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Die für den folgenden Tag angesetzte Direktionssitzung stand unter dem Eindruck der Ereignisse der vergangenen Nacht. Wohl noch nie, seit das Werk bestand, hatte eine derartige Aufregung unter den leitenden Personen geherrscht. Der Raum war mit nervöser Spannung geladen. In erregter Unterhaltung standen die Direktoren in Gruppen zusammen, als Kampendonk eintrat.
Der gab einen authentischen Bericht über die Geschehnisse. Er schloß seine Ausführungen: »Irgendwelche Zweifel über die Ungeheuerlichkeit dieses teuflischen Planes bestehen nicht. Die zurückgelassenen Apparate und Werkzeuge, die sonstigen Feststellungen am Tatort geben ein völlig klares Bild des beabsichtigten, teilweise gelungenen Verbrechens. Von besonderer Wichtigkeit für die Verfolgung der Täter wird natürlich die Aussage der Frau Direktor Terlinden sein. Augenblicklich leidet die Dame noch an den Folgen eines Nervenschocks. – Es liegt zweifellos eine gewisse Tragik in dieser – ich möchte sagen – Duplizität der Ereignisse: erst der Unfall ihres Gatten, jetzt das Verbrechen an Doktor Fortuyn, einem Freund ihres Hauses . . . beides durch Gas!«
»Bestehen irgendwelche Vermutungen, wer hinter dem Ganzen steht?« fragte Direktor Lindner. »Wer der eigentliche Urheber des Verbrechens ist?«
Kampendonk schüttelte den Kopf. »Es ist nur erwiesen, daß die Gasbehälter französisches Fabrikat sind, über den weiteren Gang der Untersuchung werde ich die Herren auf dem laufenden halten. Ich will nun zu dem eigentlichen Gegenstand unserer Konferenz kommen. Es handelt sich um die Frage, ob wir jetzt die Großfabrikation von Kautschuk nach dem Verfahren Doktor Morans aufnehmen sollen oder nicht. Ich habe Herrn Lindner zum Berichterstatter bestimmt. Wollen Sie, bitte, Ihr Referat geben, Herr Direktor!«
Lindner nahm das Wort. »Ich nehme an, daß sämtliche Herren im Besitz der Arbeit von Doktor Wendt sind? Ich kann mich daher darauf beschränken, auf diese Ausführungen zu verweisen, da sie vollkommen klar und erschöpfend die Frage behandeln. Ich unterschreibe dieses Gutachten Wort für Wort und habe ihm nichts hinzuzusetzen.«
Eine Reihe anderer Direktoren schloß sich der Meinung Lindners an. Andere, Freunde Morans, opponierten. Von verschiedenen Seiten wurde der Wunsch ausgesprochen, Dr. Moran selbst zu hören. Kampendonk pflichtete dem bei.
Nach einer Weile trat Moran ein. Kampendonk wandte sich zu ihm. »Wir verhandeln gerade über die Arbeit des Herrn Doktor Wendt. Das Interesse der Sache und das Billigkeitsgefühl Ihnen gegenüber, Herr Doktor Moran, lassen es wünschenswert erscheinen, daß Sie selbst sich zu den Ausführungen Doktor Wendts äußern. Die Meinungen der Herren hier sind geteilt.«
Moran begann zu sprechen. Mochte er nun unter dem Eindruck der allgemeinen Spannung stehen, mochten andere Gründe mitsprechen, seine Ausführungen machten trotz der Gewandtheit und Lebhaftigkeit, mit der er sie vortrug, einen Eindruck der Unsicherheit, Verlegenheit. Er endete mit der Erklärung: »Ich gebe zu, daß der Aufnahme der Großfabrikation im Augenblick noch gewisse Bedenken, entgegenstehen können. Unter Berücksichtigung des großen Risikos für das Werk möchte ich daher bitten, die Untersuchungen speziell zur Klärung der Polymerisierungsvorgänge fortsetzen zu dürfen. Damit will ich jedoch durchaus nicht sagen, daß ich die Einwände des Kollegen Wendt für unbedingt stichhaltig ansehe, und hoffe binnen kurzem den Beweis dafür zu bringen . . . gegebenenfalls mein Verfahren entsprechend zu ergänzen.«
Kampendonk machte ein wenig erfreutes Gesicht, sagte kurz: »Wir werden in den nächsten Tagen dazu Stellung nehmen und Sie benachrichtigen, Herr Doktor.«
Als Moran gegangen war, erklärte Kampendonk: »Den zweiten Punkt der Tagesordnung, die Bestellung eines neuen Direktors für den ausscheidenden Herrn Düsterloh, möchte ich mit Rücksicht auf die Erkrankung Herrn Doktor Fortuyns absetzen.«
Kaum war die Versammlung geschlossen, als der Geheimrat ans Telephon gerufen wurde. Der Arzt des Krankenhauses teilte mit, daß sich Fortuyns Befinden weiter gebessert habe; die Lähmung der Glieder sei gewichen, der Patient außer Gefahr.
Kampendonk nahm Hut und Stock. Er wollte zur Villa Terlinden, um Johanna einen Besuch zu machen. Als er an Fortuyns Laboratorium vorbeikam, fiel ihm etwas ein. Er trat hinein und fragte nach Fräulein Dr. Gerland.
Die saß in Fortuyns Büro. Wittebold stand neben ihr und erzählte von der Nacht.
»Ich bin natürlich auch schon ein paarmal vernommen worden. Besonders Doktor Wolff setzte mir wegen meines nächtlichen Spazierganges eklig mit Fragen zu. Ich mußte mich drehen und winden, um ihn nicht hinter meine Karten sehn zu lassen. Unsere gute Polizei begnügte sich mit meiner Erklärung, ich hätte noch einmal so spät weggehn müssen, um einen Brief in den Kasten zu werfen.«
In diesem Augenblick trat Kampendonk ein. Tilly gab Wittebold eine Mappe. »Bringen Sie diese Sachen gleich zur Registratur, Herr Wittebold!«
Bei der Nennung des Namens wandte sich der Geheimrat an Wittebold: »Sie sind also der Mann, der in der letzten Nacht so rechtzeitig zur Stelle war?« Kampendonk stellte noch einige Fragen, entließ dann den Bürodiener mit ein paar freundlichen Worten.
»Ich wollte Ihnen die Mitteilung machen, Fräulein Gerland, daß es Herrn Fortuyn bedeutend besser geht. Sie können also damit rechnen, daß Sie von seiner Vertretung bald entbunden werden.« Während der Geheimrat sprach, fiel sein Blick auf eine offene Mappe, in der Bauzeichnungen lagen. »Womit beschäftigen Sie sich denn da?« forschte er erstaunt.
Tilly errötete. »Herr Doktor Fortuyn zeigte immer besonderes Interesse für die eventuellen fabrikatorischen Anlagen . . . für den Fall, daß sein Verfahren laboratoriumsmäßig abgeschlossen wird . . .«
Der Geheimrat fiel ihr interessiert ins Wort: »Und da entwirft man hier schon Bauzeichnungen? Ich weiß im Augenblick nicht, was ich dazu sagen soll . . . Entweder hat man hier – ich will mal sagen – der Wirklichkeit weit vorauseilende Träume . . . oder Herr Doktor Fortuyn muß . . .« Er sah in Tillys verlegenes Gesicht. »Doch darüber werde ich mit ihm selber sprechen, wenn er wiederkommt.«
Als Tilly den Geheimrat durch den Laboratoriumssaal begleitete, blieb er bei dem Arbeitstisch Dr. Wendts stehen und gab ihm die Hand. »Kommen Sie, bitte, morgen früh zu mir! Ich habe mit Ihnen über Ihre interessante Arbeit zu sprechen.« Er verließ das Laboratorium.
»Na, Rudi! Auf wieviel Gehaltszulage rechnen Sie denn?« fragte Tilly scherzend.
Rudi stellte sich in Positur. »Ich hörte von einem freiwerdenden Direktorposten sprechen. Vielleicht . . .«
»Da scheine ich ja was Schönes angerichtet zu haben!« rief Tilly. »Wenn Sie an Größenwahn sterben, bin ich noch daran schuld!« – –
Auf seinem Weg dachte der Geheimrat Kampendonk immerfort an die Baupläne in Fortuyns Arbeitszimmer. Als er die Villa Terlinden betrat, war er jedenfalls in glänzender Laune . . . trotz allem, was geschehen.
*
»Was willst du schon wieder in Berlin?« fragte der Kantinier Richard Meyer seinen Bruder Franz. »Die Bestellung kannst du ebensogut schriftlich machen!«
Franz murmelte ein paar undeutliche Worte vor sich hin . . . Da ist doch auch noch diese alte Differenz in der Rechnung vom Dezember«, sagte er nach einigem Überlegen. »Die muß endlich aus der Welt. Ist schon besser, ich fahre selbst zu Boffin.«
Sein Bruder knurrte einige wenig schmeichelhafte Worte, wie »unnötig Geld ausgeben . . . in Berlin 'rumtreiben . . .« und ließ ihn stehen. –
Schon als Franz Meyer zum Bahnhof ging, schaute er sich häufig um. Es war ihm seit einiger Zeit immer, als folge ihm ein Schatten. In Berlin nahm er nicht den direkten Weg zu Boffin, sondern raste erst durch verschiedene Warenhäuser, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Als er in Boffins Büro kam, empfing ihn der mit saurem Gesicht.
»Ihr Plan, Ihr Plänchen, Herr Meyer! Hm! Schöne Schweinerei! Hm!«
»Was kann ich dafür«, brauste Meyer auf, »daß die Sache schief gegangen ist? Die Dummheit muß doch hier in Berlin gemacht worden sein! Die Frau Terlinden ist doch aus Berlin gekommen!«
Boffin zog ärgerlich die buschigen Brauen zusammen. Dasselbe hatte er sich auch schon gesagt. Hatte aber nicht die geringste Spur entdecken können, wo der Fehler gemacht worden war. Ärgerlich brummte er: »Damit ist noch lange nicht gesagt, daß sie in Berlin irgend etwas erfahren hat. Dieser Kerl von Bürodiener – wie hieß er doch gleich? Wittebold? – ist doch nicht in Berlin gewesen und muß trotzdem auf irgendeine Art Wind von der Sache gehabt haben. Was ist denn das eigentlich für ein Mensch?«
Meyer verzog das Gesicht. »Der Teufel weiß es!« knurrte er vor sich hin. »Der Kerl kommt mir schon seit einiger Zeit nicht ganz geheuer vor. Es war mir doch ein paarmal so, als wenn der hinter mir herspürte.«
Boffin machte ein bedenkliches Gesicht. Sagte gedehnt: »Sooo?! Dann wär's vielleicht gut, wenn wir ihm einen von unseren Leuten auf die Fersen setzten. Gegenspionage ist manchmal lohnender als eigene.«
»Können Sie ruhig tun, Herr Boffin! Ich traue dem Kerl nicht über den Weg. Wo stecken denn die beiden Bewußten?«
»Feldmann und der andere? Die sind längst über die Grenze. Hoffe, daß da nichts weiter nachkommt . . . Eins wird aber auf jeden Fall nachkommen«, setzte er nach einer Weile hinzu, »der Anranzer von . . .« – ›Mr. Headstone‹, wollte er sagen, verbesserte sich aber schnell: ». . . von Detroit!«
Meyer betrachtete gleichgültig die in Erwartung dieses Anranzers schon einigermaßen zerknirschte Miene Boffins. Sagte mit deutlichem Hohn: »Es wäre doch besser gewesen, Herr Boffin, wenn Sie mich ein bißchen mehr hätten in Ihre Karten gucken lassen. Aber bei so großen Sachen, die viel Pinke-Pinke bringen, läßt man Franzen nicht mitspielen. Und . . . große Sache, sagte ich. Na, wissen Sie, mein lieber Herr Boffin: ›große Sache‹ ist ja gar kein Ausdruck dafür. Was ich so den andern Tag im Kasino gehört habe . . . Doktor Fortuyn hat ja ausgerechnet den ganzen Klumpatsch da oben bei sich gehabt!«
»Was . . . was heißt hier Klumpatsch?« fuhr Boffin hoch.
»Na, den – den ganzen Kram von seiner Erfindung!«
Boffin prustete und schnaufte eine Weile bedenklich. »Ist das wirklich wahr, Meyer?«
»Es ist wahr, wenn die Herren im Kasino, die heut mittag darüber sprachen, nicht gelogen hoben.«
»Und wo ist das ganze Material jetzt hingekommen? Fortuyn ist doch im Krankenhaus.«
»Ist alles in den Sicherheitsraum vom Archiv gebracht worden.«
Boffin rang verzweifelt die Hände. »Zum Blödsinnigwerden! Jetzt ist natürlich alles vermasselt. Eisenbetonwände – meterdicke Stahltüren – Alarmvorrichtungen . . . na, kann's mir schon denken!«
Meyer lächelte überlegen. »Durchaus nicht, Herr Boffin. Da denken Sie eben eklig falsch!«
Boffin trat dicht vor ihn, riß den Kneifer ab, schaute ihn mit großen Augen an. »Sie sagten doch eben: in den Sicherheitsraum! Was heißt denn ›Sicherheitsraum‹?«
»Sicherheitsraum ist . . . gar nichts!« sagte Meyer mit einer großspurigen Handbewegung. »Was Sie meinen, das heißt doch Tresor. Das haben wir im Keller . . . Hätte eigentlich schon immer mal gerne gewußt, was da drin ist«, sagte er sinnend.
»Na, was ist denn nun eigentlich Ihr Sicherheitsraum?« fuhr Boffin auf ihn los.
»Gar nischt weiter wie das Zimmer hier auch. Nur, daß Boden, Wände und Decken feuersicher gebaut sind.«
»Und die Türen?« fragte Boffin interessiert.
»Na, eiserne Türen natürlich. Von ganz anständiger Dicke.«
»Hm!« Boffin bot Meyer eine Zigarre an und verschwand für einige Augenblicke. Als er wiederkam, sagte er: »Nun schießen Sie mal los, Meyer! Sie haben todsicher was auf der Pfanne?«
Nach einigen Präliminarien, die sich um die Sicherung Meyerscher Ansprüche bei einem guten Ausgang des Unternehmens drehten, begann dieser, seinen Plan im einzelnen zu entwickeln. Je weiter er sprach, desto mehr glätteten sich die Sorgenfalten auf Boffins Stirn. Als Meyer geendet, verschwand Boffin wieder auf einige Augenblicke. Hatte aber vorher seinem Gast ein Glas Wein vorgesetzt.
Diesmal wurde die Unterhaltung zwischen Boffin und der Collins noch kürzer als das erstemal. »Die einzige Möglichkeit für Sie, sich bei Headstone wieder ehrlich zu machen, mein lieber Boffin!« hatte die Collins gesagt.
Meyer wurde von Boffin mit großer Herzlichkeit zur Tür geleitet. – –
Juliette und Waldemar saßen in dessen Wohnung am Kaffeetisch. Die Likörgläser waren schon des öfteren gefüllt und geleert worden, aber es wollte sich trotzdem keine rechte Stimmung einstellen. Sie machten beide Gesichter, als ob sie sich gezankt hätten.
Eigentlicher Zank war es zwar nicht gewesen, aber Juliette hatte Waldemar heftige Vorwürfe gemacht. Er sei schuld; er habe auf der Fahrt von Köln nach Berlin die Rede auf Fortuyn und Rieba gebracht. Sie habe erst gar nicht darauf eingehen wollen; schließlich sei sie dummerweise auf seine Fragen 'reingefallen. Die Dame, die während der ganzen Fahrt neben ihnen gesessen hätte, sei ganz wahrscheinlich dieselbe, die da so zu unrechter Zeit in Fortuyns Haus gekommen sei.
Die Ursache dieser Auseinandersetzung war ein langes, peinliches Verhör, das Boffin mit Juliette angestellt hatte. Nur durch eine grobe Unvorsichtigkeit eines der Beteiligten, hatte der gesagt, könnte die Sache verpfuscht worden sein, und hatte sie dann auf das genaueste ausgefragt.
Schon bei der Erwähnung der Dame, die nachts in Fortuyns Haus gekommen, war Juliette schwül zumute geworden. Natürlich hatte sie Boffin gegenüber jede Unvorsichtigkeit abgeleugnet. Aber innerlich machte sie sich die heftigsten Vorwürfe über den Leichtsinn, in offenem Gespräch, wenn auch in englischer Sprache, soviel mit Waldemar geplaudert zu haben.
Waldemar wollte Juliettes Vorwürfe nicht auf sich sitzenlassen, schob ihr den gleichen Teil an der Schuld zu. Vom langen Streiten ermüdet, saßen sie verdrossen da. Da schrillte das Telephon. Boffin war am Apparat. Juliette sollte sofort zu ihm kommen. –
Was Boffin ihr zu sagen hatte, trug nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Wieder dieser alte, häßliche Vorschlag! Sie sträubte sich lange, doch vergebens. Mit Hilfe von Fräulein Collins gelang es endlich, sie zu überreden.
*
Eine Woche war seit jener Unglücksnacht verflossen, aber noch immer bildete das ungewöhnliche Verbrechen den Gesprächsstoff in Rieba. Am meisten Kopfzerbrechen machten sich die Leute natürlich darüber, auf welche geheimnisvolle Weise die Frau Direktor Terlinden von dem Anschlag erfahren hatte.
Allmählich begann man sich auch über die häufigen Besuche dieser Dame bei dem Opfer des Attentats zu wundern. Täglich fuhr der Wagen der Frau Direktor vor dem Krankenhaus vor. Frau Terlinden überbrachte dem Kranken stets frische Blumen, verweilte oft stundenlang an seinem Lager.
Eines Tages war Tilly zu Fortuyn ins Krankenhaus gekommen, um von ihm eine Auskunft zu erbitten. Als sie in das Krankenzimmer trat, fand sie dort Johanna Terlinden.
Fortuyn bewillkommte Tilly mit größter Freundlichkeit und Wärme. Auch Johanna begrüßte sie, die sie aus Fortuyns Gesprächen schon lange als dessen bewährte und vertraute Mitarbeiterin kannte, herzlich. Fortuyn geriet in beste Laune. Er scherzte, neckte, brachte die beiden immer wieder zum Lachen.
Der eintretende Arzt machte ein zufriedenes Gesicht, als er seinen Patienten so vergnügt vorfand. Als er beginnen wollte, Fortuyn zu untersuchen, benutzte Tilly die Gelegenheit, sich schnell zu verabschieden.
Draußen sog sie tiefatmend die freie Luft ein. Mit beschleunigten Schritten eilte sie den Weg zur Stadt entlang. Hastend, als wollte sie fliehen vor etwas, das sie vergessen, nicht sehen wollte. Und dem sie doch nicht entrann; das neben ihr, mit ihr ging, sie begleitete.
An jenem Abend, als sie in seiner Wohnung gewesen, als sie das Bild Johannas da gesehen, war ihr ja schon klargeworden, wie es mit Fortuyn stand. Einen Riß in ihrem Herzen hatte es gegeben. Tapfer hatte sie die Zähne aufeinandergebissen – hatte versucht, den Schmerz in angestrengter Arbeit zu betäuben, alle Gefühle für Fortuyn aus ihrem Herzen zu verbannen. Glaubte sich schon fast frei.
Doch Wahn nur! – Das Zusammensein mit den beiden Glücklichen oben . . . eine Qual war's für sie gewesen! Jeder Blick, den die tauschten, sprach ja von Liebe und Leidenschaft. Während ihr Mund zu Fortuyns Scherzen lachte, schrie ihr Herz vor Leid.
Während sie den Weg weiter eilte, nannte sie sich immer wieder eine Törin, schalt auf ihr weiches, dummes Herz. »Aber warte nur, du unnützes Ding! Ich will doch mal sehn, ob ich dich nicht zur Räson bringen kann!« Mit Gewalt riß sie sich zusammen, suchte wieder die alte, resolute Tilly zu sein, die doch so leicht nichts anfocht. Mochte auch das Herz rebellieren, mit Gewalt zwang sie sich zu schärfstem logischem Denken. Mit unbarmherziger Objektivität begann sie zu analysieren.
»Wie steht's denn eigentlich? Was bist denn du gegen diese? Du bist ein studiertes Mädchen, das recht und schlecht seine Pflicht im Labor tut. Daß du schön bist, kann nur ein Schmeichler sagen. Sympathisches Wesen? . . . Ja, das will ich dir zur Not zugestehen. Außerdem? . . . Nichts davor und nichts dahinter! – Dagegen diese Frau! Alle Vorzüge, die eine Frau haben kann . . . sie hat sie! Jung, schön, reich! Dazu Sproß aus alter chemischer Dynastie . . . liebenswürdig, gut . . .«
Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als striche sie einen mathematischen Ansatz durch. »Falsch gedacht! Die Gleichung geht nicht auf!« Sie atmete ein paarmal schwer. Schlug sich dann, wie ärgerlich, auf die Brust. »Schweig doch still, du dummes Herz! Wie konntest du denn nur . . .?«
Stets gewohnt, gründlich und exakt zu arbeiten, meinte Tilly, nach diesem mathematischen Versuch auch den Fall Fortuyn als Fehlproblem beiseitewerfen zu können. Als sie die Stadt erreichte, glaubte sie auch wirklich, das Schwere schon überwunden zu haben. Doch da war ein großer Irrtum in ihrer Rechnung: Sie mußte die Erfahrung machen, daß das Menschenherz keine Retorte ist und seine Reaktionen nicht gehorchen wie die eines toten Apparates.
Mehr als einmal fand ihre Mutter sie in trübem Nachdenken. Und als sie daraufhin schärfer beobachtete, sah sie mit Besorgnis die Veränderung, die mit ihr vorgegangen. Das war nicht mehr ihre alte Tilly. Wo war ihr frisches, frohes Wesen geblieben? Woher dieses stille, ernste Gesicht? Oft drängte es sie, ihr Kind zu fragen, um teilnehmen, trösten zu können. Doch immer wieder vermied es die Mutter. Herzenskrisen, dachte sie im stillen. Wem bleiben sie erspart? Besser nicht daran rühren!
Die Tage und Wochen gingen ins Land. Mählich begann sich die Wunde in Tillys Herz zu schließen. Wohl gab es noch einsame Stunden, in denen ihr alles um sie her grau erschien. Doch auch die wurden immer seltener. Und als der Tag kam, an dem Fortuyn aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, hatte sie sich durchgekämpft, war wieder die alte.
*
Nach Dienstschluß war Tilly, mit einem Blumenstrauß in der Hand, 'rüber zu Schappmanns gegangen. Man feierte dort den Geburtstag der guten Luise. Tilly hatte, nachdem sie der alten Frau gratuliert, gleich wieder gehen wollen. Doch sie hatte den vereinten Bitten der alten Leutchen nicht widerstehen können. Hatte an dem festlich geschmückten Kaffeetisch Platz nehmen müssen und mit den anderen mitgehalten.
Als später Wittebold mit den beiden Alten allein zusammensaß, sagte Schappmann schmunzelnd: »Is doch ein Prachtmädel, das Fräulein Tilly! So vergnügt habe ick ihr ja noch nie gesehn wie heute. War ein schöner Geburtstag, meine gute Luise!« Er legte zärtlich den Arm um ihre Schulter, sprach dabei weiter: »Und fing heute morgen doch gar nicht so schön an! Is nun schon das zweite Mal, daß ich zum Gericht mußte von wegen diesen verfluchtigen englischen Hund, den Bernhard. Weiß gar nich, wozu das noch nötig war. Der Kerl soll doch gestanden haben. Ich konnte auch gar nichts anderes sagen wie beim erstenmal. Habe bloß den Gerichtsherrn gebeten, er soll dem falschen Kerl extra was aufbrummen, weil er mir so schmählich betrogen hat wegen meiner Nächstenliebe.«
»Na«, meinte Wittebold lachend, »der wird sowieso schon nicht so billig wegkommen! Billiger werden sie's wohl nicht machen als bei Embacher, der nun schon seine fünf Jährchen weg hat!«
»Lange nich genug!« ereiferte sich die gute Luise. »Der müßte noch mal soviel kriegen, von wegen diese Gemeinheit an meinen guten Ollen! Und, was ich sagen wollte: Haben sie denn noch gar keine Spur nich von den Kerlen, die das grausame Attentat auf Herrn Doktor Fortuyn gemacht haben?«
Wittebold schüttelte den Kopf. »Leider nicht, Frau Schappmann. Wundre mich ja auch, denn es wer ja nicht einer, waren ja ein paar . . . und die müßten sie doch . . .« Nach einigem Nachdenken fuhr er fort: »Die werden wohl längst über die deutsche Grenze gebracht sein . . . schwimmen vielleicht schon auf dem großen Wasser!«
»'s war doch wirklich ein großes Glück«, meinte die gute Luise, »daß Sie noch dazukamen, Herr Wittebold! Hätt' es noch länger gedauert, wäre der arme Doktor Fortuyn an das Gift gestorben.«
Schappmann wiegte den Kopf. »Gestorben? . . . Vielleicht wäre ihm das auch so gegangen wie dem Herrn Direktor Terlinden. Wie lange hat sich der arme Mann quälen müssen, bis er nu endlich vorgestern gestorben is! Ick habe ihm gut gekannt. Wäre auch gern mit auf seine Leiche gegangen. Aber er wird ja in Wiesbaden begraben, wo seine Familie herstammt.«
»Die arme Frau Terlinden!« klagte die gute Luise. »So jung und schon soviel Leid ins Leben! Kinder hat se ooch nich. Kann einen wirklich leid tun, die Frau!«
»Sie werden sich wundern, lieber Schappmann, wenn Sie mal zu uns ins Werk 'rüberkommen«, sagte Wittebold. »Hat wieder einige Änderungen gegeben. Was da eigentlich passiert ist, weiß ich nicht. Aber es kommt mir so vor, als wenn es aus wäre mit der Herrlichkeit von dem neuen Herrn Moran. Ein paar von seinen Assistenten, die früher bei Doktor Fortuyn gearbeitet haben, sind wieder in dessen Labor zurückversetzt worden.«
»Wat Se sagen, Herr Wittebold! Wer es denn det alles?«
Wittebold nannte Dr. Göhring und noch ein paar andere Namen.
»So? Und Doktor Abt nicht? Der war doch früher auch bei Fortuyn?« fragte Schappmann.
»Nein! Der gerade nicht. Wundert mich.«
»Ach!« machte Schappmann. »Hätt' ich ooch nich getan, an Doktor Fortuyns Stelle! Hätt' den Doktor Abt ooch nich wiedergenommen. Weeß nich, der Herr hat mir niemals gefallen.«
»Warum denn, Herr Schappmann?« fragte Wittebold interessiert. »Was haben Sie denn gegen ihn?«
»Was soll ich gegen ihn haben? Er gefällt mir eben nich – hat mir von Anfang an nich gefallen. Schon wie der zu uns kam, hörte ick so nebenbei allerhand Sachen, die nich schön waren. Der hat da irgendwo in Berlin 'ne Frau sitzen gehabt, um die er sich so gut wie gar nich gekümmert hat. Sie mußte ihn verklagen. Un denn is se geschieden worden . . . un denn hat er immer so 'ne Weiber aus Leipzig hier mit hergebracht. Ein Skandal war's, wie er mit die hier in die besten Lokale 'rumgezogen ist und sich gezeigt hat! – Na«, setzte Schappmann befriedigt hinzu, »det haben se ihm ja auch von obenher nich schlecht übelgenommen, und da hat er's denn lassen müssen.«
»Scheint mir überhaupt ein Lebemann zu sein, der Herr Doktor Abt«, meinte Wittebold. »Wie ich so sehe und höre, ist er ja in den ›Vier Jahreszeiten‹ bester Gast. Muß Geld haben. Denn mit seinem Gehalt kann er doch eigentlich so große Sprünge nicht machen. Von seinen Leipziger Reisen ganz zu schweigen.«
»Nee!« sagte Schappmann bestimmt. »Geld hat der nich! Höchstens Schulden. Weeß doch, wie oft der Gerichtsvollzieher im Anfang, als er hier war, ihn besuchen kam! Det Geld muß er erst später gekriegt haben.«
»Hm!« Wittebold schaute nachdenklich auf die Reste des Napfkuchens, als ob er da sehen könnte, woher das Geld des Herrn Dr. Abt käme.
»Da wir nu mal gerade von Geld sprechen«, fing Schappmann an, »ick habe nächstens mal wieder Gelegenheit, ein paar Groschen zu verdienen.«
»Wollen wohl wieder mal einen vertreten?« fragte Wittebold.
»Will ick!« versetzte Schappmann. »Un auf ein paar Monate gleich.«
»Nanu?« unterbrach Wittebold ihn erstaunt. »Davon haben Sie ja noch gar nichts gesagt. Wie denn? Wo denn?«
»Hab' ick gestern ooch noch nich gewußt«, schmunzelte Schappmann. »Wie ick heute morgen den Kollegen Börner begegne, hält der mich fest un sagt, er wird in den nächsten Tagen auf zwei Monate in den Harz geschickt von wegen seinen Blasebalg.« Schappmann klopfte sich dabei auf seinen mächtigen Brustkasten. »Der arme Kerl hat doch auch vor ein paar Jahren 'ne ordentliche Prise Gas geschluckt. Von det Zeug, wat se im Krieg auch in die Granaten getan haben. ›Ob ick mir denn zutraute, ihn die ganze Zeit zu vertreten?‹ hat er gefragt. – ›Na‹, sagte ick, ›det wär' ja noch schöner, wenn ick nich die acht Wochen für dich abmachen könnte. So klapprig is der alte Schappmann doch noch nich.‹ Na, der Börner freute sich nich schlecht. Nahm mich gleich mit ins Büro, un in null Komma nix war die Sache abgemacht!«
»Er spricht man so«, sagte die gute Luise kopfschüttelnd zu Wittebold. »Acht Wochen lang nich ins Bett kommen . . . Is das nich leichtsinnig von so 'nen alten Mann?«
»Ah, richtig«, meinte Wittebold. »Börner hat ja die Aufsicht über die Scheuerfrauen im Hauptgebäude . . . Acht Wochen lang Nachtschicht, lieber Schappmann?«
Der strich sich selbstbewußt den grauen Schnurrbart. »Ach wat! Alte Leute haben nich viel Schlaf nötig. Ick kann am Tage genug schlafen. Außerdem dürfen Sie nich vergessen, Kollege, daß es Pinke-Pinke für den Nachtdienst gibt. Und det Geld, det kann ick gut brauchen!«
»Hoho! Hoho!« machte Wittebold lachend. »Was haben Sie denn Schönes vor?«
»Wat ick vorhabe? Det sollen Sie gleich wissen. Ick sitze nu mit meine gute Luise schon vierzig Jahre hier in Rieba. Und in die vierzig Jahre, da sind wir doch nich einmal aus dem Nest 'rausgekommen. Wenn ick det viele Geld kriege, denn fahren wir zusammen ins Riesengebirge, wo meine Luise her is, un gucken uns da alles an, was wir da mal in unsre Jugend gesehn haben.« Schappmann hob sein Glas, trank seiner Frau und Wittebold zu. »Na, prost! Daß wir noch recht oft so frisch un munter Geburtstag feiern können!«
Er wollte Wittebolds leeres Glas wieder füllen, doch der wehrte ab. »Genug, Herr Schappmann! Es wird Zeit, ins Bett zu gehen.«
Er stand auf und ging in sein Zimmer hinüber. Lag bald darauf im Bett, doch der Schlaf kam nicht.
Das, was er eben von Schappmann über Dr. Abt gehört hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Immer wieder tauchte ihm die Frage auf: Woher bekam Abt das Geld für seinen kostspieligen Lebenswandel? Das alte Rezept? Die schwache Seite eines Menschen auszunutzen, um ihn gefügig zu machen und in die Hände zu bekommen? . . . Er hielt in seinem Gedankengang inne. Ein Schauer überflog ihn. War er doch auch . . . damals . . .
Abt bezahlter Spion in fremden Diensten? Je länger Wittebold grübelte, desto stärker wurde der Verdacht in ihm. Schon seit einiger Zeit glaubte er bemerkt zu haben, daß zwischen Dr. Abt und dem Büfettier Meyer gewisse Beziehungen bestünden, die zwar keineswegs besonders auffällig waren, die ihm aber, der ja Meyer als längst Verdächtigen im allgemeinen und in seinem Verkehr mit anderen scharf beobachtete, nicht entgangen waren.
Meyer! . . . Fast jede freie Minute, jeder freie Gedanke Wittebolds waren diesem Büfettier gewidmet. Daß der ein unehrliches Spiel trieb, war ihm klar. Besser gesagt: davon war er überzeugt; denn trotz aller Überwachung, trotz schärfster Überlegung konnte er keine Klarheit gewinnen, worin das unehrliche Spiel Meyers bestand. Der war ohne Zweifel ein Spion. Aber in wessen Diensten stand er? Worauf erstreckte sich seine Spionage?
Wittebolds Streben zielte ja, wie er sich bei seiner Abfahrt von New York zugeschworen hatte, darauf hin, Headstone entgegenzuarbeiten, ihm ein Paroli zu bieten. Nun wußte er durch Fortuyn, daß Detroit ein ausgedehntes, mit bestem Erfolg arbeitendes Spionagesystem in Rieba unterhielt. Seit der Zeit hatte er sich den Kopf zermartert, um einen Anhaltspunkt zu finden, den Headstoneschen Spionen auf die Spur zu kommen.
Meyer!? Vielleicht, daß hier eine Spur war. Der Verkehr des Büfettiers mit dem amerikanischen Kaufmann Boffin, der sich in so absonderlichen Formen abspielte! Boffin – eine Kreatur Headstones?
Seitdem er jene Beziehungen Meyers zu Dr. Abt festgestellt zu haben glaubte, war sein Verdacht, daß Meyer ein Glied dieses Spionagesystems, jener Boffin vielleicht der Leiter sei, immer stärker geworden. Daß nämlich die eigentliche aktive Spionage – das heißt, der Diebstahl Fortuynschen Materials – nur von jemand, der damit durchaus Bescheid wußte, ausgeübt werden konnte, war ihm klar. Dr. Abt hatte bis vor kurzem in Fortuyns Abteilung gearbeitet. Auch jetzt, in seiner Stellung bei Moran, konnte es Abt nicht allzu schwerfallen, sich bei unauffälligen Besuchen in der Registratur, wo sich immer mal Gelegenheit fand, Fortuynsche Arbeiten einzusehen, wichtiges Material zu verschaffen.
Aber wie darüber Gewißheit erlangen? Schon mehrmals hatte Wittebold, verzweifelt bei dem Gedanken, daß seine eigenen Kräfte nicht ausreichten, Dr. Wolff Mitteilung machen wollen. Doch immer wieder hatte er den Gedanken fallen lassen. Nicht nur, weil ihn der Ehrgeiz trieb, allein derjenige zu sein, der Headstone bekämpfte und besiegte. Nein, auch weil er das ungewisse Gefühl hatte, daß dann übereilt gehandelt würde. Wahrscheinlich würden dann Meyer und Abt verhaftet werden. Aber das konnte nur eine Schwächung des Feindes, niemals seine Vernichtung bedeuten.
Denn noch zu anderen Stellen – und gewiß nicht zu untergeordneten – mußte der Feind seine Verbindungen gelegt haben. Jene Mitteilung des deutschen Agenten an Kampendonk, daß man von Rieba aus vor ihm gewarnt habe, ging ihm nicht aus dem Kopf. Von wem rührte diese Warnung her? Gewiß: manches, was in geheimer Sitzung besprochen war, sickerte doch öfters mit der Zeit in andere Kreise . . .
Dr. Abt arbeitete bei Moran und war sein bevorzugter Mitarbeiter. Im Anfang schien diese Stellung Dr. Göhring zuzufallen. Dann aber war ganz offensichtlich Dr. Abt derjenige geworden, der Moran von allen Assistenten am nächsten stand. Vielleicht, daß Moran mal in einer unvorsichtigen Äußerung etwas über den Inhalt jener Direktionskonferenz gegenüber Abt hatte verlauten lassen?
Wittebold hatte sich damals sofort eine genaue Liste derjenigen Personen verschafft, die an der Direktionssitzung teilnahmen, in der Kampendonk jene Mitteilung gemacht hatte.
Dr. Moran? . . . Blitzartig zuckte in Wittebold ein Gedanke auf: Auch der? . . . Doch ebenso schnell, wie er gekommen, war der Gedanke verworfen. Nein! Gänzlich ausgeschlossen! Moran war ja auch gewissermaßen ein Opfer Headstones. Der hatte ihm ja doch bei jener Fusion der Central und der Western Chemical den Stuhl vor die Tür gesetzt.
Stundenlang lag Wittebold schlaflos in unfruchtbarem Grübeln. – –
Als er dann am Morgen ins Büro kam, fand er zu seinem Erstaunen Dr. Fortuyn schon anwesend.
Der empfing ihn mit großer Herzlichkeit. Er hatte Wittebold zwar schon, als der ihn einmal im Krankenhaus besuchte, seinen Dank für die Hilfe in jener Nacht ausgesprochen. Aber er wiederholte ihn jetzt noch einmal mit herzlichen Worten und schloß: »Wenn ich jetzt wieder hier erscheinen konnte, so glaub' ich, es nicht zum geringsten Teile Ihnen, Herr . . .« Hier machte er eine kleine Pause, fuhr dann fort: »Ihnen, Herr Kollege Doktor Hartlaub, zu verdanken!«
In Wittebolds Zügen regte sich nichts bei Fortuyns Worten, doch in seinem Herzen schrie es, dem Manne zu danken, der seinen alten Namen wieder in vollen Ehren nannte.
»Mich drängt es«, fuhr Fortuyn jetzt fort, »von Ihnen etwas über unsern gemeinsamen Feind zu erfahren. Haben Sie vielleicht . . .?«
Wittebold wiegte wie verneinend das Haupt. Sprach dann langsam, zögernd: »Leider kann ich Ihnen, Herr Doktor Fortuyn, da keine wichtige Mitteilung machen . . . Möglich allerdings wäre es, daß ich eine Spur gefunden hätte, die vielleicht – vielleicht zu einem Ziel führen könnte.«
Über Fortuyns Gesicht zuckte es hell auf. Er wußte, wie verschlossen Wittebold war, wie vorsichtig er sich auszudrücken pflegte. Fortuyn war überzeugt, daß sicherlich mehr hinter den Worten steckte, als er – Fortuyn – merken sollte. Er sagte: »Die Schwierigkeiten, die Sie da haben, sind die vielleicht mit Geld zu beheben? Sie wissen: Jede Summe steht Ihnen zur Verfügung.«
Wittebold schüttelte den Kopf. »Geld? Mit Geld ist hier nichts zu machen. Aber . . .« Ein Gedanke schien ihm zu kommen. Er trat näher an Fortuyn heran. »Wäre es möglich, Herr Doktor Fortuyn, daß Sie mir einen Generalausweis ausstellten, der mir gestattet, zu jeder Tages- und Nachtzeit das Verwaltungsgebäude und die Laboratoriumsanbauten zu betreten?«
Fortuyn machte eine abwehrende Handbewegung. »Ein Ausweis, von mir ausgestellt, der würde doch nicht anerkannt werden.«
Wittebold verneigte sich lächelnd. »Gewiß: der Name ›Doktor Fortuyn‹ darunter allein würde ja wohl nicht genügen. Aber die Unterschrift des Herrn Direktors Doktor Fortuyn würde wirksam sein.«
»Direktor? Was sagen Sie da? Bin ich Direktor?« Fortuyn trat lachend einen Schritt zurück.
Wieder machte Wittebold seine komische Reverenz. »Noch nicht, Herr Doktor Fortuyn! Aber die Sonne wird wohl nicht untergehn, ehe Sie's sind.«
»Der Teufel! Was Sie da sagen!« fiel Fortuyn ihm fröhlich ins Wort. »Woher kommt denn Ihre Weisheit?«
»Nun – das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern! Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn es Ihre erste Amtshandlung sein sollte, dem Bürodiener Wittebold den besagten Ausweis zu unterschreiben.« –
Und es war so, wie Wittebold prophezeit hatte. In der noch am selben Morgen stattfindenden Direktionssitzung erfolgte Fortuyns Ernennung zum Direktor.
Während einer kleinen Pause nahm Kampendonk ihn beiseite und sagte: »Mein lieber Herr Doktor, wenn Sie nun Ihre Arbeiten wiederaufnehmen, möchte ich Sie bitten, doch mit Ihrem Material und demjenigen Ihrer Assistenten recht vorsichtig umzugehen. Alles, was nicht unmittelbar gebraucht wird, hat seinen Stand im Sicherheitsarchiv, zu dem außer dem Archivar Doktor Hempel nur Sie einen Schlüssel bekommen. Daß Sie wichtige Tagesergebnisse Ihrer Assistenten nach Schluß der Dienststunden ebenfalls in den Sicherheitsraum bringen, ist wohl selbstverständlich. Ich möchte Sie ferner auch bitten, jede häusliche Arbeit zu unterlassen. Sollten Sie in Ihrem Schaffensdrang, mein lieber Doktor«, – der Geheimrat begleitete die Worte mit einer konzilianten Bewegung – »auch außerhalb der Dienstzeit arbeiten wollen, so steht Ihnen dafür im Werk alles, auch das erforderliche Personal, jederzeit zur Verfügung.«
Hier fiel Fortuyn der Wunsch Wittebolds ein. »Dann wäre ich auch berechtigt, Herr Geheimrat, von Fall zu Fall entsprechende Ausweise auszustellen?«
»Gewiß! Auch darin haben Sie freie Hand. Ich werde Ihnen Blankoausweise gegenzeichnen.«
In diesem Augenblick trat Dr. Wolff ins Zimmer. »Bitte, meine Herren«, rief Kampendonk, »wir können jetzt fortfahren! Herr Doktor Wolff ist da . . . Wollen Sie, bitte, berichten, Herr Doktor Wolff!«
Der räusperte sich ein paarmal, begann dann: »Ich war gestern in Leipzig, um dem letzten Verhör des Bernhard beizuwohnen. Zu meinem Erstaunen legte sich Bernhard plötzlich aufs Leugnen, nachdem er bisher alles, soweit es seine Person betrifft, zugestanden hatte. Ich hatte sofort das Gefühl, daß da irgendein Manöver dahintersteckte, um eventuell die Untersuchung noch länger hinauszuziehen. Ich sage ›eventuell‹ . . . für den Fall nämlich, daß der Versuch, den Gefangenen an diesem Tage zu befreien, nicht glückte . . . Leider, meine Herren, ist er geglückt! Als der Gefangene nach Schluß der Vernehmung über den Korridor geführt wurde, fiel eine Frau in Krämpfen schreiend zu Boden. In dem Gedränge, in dem allgemeinen Tumult gelang es Bernhard, zweifellos mit tatkräftiger Unterstützung von Komplicen, zu entfliehen. Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, seiner wieder habhaft zu werden.«
Die erregten Zwischenrufe, die dieser Mitteilung folgten, unterbrach Dr. Wolff, indem er weitersprach: »Doch dies ist nicht die einzige Hiobspost, die ich zu melden hätte. In der Nacht von gestern auf heute ist auch die Adrienne L'Estoile, wie sie sich nennt, aus dem Gefängnislazarett entflohen. Wie man jetzt festgestellt hat, waren ihr im Untersuchungsgefängnis von außen her opiumhaltige Mittel zugesteckt worden, deren Genuß die Dame in einen gewissen Krankheitszustand versetzte, so daß sie ins Lazarett kam. Auf irgendeine Weise ist sie dort in den Besitz einer Schwesterntracht gekommen. In dieser Verkleidung konnte sie ungesehen verschwinden. Wahrscheinlich wird man von ihr nie wieder etwas hören. Denn die Polizei glaubt sicher zu sein, daß sie von einem Flugzeug, das zwischen Leipzig und Delitzsch auf freiem Felde landete, aufgenommen wurde. Diese Vorfälle sind überaus bedauerlich. Zeigen sie doch auch, wie stark der Hinterhalt ist, auf den die Spione sich stützen können. Andere Spione, die das natürlich erfahren, sehen, wie fürsorglich man ihrer im Falle der Not gedenkt. In der Folge werden sie natürlich ihr Handwerk um so frecher treiben . . . Das Entweichen dieser Adrienne L'Estoile ist besonders unangenehm. Lag es uns doch daran, zu erfahren, woher die Gegenseite wußte, daß Herr Düsterloh gerade in der betreffenden Zeit die wichtigen Geschäftspapiere in seiner Privatwohnung in Leipzig hatte . . .«
Eine Stimme rief den Namen »Lohmann!«
Wolff zuckte die Achseln. »Es ist möglich, vielleicht wahrscheinlich, daß Lohmann derjenige war, der der Gegenseite die günstige Gelegenheit verpfiff. Es ist natürlich mehr als auffällig, daß Herr Lohmann unmittelbar nach der Verhaftung der L'Estoile seine gute Position hier verlassen hat und niemals wieder ein Lebenszeichen von ihm nach Rieba gelangt ist.«
Kampendonk wollte die Sitzung schließen, da erhob sich Direktor Lindner und fragte: »Ich möchte darauf hinweisen, daß die Aktien der Rieba-Werke in der letzten Zeit in einer Weise gestiegen sind, die mit Rücksicht auf den allgemeinen Stand der Börsenpapiere als außerordentlich bezeichnet werden muß. Wäre es vielleicht möglich, eine Erklärung hierfür zu geben?«
Kampendonk strich sich lächelnd den weißen Bart. Sein Auge ging fragend über die Versammlung. Als sich niemand zum Wort meldete, wollte er selbst sprechen. Da wurde von ein paar Seiten der Name »Moran« gerufen.
Kampendonk schaute mit ironischem Lächeln nach der Richtung, wo diese Rufe laut geworden waren. »Wenn einige Herren meinten, die . . . glücklichen . . . Arbeiten des Herrn Doktor Moran gäben den Anlaß zu dieser Kurssteigerung, so dürften die Herren wohl in einem starken Irrtum sein. Diese unbekannten Käufer sind Leute, die auf lange Sicht arbeiten. Ich nehme viel eher an, daß die Kurssteigerungen auf Gerüchten basieren, die über Doktor Fortuyns Arbeiten umgehen. Sie wissen doch alle, daß man in Detroit einiges Material über diese Arbeiten hat, und man wird da vielleicht fester als anderswo . . .« Kampendonk wiederholte das Wort ›anderswo‹, »an einen Erfolg glauben. Eine Gefahr droht uns aus diesen Käufen nicht. Selbst wenn die im freien Handel befindlichen Aktien sämtlich in einer Hand vereinigt wären, würde es nicht einmal zu einer qualifizierten Minderheit langen. Wir können diesen Käufen ruhig zusehen.«
Die Versammlung wollte sich zerstreuen, da nahm der Geheimrat noch einmal das Wort: »Die Herren, die außer Herrn Doktor Fortuyn und mir an der Beisetzung unseres früheren Direktors Terlinden teilnehmen wollen, bitte ich, mir das noch im Laufe des Morgens mitteilen zu wollen.«
*
Als Kampendonk davon sprach, daß selbst die größten Aktienkäufe keine qualifizierte Minderheit zusammenbringen könnten, ahnte er nicht, daß nur ein Zufall es verhindert hatte, daß Mr. James Headstone bei der nächsten Generalversammlung ein Paket Rieba-Aktien auf den Tisch des Hauses legen konnte, das eine solche Minderheit repräsentiert hätte. Ungefähr zur selben Zeit, als Kampendonk jene beruhigenden Worte sprach, saßen James Headstone und Elias Brooker an der Côte d'Azur mit Dolly Farley zusammen.
Der lachende Himmel, die in herrlichem Sonnenschein liegende blaue Flut, das duftende, blühende Land um sie her – nichts von alledem vermochte ihre Augen zu fesseln. Mißmutig, verdrossen glitten ihre Blicke über die paradiesische Landschaft, als ob sie an einem wüsten Gestade säßen.
»Ich glaube, James, du wirst jetzt selbst einsehen, daß es keinen Zweck hat, hier länger zu bleiben«, unterbrach Dollys scharfe Stimme die Stille. »Ich halte es jedenfalls hier nicht länger aus. Wir sitzen nun schon wochenlang an der gepriesenen Riviera. Riviera hin, Riviera her! Ich bin sehr enttäuscht. In Miami gefällt es mir weit besser als hier. Paris, Berlin – ja, das ließe ich mir noch gefallen. Aber dahin willst du ja nicht!«
»Ich dächte auch, Headstone«, kam Brooker ihr zu Hilfe, »wenn Sie selbst in Berlin gewesen wären, würden Sie diese Schlappe vermieden haben. Vielleicht fahren Sie doch noch hin und suchen zu retten, was zu retten ist?«
»Schlappe!« knurrte Headstone vor sich hin. »Etwas sehr euphemistisch ausgedrückt, mein lieber Brooker! Ein schwerer Schlag, eine Niederlage ersten Ranges war das. Der verfluchte Japs! Weiß der Teufel, wie er es verstanden hat, diesen Büffel Düsterloh 'rumzukriegen!«
Brooker unterdrückte das Wort, das ihm auf der Zunge lag. Sprach dann, mit einem etwas bedenklichen Blick auf Headstones wütendes Gesicht, begütigend: »Das hätte man beim besten Willen auch nicht ahnen können, Headstone. Unser Bankier Holmgreen ist doch wahrhaftig ein gewiegter Geschäftsmann. Nach seinem Bericht – wie ihn dieser Düsterloh bei einem Versuch, ihm sein Aktienpaket abzukaufen, hat ablaufen lassen –, da konnte man doch bei Gott nicht annehmen, daß dieser Büffel, wie Sie ihn eben nannten, seine Rieba-Aktien plötzlich an Herrn Oboro verkaufen würde.«
»Wüßte nicht, was ich in Berlin noch machen könnte«, brummte Headstone. »Oder glauben Sie etwa, dieser Herr Oboro ließe sich, selbst mit höchstem Aufgeld, das Düsterlohsche Aktienpaket abkaufen? Herr Oboro hat ein persönliches Vermögen von hunderttausend Dollar, wie ich aus sichrer Quelle weiß. Das Aktienpaket hat ihn, billig gerechnet, eine Million Dollar gekostet. Da steckt ein andrer dahinter. Wahrscheinlich seine Regierung.«
»Dann müßt ihr eben noch weiter am freien Markt kaufen!« fiel Dolly ein.
Headstone zuckte die Achseln. »Würde ein teurer Spaß werden, bei dem wahrscheinlich doch nichts 'rauskäme. Kann mir wenigstens nicht denken, daß wir durch Käufe am freien Markt die qualifizierte Minderheit bekommen.«
Brooker hatte seinen Notizblock gezogen und schrieb emsig Zahlen über Zahlen untereinander. Jetzt zog er einen Strich, addierte, sagte dann mit schwerem Seufzer: »Wir müssen kaufen, Headstone; und wenn die Kurse noch so sehr in die Höhe gehen! Erreichen wir auch nicht die qualifizierte Minderheit, so bekommen wir doch ein Paket zusammen, das uns die Macht gibt, den Herren in Rieba eine sehr unangenehme Opposition zu machen.«
Dolly Farley zuckte mit den Beinen, als hätte sie jemand auf den Fuß getreten. »Oh, wir werden sehr teuer kaufen müssen! Sehr teuer!« stöhnte sie. »Ich begreife nicht, weshalb ihr nicht das tut, was ich immer wieder sagte: Bietet diesem Doktor Fortuyn doch die richtige Summe – und ihr werdet ihn haben! Sofort wären alle Schwierigkeiten aus der Welt geschafft.«
Headstone sah sie mit einem mitleidigen Lächeln an. »Alles kannst du kaufen, liebe Dolly«, – in Gedanken setzte er hinzu: ›auch James Headstone‹ –, aber den Doktor Fortuyn niemals!«
Dolly schüttelte den Kopf, als könne sie das nicht begreifen. »Sind denn diese Deutschen so schlechte Geschäftsleute?« sprach sie nach einer Weile.
»O nein, meine teuerste Miß Farley!« gab Brooker zur Antwort. »Die deutschen Kaufleute sind sogar sehr gute Busineßmen. Aber ihre Gelehrten, ihre Wissenschaftler – je größer ihr Wissen, um so schlechtere Geschäftsleute sind sie. Nachdem Sie nun wissen, daß dieser Fortuyn ein first-class-scientist ist, werden Sie sich denken können, was für ein Geschäftsmann er ist!«
Dolly machte mit der Hand einige kreisförmige Bewegungen vor ihrer Stirn, womit sie ihre Meinung über Fortuyn ausdrücken wollte.
Headstone hatte während der letzten Worte nachdenklich vor sich hingestarrt. Als die anderen jetzt schwiegen, sah er auf, sagte: »Gut! Ich fahre nach Berlin!«
»Ah gut, James!« Dollys Gesicht strahlte. »Berlin, die schönste Stadt Europas! Was kann man da alles sehen und . . .« – ›erleben‹, wollte sie sagen, verbesserte sich aber und sagte: »hören!« Im selben Augenblick huschte eine leichte Wolke über ihr Gesicht. Sie warf Headstone einen kurzen Blick zu, sprach etwas leiser: »Vergiß nicht, lieber James, daß ein gewisses Konto abgebucht ist!«
Der nickte freundlich. »Gewiß! Vergessen wir das nicht, meine liebe Dolly!«
Während sie aufstanden und sich zum Gehen anschickten, flogen seine Gedanken zu Juliette. Die war ja gar nicht in Berlin. War ganz woanders. Als ihm Boffin Juliettes Mission mitteilte, hatte er sofort dagegen protestiert. Doch Boffin hatte sich hinter seinem »Unmöglich« verschanzt. Unmöglich, ganz unmöglich sei es gewesen, eine andere Person für diesen Posten zu finden als Juliette. So hatte Headstone schließlich zugestimmt.
Während sie weitergingen, zog er eine Zeitung aus der Tasche und reichte sie Dolly Farley. »Bitte, liebe Dolly, lies hier den Kurszettel! Kautschukaktien sind wieder ein paar Punkte gefallen. Vorige Woche, als ich den Artikel im ›New York Herald‹ las, der sich mit der wissenschaftlichen Kontroverse zwischen diesen deutschen Professoren Bauer und Janzen befaßte, habe ich's dir ja gleich gesagt, daß Plantagenkautschuk fallen würde. Der heutige Kurszettel ist sehr flau. Sie stehen heute hundertdreißig, und du hast immer noch nicht verkauft. Willst du etwa warten, bis die Welt eines Tages von Rieba aus durch die Nachricht überrascht wird, daß das Fortuyn-Verfahren arbeitet?«
»Wenn die in Rieba wirklich bis zum letzten Augenblick dicht halten«, fiel Brooker ein, »wird die Welt ein Börsendésastre in Kautschukaktien erleben, wie es noch nicht da war.«
Dolly Farley faßte Headstone ängstlich am Arm. »Wirklich, James? So schlimm würde das werden?«
»Wenn ich wüßte, Dolly, daß das Fortuyn-Verfahren schon in nächster Zeit 'rauskommt, würde ich Plantagen à la baisse spekulieren und würde bei einem Verkauf zu zwanzig noch ein gutes Geschäft machen!«
Dolly Farley sah Headstone mit offenem Munde an. »Unmöglich! Unmöglich! Der Kautschuk, den die Natur umsonst liefert, kann doch nicht einfach ganz wertlos werden!«
»Ganz wertlos natürlich nicht. Für die Länder, in denen der Gummibaum wächst, wird es sich immer noch lohnen, die Stämme anzuzapfen. Aber was will das heißen gegenüber dem Riesenverbrauch der anderen Länder? Ich sehe schon Umwälzungen an den Weltbörsen, wie sie noch nie da waren. Umwälzungen, die ein ganz neues Wirtschaftsleben einleiten.«
»Schweig still, James! Ich will nichts mehr hören! Verkaufe! Verkaufe so schnell wie möglich für mich!«
Headstone zog als formeller Geschäftsmann einen Block aus seiner Tasche, notierte den Auftrag und ließ ihn von Fräulein Dolly Farley unterschreiben.
*
In Fortuyns Laboratorium sah es ein wenig bunt aus. Der Raum war zwar derselbe geblieben, aber die Arbeitstische waren stärker besetzt. Fortuyn hatte sich am ersten Tage seiner Anwesenheit nicht viel um seine Assistenten kümmern können. Die Direktionssitzung, die Vorbereitungen für seine Reise nach Wiesbaden zur Beisetzung Terlindens hatten ihm nicht viel Zeit gelassen.
Tilly hatte nach einigen vergeblichen Bemühungen, Ruhe und Ordnung zu schaffen, den Kampf aufgegeben. Die neueingestellten Herren waren in fortwährender Unterhaltung mit den alten Mitarbeitern Fortuyns begriffen. Die einzige Ausnahme machte Dr. Göhring, der sich mit verbissenem Eifer sofort an seine Arbeit setzte. Der Schlimmste war natürlich, wie immer, Dr. Wendt.
Fortuyn hatte ihm eine größere statistische Arbeit übertragen, doch Rudi dachte nicht im entferntesten daran, diese zweifellos sehr interessante Aufgabe anzufassen. Ein paarmal hatte Tilly ihn sehr energisch zur Ruhe bringen wollen, doch Rudi schlug alle ihre Mahnungen in den Wind. Mit seinen Schnurren und Witzen hielt er selbst die Willigen von der Arbeit ab. Als er gerade einmal an Tillys Tisch vorbeikam, hielt die ihn ärgerlich fest. »Sie scheinen ganz zu vergessen, Herr Wendt, daß Herr Fortuyn morgen von Ihnen die Statistik erwartet!«
»Vergessen, teuerste Tilly? Warum soll ich das vergessen haben? Habe ja ganz deutlich gehört, wie Fortuyn sagte: ›Ich wünsche, daß Sie mir morgen die Arbeit übergeben!‹«
»Na ja!« fuhr Tilly ihn barsch an. »Da wird's aber Zeit, daß Sie anfangen!«
»Zeit? Ha! Massenhaft Zeit! In höchstens acht Stunden ist die Sache gemacht.«
»Was?« Tilly sah ihn entgeistert an. »Acht Stunden! Ja, gucken Sie doch auf die Uhr, wie spät es ist!«
Rudi legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. »Nur Ruhe, Ruhe, Tilly! Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Sie vergessen mal wieder ganz, daß es außer dem Tag noch die Nacht gibt. Morgen früh, das garantiere ich Ihnen, liegt die Statistik fertig in Fortuyns Zimmer.«
»Rudi, Rudi«, sagte Tilly mit leisem Stöhnen, »wann werden Sie mal vernünftig werden?«
»Haha!« lachte er laut heraus. »Hoffentlich so schnell noch nicht! ›Wir sind ja noch so jung – jung – jung!‹« sang er in Gassenhauermelodie.
»Herr Doktor Wendt!« Die Stimme Wittebolds klang von der Eingangstür laut in den Raum. »Der Briefträger ist hier mit einem eingeschriebenen Brief!«
»Au Backe! Au Backe! Tilly . . . eingeschriebener Brief! Schon faul! Wenn Sie wüßten, liebe Tilly: Hab' vor nichts mehr Angst als vor eingeschriebenen Briefen . . . Ach, du lieber Gott«, stöhnte er vor sich hin, »was wird das nun wieder sein?« Und markierte den gebrochenen Mann, während er unter dem Gelächter der anderen Assistenten zur Tür schlich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Rudi wieder in das Laboratorium trat. Seine Augen flogen zu Tillys Platz. Die war inzwischen in Fortuyns Zimmer verschwunden. Ohne sich um die scherzhaften Zurufe der Kollegen zu kümmern, ging er gradeswegs dorthin und warf sich mit verdrossener Miene in Fortuyns Schreibstuhl.
»Na, Rudi«, rief hinter seinem Rücken Tilly, die in einem Schrank kramte, »wieviel sollen Sie denn blechen? Langt denn ein halbes Monatsgehalt dafür?«
»Ach, Quatsch!«
»Wie meinten Sie, Herr Doktor Wendt? Quatsch? Kann mich gar nicht erinnern, daß ein Herr auf eine Frage von mir jemals gesagt hätte: Quatsch.«
»Doch Quatsch!« gab Rudi wütend zurück und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Da – lesen Sie doch den Wisch! Bin überzeugt, daß Sie dann auch sagen: Quatsch!«
Tilly nahm den Brief und begann zu lesen.
»Ah – ein Brief Ihres Vaters!« Sie las Weiter. »Aber das ist ja wundervoll, Rudi! Großartig! Gratuliere.«
»Was? Gratulieren? Ist das Ihr Ernst, Tilly?«
»Nun aber Punkt, Rudi! Statt vor Freude an die Decke zu springen, markieren Sie hier die gekränkte Leberwurst, weil Ihr Vater Sie gern nach Hause haben möchte, um Ihnen den Posten des ersten Chemikers in seiner Fabrik zu übertragen. Ihr Vater schreibt da, sein erster Chemiker wäre seit langem krank und würde kaum wieder arbeitsfähig werden. Er brauche unbedingt Ihre Hilfe. Und da wollen Sie kneifen?«
»Was heißt ›kneifen‹?« gab Rudi mißmutig zur Antwort. »Gekniffen hab' ich in meinem Leben noch nie.«
»Na ja! Also jetzt muß er mal 'ran an die Ramme, der feine Herr Rudi! Was mir das Spaß macht!«
»Sie haben's am allerwenigsten nötig, mich zu flachsen, Tilly; denn Sie sind doch eigentlich an dem ganzen Malheur schuld. Sie haben mir damals die Geschichte mit den Moranschen Großversuchen angerührt. Der Direktor Merker, das alte Kamel, hat als Studienfreund meines Vaters dem einen Mordsbrief geschrieben, als wär' ich die erste Kanone hier in Rieba, und jetzt haben wir den Salat . . . Aber –« Rudi setzte sich in Positur, »Sie könnten Ihre Schuld sühnen, mein teures Fräulein Gerland.«
»Na – und wie?« gab Tilly lachend zurück.
»Sehr einfach! Sie übernehmen zu fünfzig Prozent meinen Posten.«
»Altes Faultier!« fuhr Tilly ihn an. »Das ist doch wirklich toll! Ich soll fünfzig Prozent Ihrer Arbeit übernehmen? Bedanke mich. Ihr Vater würde sich auch bedanken.«
»Das ist noch lange nicht 'raus, Tilly. Ich glaube sogar, der wär' hundefroh, wenn ich 'nen tüchtigen Partner mitbrächte.«
Bei seinen letzten Worten hatte sich Tilly zur Seite gewandt. »Ach, seien Sie doch still, Rudi! Was reden Sie da für törichtes Zeug!«
»Törichtes Zeug, Tilly? Ich glaube, ich hab' nie in meinem Leben so überlegt und vernünftig geredet wie gerade jetzt.«
»Sie sollten doch wissen, Rudi, daß meine Arbeitsstätte hier in Rieba und ist und nirgendwo anders.«
»Vorläufig – meine liebe Tilly, vergaßen Sie zu sagen. Und vorläufig denke ich auch noch gar nicht daran, den Riebaer Staub von meinen Füßen zu schütteln. Wenn Doktor Fortuyns Werk getan ist, dann will ich schon eher daran denken. Und dann, liebe Tilly, werden wir uns weiter sprechen!«
*