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Herr Pedro Gallardo hatte für seine geschäftlichen Verhandlungen mit Direktor Düsterloh einen schlechten Tag erwischt. Er war Einkäufer für südamerikanische Großhandelshäuser in chemischen Produkten und pflegte halbjährlich in Europa seine Abschlüsse zu tätigen. Düsterloh hatte, als Verkaufsdirektor, schon seit Jahren mit ihm zu tun.
Wie immer, ging auch heute der Handel nicht ohne zähes Feilschen von seiten Gallardos ab. Doch noch nie hatte er Düsterloh so hartnäckig und unfreundlich gefunden. Mit einer verzweifelten Gebärde reckte er die Arme beschwörend zur Zimmerdecke. »Santa madre – solche Preise? Unmöglich, Herr Direktor! Ich darf sie Ihnen nicht bewilligen. Muß erst noch mal telegraphisch mit meinen Auftraggebern Rücksprache nehmen.«
Düsterloh zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Ich sagte Ihnen aber schon, daß ich morgen früh nach Leipzig fahre – zu Besprechungen mit unseren Großabnehmern.«
»Hm – wenn ich die Depesche sofort wegschicke, könnt' ich bis morgen abend Antwort haben. Wie wär's, Herr Direktor, wenn Sie mir den morgigen Abend in Leipzig opfern? Dort könnten wir vielleicht unser Geschäft ins reine bringen.«
»Meinetwegen! Also auf Wiedersehn!« –
Am nächsten Abend dann saßen sie im Hotel in Leipzig zusammen. Gallardo, den Kopf rot vor Eifer und vielem Reden, gestikulierte und beschwor mit Mund und Händen den Direktor, wenigstens noch ein Prozent nachzulassen; sonst verdiene er ja gar nichts an dem Geschäft.
Düsterloh, den der gute Wein in bessere Laune versetzt hatte, mußte immer wieder bei dem komischen Anblick lachen, den der lebhafte Südländer bot.
»Auf den Schreck erst mal 'nen Schluck!« Gallardo griff nach der Flasche. »Cospetto – die ist leer!« Er klopfte mit dem Ringfinger ans Glas.
Als er den Arm zurückzog, folgten Düsterlohs Augen unwillkürlich seiner Hand. »Ah, Herr Gallardo – der Ring da in Ihrem Finger . . . Auch ins Ehejoch gespannt?«
»Ich?« Gallardo streckte in komischem Entsetzen die Hände weit sich. »Wie kommen Sie darauf?«
»Nun – ist das etwa kein Ehering?«
»Das hier?« Gallardo betrachtete lachend den goldenen Reif an seiner Rechten. »Nein, Herr Direktor. Nur mein Europaring. Ring für Ehe auf Zeit. Man vermeidet dann Schwierigkeiten auf der Reise, in Hotels, mit solch kleinem Talisman. Kennen Sie diese glückliche Einrichtung nicht?«
Düsterloh lachte laut heraus. »Wer ist denn die Gattin auf Zeit? Wo haben Sie sie aufgegabelt?«
»Eine Französin, Herr Direktor. Ich habe mit den Schönen dieses Landes die besten Erfahrungen gemacht. Früher, als ich noch jünger war, glaubte ich, schon der Abwechslung halber, es mit anderen Ländern – wollte sagen: Damen – versuchen zu müssen. Einmal auch mit 'ner Engländerin. Langweilig! Entsetzlich langweilig! Hauptsache Essen. Ich bin gewohnt, meine Damen auszuführen. Theater, Konzerte – für nichts hatte sie Sinn; dachte nur an das Souper nach dem Theater. Ein andermal hatte ich eine Spanierin. Was mir da passierte! Sie werden's kaum glauben. Die Dame war eifersüchtig! Stellen Sie sich das vor. Ich . . . der Mann mit der Brieftasche . . . durfte kein schönes Gesicht ansehen, ohne eine Szene von ihr zu riskieren. Na, dachte ich, versuchen wir's mal mit einer Deutschen! War auch nicht das Richtige, war zu hausbacken.«
»Fehlt noch die Italienerin«, sagte Düsterloh, der sich höchlich amüsierte.
Gallardo machte eine abwehrende Handbewegung. »Zu impulsiv, zu anspruchsvoll für mich! Nein – nichts geht mir über eine Französin. Und nun gar die jetzige! Stets liebenswürdig, gewandt, schick, nicht unbescheiden – mit einem Wort: prima, prima!«
»Aber Sie kamen doch über Genua direkt hierher, Herr Gallardo?« meinte Düsterloh, der in immer bessere Laune geriet.
»Ich hatte eben Glück – machte da im Bad eine reizende Bekanntschaft: Fräulein Adrienne L'Estoile. Entzückendes Weib, sag' ich Ihnen! Schade, daß mein Europaaufenthalt diesmal so kurz ist! Ich hab' noch ein paar Geschäfte in Hamburg – fahre dann sofort nach New York. In fünf Tagen geht mein Dampfer, und das Vergnügen hat ein Ende. Meine Freundin reist über die Schweiz nach Frankreich zurück.«
»Und wo steckt Ihre bella principessa augenblicklich?« unterbrach Düsterloh. Er war überzeugt, daß Gallardo als gewiefter Lebemann bei der Schilderung seiner Schönen nicht allzusehr übertrieben hatte. Sein leichtentzündliches Herz gierte danach, die so Gerühmte von Auge zu Auge kennenzulernen.
»Oh – sie ist oben in ihrem Zimmer und wartet«, beantwortete Gallardo seine Frage.
Wie beiläufig sagte Düsterloh: »Schade, daß Sie Ihre Freundin nicht zu unserm Essen mitgebracht haben! In Damengesellschaft schmeckt es immer besser. Sie wird außerdem auch Appetit haben.«
»Pardon, Herr Düsterloh. Erst das Geschäft – dann das Vergnügen!« Nach kurzem Besinnen fuhr Gallardo fort: »Wenn's Ihnen recht ist, ruf' ich sie herunter.«
»Ich bitte darum, Herr Gallardo.« Und zu dem Kellner, der die Teller auf den Tisch brachte: »Noch ein drittes Gedeck, Herr Ober!«
»Außerordentlich dankbar, Herr Direktor!« versicherte Gallardo mit strahlendem Lächeln. »Ich werde Fräulein L'Estoile gleich benachrichtigen.« Als er vom Telephon zurückkam, sagte er wie entschuldigend: »Fräulein Adrienne bittet um etwas Geduld. Nachdem sie hörte, daß hier ein Frauenkenner von Rang sie erwartet, behauptet sie, sich unbedingt erst schön machen zu müssen.« – –
Und dann erschien sie. Schon bei der höchst zeremoniellen Begrüßung durch Gallardo nahm Düsterloh die Gelegenheit wahr, sie kritisch zu mustern. Wußte sofort, daß Gallardo nicht übertrieben hatte. »Bella principessa« konnte man füglich sagen. Es war nicht allein die Schönheit ihres regelmäßig geschnittenen Gesichtes, ihr tadelloser Wuchs, ihre elegante Toilette – nein, das allein hätte einem Mann wie Düsterloh nicht genügen können. Auch alle die anderen Vorzüge einer idealen Freundin hatte sie. Und von ihren frischen Lippen perlte lustig-geistreiches Geplauder, besonders drollig durch den starken französischen Akzent, mit dem sie die deutsche Sprache handhabte. Ein reizvoller Charme ging von allem aus, was sie tat und sagte.
Düsterloh war entzückt. Er dachte nicht mehr an die geschäftlichen Verhandlungen, widmete sich ganz seiner schönen Nachbarin, die augenscheinlich seinen Huldigungen gegenüber nicht unempfindlich blieb. Als er nach dem Mahl sein Glas mit dem ihren zusammenklingen ließ, fing er einen Blick von ihr auf, der seine Wirkung nicht verfehlte.
Während der Kellner dann abräumte, verschwand Adrienne für kurze Zeit. Kaum war sie außer Sicht, wandte sich Düsterloh ohne Umschweife an Gallardo. Nach ein paar einleitenden Worten über die Vorzüge Adriennes, die in ihrem Überschwang selbst dem Mann aus heißen Zonen ein Lächeln entlockten, ging er direkt auf sein Ziel los. »Entschuldigen Sie, wenn ich ein bißchen mit der Tür ins Haus falle! Sie deuteten vorhin an, in fünf Tagen verließe Ihr Dampfer Hamburg, und Fräulein Adrienne führe allein über die Schweiz zurück. Sie gestatten wohl, daß ich mich ihrer da etwas annehme?«
»Sehr liebenswürdig, Herr Direktor! Ich bin überzeugt, es wird ihr ein Vergnügen sein, wenn Sie . . .« Er trank Düsterloh schmunzelnd zu.
»Eh – in fünf Tagen erst geht Ihr Dampfer, sagten Sie? Offen gestanden – Sie nehmen es mir doch nicht übel? – fünf Stunden wären mir lieber!«
»Fünf Stunden?« Gallardo lachte heiter. »Da sind wir ja nicht mal mit unserem Vertragsabschluß fertig!«
»Na, mein Freund«, meinte Düsterloh behäbig, »das dürfte doch etwas sehr reichlich sein. Wie war eigentlich unsere Differenz?«
Gallardo überfiel ihn mit einem Wortschwall. Die wirkliche Differenz von einer Mark pro Tonne wurde im Nu zu zwei Mark. Düsterloh überlegte einen Augenblick, sagte dann jovial: »Nun – dann teilen wir uns die Differenz!«
Gallardos Herz hüpfte vergnügt. Im Handumdrehen hatte er aus seiner Mappe die Vertragsformulare gezogen, füllte die Lücken aus, unterschrieb, reichte auch Düsterloh die Feder zur Unterschrift. »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen, Herr Direktor. Es wäre ja auch das erstemal, daß wir nicht glücklich d'accord geworden wären.«
»Wäre noch . . .« Düsterloh winkte mit den Augen nach dem leeren Stuhl neben sich.
»Ah, Sie meinen die Position Adrienne? Eine schnelle Regelung wäre Ihnen angenehm? Selbstverständlich bin ich bereit, Ihnen auch da entgegenzukommen. Vorausgesetzt, daß die Dame ihr Einverständnis erklärt.«
»Danke sehr, Herr Gallardo! Darüber brauchen Sie sich, glaub' ich, keine Sorgen zu machen!«
Kurz nachdem Adrienne wieder hereingekommen war, verließ Düsterloh eine Zeitlang den Tisch. Als er wiederkam, tat Gallardo dasselbe. Und als der zurückkehrte, war auch die Regulierung der Position Adrienne zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt.
Düsterlohs Stimmung wurde immer ausgelassener, je weiter die Zeit vorschritt. Einem Zeitungsverkäufer, der an den Tisch kam, schob er ein Markstück hin, ohne sich herausgeben zu lassen. Dieser Verkäufer schien übrigens nicht von großem Geschäftsgeist beseelt zu sein. Mit der unverhofften Einnahme anscheinend zufrieden, blieb er, den Rest der Zeitungen unterm Arm, draußen stehen. Trat hin und wieder ein paar Schritte zur Seite, ohne den Vorübergehenden die Exemplare anzubieten.
Zwei Herren kamen jetzt an ihm vorüber, streiften ihn fast. Während der eine weiterschritt, kaufte der andere ein Zeitungsblatt. Diesmal war der Verkäufer nicht an einen so freigebigen Käufer gekommen. Er mußte ein größeres Geldstück wechseln und trat unter eine Laterne an der Bordschwelle, um sein Kleingeld zusammenzusuchen.
In diesem Augenblick drehte der zweite Herr sich um und sah das Gesicht des Zeitungsverkäufers. Unwillkürlich machte er ein paar schnelle Schritte auf den zu, wandte sich aber wieder ab und tauchte ins Dunkel. An der Seite des Herrn, der die Zeitung gekauft hatte, ging er noch bis zur nächsten Ecke. Dann verabschiedete er sich, überquerte die Straße und blieb drüben im Schatten stehen, so daß er ungesehen den Zeitungsverkäufer im Auge behalten konnte.
Der wartete noch geraume Zeit. Als eine lustige Gesellschaft, die aus drei Personen – einer Dame und zwei Herren – bestand, aus dem Hotel kam, ging er etwas beiseite und beobachtete verstohlen, wie der größere der beiden Herren mit der Dame in ein Auto stieg, während der andere in das Lokal zurückkehrte.
Jetzt schien der Zeitungsmann sein Geschäft endgültig schließen zu wollen. Er klemmte sich den Rest seiner Blätter unter den Mantel und trottete die Straße hinab. Der Herr auf der anderen Seite folgte ihm in einiger Entfernung. Am Augustusplatz schlug der Zeitungsverkäufer den Weg nach dem Bahnhof ein und stieg dort in einen Zug, der nach Osten fuhr. Auch der unbekannte Herr benutzte diesen Zug. In Rieba verließen beide die Eisenbahn.
Die Bahnhofsuhr schlug gerade vier Uhr morgens. Der Herr folgte auch hier dem Zeitungsverkäufer auf dem Weg nach den Rieba-Werken. Beide schienen Angehörige des Werks zu sein; denn auf Grund der vorgezeigten Karten fanden sie ungehindert Einlaß. Der Zeitungsverkäufer ging geradeswegs auf das Laboratoriumsgebäude zu. Ein Heer von Scheuerfrauen war beschäftigt, die Räume zu säubern. Der Mann schritt durch die weitläufigen Gänge des Gebäudes, bis zum Privatzimmer Dr. Fortuyns. Er drückte die Klinke nieder, als ob er prüfen wolle, ob die Tür ordnungsmäßig verschlossen sei. Zog dann einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete sie, trat ein.
Der andere hatte denselben Weg eingeschlagen und kam ebenso unangefochten vorwärts. Je mehr er sich der Tür Dr. Fortuyns näherte, desto vorsichtiger trat er auf. Die letzten Schritte schlich er hastig und unhörbar über den Linoleumbelag des Flurs, zog die Tür, die nicht eingeklinkt war, etwas weiter auf und schaute hinein.
Der Zeitungsverkäufer stand, ihm den Rücken kehrend, vor der Rolljalousie eines hohen Schrankes. Er prüfte ihren Verschluß, kniete dann nieder. Eine Taschenlampe flammte auf. Anscheinend machte er sich an dem Schloß über der Fußleiste zu schaffen.
Mit ein paar Schritten war der Lauscher neben dem Knienden, packte ihn an den Schultern, riß ihn in die Höhe. »Sie erbärmlicher Lump! Sie Schuft! Jetzt hab' ich Sie!«
Der Ertappte drehte sich um, hob die Faust, wie um sich zu verteidigen . . . ließ sie sinken. »Oh – Sie sind es, Herr Doktor Fortuyn?«
»Jawohl, Herr Wittebold, alias Doktor Wilhelm Hartlaub aus Ludwigshafen! Ich bin es!«
Fortuyn hatte ihm die Worte laut ins Gesicht geschrien. Wittebold fuhr sich ein paarmal über die Augen, wie um sich zu sammeln. Sagte dann leise: »Ich möchte Sie bitten, Herr Doktor, die Tür zu schließen. Es wäre ja eigentlich meine Aufgabe – als Laboratoriumsdiener; aber Sie könnten dann argwöhnen, ich wollte die Gelegenheit zur Flucht benutzen.«
Er sprach völlig ruhig und gelassen. Fortuyn meinte sogar einen Zug von Ironie und Humor um seine Mundwinkel spielen zu sehen.
Wittebold fuhr jetzt fort: »Ich halte es für besser, wenn die Tür geschlossen wird. Es empfiehlt sich nicht, daß irgend jemand draußen etwas von der Unterredung zwischen Ihnen und mir hört.«
»Was soll das alberne Gewäsch, Sie unverschämter Mensch? Eine Unterredung zwischen Ihnen und mir? Ihre Frechheit übersteigt fast noch Ihre Gemeinheit. Ich werde Sie sofort dem Sicherheitsdienst zuführen.«
»Das wäre übereilt, Herr Doktor! Vielleicht denken Sie anders, wenn Sie sich doch herablassen, dem so schwer verdächtigten Bürodiener Wittebold, alias Doktor Wilhelm Hartlaub, eine Unterredung zu gewähren.«
Fortuyn stand unschlüssig. Der auf frischer Tat Ertappte – zweifellos wollte er doch den Rollschrank erbrechen, wo viel wertvolles Material aufbewahrt wurde – zeigte nicht eine Spur von Schuldbewußtsein. Im Gegenteil: er legte eine Sicherheit an den Tag, die nach alledem, was Fortuyn am heutigen Abend gesehen und in früheren Beobachtungen festgestellt hatte, unbegreiflich war.
Mechanisch drehte Fortuyn sich um, ging zur Tür, sperrte sie ab. »Ich halte es zwar für unnötig, nach dem, was ich alles von Ihnen weiß, eine Sekunde an Sie zu verschwenden. Aber immerhin, falls Sie wirklich etwas zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen haben, so sagen Sie es!«
»Da Sie, Herr Doktor Fortuyn, wie Sie sagten, mich schon längst in Verdacht haben, werde ich zu meiner Rechtfertigung etwas eingehendere Ausführungen machen müssen. Ich möchte daher vorschlagen, wir setzen uns.«
In Fortuyns Gesicht schoß jähe Röte des Zorns. Die Dreistigkeit dieses erbärmlichen Spions ging über alle Grenzen. Ohne Notiz davon zu nehmen, daß Wittebold sich setzte, ging er mit starken Schritten in dem Raume auf und ab. »Nun fangen Sie endlich an!«
Wittebold deutete nach dem Rollschrank. »Dies das letzte Korpus delikti. Damit wollen wir anfangen!« Er kniete wieder nieder und ließ seine Taschenlampe aufleuchten. »Vielleicht bemühen Sie sich einmal hierher, Herr Doktor, und betrachten sich das Schloß! Bei genauem Hinsehen werden Sie merken, daß um das Schlüsselloch herum der Glanz des Messings matter ist und daß sich da Spuren von Wachs befinden. Auf diese Spuren hab' ich schon lange gewartet. Daß sie nicht von mir herrühren, ist wohl klar. Denn wenn ich Wachsabdrücke nehmen wollte, könnte ich das am Tage viel bequemer.« Mit seinem Taschenmesser führ er an den Rändern des Schlüssellochs entlang, zeigte dann Fortuyn die Schneide. »Es dürfte Ihnen ein leichtes sein, Herr Doktor, diese Substanz mit einigen Reagenzien als Wachs festzustellen.«
Fortuyn schaute Wittebold unsicher an. »Gut! Nehmen wir an, es wäre Wachs! Und von anderer Hand! Doch das berührt in keiner Weise das übrige, was ich von Ihnen positiv weiß.«
»Gewiß nicht, Herr Doktor Fortuyn. Aber ich sagte, wir wollten von hinten beginnen – und da glaubte ich, das wäre der nächstliegende Punkt.«
»So! Wenn Sie meinen, Verehrtester? Was kommt denn jetzt?«
»Ja – sagte Wittebold mit einigem Zögern, »ich glaube, es wäre doch besser, wenn ich, um eine logische Darstellung zu geben, chronologisch vorginge.«
»Ah!« erwiderte Fortuyn spöttisch. »Von Ihrem neuesten Beruf als Zeitungsverkäufer in Leipzig möchten Sie wohl nicht gern was sagen?«
Wittebold stutzte. Dann huschte ein Lächeln über seine Züge. »Dadurch kamen Sie mir wohl auf die Sprünge? Und ich glaubte, ich hätte mich genügend unkenntlich gemacht! Vielleicht hätt' ich doch lieber die blaue Brille, die ich im Hotel drin trug, auch draußen aufbehalten sollen. Dann würden Sie mich sicher nicht erkannt haben. Dann wäre auch gewiß alles das jetzt nicht gekommen . . . Aber vielleicht ist es besser so!«
»Ich möchte Sie bitten, Herr Wittebold, diesen Ton zu lassen. Ich habe Sie schon seit einiger Zeit in schwerstem Verdacht, Spion zu sein. Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß Sie sich von allen Verdachtsmomenten reinigen können. Etwas mehr Bescheidenheit würde Ihnen besser anstehen.«
Wittebold ging zu einem Stuhl, setzte sich. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor, wenn ich mich setze! Ich bin heut viel unterwegs gewesen und bin müde.«
War's, daß die erste Erregung bei ihm geschwunden – er machte den Eindruck eines Mannes, der, von vieler Mühe und Arbeit erschöpft, von Sorgen bedrückt, der Ruhe bedurfte, als er jetzt anfing. Fortuyn setzte sich an seinen Schreibtisch – bereit, zu hören.
Und Wittebold begann zu erzählen . . . Von seiner ersten Anstellung in Ludwigshafen, seiner Heirat, den Geldnöten, der Lockung des Dollars . . . Deutsche Chemiker, im Besitz von deutschen Fabrikationsgeheimnissen, von Amerika zu hohen Preisen gesucht – Er schilderte seine Fahrt nach New York, sein Schicksal drüben: Wie ihm sein Verrat von Headstone so schnöde gelohnt wurde, wie er sich, nach Not und Elend von langer Krankheit genesen, innerlich gewandelt, sein ganzes Hoffen und Streben nur auf das eine Ziel gerichtet habe, den Flecken auf seiner Ehre zu tilgen, den Feind auf deutschem Boden anzugreifen, Headstones dunkles Spiel hier zu durchkreuzen . . .
»Was Sie mir da vortrugen, Herr Doktor Hartlaub, klingt zwar nicht unbedingt unwahrscheinlich. Aber Sie müßten stärkere Gegengründe beibringen, wenn Sie meinen Verdacht entkräften wollen.«
»Ich habe auch keineswegs erwartet, Herr Doktor, daß meine Erzählung Ihnen vorläufig mehr ist als ein Märchen. Ich will versuchen, Ihnen die Wahrheit meiner Worte zu beweisen.«
»Bitte, Herr Witte – – Pardon: Herr Doktor Hartlaub!«
»Ich nehme an, daß Sie etwas von Briefen gehört haben, die mit einem Eichenblatt unterzeichnet waren? Dieses Signum war ein spontaner Einfall von mir – eine kleine Rechtfertigung dafür, anonym schreiben zu müssen.«
»Wie? Was? Sie kennen diese Briefe und wollen behaupten, Sie wären der Schreiber?«
»Allerdings, Herr Doktor Fortuyn. Ich kann Ihnen das auch leicht beweisen. Ich war so vorsichtig, die Briefe mit Kopien zu schreiben. Die Kopien stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
Fortuyn war einen Augenblick verdutzt. Sagte dann zögernd: »Ich kann Ihren Beweis erst als gelungen ansehen, wenn ich Ihre Kopien mit den Originalen verglichen habe. Sonst noch Beweise, Herr Hartlaub?«
»Ja . . . Herr Doktor . . .« Die Worte kamen stockend, ungewiß aus Wittebolds Munde. »Im Archiv liegt ein Exemplar eines Exposés, das Sie seinerzeit angefertigt haben, mit der Überschrift: ›Exposé, betreffend die Elektrosynthese von Kautschuken‹ . . .«
Fortuyn sprang auf. »Dies Exposé kennen Sie? Das haben Sie in der Hand gehabt? Mensch, sind Sie des Teufels?«
Wittebold schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht in der Hand gehabt. Der Zufall brachte es mit sich, daß ich's vor mir liegen sah und die Titelzeile lesen konnte . . .«
»Reden Sie weiter! Schnell! Sie wissen nicht, von welcher Bedeutung Ihre Aussage für mich sein kann.«
Wittebold druckste. »Ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen das klarmachen soll. Am besten wohl, ich erzähl es so, wie sich's zutrug. Also – es war am Dreiundzwanzigsten vorigen Monats. Vormittags um halb zwölf kam ich, wie gewöhnlich, ins Archiv. Vor mir trat Herr Direktor Düsterloh ein und sagte zu Doktor Hempel: ›Hier bringe ich Ihnen das Fortuynsche Exposé wieder!‹ Hempel stand gerade auf der Leiter. Deshalb legte Düsterloh das Dokument auf die Tischschranke und ich nachher, als der Direktor gegangen war, meine Aktenmappe daneben. Zufällig verschoben sich die Blätter des Exposes ein wenig – Sie erinnern sich wohl, daß es ein lose geheftetes Schriftstück ist? – und auf der rechten oberen Ecke des zweiten Blattes bemerkte ich, während ich dastand und auf Herrn Doktor Hempel wartete, einen winzigen Stich, wie von einer Nadel oder einer feinen Reißzwecke. Es schien mir, als ob man versucht hätte, die geringfügige Verletzung durch Streichen und Drücken, vielleicht mit dem Fingernagel, wieder zu verwischen. Sie werden begreifen, Herr Doktor, daß mich diese Beobachtung stark interessierte. Da Herr Hempel noch immer auf seiner Leiter zu tun hatte, prüfte ich verstohlen auch die übrigen Seiten des Schriftstücks und . . .«
». . . entdeckten das gleiche?«
»Ungefähr – ja. Auf einigen Blättern auch wieder solche verwischten Stiche an den äußersten Ecken, an anderen leichte kreisförmige Eindrücke, wie sie wohl den Kopf eines Reißnagels hervorbringen kann . . .«
»Nun – ich fragte mich: Wie kommen die Abdrücke dahin? Und fand nur die eine Erklärung: Man mußte die Blätter einzeln auf eine Unterlage geheftet haben. Zu welchem Zweck? Um sie zu photographieren!«
Blaß vor Arger und Zorn, schlug Fortuyn mit der Faust auf den Tisch und rannte im Zimmer hin und her.
»Ich weiß nicht«, fuhr Wittebold fort, »wozu das geschah. Kann Ihnen auch nicht angeben, wer es tat. Ich habe leider nicht den geringsten Verdacht . . .«
Fortuyn blieb stehen, sah Wittebold durchdringend an. »Mann! Wissen Sie auch, daß es hier um Kopf und Kragen geht?«
Wittebold erschrak vor dem drohenden Blick. »Ich kann Ihnen nichts weiter sagen!« stotterte er.
»Nun – so will ich's Ihnen sagen!«
War's die Überraschung, war's der Ton in Fortuyns Stimme – auch Wittebold sprang auf. »Sie –? Sie wissen das? Sie wußten also schon, was ich Ihnen eben erzählte?«
Fortuyn schüttelte den Kopf. »Nein! Sie verstehen mich nicht. Was Sie da an dem Exposé beobachtet haben, wußte ich nicht. Aber andere Dinge, die ich weiß, haben jetzt durch Ihre Angaben eine Erklärung gefunden . . . Wenn ich's Ihnen jetzt sage . . . vielleicht begehe ich eine Torheit und bin der Betrogene . . .« Er faßte Wittebold an den Schultern, sah ihm in die Augen. Der hielt den Blick aus; kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Nach einer Weile ließ Fortuyn ihn los. »Wie es geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wer es tat – oder tun ließ. Es war Ihr Freund Headstone!«
»Head . . . stone . . .?« keuchte Wittebold. Er griff sich an die Stirn. »Endlich komm' ich ihm auf die Spur!« Er legte bittend die Hand auf Fortuyns Arm. »Lieber Herr Doktor, sagen Sie . . . sagen Sie mir mehr! Wenn Sie wüßten, was das für mich bedeutet –! Endlich eine Spur von diesem Schuft!«
»Nun, so hören Sie denn, daß man jetzt in Detroit nach meinen Verfahren arbeitet, und zwar auf Grund dieses Exposés!«
Und dann sprachen sie noch lange. Über das Exposé, über Detroit und über Headstone. – – –
Nach einer schlaflosen Nacht ließ sich Fortuyn am nächsten Morgen bei Geheimrat Kampendonk melden. Der saß an seinem Schreibtisch, einen Brief in der Hand, dessen Inhalt, nach dem Ausdruck seines Gesichtes zu schließen, nicht angenehmer Art war.
»Nun, was ist, Herr Doktor Fortuyn?« Aus der Stimme des Geheimrats klang Mißmut, Gereiztheit. Kaum, daß er Fortuyn flüchtig die Hand reichte. Er vergaß auch, ihm einen Stuhl anzubieten; knurrte nur, als Fortuyn nicht gleich zu sprechen begann: »Nun – was ist denn, Herr Doktor?«
»Störe ich vielleicht, Herr Geheimrat?«
In Fortuyns Frage mochte wohl der Unterton einer gewissen Empfindlichkeit klingen. Der Geheimrat sah ihn einen Augenblick an, schob dann den Brief, der ihn offenbar schwer gereizt hatte, kurz beiseite und sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz! Was ist denn nun eigentlich los?«
»Sie haben, wie es scheint, Herr Geheimrat, heute morgen schon Ärger gehabt. Ich fürchte, ich werde Ihnen Mitteilungen zu machen haben, die auch recht unerfreulich sind.«
»Das hätte mir gerade noch gefehlt!« brummte Kampendonk vor sich hin. »Na – ein Unglück kommt selten allein. Schießen Sie los, Herr Doktor!«
»Bevor ich spreche, erst eine kleine Bitte, Herr Geheimrat: Möchten Sie wohl die Güte haben, mir die beiden anonymen Briefe zu zeigen – die mit dem Eichenblatt?«
»Die Eichenblattbriefe? Die können Sie gern haben.« Kampendonk schloß seinen Schreibtisch auf, nahm daraus die beiden Schreiben.
Fortuyn legte die Schriftstücke vor sich hin, holte aus seiner Brieftasche zwei andere und breitete sie neben den Eichenblattbriefen aus. Seine Augen gingen scharf vergleichend über die Blätter.
Kampendonk sah ihm verwundert zu. »Was machen Sie denn da, Herr Fortuyn?«
Der stand auf, trat zu dem Geheimrat, legte die vier Schriftstücke geordnet vor ihn hin. »Wollen Sie, bitte, auch einmal diese Kopien mit den Originalen vergleichen!«
»Kopien? Sie haben die Kopien dieser Briefe? Ja, was soll denn das heißen? Da hätten wir also endlich unsern Anonymus! Wer ist's denn?«
»Darüber später, Herr Geheimrat! Mich interessierte es zunächst, zu wissen, ob die Schriftstücke, die ich mitbrachte, tatsächlich Kopien der Eichenblattbriefe sind. Wie Sie sich wohl selbst überzeugt haben, ist ein Zweifel nicht möglich.«
Kampendonk nickte. »Aber was soll denn das alles?« sagte er ungeduldig.
»Oh – diese Sache hat nunmehr keine weitere Bedeutung. Sie diente nur dazu, mir Sicherheit über das Weitere zu geben, was ich vorzubringen habe.«
»Wie . . .? Was . . .?« stotterte der Geheimrat. »Das wäre ohne Bedeutung? Gestatten Sie, daß ich darüber anderer Ansicht bin. Ich verlange von Ihnen zu wissen, von wem Sie diese Kopien haben!«
Fortuyn hob beschwichtigend die Hand. »Darüber später, Herr Geheimrat. Ich bitte, mich jetzt darüber nicht weiter zu fragen. Das, was mich veranlaßte, Sie um eine Unterredung zu bitten, ist von einer viel größeren Wichtigkeit. Ich kann jetzt, nachdem ich die Eichenblattbriefe gesehen habe, viel sicherer sprechen.« Fortuyn verwahrte die Kopien wieder in seiner Brieftasche. »Jetzt möchte ich Sie bitten, Herr Geheimrat, mein letztes Exposé aus dem Archiv kommen zu lassen.«
Kampendonk schüttelte verwundert den Kopf. »Rätselhaft – das alles . . . Aber meinetwegen – Sie sollen Ihren Willen haben!« Er rief Dr. Hempel an, sagte ihm seinen Wunsch. »Und nun, lieber Herr Fortuyn, äußern Sie sich doch endlich deutlicher!«
»Ich bitte um Verzeihung, Herr Geheimrat! Ich möchte erst sprechen, wenn das Schriftstück hier ist, um eine Störung zu vermeiden.«
Kampendonk warf einen durchdringenden Blick auf Fortuyns Gesicht. Was er in dessen Augen las, erfüllte ihn mit einer gewissen Unruhe. Der Mann, der so gelassen sprach . . . nichts Gutes lauerte hinter dessen verschlossenen Mienen.
Das Eintreten Dr. Hempels unterbrach die Stille. Der Archivverwalter überreichte dem Geheimrat das Exposé. Der gab es schweigend an Dr. Fortuyn. Sah erstaunt, wie der sich hastig darüberneigte, es scharfen Blickes Seite für Seite durchmusterte. Jetzt hob er den Kopf.
»Vielleicht darf Herr Doktor Hempel im Zimmer von Doktor Knappe warten, Herr Geheimrat?«
»Gewiß . . .« Kampendonk deutete auf die Tür zu dem Zimmer seines Sekretärs.
Kaum hatte sich die Tür hinter Doktor Hempel geschlossen, da sprang Fortuyn auf, war mit ein paar hastigen Schritten an Kampendonks Seite. Mit leicht zitternden Händen entfernte er die Klammern, die die Blätter des Exposes zusammenhielten, begann dann zu sprechen. Seine Stimme klang zwar vollkommen beherrscht, doch verriet sein heftiges Atmen starke innere Bewegung.
»Sie sehen hier, Herr Geheimrat, an den Ecken der Blätter: bald deutlich, bald undeutlich die Spuren von Reißnägeln!«
Kampendonk sah nur flüchtig dorthin, wo Fortuyn hinzeigte; er konnte seine Unruhe nicht länger bemeistern. »Hören Sie endlich auf, mir Rätselaufgaben zu stellen! Sagen Sie, um was es sich handelt!«
»Jawohl, Herr Geheimrat. Es handelt sich um folgendes: Am einundzwanzigsten April hat Herr Direktor Düsterloh von Doktor Hempel sich dies Exposé geben lassen und es mit nach Berlin genommen. Am Mittag des übernächsten Tages gab er es zurück. Und ich behaupte, das Schriftstück ist in Berlin von irgendeiner Seite, die Interesse daran hatte, Blatt für Blatt photographiert worden. Daher die Spuren der Reißnägel! – Am zweiten Mai bekamen Sie, Herr Geheimrat, von dem Agenten der Rieba-Werke in Detroit die Nachricht, daß man dort nach meinem Verfahren unter Benutzung hiesigen Materials arbeite. Damals zerbrachen wir uns allesamt den Kopf, auf welche Weise die da drüben in den Besitz unserer Fabrikationsgeheimnisse gelangt seien. Jetzt dürfte diese Frage gelöst sein. Die Photos meines Exposés waren jene Unterlagen, von denen unser Vertrauensmann berichtete.« Fortuyn ging hochaufatmend an seinen Platz zurück, setzte sich.
Kampendonk hatte den Kopf in die Hand gestützt, sah zur Seite. »Was Sie da vorbringen, Herr Doktor . . . Wirklich kaum glaublich . . . Und doch . . . Nur eins vorweg!« Er sprach es laut, betont: »Ich halte es für gänzlich ausgeschlossen, daß etwa Düsterloh bei diesen – hm! – von Ihnen vermuteten Manövern direkt oder gar aktiv beteiligt ist.«
»Ich habe mit keinem Wort – auch nicht andeutungsweise – Herrn Direktor Düsterloh beschuldigt«, erwiderte Fortuyn, ebenfalls mit starker Betonung. »Ich möchte Sie überdies bitten, Herr Geheimrat, bei der weiteren Untersuchung mich völlig aus dem Spiel zu lassen.«
Kampendonk nickte. Sprach nach einer Weile: »Ich werde natürlich sofort alles das, was Sie mir gesagt haben, Herr Doktor, aufs schärfste nachprüfen und Ihnen dann Nachricht geben.«
»Sehr wohl, Herr Geheimrat. Doch ehe ich gehe, möchte ich Ihnen noch eine weitere Sache zur Kenntnis bringen, die gleichfalls von großer Bedeutung ist. Teile meines Materials, darunter sehr wichtige Dinge, sind in einem Rollschrank in meinem Büro aufbewahrt. Am Schlüsselloch dieses Rollschranks waren« – Fortuyn stockte einen Augenblick – »heute morgen Spuren von Wachs zu entdecken. Ich hege daher begründeten Verdacht, daß jemand einen Wachsabdruck nahm, um sich einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen.«
Kampendonk schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf. »Ja, ist man denn hier vollständig verraten und verkauft?« Seine Finger rissen furchend durch den langen Bart. Er ging eine Weile in heftiger Erregung durch das Zimmer, blieb dann vor Fortuyn stehen. »Haben Sie schon mit Wolff gesprochen?«
»Noch nicht, Herr Geheimrat.«
»Dann tun Sie's sofort! Er soll mir später berichten. Die Sache mit dem Exposé werde ich natürlich selbst in die Hand nehmen. Übrigens – Sie werden mir diese Frage nicht verübeln –: Wie ist Ihnen das alles zu Ohren gekommen? Eigene Beobachtungen? Nein?«
Fortuyn besann sich einen Augenblick. »Ich möchte Ihnen nur ein Wort sagen. Mehr darf ich nicht, Herr Geheimrat . . . Nehmen Sie an, der Mann mit dem Eichenblatt . . .«
Kampendonk trat erstaunt einen Schritt zurück. »Wieder dieser geheimnisvolle Unbekannte! Sie dürfen . . . wollen mir den nicht nennen?«
»Nein, Herr Geheimrat. Und ich glaube auch, es ist besser so. Er hat ein unbedingtes Interesse daran, im verborgenen zu arbeiten. In Rieba haben die Wände Ohren . . .«
Kampendonk stampfte ärgerlich auf. »Ist der Ausdruck nicht etwas zu stark, Herr Doktor Fortuyn?«
»Leider nein, Herr Geheimrat. Ich nenne zum Beispiel diese Eichenblattbriefe. Offiziell ist mir davon nichts mitgeteilt; es ist über die Briefe in geheimer Verhandlung beraten worden . . . Und doch, Herr Geheimrat – ich kann beim besten Willen nicht sagen, von wem ich's erfahren habe . . . ich habe es jedenfalls erfahren.«
Kampendonk wandte sich ärgerlich ab, ging ohne Gruß in das Nebenzimmer, zu Dr. Hempel. Und Fortuyn suchte Dr. Wolff auf. –
Eine Stunde später kam der Geheimrat in Fortuyns Zimmer. »Ich habe in der Sache einstweilen nichts weiter unternehmen können, Herr Doktor. Direktor Düsterloh ist noch nicht in seinem Büro, wird aber erwartet. Doch hat Doktor Hempel mir Ihre Angaben bestätigt. Was haben Sie mit Wolff verabredet?«
»Zunächst mal werde ich in der Mittagszeit alles Wichtige aus dem Rollschrank entfernen, Herr Geheimrat. Den größten Teil des Materials gebe ich in die Sicherheitsräume der Registratur. Doktor Wolff hat außerdem einen Plan entworfen, nach dem mein Büro und besonders der Rollschrank durch Alarmvorrichtungen gesichert werden sollen. Er hofft bestimmt, dadurch und durch schärfste Beobachtung meines Laboratoriums und der zugehörigen Räume den Verdächtigen zu fassen.«
Kampendonk nickte beifällig. Doch schien es, als habe er nur mit halbem Ohr zugehört. Ein Papier, mit dem seine Hand nervös spielte, schien seine Gedanken in Anspruch zu nehmen. Er räusperte sich ein paarmal, legte das Blatt auf Fortuyns Schreibtisch. »Wollen Sie, bitte, den letzten Absatz dieser Mitteilung unseres Detroiter Agenten lesen, Herr Doktor?«
Fortuyn las halblaut: »Man hat von Rieba aus die ›United‹ vor mir gewarnt.« Er richtete sich auf. »Sehr sonderbar, Herr Geheimrat . . . Das gibt zu Vermutungen Anlaß, die . . .«
». . . niederschmetternd sind!« vollendete Kampendonk. Er ließ sich schwer in Fortuyns Schreibstuhl fallen. Seine hohe, trotz seines Alters noch straffe Gestalt schien in sich zusammenzusinken, als trügen die Schultern nicht mehr die schwere Bürde seiner verantwortungsvollen Stellung, mit müden Fingern faltete er den Brief, steckte ihn zu sich. »Ich brachte dieses Schreiben zunächst zu Ihnen, Herr Doktor – der Sie ja von dem Umfang der gegnerischen Spionage beste Kenntnis haben –, um Sie auch in diesen neuen Vorfall einzuweihen. Dann aber auch tat ich's«, – über das Gesicht des Geheimrats glitt ein etwas verlegenes Lächeln – »um Ihnen anheimzugeben . . .« Der Geheimrat stockte; zögernd kamen die Worte: ». . . anheimzugeben, Ihrem Freund Eichenblatt eventuell Mitteilung zu machen . . . hiervon . . . Das heißt, ich weiß ja nicht, wieweit der Mann Vertrauen verdient . . . will Sie deshalb auch nicht direkt dazu veranlassen . . . Immerhin – bei der zweifellos außerordentlichen Beobachtungsgabe, die dieser Herr besitzen muß – würde er möglicherweise einiges von dem, was wir heut morgen besprachen, als Fingerzeig benutzen können, um vielleicht . . .«
Fortuyn unterdrückte ein leises Lächeln, verneigte sich stumm. Als Kampendonk gegangen, saß er noch lange Zeit nachdenklich an seinem Schreibtisch, die Person des Bürodieners Wittebold vor seinen inneren Augen.
Dieser Mann – damals den Lockungen des Dollars erlegen . . . Charakterschwäche? . . . Einem schwachen Charakter solche Dinge anvertrauen –? Unmöglich! Und doch: das Wesen, die Züge dieses Mannes – – sympathisch, vertrauenerweckend . . . Wo war hier die Kluft zwischen Denken und Handeln bei dem gewesen?
Ah, hatte der nicht auch andeutungsweise von einer Frau gesprochen – seiner Frau? Gewiß! Er war ja verheiratet gewesen in Ludwigshafen, war mit ihr nach Amerika übergesiedelt . . . Und dort? Was war dort mit der Frau geschehen?
Wut – Haß gegen einen Mann . . . wer war es doch gleich? Nein – darüber hatte er nichts Näheres gesprochen. Hm – hm . . . Fortuyn kniff die Augen zusammen. Sollte nicht hier der Sprung in Wittebolds Charakter zu suchen sein? Die Liebe zu seiner Frau der Grund, daß er so kläglich Schiffbruch gelitten . . . Und sein Haß gegen Headstone? War Headstone vielleicht jener Mann, der . . .
Je länger Fortuyn grübelte, desto unschlüssiger wurde er. Sollte er es wagen, Wittebold volles Vertrauen zu schenken? Ja – wenn er das bestätigt wüßte, was er sich selbst eben als wahrscheinlich zusammengereimt, dann durfte er's wohl wagen . . . Was tun? An wen sich wenden, um Sicherheit zu bekommen?
Plötzlich sprang er auf. Ein Gedanke! Was ein Mann eines anderen Mannes Ohr wohl verschwieg, einer Frau würde er es leichter anvertrauen. Zu Tilly wollte er gehen! Sie, auf deren Verschwiegenheit er sich verlassen konnte, sollte versuchen, aus Wittebold all das herauszuholen, was ihm selber noch fehlte, um sich ein abschließendes Bild von dem Charakter des Mannes zu machen. – –
Sofort, nachdem Kampendonk Fortuyn verlassen hatte, war Dr. Wolff zu dem Geheimrat gekommen, hatte in langer Unterredung seinen Plan, dem Spionageunwesen zu Leibe zu gehen, entwickelt. Immer wieder war dabei Kampendonk der Gedanke gekommen: Wie gut wäre es doch, wenn dieser Eichenblattmann aus seiner Verborgenheit hervorträte! Ein Zusammenarbeiten mit Wolff würde äußerst zweckdienlich gewesen sein. Gewiß, Wolff war sehr tüchtig und pflichteifrig; aber er war erst seit kurzem im Werk und verfügte noch nicht über größere Erfahrungen.
Kampendonk sah auf die Uhr, sprach dann ins Telephon: »Wollen Sie Herrn Direktor Düsterloh zu mir bitten!«
Der trat bald darauf ein. Der kühle Empfang durch Kampendonk, die Anwesenheit Wolffs befremdeten ihn. Der Geheimrat schlug eine Mappe auf, in der das Fortuynsche Exposé lag. »Dieses Dokument, Herr Düsterloh, hatten Sie sich am einundzwanzigsten April im Archiv von Doktor Hempel geben lassen?«
Düsterloh nickte zustimmend.
»Sie haben dieses Schriftstück mit nach Berlin genommen. Wozu? Warum?«
Düsterlohs Mienen verrieten Verlegenheit. »Allerdings, Herr Geheimrat. Ich nahm es mit, um es unserm alten Freund Janzen für einen Tag zur Verfügung zu stellen. Der hat bekanntlich mit Professor Bauer eine Kontroverse, brauchte wissenschaftliches Material. Ich übergab es ihm zu treuen Händen und bin gewiß, daß kein Mißbrauch damit getrieben wurde.«
»Hm! Was zunächst mal die Sache selbst betrifft, so muß ich mich, offen gestanden, sehr wundern, Herr Düsterloh, daß Sie, der Sie schon so lange dem Werk angehören, ein wichtiges Schriftstück aus dem Werk, ja aus Rieba für längere Zeit entfernten. Es hätte Ihnen doch klar sein müssen, daß damit – von Professor Janzen abgesehen – leicht etwas passieren konnte. Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: Ihr Koffer konnte gestohlen werden. Das kommt doch – möchte ich sagen – tagtäglich vor. In der Eisenbahn, im Hotel . . . Haben Sie daran nicht gedacht?«
Düsterloh rückte unruhig auf seinem Stuhl. »In gewisser Beziehung ja, Herr Geheimrat. So ganz ohne Bedenken war ich nicht. Aber ich habe das Dokument stets in meiner Aktentasche bei mir gehabt – abgesehen von den Stunden, wo es sich im Hause Professor Janzens befand. Aber was soll das alles? Das Exposé ist doch da!«
»Allerdings. Aber nachdem es heimlich photographiert wurde, Herr Direktor Düsterloh!«
»Unmöglich! Ausgeschlossen!« Düsterloh sprang auf, trat näher an Kampendonk heran. »Das Exposé ist nicht aus meiner Hand gekommen, und in Janzens Ehrlichkeit Zweifel zu setzen, erscheint völlig ausgeschlossen. Wie kommen Sie zu Ihrer Annahme? Welche Beweise haben Sie dafür, daß mit dem Dokument Mißbrauch getrieben ist?«
»Wollen Sie sich, bitte, hier mal die Ecken der Blätter ansehen, Herr Düsterloh! Vielleicht mit diesem Vergrößerungsglas! Dann wird es noch deutlicher . . . daß nämlich auf jedem Blatt sich Abdrücke von Reißnägelköpfen bemerkbar machen. Welche Erklärung haben Sie dafür?«
Düsterloh richtete sich auf, trat mit hochrotem Kopf einen Schritt zurück. »Reißnägelabdrücke? . . . Sollte Professor Janzen . . .?«
»Nein, Herr Düsterloh! Wollte sich Herr Janzen eine Kopie machen, dann hätte er nicht die Kamera, sondern die Schreibmaschine benutzt. Seine Vernehmung ist augenblicklich nicht möglich; würde auch erst nötig sein, wenn Sie uns beweisen könnten, daß ein Mißbrauch des Exposés, solange es sich in Ihrem Besitz befand, unmöglich war.« Düsterloh wollte aufbrausen, doch Kampendonk gebot ihm Schweigen. »Wollen Sie, bitte, Platz nehmen, Herr Düsterloh, und die Fragen beantworten, die Ihnen Doktor Wolff stellen wird!«
»Ein Verhör?« Wieder wollte Düsterloh aufbegehren. »Ein regelrechtes Verhör, durch Herrn Doktor Wolff?«
»Allerdings! Und es wird viel davon abhängen – für Sie wie für uns –, wie diese – hm! – Befragung ausläuft. Sie erinnern sich doch, daß unser Agent aus Detroit vor einiger Zeit meldete, daß man dort mit Fortuynschem Material arbeite? Allem Anschein nach sind wir jetzt dahintergekommen, auf welche Weise Detroit in den Besitz dieses Materials gelangt ist. ›Material‹ und ›Exposé‹ dürften in diesem Falle das gleiche sein!«
Düsterloh war blaß geworden. Er wollte sprechen, konnte aber nur zusammenhanglose Worte vorbringen. Auf einen Wink Kampendonks begann Dr. Wolff die Vernehmung, stellte Stunde für Stunde jeden Schritt fest, den der Direktor seit dem Verlassen des Werkes an jenen Tagen getan. Düsterloh dankte im stillen dem Himmel, daß er sich in Berlin nicht einige seiner sonst üblichen Eskapaden geleistet, sondern den Abend solide in der angenehmen Gesellschaft Bosfelds und der englischen Dame verbracht hatte.
Nachdem Wolff mit ihm alles bis zu seiner Rückkehr nach Rieba durchgesprochen hatte, glaubte er erleichtert aufatmen zu können. Da begann der Inquisitor sich noch einmal peinlich für das Souper im Restaurant Lahti zu interessieren. Und nach unzähligen Kreuz- und Querfragen wandte er sich zu Kampendonk und sprach betont: »Der Diebstahl oder, wenn man es so nennen will, der Mißbrauch mit dem Exposé ist bei Lahti verübt worden.«
In kurzen, bestimmten Sätzen erklärte er, wie er zu dieser Annahme komme, und Düsterloh wurde von Minute zu Minute gedrückter; er wagte, als endlich Wolff die Kette seiner Beweisgründe schloß, nicht mehr den Mund zu öffnen. Niedergeschmettert saß er da. Seine Lippen bewegten sich, unfähig, Worte zu formen.
»Auf jeden Fall«, beendete Wolff seine Darlegungen, »werde ich mich der Sicherheit halber sofort eingehend über die Person dieses Herrn Bosfeld erkundigen. Die verführerische Engländerin«, setzte er mit leichtem Lächeln hinzu, »wird wohl längst in ihre Heimat zurückgekehrt sein.«
»Ich habe«, erklärte Kampendonk, »anschließend eine Sitzung des Direktoriums berufen. Sie werden einsehen, Herr Düsterloh, daß ich von alledem dem Direktorium Mitteilung machen muß. Sie persönlich sind von der Teilnahme an dieser Sitzung entbunden.«
Mit einem leichten Kopfnicken war Düsterloh entlassen. Kampendonk winkte Wolff. »Kommen Sie mit, Herr Doktor! Sie können an der Sitzung teilnehmen.«
Als Kampendonk in den Sitzungssaal trat, sah er dort auch Dr. Moran und Dr. Fortuyn. Er winkte Knappe zu sich. »Was sollen die beiden hier?«
»Verzeihung, Herr Geheimrat! Ich sollte dieselben Herren zu der Sitzung zusammenbitten, die bei der vorigen zugegen waren, und da glaubte ich . . .«
»Nun – meinetwegen! Wenn sie einmal da sind . . . Immerhin dürften Sie wissen, daß die beiden Herren nicht zum Direktorium gehören, Herr Doktor Knappe!«
Kampendonks Ausführungen schlugen wie eine Bombe zwischen die versammelten Direktoren. Niemand – auch keiner von den Freunden Düsterlohs – fand ein Wort der Entschuldigung für ihn. Als sich die Wogen der Erregung gelegt hatten, ließ sich Kampendonk die letzte Mitteilung aus Detroit geben und las jene Stelle, die er auch schon Fortuyn gezeigt hatte, laut vor.
Als er geendet, herrschte minutenlange Stille in dem Raum. Von jenem ersten Brief des Agenten war nur im engsten Kreis des Direktoriums gesprochen worden. Wie war es möglich, daß man in Detroit von diesem Brief Kenntnis erhielt? Jeder der Anwesenden sah geradeaus. Keiner wagte, den Nachbar anzusehen – in der Furcht, der Blick könnte als eine Beschuldigung, als ein Vorwurf aufgefaßt werden. Ein lähmendes Gefühl der Unsicherheit lag über allen.
Kampendonk ergriff wieder das Wort. »Anscheinend hat niemand von Ihnen, meine Herren, hierzu etwas zu sagen. Auch ich stehe dieser Meldung ratlos gegenüber. Wie schwer mich das alles trifft, können Sie, die schon so lange mit mir zusammenarbeiten, sich wohl denken. Noch wehre ich mich gegen den Argwohn, in meiner Nähe einen Verräter, einen Spion zu vermuten. Aber« – Kampendonk unterbrach sich, machte hinter seinem Platz ein paar kurze Schritte – »ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen, meine Herren, und schließe hiermit die Besprechung.« –
Als eine Stunde später Dr. Wolff die Nummer Bosfelds in Leipzig anrief, wurde ihm gesagt, der Herr sei verreist.–
Düsterloh saß derweilen mit schweren Gedanken in seinem Arbeitszimmer. Daß gerade ihm solch unangenehme Sache passieren mußte! Dieser Bosfeld – sollte er sich so in dem Manne getäuscht haben, den er schon seit längerem als fidelen Jagd- und Zechgenossen kannte? Und doch: die scharfsinnigen Folgerungen Dr. Wolffs ließen sich nicht aus der Welt schaffen . . .
Und die englische Lady, dieses Teufelsweib? Ein Lockvogel nur, dessen Girren er blindlings folgte, um auf der Leimrute klebenzubleiben? Er der gerissene Frauenkenner –?
Frauenkenner . . . Irgend jemand hatte doch noch in den letzten Tagen das Wort von ihm gebraucht . . . Ah, jetzt wußte er's: Gallardo! Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn. Leichter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Diese Adrienne? Vielleicht auch solch Lockvogel, den ihm der ausgekochte Exote angedreht?
Ihm stockte der Atem. Er riß die Uhr aus der Tasche. Jetzt mußte sein Bote schon in Leipzig sein. Wenn der auftragsgemäß sofort im Auto zu seiner Wohnung fuhr und die Kundenlisten abholte, konnte er bequem den ersten Nachmittagszug noch erreichen, der ihn eine weitere Stunde später nach Rieba zurückbrachte.
Einen Augenblick vergaß Düsterloh alles andere. Immer wieder klangen die Worte Kampendonks in seinem Ohr: »Es dürfte Ihnen doch bekannt sein, daß es nicht gestattet ist, wichtiges schriftliches Material aus den Mauern des Werkes zu irgendwelchen Zwecken zu entfernen.« Und er, Düsterloh, hatte ausgerechnet die so streng behüteten Kundenlisten bei sich in seiner Leipziger Wohnung! Am Monatsende mußte er in der Aufsichtsratssitzung einen Vortrag über die Absatzgestaltung des letzten Halbjahres halten. Als Unterlagen brauchte er dazu die Kundenlisten und Absatzaufstellungen. Statt diese Arbeit in seinem Büro im Werk zu machen, hatte er sich das ganze Material im Auto mit nach Leipzig genommen. Dort lag es nun schon seit Wochen. Für die in- und ausländische Konkurrenz mußte die Kenntnis dieser Listen von allergrößter Bedeutung sein. Kämen sie einem Unberufenen in die Hände, würde das Werk kaum wiedergutzumachenden Schaden erleiden.
Düsterloh ging zu einem Wandschrank, holte sich eine Flasche schweren Weins, füllte sich ein Glas, stürzte es hinunter. »Ach was!« murmelte er vor sich hin. »Ich sehe Gespenster am hellen Tage! Wie hätte Adrienne oder Gallardo wissen können, daß ich die Kundenlisten zu Hause habe und wie lange ich sie dabehalte? Niemand außer Lohmann und mir weiß ja davon – und Lohmann ist doch zweifellos ein Ehrenmann!«
Er trank zu seiner Beruhigung noch ein zweites Glas Wein und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Aber zu arbeiten vermochte er nicht. Seine Gedanken kehrten immer aufs neue zu den Ereignissen des Vormittags zurück. Als die Uhr die letzte Nachmittagsstunde schlug, wurde ihm etwas leichter zumute. In einer weiteren Stunde würde sein Bote, der Bürodiener Wittebold, ihm die Kundenlisten bringen. – –
Wittebold war, wie Düsterloh ihn geheißen, in Leipzig sofort mit einer Autodroschke vom Bahnhof zu dessen Wohnung in der Sedlitzer Straße gefahren. Als er in den Vorgarten trat, öffnete sich gerade die Haustür, und eine ältere Frau, mit dem Staubtuch in der Hand, kam heraus. Wittebold zog den Hut. »Guten Tag! Sind Sie vielleicht Frau Körner?«
»Ja – ich bin die Wirtschafterin des Herrn Direktors. Was wollen Sie denn?«
»Ich heiße Wittebold und bin von Herrn Düsterloh hierhergeschickt worden. Ich soll Akten holen, die in einer Mappe auf seinem Schreibtisch liegen. Hier ist ein Brief, wo der Herr Direktor das auch noch mal aufgeschrieben hat.«
Frau Körner nahm achtlos das Papier. »Die Akten wollen Sie holen? Ja, gewiß – die liegen auf seinem Schreibtisch. Ist aber 'n schweres Paket. Kommen Sie doch lieber selber mit 'rauf und holen Sie sich's!«
Oben auf dem Flur machte Wittebold einen Augenblick halt, sah sich um.
»Das letzte Zimmer auf dem Gang!« sagte Frau Körner. »Da müssen wir hin!«
Im selben Augenblick klingelte es unten. Die Wirtschafterin blieb unwillkürlich stehen, hörte, wie das Dienstmädchen die Haustür öffnete und ein Mann hereinkam.
Gleich darauf klang es von unten: »Frau Körner, der Monteur ist da! Will die elektrische Flurlampe in Ordnung bringen!«
»Gott sei Dank!« rief die Wirtschafterin. »Das war ja nicht mehr zum Aushalten mit der verflixten Lampe!« Frau Körner überschüttete den Monteur mit einer Flut von Klagen über die schlechte Installation. Dreimal schon hätte der Chauffeur daran herumgepusselt, aber das hätte nichts geholfen; die Leitung sei immer wieder kaputt gegangen. Wie konnte Frau Körner auch wissen, daß die Attentate auf die »verflixte Lampe« ausgerechnet von Herrn Direktor Düsterloh selbst verübt worden waren! Denn der Weg von seinem Zimmer zu den Appartements des Fräuleins Adrienne L'Estoile führte über diesen Flur, und die hundertkerzige Birne erhellte unnötig nächtliche Exkursionen, die ein anderes Ziel als die Toilette anstrebten . . .
Währenddessen stand Wittebold vor der Tür zu Düsterlohs Arbeitszimmer. Da die Frau Körner nicht die Absicht zu haben schien, den Monteur so ohne weiteres freizugeben, rief Wittebold aus dem Hintergrunde: »Ich habe Eile, Frau Körner! Muß zur Bahn!«
»Ach, gehn Sie doch 'rein und nehmen sich die Mappe selber weg!«
Als Wittebold eintrat, war es ihm, als bewege sich ein Vorhang, der das Arbeitszimmer von einem anderen trennte. Gleich darauf hörte er eine Tür dieses Nebenzimmers ins Schloß fallen.
Hm, dachte er, hab' anscheinend hier jemand verscheucht! Seine Hand tastete über das Kissen des Schreibtischstuhles. Es war noch warm; ein Federhalter mitten auf dem Schreibtisch noch tintenfeucht; die Klappe der Ledermappe zurückgeschlagen. Ein paar Schriftstücke ragten heraus, als wären sie in größter Hast eingeschoben.
»Hm, hm!« Wittebold schob die Schriftstücke glatt. »Ganz sicher hab' ich da jemand gestört.« Sein Blick fiel auf das Löschpapier der Schreibunterlage. Er kannte die breiten, energischen Schriftzüge Düsterlohs. Was er da auf dem Löschblatt sah, war die feine Schrift einer Frauenhand.
Es zuckte ihm in den Fingern, das Löschblatt abzulösen. Doch es war bereits stark benutzt, und sein Fehlen mußte unbedingt auffallen. Er zog die Mappe an sich. Allerdings, sie war recht schwer. Doch was war das? Durch den Druck der Mappe beim Wegziehen hatten sich ein paar Zeitungen verschoben, unter denen jetzt ein halbbeschriebener Foliobogen zum Vorschein kam. Der trug dieselben Schriftzüge, wie sie in Spiegelschrift auf dem Löschblatt standen.
Mit schnellem Blick überflog Wittebold den Inhalt. Wieder zuckte es in ihm, das Blatt mitzunehmen. Doch er beherrschte sich, nahm die Mappe und ging hinaus. Der Monteur stieg gerade auf eine Leiter. Frau Körner sah er eben noch die Treppe hinunter verschwinden. Während er sich mit Mühe um die Leiter herumzwängte, hörte er auf dem unteren Flur ein Telephongespräch. Es war zweifellos die Stimme des Fräuleins Adrienne, die sprach. Er hatte den Klang damals vom Hotel her noch gut im Ohr; der französische Akzent war unverkennbar.
Wittebold fand die Arbeit des Monteurs an der Deckenlampe anscheinend äußerst interessant. Er blickte nach oben und beobachtete genau, wie der Monteur die Schrauben der Lampenfassung löste. Auch wenn der seinen Gedanken: ›Du dummes Luder da unten, was haste denn da zu gucken?‹ laut ausgesprochen hätte, würde das Wittebold nicht gestört haben; denn er horchte angestrengt nach dem Telephongespräch hin.
Wie es schien, eine schlechte Nachricht für Fräulein Adrienne. Er hörte, wie sie jetzt sagte: »Wie meinst du, Onkel Albert? . . . Sehr schlimm? . . . Ach, du machst mir aber Angst! Ist sie denn bei Besinnung, die gute Tante? Ach – die arme Pate! . . . Sie möchte mich sehen? Ja, gewiß – ich würde ja auch ganz gern bei ihr sein . . . aber die weite Reise! Ich bin hier in Leipzig . . . Was sagst du? Der Arzt gibt keine Hoffnung? Wie schrecklich! Dann komm' ich natürlich –! Nur weiß ich nicht, wann der nächste Zug fährt. Ich packe sofort. Morgen bin ich schon in Basel!«
Bei den letzten Worten war Wittebold auf die Treppe zugegangen, warf durch die Geländersprossen einen schrägen Blick nach unten. Die gute Frau Körner hörte das Gespräch zwar auch mit an, hatte aber, um nicht zu neugierig zu scheinen, der Französin den Rücken zugekehrt und wischte mit dem Staublappen den Wandsockel ab. So konnte sie auch nicht sehen, was Wittebold sah: daß nämlich Fräulein Adrienne beim Telephonieren eine bemerkenswert malerische Stellung einnahm. In lässiger Haltung ließ sie den rechten Arm auf der Gabel des Apparates ruhen, so daß überhaupt keine Verbindung mit dem Amt zustande gekommen sein konnte.
Ganz gute Schauspielerin, dieses Fräulein Adrienne! dachte er. Aber wohl noch nicht lange genug auf der Bühne. Sonst würde ihr der kleine Kunstfehler mit der Telephongabel nicht untergelaufen sein. Sie hätte besser getan, zur nächsten Poststelle zu gehen und ein Telegramm an sich aufzugeben; dann schnell nach Haus, den Telegraphenboten abgefangen, vom Formular die Aufgabestelle abgerissen . . . Na, jedenfalls: die Dame bereitete ihren Abgang vor. Deubel noch eins! Jetzt hieß es aber sich sputen!
Wittebold rief das nächste Auto an, fuhr zur Bahn. Sein Zug ging erst in einer halben Stunde. So hatte er noch Zeit, sich beim Portier zu erkundigen, wie die Züge nach Basel gingen. Sechzehn Uhr drei Minuten fuhr der nächste. – –
In Rieba angekommen, begab sich Wittebold auf schnellstem Wege ins Werk zu Direktor Düsterloh. Der nahm mit merklichem Aufatmen die Listen entgegen. Doch ehe er Zeit gefunden hatte, etwas zu sagen, war Wittebold schon wieder draußen, eilte zu Fortuyn. »Ich hätte eine kleine Bitte, Herr Doktor. Möchten Sie mir wohl dreißig Mark leihen?«
»Gern. Hier haben Sie das Geld!«
Wittebold dankte kurz, ging schnell zur Tür, rief, halb schon von draußen: »Es ist nicht für mich, Herr Doktor! Ich brauch's für gewisse Zwecke!«
Am nächsten Autostand nahm er eine Droschke nach Leipzig zum Hauptpostamt. Dort rief er Düsterlohs Telephonnummer an. Frau Körner meldete sich.
»Ist vielleicht Fräulein Adrienne L'Estoile zu sprechen?« fragte Wittebold mit verstellter Stimme.
»Nein – die Dame ist fort. Sie will nach Basel zu ihrer . . .«
Hier hängte Wittebold ab, während Frau Körner noch lange dem tauben Telephon die Gründe auseinandersetzte, weshalb das Fräulein so plötzlich abreisen mußte.
Als Wittebold aus dem Postamt trat, schlug es gerade vier Uhr. So schnell er auch zum Bahnhof eilte, kam er doch erst auf den Bahnsteig, als die Kupeetüren zuflogen und der Beamte den Stab zur Abfahrt hob. Er rannte am Zug entlang bis zum ersten Wagen zweiter Klasse, stellte sich auf die Zehenspitzen, suchte mit den Augen die Zugfenster ab. In einem Abteil glaubte er bestimmt Adrienne zu erkennen. Vorsichtshalber fragte er bei den Beamten der Fahrkartenschalter, erzählte eine glaubhafte Geschichte von Verfehlen und Zugversäumen und erfuhr zu seiner Beruhigung, daß eine Dame von dem Aussehen, wie er Adrienne beschrieb, tatsächlich ein Billett nach Basel genommen hatte.
Der nächste Zug nach Rieba ging zwar erst in einer knappen Stunde. Aber das war nicht schlimm. Kurz vor sechs würde er an Ort und Stelle sein und Dr. Wolff noch erreichen können. – In Rieba eilte er sofort zu einem der Fernsprechautomaten im Bahnhof.
Wolff saß in seinem Büro und hatte gerade einen Fall vor, der nach langem Bemühen jetzt endlich Erfolg versprach. Ein englischer Korrespondent in der Abteilung CB 16 war nicht der junge Kaufmann Friedrich Windeys aus Hannover, sondern – hier fehlte noch ein kleines Stückchen, bevor Wolff zur Entlarvung schreiten wollte – wahrscheinlich ein Chemiker aus Edinburg.
Das Schrillen des Telephons riß ihn aus seinem Grübeln. Er warf einen Blick auf die Uhr. Sechs. Wer wollte da noch was? »Hier Wolff, Rieba-Werk . . . Was? Wie? . . . Eichenblatt? Was soll das heißen? . . . Wer sind Sie? Der Mann, der die beiden Briefe mit einem Eichenblatt unterzeichnete?« Der Bleistift in Wolffs Hand zerbrach, ohne daß er's merkte. »Wichtige Sache für mich?«
Nicht ohne Mühe zwang er seine Stimme zu ruhigem Sprechen. Mit fiebriger Hand schrieb er nieder, was die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte. Sprach, als der andere geendet, hastig seinen Dank und stürmte hinaus. Auf der Straße sprang er in das nächste Auto und fuhr zu Kampendonk.
Als er in dessen Zimmer geführt wurde, ließ er Kampendonk gar nicht erst zu Worte kommen, sprudelte los: »Verzeihung, Herr Geheimrat, für meine Hast! Aber ich habe da eben einen telephonischen Anruf bekommen – vom Schreiber der Eichenblattbriefe . . . Hören Sie, bitte!« Er entfaltete seinen Zettel, las: »Eine junge Dame, namens Adrienne L'Estoile, hat eine Woche lang in Leipzig bei Direktor Düsterloh gewohnt. Ich habe die Dame in dringendem Verdacht, während dieser Zeit in der Abwesenheit des Herrn Direktors die Kundenlisten und Absatzaufstellungen kopiert zu haben. Die Dame hat heute nachmittag Leipzig verlassen und ist mit dem Zug sechzehn Uhr drei Minuten nach Basel abgefahren. Falls sie keine Komplicen hat, müssen die Kopien sich in ihrem Gepäck befinden.«
»Unglaublich! Unerhört! Ist denn Düsterloh ganz von Gott verlassen?« brach Kampendonk los. »Das wird ja immer toller! Natürlich sofort zugreifen! Auf jede Gefahr hin! Einen Augenblick!« Er griff zum Telephon, meldete ein dringendes Ferngespräch nach Leipzig an. »Es ist auf alle Fälle gut, wenn wir erst feststellen, daß die Dame sich tatsächlich im Hause Düsterlohs aufgehalten hat. Wann ist sie gefahren? Sechzehn Uhr drei Minuten?« Der Geheimrat zog die Uhr. »Hm! – dann dürfte sie jetzt in der Nähe von Gotha sein . . . Wohin wollen Sie sich wenden? Nach Eisenach?«
»Nein, Herr Geheimrat. Ich glaube, Frankfurt ist vorzuziehen. Die dortige Polizei ist besser auf derartige Manöver eingespielt. Sie kann Beamte nach Hanau schicken, die dort den Zug besteigen und schon während der Fahrt die Dame ermitteln.« –
Es ging auf Mitternacht, als Dr. Wolff vom Riebaer Polizeiamt aus in der Villa Kampendonks anrief. »Herr Geheimrat, die Dame ist verhaftet! Die Papiere hat man ihr abgenommen!« – –
Wittebold hatte sich in seiner Wohnung als Ersatz für das versäumte Mittagessen ein kleines, frugales Mahl bereitet und wollte sich eben ein bißchen aufs Ohr legen, da kam Frau Luise Schappmann herein und brachte ihm einen Brief. »Einen schönen Gruß von Frau Kanzleirat Gerland . . . Portiers kleiner August hat eben den Brief for Sie abgegeben.«
Wittebold schnitt den Umschlag auf. Ein heller Glanz trat in seine Augen. Stand doch da, daß die Frau Kanzleirat Gerland sich die Ehre gäbe, Herrn Wittebold am Abend zu einer Tasse Tee einzuladen . . .
Frau Schappmann, die stets voll Stolz von sich sagte: »Bei mir Staub? Bei mir können Se von die Diele essen!« – diese Frau Schappmann fand plötzlich viel Staub in Wittebolds Zimmer. Sie wischte krampfhaft auf der Mahagonikommode, obwohl doch selbst mit dem Mikroskop dort kein Staubkörnchen zu entdecken war. Dabei schielte sie immer nach dem Brief, der vor Wittebold auf dem Tisch lag. Sie brannte innerlich voll Neugierde, zu erfahren, was da wohl drinstehen mochte.
Doch sie wartete vergeblich auf ein Wort aus Wittebolds Mund. Der saß da, wie in tiefes Nachdenken versunken; schien gar nicht zu sehen, daß sie noch da war. Vergebens räusperte sie sich ein paarmal recht laut; stieß schließlich sogar ärgerlich die beiden kostbaren Prunkrömer, ihren Stolz, heftig zusammen, daß es einen lauten Klang gab. Alles umsonst.
Endlich konnte sie ihre Neugierde nicht länger meistern. Nach ein paar vernehmlichen »Hm – hm!« trat sie von ungefähr vor Wittebold hin und sagte in sanftestem Flüsterton: »Nun – Herr Wittebold? Was schreibt Ihnen denn die gute Frau Kanzleirat? Was ist denn das so Wichtiges, daß Sie es noch am Abend erfahren müssen? Hat es nicht bis morgen früh Zeit?«
Wittebold, aus seinen Gedanken aufgestört, sah sie einen Augenblick fragend an. »Was meinten Sie, Frau Schappmann? Der Brief da – was da drinsteht? Nun – eine Einladung für heute abend.«
»For Ihnen, Herr Wittebold?« Unbegrenztes Staunen, vermischt mit Hochachtung, lag in Luises Worten.
»Jawohl, Frau Schappmann: for mir!« antwortete Wittebold lächelnd. »For mir! Darüber wundern Sie sich wohl?«
»Na – aber selbstverständlich, Herr Wittebold! Darüber wundere ich mir sehr. Is doch eine ganz ungewohnte Ehre, die Ihnen Frau Kanzleirat da antut.«
»Nun ja, Frau Schappmann – wie man's gerade nimmt. Ich denke mir, daß Fräulein Tilly mit mir so einiges zu besprechen hat, wozu sich im Labor keine Zeit findet. Na«, – er sah nach der Uhr –, »in einer Stunde werden wir klüger sein. – Bringen Sie mir doch, bitte, etwas warmes Wasser zum Rasieren! Ich will mich gleich zurechtmachen.«
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