Kaum war das Auto entschwunden, als Cowper einen Freudensprung riskierte. »Unbegrenzten Urlaub!« schrie er Fosdick zu und schlug ihm auf die Schulter.

»Vollbezahlten Urlaub, Cowper«, sagte Fosdick.

»Gott sei Dank, daß der Boß selber die Station ruiniert hat! Herr des Himmels – wenn wir das gewesen wären, Fosdick?! Entsetzlicher Gedanke! Ich glaube, der Alte hätte uns mit Haut und Haaren gefressen.«

»Ich möchte wissen, wie sich Direktor Brooker dazu stellen wird?« sagte Fosdick nachdenklich. »Ob er die Gelder für einen dritten Versuch zur Verfügung stellt?«

»Er wird, er muß!« rief Cowper zuversichtlich. »Ein Glück, daß unser Wagen nicht mit verbrannt ist. Jetzt geht's in den Urlaub nach Blanctown, Fosdick!«

*

»Wohin, Sir?« fragte der Pilot in Blanctown.

James Headstone zögerte mit der Antwort. »Nach New York«, wollte er sagen, sprach aber die Worte nicht aus. Jetzt nach New York gehen? Brooker und den anderen an der AE-Station Beteiligten die neue Hiobspost bringen? Er scheute davor zurück. Es würde eine böse Auseinandersetzung werden. Er würde schwere Vorwürfe einstecken müssen wie schon einmal nach der Katastrophe in Detroit. Brooker würde sicherlich wieder von groben Versehen sprechen, die nicht vorkommen dürften.

Im Geiste sah er die Szene schon vor sich. Ein Tribunal von zähen Geldleuten, deren Gott der Dollar war. Er selbst, Headstone, als Angeklagter gezwungen, Leuten Rede und Antwort zu stehen, die er durchschaute und innerlich verachtete . . . Den bitteren Gang aufschieben, wenigstens eine Galgenfrist gewinnen . . .

»Wohin, Sir?« fragte der Pilot zum zweiten Male.

»Nach Buffalo«, kam Headstones Antwort. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß seinen Ingenieuren dort vielleicht etwas gelungen sein könnte, geeignet, seine Stellung gegenüber den Geldgebern zu stärken. Konnte er in New York Halteseile auf den Tisch legen, die den deutschen gleichkamen, war schon viel gewonnen. Hatten seine Leute in Buffalo auch mit dem Stoff für die kalte Kathode Erfolge, dann konnte er der unvermeidlichen Aussprache in New York einigermaßen getrost entgegensehen.

Gewaltsam bot Headstone den flüchtig dahineilenden Gedanken Einhalt. Positive Tatsachen brauchte er, und in Buffalo würde er sie, so Gott wollte, finden. –

Kurs Südost zu Ost nahm das Flugzeug James Headstones seinen Weg über die blauen Fluten des Huronensees, während zur gleichen Zeit ein anderes die nördlichen Ausläufer der Rocky Mountains überquerte.

Es war eine der Lastmaschinen, deren sich die United Electric für den Schnelltransport schwerer Stücke zu ihren Werken in New York, Detroit und Buffalo zu bedienen pflegte. Äußerlich glich sie dem Typus der schwersten Bomber, obwohl sie für durchaus friedliche Zwecke erbaut war. Zwischen den Schwingen enthielt ihr gewaltiger Rumpf den Frachtraum, im hinteren Ende war ein kleines Abteil für Begleitmannschaften vorgesehen. Nur zwei Fluggäste befanden sich darin: Direktor Brooker und Dr. Frank.

»Ich hätte gewünscht, daß Mister Headstone bei unseren weiteren Besprechungen zugegen wäre«, sagte Brooker. »Leider ist die telephonische Verbindung mit unserer Station in Michigan gestört. Ich habe vergeblich versucht, ihn zu erreichen.«

»Wir werden gegen elf Uhr in Buffalo sein, Herr Direktor. Unsere Vorbereitungen dürften etwa eine Stunde in Anspruch nehmen. Vielleicht versuchen Sie es dort noch einmal.«

»Diese Störung beunruhigt mich.« Brooker sagte die Worte mehr zu sich als zu seinem Begleiter.

Dr. Frank lachte. »Ich gratuliere Ihnen, Herr Direktor, wenn Sie keine andern Sorgen haben. Eine Leitungsstörung im Fernsprechverkehr – das passiert jeden Tag hundertmal.«

»Schon recht, Herr Doktor. Aber –«, gegen seine sonstige Gewohnheit sprach Brooker dem Deutschen gegenüber seine Gedanken aus, als könne er sich dadurch von einem Druck befreien, der auf ihm lastete, »so war es auch damals in Detroit. Wir konnten keine Verbindung mit Mister Headstone bekommen, weil der Apparat unter den Trümmern der Hochspannungsabteilung lag.«

»Und jetzt fürchten Sie etwas Ähnliches, Mister Brooker? Ich glaube, Sie sind nervös.«

»Man kann es mit Headstone werden«, seufzte Brooker vor sich hin. »Ich habe jedesmal Angst, wenn er auf technische Expeditionen auszieht.«

Die Mienen des Doktors wurden ernst, während er antwortete. »Ihre Befürchtungen sind in der Tat berechtigt. Ich habe Ihnen die Gründe dafür in New York auseinandergesetzt, Mister Brooker. Es liegt in Ihrem eigenen Interesse –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Doktor«, fiel ihm Brooker ins Wort. »Die United soll das, was Ihr Konzern bereits entwickelt hat, zu einem christlichen Preis erwerben und alle waghalsigen Experimente unterlassen.«

Dr. Frank schüttelte den Kopf. »Sie haben mich zur Hälfte richtig verstanden, Herr Direktor. Sie sollen übernehmen, was schon vorhanden ist; aber selbstverständlich muß weiter gearbeitet und weiter gewagt werden. Ich tadle Mister Headstone nicht, weil er etwas riskiert, sondern weil er es unnötig riskiert. Unnötig und zwecklos, Mister Brooker. Denn selbst, wenn ihm in Wochen gelänge, wofür wir Jahre gebrauchten, würden ihm unsere älteren Rechte bei der Verwertung im Wege stehen.«

»Es wird schwerhalten, Mister Headstone das beizubringen«, erwiderte Brooker. »Er läßt sich in seinem Tatendrang nicht zügeln und setzt dabei Kopf und Kragen aufs Spiel. Was soll ich mit dem Mann machen?«

»Gar nichts, Herr Direktor. Der Mann ist gut so, wie er ist. Die Zeit steht nicht still. Wir brauchen unternehmungslustige und waghalsige Pioniere, um unsere Sache weiterzutreiben. Mister Headstone wird noch ein reiches Feld für seinen Betätigungsdrang finden, aber er soll auf der Basis weiterbauen, die wir ihm bieten.«

»Schwer – sehr schwer, Herr Doktor«, seufzte Brooker. »Ich fürchte, er wird Widerstand leisten. Wir werden noch mehr Fehlschläge und Katastrophen erleben, bevor er sich bequemt, Ihre Vorschläge anzunehmen.«

Dr. Frank blickte starr vor sich hin. Seine Augen waren ins Weite gerichtet, als könne er in der Ferne etwas erschauen.

»Fehlschläge und Katastrophen werden nicht ausbleiben«, sagte er langsam, jedes Wort einzeln betonend, »wenn Mister Headstone so weiterarbeitet wie bisher.« –

Der Pilot Headstones hatte den Flugplatz von Buffalo vor sich, doch zur Verwunderung Headstones ging er nicht nach unten, sondern umkreiste den Platz in weitem Bogen.

»Warum landen Sie nicht?« fragte Headstone. Der Pilot deutete nach Steuerbord. James Headstone blickte in die Richtung und sah ein mächtiges Flugzeug eben im Gleitflug nach unten gehen.

»Wir müssen erst den andern landen lassen!« schrie der Pilot, um sich durch den Motorenlärm hindurch verständlich zu machen. Headstone hörte es kaum. Seine Blicke hingen an dem andern Flugzeug.

Eine Frachtmaschine von uns? Was hat sie in Buffalo zu suchen? ging es ihm durch den Kopf.

Jetzt ging auch seine Maschine zum Gleitflug über und setzte kaum fünfzig Meter von der andern entfernt auf den Rasen.

»Um sechs Uhr abends wieder hier!« rief er dem Piloten zu, stieg aus und ging auf die andere Maschine zu. Er war schon dicht herangekommen, als auch dort die Tür geöffnet wurde. Jäh verhielt er den Schritt. Brooker erschien im Türrahmen, Direktor Brooker, den er in New York vermutete, dessen Gegenwart ihm hier mehr als unwillkommen war.

Anders stand es mit Brooker. Er hatte Headstone kaum erblickt, als er ihm lebhaft zuwinkte.

»Großartig, Headstone, daß Sie hier sind! Ich habe vergeblich versucht, Sie in der Station anzurufen. Ihre Leitung war gestört?«

»Ja, Brooker. Unsere Leitung war in Unordnung«, sagte Headstone, um überhaupt etwas zu sagen. Er verwünschte den Zufall, der ihn hier Brooker in die Arme laufen ließ.

»Darf ich bekannt machen?« fuhr Brooker fort. »Herr Doktor Frank vom Bergmann-Konzern – Mister Headstone . . . Dem Namen nach kennen die Herren sich wohl.«

Headstone schüttelte dem Doktor die Hand, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf wirbelten, um schließlich an einer Stelle hängenzubleiben: Was hat der Deutsche mit Brooker zu verhandeln? Was will er in Buffalo?

Wie eine Antwort auf die unausgesprochene Frage kamen die Worte Brookers: »Wir wollen hier ein wichtiges Experiment machen, Headstone. Gut, daß Sie dabeisein können.«

»Experiment?! – Was haben Sie vor?« fragte Headstone mißtrauisch.

»Dreißig Millionen Volt wollen wir machen, Headstone!«

»Dreißig Millionen Volt, Brooker?! So weit sind wir noch nicht! Haben Sie nicht genug an dem Malheur in Detroit?«

»Herr Doktor Frank hat die Apparate dazu mitgebracht.« Brooker deutete auf das Lastflugzeug. »Diesmal wird es ohne Malheur gehen, mein lieber Headstone.«

Während Headstone noch nach einer Erwiderung suchte, fuhr bereits ein Kranwagen der United an das Flugzeug heran, dem ein schweres Lastauto folgte. Alles, was Brooker von New York aus telephonisch angefordert hatte, war prompt zur Stelle. Headstone sah den Kran arbeiten, sah einen schwärzlich funkelnden Kasten aus dem Rumpf der Lastmaschine emporsteigen, nicht unähnlich jenem, der gestern noch in der Station in Michigan stand und arbeitete, bis eine unüberlegte Handlung ihn in einen Vulkan verwandelte. Seine Augen gingen hin und her, von dem Kasten zu dem Doktor. Seine Blicke fingen sich mit denen Dr. Franks.

»Sie kommen von Ihrer AE-Station, Mister Headstone?« fragte der Deutsche.

James Headstone vermochte nur zu nicken.

»Die Anlage arbeitet jetzt gut?« fragte Dr. Frank weiter.

Wieder ein Nicken Headstones. Dr. Frank stutzte. Das Benehmen Headstones war ihm unerklärlich. Irgendeine Äußerung hatte er erwartet. Sogar auf einen Zornausbruch wegen seines Eingreifens in der Station war er gefaßt. Doch nichts von alledem geschah. Er konnte keine Erklärung dafür finden. Headstone mußte wissen, daß er ihm den Kondensator in die Station gestellt hatte. Warum ging er mit keinem Wort darauf ein?

Die Gegenwart Brookers hindert ihn wahrscheinlich, darüber zu sprechen. Also schweigen wir vorläufig beide über die Sache. Mit diesem Entschluß folgte Dr. Frank Headstone und Brooker zum Wagen.

Eine Stunde würde es dauern, bis alles nach den Plänen des Doktors, die Brooker einem Oberingenieur im Werk übergab, aufgebaut war. Sie benutzten die Zeit, um einen Lunch zu nehmen. Das Mahl verlief so schweigsam, als ob alle drei einem Trappistenorden angehörten. Brooker brütete darüber, wie er Headstone endlich breitschlagen könnte. Headstones Gedanken waren bei den verkohlten Trümmern der Station. Nur ein knappes Ja oder Nein hatte er als Antwort auf die Fragen Dr. Franks, bis der es schließlich auch vorzog, zu schweigen. Erst als der Nachtisch abgetragen war, kam ein Gespräch in Gang.

»Wir wollen also dreißig Millionen Volt machen, mein lieber Headstone«, sagte Brooker.

»Wir haben nur zehn Millionen im Werk. Höher dürfen wir nicht gehen«, widersprach Headstone.

»Mit meiner Kondensatorenbatterie doch, Mister Headstone«, mischte sich Dr. Frank ein. »Wir nehmen Ihre zehn Millionen Volt in Parallelschaltung ab, gehen auf Serie und haben, was wir wollen.«

Headstone sah ihn abweisend an: »Es muß einen Blitz von Kilometerlänge geben, Herr Doktor. Wie wollen Sie die Riesenspannung meistern?«

»Meine Kondensatoren meistern sie, Mister Headstone.« Kurz und knapp kam die Antwort von den Lippen des Doktors.

James Headstone machte andere Einwände. Er sprach von schädlichen Rückwirkungen, die der Apparat des Doktors auf die Anlage der United haben könnte, und wurde durch die kühl abweisenden Erwiderungen Dr. Franks immer mehr in Harnisch gebracht.

»Ich lehne jede Verantwortung ab!« wehrte er sich schließlich. »Es geht auf Ihre Kappe, Brooker, wenn wir einen Niederbruch erleben!«

Etwas von der unerschütterlichen Ruhe des Doktors schien auf Brooker übergegangen zu sein.

»Es hat keinen Zweck, hier länger zu debattieren«, sagte er. »Ich übernehme die Verantwortung, Headstone. Lassen Sie uns in das Werk gehen.« –

»Der Kasten steht noch draußen?« wunderte sich Headstone, als sie vor dem Bau der Hochspannungsabteilung standen.

Ein spöttischer Zug spielte um die Lippen des Doktors. »Ich habe Ihnen einen Blitz aus Europa mitgebracht, Mister Headstone.«

»Wie? Was?«

»Jawohl, einen Blitz von neunzig Millionen Volt, damit Sie sehen, was meine Kondensatoren in Wirklichkeit aushalten können!«

»Ist das wahr, Herr Doktor? Haben Sie Ihren Apparat geladen mit herübergebracht?« mischte sich Brooker ein. Headstone versuchte einen neuen Widerspruch.

»Das ist ja undenkbar, Herr Doktor. Sie haben Europa vor zwei Wochen verlassen. Die Ladung müßte sich längst zerstreut haben.«

Dr. Frank schüttelte den Kopf.

»Sie irren sich, Mister Headstone! Meine Kondensatoren halten die Elektrizität, die sie einmal geschluckt haben, eisern fest. Mein Schwerstoff läßt nicht ein einziges Elektron entweichen . . .«

Headstone warf einen mißtrauischen Blick auf den so eigenartig schimmernden und blinkenden Kasten, als hätte er eine Kiste voll Dynamit vor sich. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück.

»Keine Angst, Mister Headstone!« sagte Dr. Frank ermutigend. »Die dreißig Millionen Volt sind sicher in der Kiste verpackt.«

»Sie sprachen von neunzig Millionen?« warf Brooker ein.

»Wenn wir auf Serie schalten, Mister Brooker. Vorläufig ist jeder der drei in der Apparatur vorhandenen Kondensatoren auf dreißig geladen. Wir wollen erst einmal die Anschlüsse machen.« –

Etwa einen halben Kilometer voneinander entfernt standen vor dem Hochspannungswerk zwei hölzerne Gittermaste, die früher einmal zu Funkzwecken gedient hatten. Mehr als hundert Meter ragten sie in die Höhe. Jetzt trug jeder von ihnen auf der Spitze eine blanke Metallkugel. Von jeder Kugel ging ein feiner Draht nach unten und lief auf dem Boden weiter. Neben dem Kondensator lagen die beiden Drahtenden.

Dr. Frank griff eins davon, beugte sich damit über seinen Zauberkasten, suchte und fand eine bestimmte Stelle, drückte das Drahtende dagegen. Es drang ein und steckte fest. Im nächsten Augenblick hatte er auch das andere Ende angeschlossen.

»Dreißig Millionen Volt Spannung sind jetzt zwischen den beiden Kugeln«, sagte Dr. Frank mit einer Handbewegung zu den Masten hin. »Jetzt – neunzig!«

Er drückte auf einen Schaltpunkt: Jäh und fahl zuckte es durch die Luft. Noch bevor sie die Augen vor dem blendenden Licht zu schließen vermochten, krachte ein Donner, der Brooker und Headstone durcheinandertaumeln ließ und für Minuten taub machte.

James Headstone saß auf einem Stapel Schrott, auf den er hingesunken war, und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. Dr. Frank stand neben ihm und lachte.

»Was, Mister Headstone? Der Schlag gab Öl!«

»Neunzig Millionen Volt?!« stammelte Brooker, noch blaß von dem Erlebnis. Er versuchte sich zu sammeln. »Können Sie das noch einmal machen?« fragte er verwirrt.

»Leider nicht möglich, Herr Direktor. Sie haben nur zehn Millionen Volt in Ihrem Werk. Drei mal zehn gibt, nach Adam Riese, dreißig. Mit dreißig Millionen kann ich's Ihnen wiederholen, wenn wir den Kondensator von Ihrer Anlage aus neu laden.«

»Schließen wir an!« sagte Brooker.

»Dreißig Millionen Volt springen zwischen den beiden Kugeln nicht über«, wandte Dr. Frank ein. »Sie haben es ja vorher gesehen. Wir müssen die Funkenstrecke verkürzen, den einen Draht abschneiden und näher heranziehen.«

Den Draht abschneiden . . . Das Wort klang Headstone in den Ohren. Das ganze Elend mit der AE-Station, das er über das Neue, Wunderbare, das er hier sah, für kurze Zeit vergessen hatte, kam ihm wieder in die Erinnerung. Wie wollte der Doktor diesen verteufelten Draht abschneiden, der jedem Stahl trotzte und in der Hitze des Knallgasbrenners zu einem unlöschbaren Brandherd wurde? Er sprang auf und folgte dem Deutschen. Etwa hundert Meter ging der an dem Draht entlang, blieb stehen und griff in die Tasche. Eine kleine Zange lag in seiner Hand, als er sie wieder herauszog. Eine gewöhnliche Stahlzange schien es zu sein. Er beugte sich nieder, hob den Draht etwas empor, setzte die Zange an. Ein Druck von seiner Hand . . . die Augen Headstones wurden größer . . . glatt schnitt die Zange durch.

»Was ist das? Wie haben Sie das gemacht, Herr Doktor? Womit haben Sie geschnitten?« Die Fragen überstürzten sich aus Headstones Mund.

»Diamanten muß man mit Diamanten schneiden, Mister Headstone.«

Dr. Frank reichte ihm die Zange hin. Headstone griff begierig danach. Sie war schwer, viel schwerer als eine stählerne Zange gleicher Größe, obwohl sie doch auch nur – Headstone konnte sich davon überzeugen – aus Stahl bestand. Nur an den Schneideflächen funkelte ein winziger dunkler Streifen. James Headstone ahnte, daß es der geheimnisvolle Schwerstoff sein mußte, der hier, noch irgendwie weiter verdichtet oder gehärtet, dem Werkzeug die übernatürliche Schnittkraft verlieh.

Dr. Frank nahm das Drahtende auf und zog es hinter sich her. »Helfen Sie mir, Mister Headstone!« bat er. »Der Draht ist schwer.«

Gemeinsam schleiften sie ihn hinter sich her, bis zum Kondensator und noch weitere hundert Meter näher an den andern Mast heran.

»Jetzt können wir anschließen.« Dr. Frank sagte es und ging, von Brooker und Headstone gefolgt, in die Werkhalle. Andere Drähte, mit dem Schwerstoff isoliert, lagen dort bereit. Die Anschlüsse wurden gemacht, die Zehnmillionenanlage der United wurde auf Spannung gebracht.

Headstone warf einen verwunderten Blick auf den Stromzeiger. Dr. Frank nickte ihm zu.

»Mein Kondensator schluckt ganz brav. Fünfzig Coulomb nimmt er bei der Spannung auf . . . So, jetzt ist er voll geladen. Wir können die Verbindungen lösen.«

»Fünfzig Coulomb, Herr Doktor?« Zweifel und Staunen sprachen aus den Worten Headstones.

»Nicht sehr viel, Mister Headstone; man muß zufrieden sein. Mit Ihren zehn Millionen läßt sich nicht mehr 'reinbringen. Immerhin, es langt. Mit ein paar Milliarden Tonnen wird der Schwerstoff auch bei dieser Ladung mechanisch beansprucht.«

Headstone schwieg. Die Worte des Doktors gaben ihm zu denken. Wie unendlich fein mußten die isolierenden Schichten in diesem Zauberkasten sein? Wie dicht mußten die entgegengesetzten Elektrizitäten darin beieinander liegen? Wie mächtig mußten sie sich gegenseitig anziehen, um solche Riesenkräfte auszuüben? Wie unendlich widerstandsfähig mußte der Schwerstoff sein, um neben der elektrischen Beanspruchung auch noch solche Drücke auszuhalten?

Wie ein Träumender folgte er Brooker und dem Doktor wieder ins Freie.

»Achtung!« rief Dr. Frank und machte eine Bewegung nach dem Kasten. Ein Blitz zuckte von dem einen Mast und schlug an der Stelle in die Erde, wo das freie Drahtende lag. Die Erde schien unter dem Schlag zu erbeben, grollend rollte der Donner nach.

Auch jetzt brauchte es Zeit, bis wieder Beruhigung eintrat, bis die Männer mit klaren Sinnen sprechen und denken konnten.

»Ein guter Schlag, aber dreimal schwächer als der erste«, sagte Dr. Frank. »Wollen wir das Experiment wiederholen?«

Brooker winkte ab. »Genug, Herr Doktor. Wir haben gesehen, was Sie können. Jetzt wollen wir uns an den Verhandlungstisch setzen.«

*

 


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