Hans Dominik
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Hans Dominik

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Als am nächsten Morgen Fortuyn durchs Laboratorium ging, nickte er Tilly Gerland bedeutungsvoll zu. Die folgte ihm in sein Zimmer.

»Nun, Fräulein Tilly, wie war's? Ist er gekommen? Ja? Und hat er freiwillig erzählt oder haben Sie es nur mit weiblichem Scharfsinn herausgeholt?«

Tilly schüttelte den Kopf. »Nein! Das hatte ich nicht nötig. Im Gegenteil! Mir kam es vor, als ob der Mann danach gelechzt hätte, mal eine Seele zu finden, der er sein Herz ausschütten könne. Und ich kann Ihnen versichern, Herr Doktor Fortuyn, er hat alles ausgeschüttet, was er auf dem Herzen hatte. Die äußersten Winkel hat er ausgefegt. Er konnte sich kaum genugtun mit Selbstanklagen, Beteuerungen . . . Es ist natürlich so, wie Sie vermuteten. Fast ließe sich das abgegriffene Wort gebrauchen: ›Cherchez la femme!‹ Und nun will ich Ihnen noch einmal ohne alle Beschönigung das alles wiedererzählen, was er sich gestern abend von der Seele geredet . . .«

Während Tilly erzählte, schaute Fortuyn sie immer wieder verwundert an. Wie doch, von Frauenmund erzählt, solch – gewiß tragisches – Schicksal viel stärker packte! Doch in Erinnerung an die groben Vertrauensbrüche, wie sie im Werk in der letzten Zeit so häufig passiert waren, suchte Fortuyn sich von dem Eindruck, den Tillys Schilderung auf ihn ausgeübt, wieder frei zu machen.

Als Tilly geendet, fragte er so leichthin: »Sie haben ja anscheinend einen außergewöhnlich guten Eindruck von Wittebold bekommen, Fräulein Gerland?«

Tilly sah ihn einen Augenblick erstaunt an. War's ihr doch, als ob aus Fortuyns Worten ein leichter Zweifel klänge. Verletzt schaute sie zur Seite, sagte nur: »Ich wünschte, Herr Doktor, Sie wären gestern abend in meiner Wohnung zugegen gewesen. Ich glaube kaum, daß Sie dann noch einen Zweifel hätten.«

»Gut! So mag es sein!« Fortuyn streckte Tilly die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen, Fräulein Tilly. Ich verlasse mich, wie schon immer, vollkommen auf Sie. Wenn Sie Wittebold sehen, schicken Sie ihn, bitte, zu mir!«

»Jawohl, Herr Doktor. Nur noch eine Frage: Wie kamen Sie denn dahinter, daß dieser schlichte Bürodiener in Wirklichkeit der Chemiker Doktor Hartlaub ist?«

»Ich machte im Lauf der Zeit öfter mal Beobachtungen, die mir auffielen. So zeigte es sich, daß Wittebold, wenn er Aufträge für Chemikalien bekam, ungewöhnlich gut Bescheid mit der Sache wußte und daß viele chemische Formeln ihm geläufig waren. Auch erwischte ich ihn eines Tages im Botenzimmer bei der Lektüre einer amerikanischen chemischen Zeitschrift, die er wohl aus einem Papierkorb aufgelesen hatte. Lauter Verdachtsmomente also, die mich mißtrauisch machten. Und gelegentlich meiner letzten Reise nach Süddeutschland fand mein Argwohn neue Nahrung. Da hing bei einem Freund in Ludwigshafen ein Bild aus dessen Studienzeit. Scherzeshalber fragte er mich: ›Findest du mich wohl unter denen 'raus?‹ Ich sah mir die einzelnen Köpfe daraufhin natürlich sehr genau an, und da fiel mir das Gesicht eines Studenten auf, das nur bis zum Mund sichtbar war. Diese Züge kämen mir merkwürdig bekannt vor, meinte ich. Der Freund machte eine abfällige Handbewegung: ›Mein früherer Kollege Hartlaub; war auch mal hier als Assistent angestellt und ging in der Inflationszeit unter wenig schönen Umständen nach Amerika.‹ – Dadurch wurde mein Verdacht noch verstärkt. Denn wenn unser Wittebold wirklich mit diesem Hartlaub identisch war, dann konnte er zu keinem anderen Zweck nach Rieba gekommen sein, als um Spionage zu treiben. Ich beschloß daraufhin, ihn scharf im Auge zu behalten. Und glaubte, ihn nach jener Leipziger Nacht auf frischer Tat ertappt zu haben. Da kam diese überraschende Aufklärung!« – –

»Sie haben mich rufen lassen, Herr Doktor Fortuyn?«

»Ja, Herr Wittebold. Bitte, nehmen Sie Platz! Vermutlich hat das Werk es wieder dem Herrn Eichenblatt zu verdanken, daß jener französischen Dame in Frankfurt noch glücklich unsre wichtigsten Kundenlisten abgejagt werden konnten?«

Wittebold nickte vergnügt. Sagte dann scherzend: »Die dreißig Mark, Herr Doktor Fortuyn, die Sie mir gestern geliehen haben, kann ich Ihnen leider nicht gleich zurückgeben. Meine Extraausgaben waren in der letzten Zeit größer, als es meinem fürstlichen Gehalt als Bürodiener angemessen ist.«

»Stopp, mein Lieber! Das darf nicht sein, daß Sie bei Ihren für uns so wichtigen Bemühungen auch noch gezwungen sind, sich die nötigen Barmittel am Leibe abzusparen! Von Zurückgeben an mich kann gar keine Rede sein. Zu geeigneter Zeit – das Wann steht ja in Ihrem eigenen Belieben – wird Ihnen die Werkleitung natürlich alle Auslagen reichlich ersetzen. Auf keinen Fall dürfen Sie etwa aus Geldmangel irgendwelche nötigen Schritte unterlassen! Jeder Betrag steht Ihnen durch mich zur Verfügung . . . Darf man übrigens wissen, wie Sie hinter diese Leipziger Affäre gekommen sind?«

»Der Gott Zufall hat da wieder mal eine große Rolle gespielt. In Detroit machte mich ein Bekannter auf einen Señor Gallardo aus Südamerika aufmerksam, dem wir gerade begegneten. Der sei Einkäufer für Grossisten, leiste sich nebenher aber noch allerlei finstere Geschäfte; jedenfalls habe er drüben in Europa überall seine Hände in unsern Spionageagenturen – ein äußerst gerissener Bursche.

Vor einiger Zeit nun, als ich eben aus dem Labor kam, sah ich diesen Gallardo das Verwaltungsgebäude verlassen; er ging zu einem Auto, das auf ihn wartete. Ich mußte an der linken Seite des Wagens vorbei und hörte, wie Gallardo den Schlag auf der anderen Seite öffnete und zu einer Dame im Innern sagte: ›Ça ira! Il viendra demain à Leipzig chez moi!‹ Die Dame war, wie ich flüchtig sah, jung und schön . . .« Wittebold zuckte die Achseln. »Nun, da machte ich mir so meinen Vers. In meiner Rolle als Zeitungshändler haben Sie mich dann ja beobachtet. Ich wußte natürlich auch, daß die Dame nachher bei Direktor Düsterloh Wohnung nahm. Und daß da irgendein Streich gespielt werden sollte, war mir klar. Nur konnte ich zunächst nicht 'rauskriegen, um was es ging.

Da half mir ausgerechnet Herr Düsterloh selbst. Er schickte mich nämlich gestern mittag in seine Wohnung nach Leipzig, um dort eine Aktenmappe zu holen, die auf seinem Schreibtisch lag. Nun, der alten Haushälterin war die Mappe zu schwer. Sie ließ mich allein in Düsterlohs Arbeitszimmer gehen. Was ich aber dort sonst noch sah und hörte, machte mich mehr als stutzig . . .« Und nun erzählte Wittebold, wie sich durch Kombination verschiedener Umstände – Schreibtisch, fingiertes Telephongespräch und so weiter – bei ihm der Verdacht, daß Adrienne eine Spionin sei, bis zur Gewißheit verdichtet habe.

Fortuyn lachte belustigt. »Alle Achtung vor Ihren kriminalistischen Fähigkeiten! Schade, daß Sie nicht heute morgen im Verwaltungsgebäude waren! Haben Ihnen nicht die Ohren geklungen? Alle Welt zerbricht sich den Kopf, wer dieser geheimnisvolle Anonymus ist, der so Schlag auf Schlag die schwierigsten Dinge macht. In welchem Ansehen Sie bei unserm Geheimrat stehen, welche hohe Meinung er von Ihnen hat – dafür ein deutlicher Beweis!« Fortuyn lehnte sich, immer noch lachend, in seinen Schreibstuhl zurück, sah Wittebold zwinkernd an.

»Wieso? Was?« stotterte der. »Man weiß doch von mir nichts?«

»Natürlich nichts! Man weiß nur von der Existenz eines Eichenblattmannes – und daß der mir bekannt ist.«

»Aber, Herr Doktor Fortuyn, ist das nicht gegen unsre Verabredung?«

Fortuyn hob bedauernd die Hände. »Leider muß ich das zugeben. Der Geheimrat wollte durchaus erfahren, von wem ich Kenntnis von dem photographierten Exposé hätte. Ich konnte ihn nicht anders beschwichtigen, als daß ich ihm sagte, meine Kenntnis käme von dem Mann, der die Eichenblattbriefe geschrieben hat. Da ließ er mich in Ruhe. Aber, was ich sagen wollte und worüber ich eben lachen mußte: Kampendonk war vorher persönlich bei mir und stellte mir anheim, dem Schreiber der Eichenblattbriefe Mitteilung zu machen von einem Brief des Riebaer Agenten in Detroit, der mit den Worten schließt: ›Man hat von Rieba aus die ›United‹ vor mir gewarnt.‹«

»Ah!« Wittebold sprang auf. »Die Existenz des Agenten, der Briefwechsel mit ihm sind doch sicherlich tiefstes Geschäftsgeheimnis? Nur von einem der Eingeweihten könnte doch diese Warnung herrühren!«

Fortuyn zuckte die Achseln. »Ja, mein lieber Wittebold: das 'rauszubekommen, gab ich Ihnen ja die Nachricht weiter. Ich muß gestehen, es ist eine harte Nuß. Aber bei Ihrer besonderen Zuneigung für Detroit dürfte Ihnen die Aufgabe vielleicht nicht unwillkommen sein?« Fortuyn erhob sich: »Nochmals: Geldmittel stehen Ihnen natürlich in jeder Höhe zur Verfügung.«

Als Fortuyn später durch das Gebäude ging, begegnete er Dr. Wolff. »Wohin so eilig?«

»Zum Geheimrat, Herr Fortuyn. Na, Sie wissen ja schon von der neuesten Sache? Das Liebchen hat, wie eben das Polizeitelegramm aus Frankfurt meldet, gleich alles gestanden!«

»Gratuliere!«

Wolff nahm nur zögernd die Hand, die Fortuyn ihm bot. »Darf eigentlich Ihren Glückwunsch nicht annehmen. Wenn ich ehrlich sein will, bin ich doch in diesem Falle nichts anderes gewesen als ausführendes Organ dieses verflixten Eichenblattmannes . . . Ob ich den wohl jemals zu Gesicht kriege? Ist doch ein ganz außergewöhnlich raffinierter Mensch . . . Sicher ein sehr interessanter Zeitgenosse!«

Fortuyn sah das schlichte, harmlose Äußere Wittebolds vor sich, dachte im stillen: Dann würden Sie wohl ziemlich enttäuscht sein, Herr Doktor Wolff! – An der Tür Kampendonks trennten sie sich.

»Nun, wie ist's, Herr Doktor Wolff« rief der Geheimrat. »Gute Nachricht?«

»Jawohl, Herr Geheimrat! Fräulein Adrienne L'Estoile hat ein vollständiges Geständnis abgelegt. Soweit der kurze Polizeibericht aus Frankfurt erkennen läßt, müssen das allerlei interessante Dinge sein, die sie da erzählt hat. Ihr Auftraggeber ist ein französisches Büro, hinter dem aber wahrscheinlich Detroit steckt. Nun, wenn Fräulein L'Estoile nach Leipzig zurückgebracht ist, wird man das ja alles aus ihr herausholen. Übrigens –: Leipzig . . . Meine Anfragen bei verschiedenen Stellen über diesen Herrn Bosfeld sind nicht ungünstig beantwortet worden. Seine Abreise – wohin, konnte oder wollte seine Hausdame allerdings nicht angeben – ist nach deren Behauptung schon früher geplant gewesen. Nun, ich mache da trotzdem ein kleines Fragezeichen. Habe einen Leipziger Privatdetektiv beauftragt, das Leben und Treiben des Herrn Bosfeld etwas schärfer unter die Lupe zu nehmen.«

*

»Ist doch eine verfluchte Schweinerei, mein lieber Boffin«, sagte Bosfeld, »daß ausgerechnet im letzten Augenblick diese Adrienne noch verschütt gegangen ist!«

Boffin verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Ja, mein Lieber, warum hat man die Sache nicht mir anvertraut? Warum wollte Monsieur Gérard, unser verehrter Chef in Paris, die Sache absolut selbst mit seinen Leuten machen? Ich glaube kaum, daß mir so etwas passiert wäre. Bin überzeugt, Fräulein Adrienne wäre dann unangefochten über die Grenze gekommen. Um in Ihrem Jargon zu bleiben, teuerster Herr Bosfeld: Wie konnte man so töricht sein, die ›Sore‹ nicht sofort durch x Hände weiterzugeben? Monsieur Gérard scheint die richtige Regie derartiger Unternehmen nicht perfekt zu beherrschen.« Man sah es Boffins Mienen an, daß er nur mit Mühe seine Schadenfreude verbarg.

»Muß aber 'n hübsches Weib sein, diese Adrienne!« sagte Bosfeld. »Der gute Düsterloh ist ja ein Mann von Geschmack. Nun, ich werde vielleicht in Leipzig sein, wenn die Gerichtsverhandlung ist.«

Boffin schüttelte den Kopf. »Wer weiß, wann die sein wird? In der Zwischenzeit werden die blühenden Farben der schönen Adrienne wahrscheinlich stark verblaßt sein. Die Untersuchungshaft, die fortwährenden Verhöre . . . man wird doch versuchen, alles mögliche aus ihr herauszuholen, wenn sie nicht etwa gleich alles gestanden hat . . . Fatale Sache – höchst fatale Sache! Gerichtlicherseits wird man ja Monsieur Gérard in Paris nichts anhaben können . . . aber – –«

»Sie meinen, das könnte noch zu Weiterungen führen?« fragte Bosfeld. »Verflucht! Gérard hat meine Adresse!«

»So! Hat er? Dann ist's um so verwunderlicher, daß er Sie nicht in die Kombination einbezog. Wo Sie doch in Leipzig sitzen und so leicht die Papiere von Adrienne hätten in Empfang nehmen können!«

Bosfeld schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie sagen, das wäre verwunderlich? Ich sage vielmehr, es ist dumm und gemein! Denn schließlich war ich's doch, der die ganze Sache entriert hat. Ich habe doch bei dem Prunk- und Schausaufen in Düsterlohs Leipziger Wohnung die Kundenlisten auf seinem Schreibtisch entdeckt. Aber Gérard, der alte Filz, wollte die Prämie dafür nicht in so viele Teile gehen lassen. Hat deshalb die Sache nur mit Gallardo und mit der L'Estoile aufgezogen . . . Na, ist die Sache nun schon mal so weit schief gegangen, wird hoffentlich wenigstens die Demoiselle Adrienne dicht halten . . . Unsre teure Juliette würde es in solcher Lage jedenfalls tun.«

»Unsre Juliette! Ja, das ist ganz was anderes!« sagte Boffin und küßte mit Feinschmeckermiene seine Fingerspitzen.

»Wäre sie nicht schon als Misstreß Alice Johnson mit Düsterloh bei Lahti gewesen«, warf Bosfeld ein, »hätte man lieber sie zu Gallardos Freundin ernennen sollen.«

Boffin wandte sich in gemachtem Entsetzen ab, streckte abweisend die Hände von sich. »Juliette?! Was denken Sie, Herr Bosfeld? Glauben Sie etwa, unsre Juliette hätte ein derartiges ›Verwechselt das Bäumchen!‹ gespielt? Um Gottes willen! Gewiß, sie arbeitet mit allen Kräften für uns . . . aber das hat bei Juliette seine Grenzen.«

»Oho, Herr Boffin! So ein Pflänzchen Rührmichnichtan? Mister Headstone ist doch verlooooobt!« Er zog das Wort sarkastisch in die Länge. »Oder besteht diese Verlobung nur in einer geschäftlichen Interessenvereinigung? Sagten Sie nicht neulich mal, Sie hätten ein Bild von Headstones Braut?«

»O ja! Habe ich! Das heißt, das Brautpaar ist auf einem Bild.« Boffin kramte in seinem Schreibtisch und holte eine Photographie heraus.

Bosfeld betrachtete das Bild einen Augenblick, sagte nur trocken: »Was muß die Geld haben!«

Boffins Schnauzbart geriet in heftige Zuckungen; der Kneifer kam wiederholt ins Rutschen. Er wagte nicht, bei dieser offenbaren Verspottung Dollys zu applaudieren, prustete dann aber doch schließlich laut heraus.

In diesem Augenblick klingelte es.

»Sollte es Juliette sein?« Boffin ging zur Tür, überschüttete die Erwartete mit überschwenglichen Begrüßungsworten. Dann führte er sie an seinem Arm in das Zimmer. »Eine kleine Überraschung, meine Gnädigste! Herr Bosfeld ist hier – ein alter Bekannter.«

»Ah, wirklich – Sie sind es, Herr Bosfeld? Ist ja sehr nett!«

Lachend reichte sie Bosfeld die Hand, der die in ihrer duftigen Frühlingstoilette entzückende Frau mit den Augen verschlang. »Ist Ihre Freude wirklich echt, teuerste Frau Juliette?«

»Aber natürlich, Herr Bosfeld! Waren Sie doch mein Partner bei meinem Debüt! Und wir unterhielten uns doch damals glänzend! Übrigens, wie wär's? . . . Doch nein, erst eine Vorfrage: Sind Sie heut abend frei?«

»Frei? Für Sie immer, Gnädigste!«

»Wie wär's, wenn wir zusammen soupierten? Ich hörte von Fräulein Collins, Sie könnten so nette Jagdgeschichten erzählen – oder vielmehr so Geschichten von Jagdessen. Fräulein Collins schwärmt direkt für Sie – respektive für diese Geschichten. Unser guter Boffin, der alte Löwenjäger, geht auch mit, und wir feiern einen vergnügten Abend, gewürzt durch Bosfelds Jagdgeschichten!«

Die beiden Herren sprangen auf, küßten ihr abwechselnd die Hände. »Entzückend! Großartig! Juliette, Sie sind das göttlichste Weib auf Erden! Machen wir! Machen wir!«

»Schön! Schön!« rief Juliette lachend. »Und wir gehen natürlich wieder zu Lahti. Dort wollen wir . . .« Sie brach kurz ab, sah erstaunt auf die Gesichter der beiden Herren.

»Nicht nach Lahti!« Boffin schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch, wie oft ein . . . nun, sagen wir mal: ein Mensch, dem das Gericht auf den Fersen ist, dadurch ertappt wird, daß er zum Tatort zurückkehrt. Das soll man nie tun. Sie mögen das vielleicht für Aberglauben halten. Aber ich muß offen sagen, das Vergnügen des Abends wäre für mich nur halb.«

»Ja, ja, Frau Juliette«, bestätigte Bosfeld. »Ist tatsächlich so. Man tut so etwas nicht. Könnten da doch Personen sein, denen gewisse Erinnerungen auftauchen. Gehen wir doch zum Rebstock! Da ist's auch sehr nett.«

In diesem Augenblick schlug die Schreibtischuhr die zwölfte Stunde. »Nun dürfte Herr Meyer wohl bald fällig sein«, sagte Bosfeld. »Möchte wissen, was der auf dem Herzen hat. Muß gestehen: Sehr sympathisch ist mir der Kerl nicht.«

Boffin wiegte den Kopf. »Schon richtig, Herr Bosfeld. Aber er leistet uns wirklich sehr gute Dienste.« Schritte auf dem Flur ließen ihn aufhorchen. Er ging hinaus, rief durch die halboffene Tür zurück: »Er ist da!«

Meyer begrüßte mit einer linkischen Verbeugung die anderen, setzte sich, entnahm seiner Tasche eine gewaltige Zigarre, biß die Spitze ab und begann mächtig zu qualmen. Juliette warf ihm naserümpfend einen Blick zu, den der Herr Büfettier jedoch nicht verstand.

Bosfeld, der hinter Meyer saß, machte mit komischen Grimassen den Büfettier so täuschend ähnlich nach, daß Juliette laut auflachen mußte. Meyer, der wohl ahnen mochte, daß dieses Lachen auf seine Kosten ging, wurde rot vor Verlegenheit.

Boffin, dem das nicht angenehm war, kam ihm schnell zu Hilfe, schlug ihn mit jovialer Gebärde auf die Schulter. »Na, mein Lieber, was bringen Sie uns denn Wichtiges?«

»Was ich bringe? Einen Plan bring' ich! Ein feines Plänchen, Herr Boffin! Na, Sie werden ja Augen machen! Aber erst will ich mal was andres erzählen. Schön ist's ja gerade nicht. Das Ding mit dem Rollschrank ist verpfiffen.«

»Was? Wie? Verpfiffen?« Boffin war einen Schritt zurückgetreten. Sein im gewöhnlichen Verkehr so drolliges Wesen, sein ewiges urkomisches Mienenspiel – wie mit Zauberhand war alles von ihm abgewischt. Die kleine Gestalt gestrafft, die buschigen Brauen eng zusammengezogen, starrte er scharf prüfend in Meyers Gesicht. »Ist das Ihr Ernst? Überlegen Sie sich Ihre Worte wohl! Keine Dummheiten, bitte!«

Meyer zuckte die Achseln. »Es muß so sein, Herr Boffin. Am Dienstagmittag, als das Labor leer, alles zum Essen gegangen war, hat Doktor Fortuyn mit Fräulein Doktor Gerland so ziemlich alles, was in dem Schrank war, 'rausgetragen. Hat's in die Sicherheitsräume des Archivs gebracht. Den Rest hat er mit sich nach Hause genommen. In der Nacht kamen dann ein paar Monteure von außerhalb – woher die waren, weiß ich nicht – und legten in dem Zimmer von Doktor Fortuyn und in dem Schrank noch extra elektrische Alarmvorrichtungen. Mir ahnte so was. Ich hatte Nachtdienst in der Kantine und ging immer mal 'raus und guckte nach den Fenstern bei Fortuyn. Wie da mal Licht war, dachte ich: Halt, jetzt gilt's! Ich lief schnell in den Wasserturm – der liegt so schön bequem gerade gegenüber –, und die dummen Kerle hatten natürlich vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Da konnte ich die ganze Bescherung mit ansehn. Na, die können ja lange warten, bis wir uns an die gesalzene Kiste 'ranmachen!«

»Fatal! Höchst fatal!« knurrte Boffin vor sich hin. »Endlich mal 'ne Gelegenheit, wo wir einen fetten Fang hätten machen können, den man in Detroit gut honoriert . . . Was nun?«

Meyer schlug sich klatschend auf die Schenkel. »Was nun? Nun kommt mein Plan, Herr Boffin – mein Plänchen!«

»Na, da bin ich neugierig!« sagte Boffin lachend. »Plan? Plänchen?«

»Ja, mein lieber Herr Boffin –: spaßhafte Sache wird das! Lächerliche Sache! Ich meine, es wird einer eklig dabei lachen.«

»Na – nun mal ernst, Herr Meyer! Mir steht wirklich der Sinn nicht auf Lachen. Die Sache mit dem Rollschrank ist mir stark auf die Nerven gefallen. Ich hatte unbedingt mit einem Erfolg da gerechnet. Übrigens: Was ist denn mit dem Material aus dem Rollschrank geworden?«

Meyer lachte überlegen. »Sehen Sie, jetzt kommen Sie so allmählich drauf! War nämlich auch mein erster Gedanke. Also, wie ich Ihnen schon sagte, einen Teil hat Fortuyn in seine Wohnung genommen. Das wird natürlich das Wichtigste sein. Das andre ist ins Archiv gekommen. Also nochmals, Herr Boffin: Das Beste hat Fortuyn in seiner Wohnung!«

Meyer sah Boffin erwartungsvoll an. Der preßte die wulstigen Lippen aufeinander, daß sich der Schnurrbart sträubte, ließ dann ein leichtes Grunzen hören. »Tippe auf Einbruch bei Fortuyn, Herr Meyer – was? Hm, hm! Sache . . . Hm, wird nicht so ganz einfach sein!«

»Zum Lachen einfach, Herr Boffin! Alle werden lachen! Wir – und Fortuyn auch.«

»Ach, lassen Sie das! Sprechen Sie ernst!«

»Na – auch recht! Also, passen Sie auf. Sie kennen doch alle Lachgas? Vor 'nem halben Jahr passierte mal im Werk 'ne dolle Geschichte. Da war ein Tank mit Lachgas undicht geworden, und die ganze Nachtschicht in dem Raum lag am nächsten Morgen total beteert, beduselt, betrant bewußtlos durcheinander. Die Sache war ja weiter nicht schlimm, hat den Leuten gar nichts geschadet. Ist nämlich ein sehr freundliches Gas. Man schläft ein, träumt sehr süß, und wenn's einer nicht kubikmeterweise schluckt, dann tut es ihm nichts.«

»Na, und?« unterbrach ihn Boffin.

»Ja, die Sache ist so: Unter Doktor Fortuyn wohnt der pensionierte Rentmeister Schulte. Die Wohnung ist sehr groß, und der Schulte vermietet immer zwei Zimmer ab. In acht Tagen, am Ersten, werden die Zimmer frei. Neue Mieter hat er noch nicht, denn die Wohnung ist teuer. Ich hab' mir die Sache nun so gedacht: Zwei von Ihren Leuten, Herr Boffin, mieten die Zimmer und bringen in ihren Koffern solchen Lachgastank da hinein. Eines Nachts, wenn Fortuyn ins Bett gegangen ist und sein Licht ausgemacht hat, leiten die ihm durch die Decke – sie müssen irgendwo ein Loch bohren – 'ne ordentliche Ladung Lachgas ins Schlafzimmer. Und wenn er dann richtig beduselt ist, gehen die beiden nach oben – die olle Haushälterin schläft hintenzu 'raus, merkt nichts –, knacken die Tür auf und nehmen mit, was haste, was kannste. Sie können dem die ganze Bude ausräumen. Sie haben ja den großen Koffer mit, in dem sie die Gasflaschen hatten. Die können natürlich ruhig stehenbleiben. Ein tüchtiger Autofahrer steht mit seinem Wagen irgendwo in der Nähe. Alles in das Auto 'rin! Los!«

Boffin knifft das linke Auge zu. Sein Gesicht verzog sich zu einer schiefen Grimasse. »Hm, hm«, kam es langsam durch die Nase. »Bißchen sehr anrüchig, Herr Meyer!«

»Na – nu schlägt's dreizehn! Und ich glaubte, Sie würden vor Vergnügen an die Decke springen über mein Plänchen! Und da machen Sie 'n Gesicht, als hätt' ich Ihnen sonst was getan?«

Boffin drehte sich halb zu Bosfeld um, sah den von der Seite an.

Der hob abwehrend die Hände. »Nichts für mich, Herr Boffin! Gänzlich ausgeschlossen! In die Asche mögen andere ihre Finger stecken! Da macht man sich dreckig und – kann sich eklig verbrennen! Also: ich will Ihnen natürlich auf keinen Fall abraten. Das müssen Sie mit sich allein ausmachen, ob Sie das Plänchen des Herrn Meyer ausführen wollen oder nicht. Im übrigen: ich weiß von nichts – mein Name ist Hase! Empfehle mich den Herrschaften gehorsamst! Küss' die Hand, Gnädigste! Auf Wiedersehn heut abend.«

Boffin sah unschlüssig von Meyer zu Juliette. Die hatte ein Journal ergriffen, blätterte darin, als ginge sie das alles gar nichts an. Boffin trippelte unschlüssig hin und her. Die Collins! schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. War doch ein raffiniert kluges Frauenzimmer; hatte ihm schon manchen guten Rat gegeben . . . »'n Augenblick, meine Herrschaften! Will nur mal schnell was nachsehn. Komme gleich wieder!«

Meyer kam sich, allein mit der eleganten Dame, auf den Pfropfen gesetzt vor. Er fühlte innerlich den Drang, ein Gespräch anzufangen, konnte aber beim besten Willen keinen Anknüpfungspunkt finden. Da kam sie ihm selbst zu Hilfe. Fragte: »Was ist das eigentlich für ein Mann, dieser Herr Doktor Fortuyn? Sie kennen ihn doch?«

Meyers Augenbrauen wölbten sich. »Hohes Tier, mein Fräulein! Hat 'ne große Nummer in Rieba! Will künstlichen Gummi machen. Ist zwar vorläufig noch Essig. Aber wenn er's mal 'raus hat« – hier kamen Meyer die Worte einer Zeitungsnotiz in Erinnerung –, »wird das eine epochemachende Erfindung sein, die unsere Wirtschaft von Grund auf revolutioniert.«

Juliette hob das Zeitungsblatt höher, um ihr Lachen zu verbergen. Zu komisch, das wichtigtuende Gesicht dieses Burschen! »Wie alt ist er denn? Ist er verheiratet?« fragte sie weiter.

»Nee – noch nicht, mein Fräulein. Wählerischer Herr! Könnte zehn für eine haben.«

»Übrigens, Herr Meyer: Sie kennen wohl alle die Herren aus den Laboratorien in Rieba?«

»Aber selbstverständlich kenn' ich die!«

Das Zeitungsblatt rückte noch etwas höher hinauf. Kaum, daß Juliettes Haarschopf darüber hinwegsah. So von nebenher fragte sie: »Ist da nicht auch irgendwo ein Doktor Hartlaub?«

Meyer sann einen Augenblick nach. »Nein, mein Fräulein, den Namen hab' ich noch nie gehört. Wo soll er denn sein?«

»Das weiß ich nicht. Ich dachte, vielleicht wäre er da. Ich kann mich auch geirrt haben.«

Boffin kam zurück. Schlenkerte beruhigt die Kneiferschnur um die Finger. Die Collins hatte wieder mal guten Rat gegeben. »Also, Herr Meyer, Ihre Idee ist nicht schlecht. Hab' mich aber so'n bißchen informiert. Die Sache mit dem Lachgas ist nicht so ungefährlich, wie Sie sich das denken. Ich muß mir die Geschichte erst mal reiflich überlegen. Wenn ich's mache, schreib' ich Ihnen: ›Die Sache wird gemacht.‹ Die vier Worte nur. Gehen Sie jetzt 'rüber zu Fräulein Collins und machen Sie Ihre Liquidation mit ihr ab!« –

»Denken Sie wirklich daran, die Sache zu machen?« fragte Juliette.

Boffin wand sich wie ein Schraubenzieher. Sein Gesicht schnitt eine Serie von Grimassen, um die ihn ein höchstbezahlter Clown beneidet hätte. »Verflixte Geschichte, das! Wenn ich denke, daß man da die dicksten Rosinen ergattern könnte! Mit einem Schlag denen da drüben alles auf den Tisch legen, was sie brauchen –! Hab' schnell mal ›Lachgas‹ nachgesehen. An sich ganz nett – aber wenn's der Teufel will – und der Doktor schläft in seinem Bett in den Jüngsten Tag 'rein . . . Na! ich glaube, Headstone machte sonst was mit uns!«

»Die Sache eilt ja nicht. Fragen Sie doch mal drüben an!«

Boffin lachte mitleidig. »Sie naives Menschenkind! Den Brief müßten Sie lesen, den ich dann kriegte! Denen ist nichts unsympathischer als das Wörtchen ›Verantwortung‹. Die überlassen sie uns. Geht's schief, müssen wir's eben ausbaden. Ich muß die Geschichte erst noch ein paarmal beschlafen. Wird übrigens auch gar nicht einfach sein, die passenden Leute für das Unternehmen zu finden. Ich selbst muß natürlich, um nicht später 'reingezogen zu werden, im Hintergrund bleiben. Muß die ganze Sache einem anderen in die Hand geben . . . Schwierigkeiten über Schwierigkeiten! Aber lassen wir das! Jetzt zu unserer Sache!« Er setzte sich neben Juliette. »Mein Feldzugsplan gegen Rieba war ein ganz anderer. Sollte ich dem Meyerschen Plänchen keinen Geschmack abgewinnen, dann führe ich meine Idee aus. Dazu brauch' ich aber unbedingt auch Sie, liebe Juliette. Also, hören Sie mal zu!«

Schon bei seinen nächsten Worten verzog sich deren Gesicht. Je weiter er sprach, desto größer wurde der Widerwille in ihren Mienen. Schließlich stand sie auf, warf Boffin einen entrüsteten Blick zu. »Nein, das tue ich nicht!«

Boffin hob beschwörend die Hände, ging ihr nach, führte sie zu ihrem Platz zurück. »Lassen Sie mich doch erst ausreden! Urteilen Sie nicht so schnell! Sie werden sehen: die Sache hat auch ihre großen Reize!« Wieder begann er in leisem Flüsterton auf sie einzureden, schloß mit den Worten: »Nun, hab' ich nicht recht?«

Juliette schüttelte mit saurer Miene den Kopf, zeigte Boffin ihre wohlgepflegten Hände. »Haben Sie kein Mitleid damit, Herr Boffin?«

Statt zu antworten, ergriff er ihre Hände, bedeckte sie mit Küssen. »Mitleid mit diesen entzückenden Händen? Warum Mitleid? In Gold sollen Sie die später waschen, diese Engelshände!«

Juliette machte sich lächelnd frei, gab Boffin einen Klaps auf die Backe. »Sie sind ein Tyrann, Boffin! Ein scheußlicher Tyrann! Aber es fällt mir gar nicht ein, ja zu sagen. Ich werde es machen wie Sie – verlange Bedenkzeit. Nach drei Tagen sag' ich Ihnen dann: Wird gemacht! Oder: Wird nicht gemacht! – Am liebsten wär' es mir jedenfalls, wenn Sie das Stück à la Meyer vorzögen. Für heute Schluß! Auf Wiedersehen, Herr Boffin!« – –

Als Franz Meyer nach Rieba zurückkam, sagte ihm sein Bruder, der Kantinier: »Höchste Zeit, daß du kommst! Bei Direktor Lindner heute abend 'ne kleine Fete. Du sollst kellnerieren. Beeil' dich! Mußt spätestens um sieben da sein! Beim Decken helfen, den Gästen die Sachen abnehmen. Fix, fix!«

»Na, paßt mir ganz gut«, sagte Franz Meyer lachend. »Berlin – teures Pflaster! Die Trinkgelder kommen mir gerade recht. Na, denn also los in die alte Kluft!« – –

Im Schmuck seines besten Fracks aus seinen früheren Kellnerzeiten empfing Meyer die ankommenden Gäste in der Garderobe. Zwei Herren des Werkes, die an der Tür gewartet hatten, bis eine Gruppe junger Damen sich ihrer diversen Pelze und Schals entledigt hatte, traten jetzt zu Meyer und gaben ihm ihre Hüte und Mäntel. Meyers scharfes Ohr hörte, wie sie dann ihr unterbrochenes Gespräch wieder aufnahmen.

»Mir ahnte schon immer so was«, sagte der eine im Flüsterton, »daß der alte Schürzenjäger mal an die Falsche gerät.«

»Düsterloh ist doch sonst ein gerissener Kunde!«

»Ist er auch! Aber wenn er ein schönes Weib sieht, vergißt er alle Vorsicht. Vorläufig ist er jedenfalls suspendiert. Ob wir ihn jemals wiedersehn werden? Nach dieser Dublette glaub' ich's kaum!«

»Haben Sie eigentlich 'ne Ahnung, wie das 'rausgekommen ist?«

»Keine Spur! Kampendonk sagt kein Wort. Wolff erst recht nicht. Daher laufen natürlich alle möglichen Gerüchte um. Alle kommen darauf 'raus, daß irgendwie ein geheimer Detektiv im Werk ist, den niemand kennt als Kampendonk; höchstens noch Wolff.«

»Offen gestanden, das scheint mir auch die einzige Möglichkeit. Denn wie sollte es sonst zu erklären sein, daß jetzt ein Spion nach dem anderen geklappt wird?«

Neue Gäste kamen. Während Meyer ihnen beim Ablegen der Garderobe behilflich war, ging ihm das, was er über den geheimen Detektiv gehört hatte, fortwährend im Kopf herum. Er fühlte eine gewisse Unbehaglichkeit; sein Frack kam ihm auf einmal sehr eng vor. Seine Gedanken schweiften nach allen Richtungen hin. Auch der Kurfürstendamm kam ihm in die Erinnerung und – der Bürodiener Wittebold. Er rechnete nach. Wie lange war der hier? Hm . . . richtig: gleich darauf ging's ja los, daß sie einen nach dem anderen schnappten! Jedenfalls hieß es sich vor dem Kerl in acht nehmen. – –

Ein tückischer Zufall wollte es, daß Fortuyn und Johanna Terlinden an der Tafel so gesetzt waren, daß sie sich weder sehen, geschweige denn miteinander sprechen konnten. Eine gewisse Entschädigung bot Fortuyn die Unterhaltung mit seinem Nachbar, einem japanischen Geschäftsfreund des Werkes. Herr Oboro, ein liebenswürdiger, hochgebildeter Plauderer, verstand es, ihn in ein überaus fesselndes Gespräch zu verwickeln. Auch nach Aufhebung der Tafel attachierte er sich immer wieder mit fernöstlicher Zähigkeit an ihn.

Selbst wenn Fortuyn es auf Kosten der Höflichkeit versucht hätte, sich ihm zu entziehen, wäre er Johanna doch nicht näher gekommen. Die war von einer Gruppe älterer Damen ummauert. Rezepte gegen Krankheiten und für Torten, die ersten Zähne von Enkelkindern, die Anmaßung der modernen Dienstboten gaben endlosen Gesprächsstoff. Ein Herr, der es gewagt hätte, Johanna aus diesem Ring zu entführen, hätte mehr Heldenmut besitzen müssen als jener sagenhafte Siegfried, der Brünnhilde aus der Waberlohe befreite. Nur einen flüchtigen Blick bisweilen konnten sie tauschen, der ihre innersten Gedanken aussprach. Dann mußten sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung widmen.

Der Japaner überschüttete Fortuyn jetzt gar mit einer Flut von statistischen Zahlen und bewies, daß Japan nach den Autoprozenten per Einwohner sich im Laufe der letzten zwei Jahre wieder um zwei Stellen der amerikanischen Union genähert habe. »Unser Kautschukimport«, fuhr er fort, »hat sich dementsprechend auch sehr verstärkt. Wenn man bedenkt, daß das in den nächsten Jahrzehnten so weitergehen könnte, kommt man auf ganz phantastische Zahlen. Es sei denn«, – hier verzog sich sein Gesicht zu einem respektvollen Lächeln – »daß Sie, Herr Doktor, eines Tages die Welt von der Plantagenwirtschaft unabhängig machen und die ungeheuren Summen, die heute noch außer Landes gehen, von der einheimischen Industrie verdient werden können. Rechnet man diese Zahlen für die ganze Welt zusammen, so erreicht man eine Riesensumme, die, plötzlich in andere Kanäle geleitet, der Weltwirtschaft einen Stoß versetzen kann, der nicht unbedenkliche Erschütterungen der Börsen zur Folge haben muß . . .«

»Gewiß, Herr Oboro. Aber das ›Wann‹ steht vorläufig noch dahin.«

»Oh, wenn Sie das sagen, Herr Doktor – die Chemosynthese wird ja voraussichtlich keine große Bedeutung gewinnen – ja, dann . . .« Der Japaner stockte. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben, für das er vorsichtig die richtigen Worte suchte. »Es scheint mir – vielleicht irre ich mich da –, als hätte man in Deutschland noch nicht das volle Vertrauen auf den glücklichen Erfolg Ihrer Arbeiten. Ich darf Ihnen versichern, daß man bei uns zu Haus Ihrem Wirken mit der größten Teilnahme folgt. Vor meiner Abreise hatte ich Gelegenheit, mit unserem Kultusminister zu sprechen, der ziemlich offen zu erkennen gab, daß er jederzeit bereit wäre, Ihnen an der Universität Tokio einen Lehrstuhl anzubieten . . . Sie fänden natürlich daneben Zeit, an Ihrem Verfahren weiterzuarbeiten, wozu man Ihnen Mittel in jeder Höhe zur Verfügung stellen würde.«

Bei den letzten Worten war das stete Lächeln, das wie eine undurchsichtige Maske auf dem Gesicht des Japaners lag, geschwunden. Mit offenem, ernstem Gesicht schaute er zu Fortuyn empor.

Der überlegte kurz, wie er, um nicht zuviel zu sagen, antworten solle. Er verbeugte sich leicht. »Gewiß, mein Herr, Ihre Worte sind außerordentlich schmeichelhaft für mich. Doch irren Sie sich, wenn Sie vielleicht glauben, hier stünden mir nicht die nötigen Mittel zur Verfügung. Ein Abbruch meiner Arbeiten hier würde mich um viele Monate zurückwerfen. Ist es doch nicht allein mein Kopf, sind es doch auch die Leistungen meiner Mitarbeiter, die zu fruchtbarem Weiterschaffen gehören.«

»Auch darüber«, begann, vorsichtig die Worte wägend, der Japaner, »wäre vielleicht . . .«

»Nun, Herr Oboro«, unterbrach ihn Lindner, »haben Sie sich gut unterhalten? Gleich wird der Tanz beginnen! Die jungen Herrschaften werden schon unruhig. Wie stellen Sie sich dazu? Werden Sie auch . . .?«

»Aber gewiß, Herr Direktor! Wir sind bemüht, auch darin unseren westlichen Freunden nachzueifern.«

Fortuyn ließ die ersten Touren vorübergehen, forderte dann Johanna auf.

»Wie schade!« sagte die und drückte seinen Arm leicht an sich. »Der halbe Abend ist schon herum, und wir haben noch kein Wort zusammen gesprochen. Und ich hatte mich doch so auf diesen Tag gefreut! Du mußt so oft mit mir tanzen, wie es irgend geht! Ich habe so vieles auf dem Herzen, was mich bedrängt. Warum bist du so lange nicht gekommen? Eine Ewigkeit, scheint es mir!«

Über Fortuyns Gesicht glitt ein Schatten. »Es wird mir mit jedem Male schwerer, euer Haus zu betreten«, sagte er mit gedrückter Stimme. »Clemens wird immer abweisender. Ich ertrage es nicht, mich diesen stummen Vorwürfen und Anklagen immer wieder auszusetzen.«

Die Musik setzte von neuem ein. Die Körper im Rhythmus des Tanzes aneinandergeschmiegt, überließen sie sich dem Genuß des Augenblicks. Und sooft ein neuer Tanz sie zusammenbrachte, vergaßen sie absichtlich all das Häßliche, Drohende, gaben sich ganz dem wunderbaren Gefühl hin, sich immer wieder in den Armen halten zu dürfen.

Wieder war ein Tanz zu Ende. Während Fortuyn Johanna zu ihrem Platz zurückgeleitete, trat ihnen Kampendonk in den Weg. »Freue mich sehr, meine liebe Frau Terlinden, Sie nach langer Zeit auch mal wieder in unserm Kreis zu sehen! Wie geht es Ihrem Gatten?«

»Danke vielmals, Herr Geheimrat! Sein Befinden wechselt, wie immer. Doch Clemens hat in der letzten Zeit neue Hoffnung geschöpft.« Sie wollte fortfahren: ›Onkel Düsterloh‹ –, vermied aber den ominösen Namen und sagte: »Man hat ihn auf Doktor Vocke aufmerksam gemacht. Der hat in Angelfingen im Spessart ein Sanatorium für Lungenkranke, speziell für Leute mit Gasvergiftungen.«

»Doktor Vocke? Ja! Erinnere mich auch des Namens. Aber sollte Ihr Gatte . . .« Der Geheimrat unterdrückte den Rest des Satzes. »Nun – ein Versuch kann natürlich nichts schaden! Sie haben sich wohl schon mit Vocke in Verbindung gesetzt?«

»Ja, Herr Geheimrat. Clemens hat ihm durch unseren Hausarzt ein Krankheitsbild übermitteln lassen. Doktor Vocke antwortete zwar ausweichend, aber Clemens besteht darauf, sich in das Sanatorium zu begeben.«

Fortuyn war bei Johannas Worten etwas zur Seite getreten, so daß sie Kampendonk unmittelbar gegenüberstand und zu dem nun freier das aussprechen konnte, was ihm gegenüber auszusprechen ihr wohl schwerfallen mußte.

»Dann soll die Übersiedlung wohl bald stattfinden?« fragte Kampendonk.

»Gewiß, Herr Geheimrat. Clemens brennt vor Ungeduld, obgleich sein Zustand augenblicklich nicht so gut ist, wie es für eine derartig weite Reise zu wünschen wäre. Ich werde ihn selbst in das Sanatorium bringen und dann eine große Vetternreise unternehmen.«

»Das ist gut, meine liebe kleine Frau! Das ewige Krankenzimmerhocken ist auf die Dauer nichts. Sie sehen mir recht blaß aus. Wann werden Sie fahren? . . . Übermorgen? Oh! Dann werde ich leider keine Gelegenheit mehr haben, Ihren Gatten besuchen zu können. Grüßen Sie ihn von mir und überbringen Sie ihm meine besten Wünsche zur Genesung!«

In Fortuyn wirbelte das Gehörte durcheinander. Tausend Fragen drängten sich ihm auf. Da wandte sich Kampendonk zu ihm. »Einen Augenblick, Herr Doktor Fortuyn. Sie gestatten doch, Frau Terlinden?«

Und dann war es nicht anders als vorher mit Herrn Oboro. Aus dem Augenblick, von dem Kampendonk gesprochen, wurden Viertelstunden. Fortuyn stand wie auf glühenden Kohlen. Seine Augen suchten immer wieder Johanna. Er wunderte sich im stillen, warum Kampendonk ihn eigentlich ihr entführt habe. War doch das meiste, was der da sprach, nicht von besonderer Wichtigkeit.

»Es ist übrigens ein Bericht unseres Agenten aus Detroit angekommen, der mir sehr rätselhaft, wenn nicht gar unglaublich vorkommt.« Kampendonk unterbrach sich und nahm vom Servierbrett des Kellners Meyer ein Glas Wein. Setzte es dann wieder zurück und ließ die Gläser zu einem kleinen Tischchen bringen, an dem er sich mit Fortuyn niederließ. »Wie gesagt: der Bericht unseres Agenten ist mir vollkommen schleierhaft.«

Beide achteten nicht darauf, daß der Kellner mit seinem Wischtuch andauernd die Platte bearbeitete, obgleich nicht das geringste Fleckchen darauf war. Hätten nicht ein paar durstige Herren ihn energisch zu sich gerufen, würde er sich wohl noch länger da bemüht haben, obwohl doch die Worte Kampendonks nur für Fortuyns Ohren bestimmt waren.

»Nun, mein lieber Doktor, Sie können mir da vielleicht Aufklärung geben. Der Agent behauptet, man habe neues Material von hier bekommen. An sich von größter Wichtigkeit. Doch wären alle Versuche, danach zu arbeiten, bisher gescheitert. Was mag das sein? Ich will mal darüber hinwegsehen, daß es wieder auf irgendeine rätselhafte Weise gelungen ist, hier Material zu stehlen . . .«

Fortuyn überlegte einen Augenblick. Dann spielte trotz des Ernstes der Sache ein sonderbares Lächeln um seinen Mund. Hohn, Spott, Freude.

Der Geheimrat schaute ihn verwundert an. »Nun, was ist? Ihr Gesicht ist mir, offen gestanden, ebenso rätselhaft.«

Fortuyn wollte sprechen, da stellte der Kellner Meyer höflicherweise einen Aschbecher zwischen die beiden Herren, obwohl keiner von Ihnen rauchte. Fortuyn wartete, bis der sich entfernt hatte. Sprach dann leise: »Ich freue mich gewissermaßen über Ihre Nachricht, Herr Geheimrat. Zeigt sie mir doch, wie gute Vorsicht belohnt wurde! Wie Sie wissen, steh' ich in Verbindung mit Professor Bauer in Aachen, der sich des öfteren von mir Rat für seine literarischen Veröffentlichungen erbittet. Bei seiner notorischen Zerstreutheit gab ich ihm bei einer Zusammenkunft die Notizen, die er als Unterlagen benötigte, mit fingierten Werten. Da die Werte selbst für Bauer ja kein Interesse haben, konnte ich das ruhig tun. Ich kann mir nun nichts anderes denken, als daß es der Gegenseite irgendwie gelungen ist, sich bei Bauer in diese Notizen Einblick zu verschaffen. Und nun sind die Herrschaften da drüben prompt auf den Leim gekrochen und arbeiten verzweifelt mit diesen falschen Ziffern!«

Auch der Geheimrat konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Schüttelte dann den Kopf. »Ist und bleibt doch unglaublich, wie raffiniert die Spionage getrieben wird! Wie konnte man wissen, daß Professor Bauer von Ihnen Material hatte, und wie hat man es dem gestohlen?«

»Ich werde gleich morgen mit Doktor Wolff sprechen, Herr Geheimrat. Der wird es wohl irgendwie an den Tag bringen.«

»Ja, tun Sie das! Ich bin wirklich gespannt. Ich habe Ihnen wohl schon einmal gesagt, daß es mir manchmal direkt unheimlich wird. Die Last meines Amtes drückt mich oft schwer – fast zu schwer. Ich habe in der letzten Zeit schon hin und wieder daran gedacht, mich nach einer passenden Stütze umzusehen.« Er hob sein Glas, trank Fortuyn zu. »Wie würden Sie sich dazu stellen, Herr Fortuyn?« Der Geheimrat strich seinen Bart, sprach betont: »Aller Wahrscheinlichkeit nach wird ja in nächster Zeit ein Direktorposten frei . . . Würden Sie eventuell ein derartiges Amt übernehmen?«

Fortuyn horchte auf. Kampendonks Worte trafen ihn so unvorbereitet, daß er einen Augenblick mit der Antwort zögerte.

Der Geheimrat schien dies falsch auszulegen. Er fügte hinzu: »Der Posten würde Sie natürlich nicht zu sehr in Anspruch nehmen; denn eine Störung in Ihren bisherigen Arbeiten soll selbstverständlich vermieden werden. Ich mache Ihnen dies Anerbieten auch nicht . . . mit Rücksicht . . . auf Ihre außergewöhnlich lange Unterhaltung mit Herrn Oboro«, setzte er mit feinem Lächeln hinzu. »Ich will da keine Fragen stellen, aber ich glaube wohl, das Richtige zu erraten?«

Fortuyn nickte lachend. »Irgendwelche Bedenken meinerseits, den Posten anzunehmen, bestehen natürlich nicht, Herr Geheimrat. Im Gegenteil, ich kann Ihnen nicht warm genug danken. Sehe ich doch jetzt die Möglichkeit, den anderen Traum der letzten Jahre verwirklichen zu können!«

»Und der wäre?« fragte Kampendonk.

»Nun, ich gebe mich . . . in meinen Träumen . . . mit dem bloßen Erfolg, die Elektrosynthese zu schaffen, nie zufrieden. Träumte vielmehr auch davon, später einmal selbst mit eigener Hand die Riesenorganisation aufzuziehen, die nötig wäre, um die Erfindung auszunutzen . . . für das Werk . . . für Deutschland . . . für Europa.«

Der Geheimrat schaute ihn prüfend an Er wußte, Fortuyn war eher bescheiden als großsprecherisch. Die Sicherheit aber, mit der er eben sprach, ließ ihn aufmerken. Er unterdrückte eine Frage, die sich ihm auf die Zunge drängte. Sagte nur, indem er Fortuyn zum Abschied die Hand reichte: »Ich wünschte wohl, es noch als Generaldirektor zu erleben, daß Fortuyn der Organisator Fortuyn den Erfinder ablöste.«

Franz Meyer, der in diesem Augenblick die leeren Gläser wegnahm, wußte mit den letzten Worten Kampendonks leider sehr wenig anzufangen.

Für die lange Pause glaubte Fortuyn sich durch ein paar Tänze mehr entschädigen zu dürfen. Jetzt, da das, was Johanna so bedrückt, durch Kampendonks glückliches Dazwischentreten Fortuyn in zwangloser Unterhaltung zu Ohren gebracht war, fühlten Sie sich freier. Auch Fortuyn, durch Kampendonks Anerkennung innerlich gehoben, warf die Gelehrtenperücke ab und gab sich als der frohe, gesellige Mensch, der er von Natur aus war. Bald bildete sich gegen seine eigentliche Absicht eine Gruppe um sie, die gern mittat. Die Stimmung pflanzte sich fort, bis schließlich die ganze Gesellschaft davon ergriffen wurde.

Es war »ein überaus gelungener, vergnügter Abend«, wie die Gäste beim Scheiden den Gastgebern versicherten, und er blieb auch vielen noch lange in Erinnerung. Dabei besonders die Person Fortuyns, der wieder einmal den Leuten auf seine Weise eine angenehme Enttäuschung bereitet hatte.

In dem Trubel des Aufbruchs fanden Fortuyn und Johanna erst Zeit, sich ungestört ein paar Augenblicke zu unterhalten. Die Reise Johannas . . . ihr Ziel, die Dauer ihres Fortbleibens vorläufig noch unbestimmt . . . so viele Gedanken in beiden, die unausgesprochen blieben – bleiben mußten. – –

Die letzten Worte Kampendonks kamen dem Büfettier Meyer wieder stark in Erinnerung, als er am nächsten Morgen Fortuyn begegnete, der die Treppe zu seinem Büro hinaufging. Meyer hatte sich an diesem Morgen schon in mehreren mühevollen Versuchen angestrengt, alles das, was er gestern abend aufgeschnappt, in einem Brief an Boffin möglichst verständlich zu Papier zu bringen. Doch er war sich selbst bewußt, daß ihm das nur zum Teil gelungen war. War ihm doch vieles – darunter auch diese Worte Kampendonks, die ihm jetzt wieder in Erinnerung gebracht wurden – unverständlich geblieben. Es widerstrebte ihm, die Worte so, wie er sie im Gedächtnis hatte, niederzuschreiben.

Boffin, das wußte er wohl, war ein Stückchen schlauer als er. Aber diese Tatsache gestand er sich nur ungern ein. Er wollte selbst versuchen, in die chaotischen Brocken, die er aufgeschnappt hatte, einen Sinn zu bringen, der seine Intelligenz bei Boffin ins rechte Licht setzte. So ging sein Brief erst mehrere Tage später ab. Aber auch dann noch, ohne daß es ihm gelungen war, einen Bericht zu geben, dessen Sinn er vollständig erfaßt hätte. Er kam um die unangenehme Konzession nicht herum.

Was hätte er für Augen gemacht, wenn er Boffin beim Lesen dieses Briefes gesehen hätte! Gerade bei jenen letzten Worten Kampendonks geriet der Amerikaner in größte Erregung. Er schnaufte, prustete, und sein Klemmer machte unzählige Rutschpartien. »Wär's möglich?« stieß er durch die Zähne. »Der Organisator soll bald den Erfinder ablösen? Die Sache ist also schon spruchreif! Wird's jedenfalls bald werden! Jetzt heißt's handeln!«

Er nahm aus einem Schränkchen den bebilderten Prospekt eines Abzahlungsgeschäfts A. Häder, Berlin NO, tat ihn in ein Kuvert und machte ihn als Drucksache fertig – »an Herrn Büfettier Meyer«.

Meyer fand am Morgen nach jenem Fest noch eine andere günstige Gelegenheit zu wichtigen Beobachtungen, über die er sofort an Boffin berichtete. Aus der Unterredung zweier Laboranten hatte er gehört, daß an diesem Vormittag die große Anlage in Morans Laboratorium zum erstenmal voll arbeiten würde. Mit Geschick verstand er es, seinen Korb am Arm, den Laboratoriumsraum nach vergessenem Geschirr abzusuchen. Alles war so mit der Beobachtung der arbeitenden Apparate und des Betriebes beschäftigt, daß sich keiner um den harmlosen Büfettier kümmerte. Und da gab es sehr interessante Dinge zu sehen.

Auch Rudi Wendt, der zufällig gerade, als die Versuche begannen, in Morans Laboratorium kam, um mit Dr. Göhring über eine frühere Arbeit zu sprechen, wurde so interessiert und gefesselt, daß er den Zweck seine Kommens vergaß und mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorgängen und den Erklärungen Morans folgte.

Die Maschinen funktionierten ohne Störung, wie es von ihnen verlangt wurde. Die chemischen Vorgänge, die in ihrem Fortschreiten teilweise durch verglaste Beobachtungsluken zu verfolgen waren, verliefen vollkommen exakt. Als dann schließlich die Schleusen zu arbeiten begannen und das fertige Produkt auswarfen, als der reine Para-Kautschuk in handlichen Blöcken dalag, hallte der Saal wider von Beifallsrufen und Glückwünschen für Moran.

Ein leichter Rippenstoß weckte Rudi aus seinen Gedanken. Er drehte sich um. Göhring stand neben ihm, nickte ihm mit glänzenden Augen zu. »Sache! Was, mein Lieber? Wie meinte doch der liebe Kollege Abt neulich? ›Incertus an, incertus quando‹ bei euch! Na – der erste Teil ist wohl übertrieben. Aber das ›quando‹ mag doch noch einige Zeit dauern – wie?«

»Hm!« meinte Rudi. »Da müssen Sie schon Doktor Fortuyn selber fragen! Oder, noch besser, unsere geliebte Tilly! Na – die würde Ihnen ja dienen! – Im übrigen: Was ich da gesehen hab', ist zweifellos nicht übel. Aber was ich fragen möchte – Sie sind ja mit den ganzen Vorgängen viel besser vertraut als ich, der ich's nur einmal mitangesehen habe, Kollege Göhring –: Wie stellen Sie sich eigentlich das Aufziehen der Großfabrikation vor?«

Göhring sah ihn verwundert an. »Haben Sie da irgendwelche Zweifel? Einmal eins ist eins, und einmal zehn ist zehn –, sollt' ich denken.«

»Hm!« machte Rudi wieder. »Hm . . . Daß einmal zehn gleich zehn ist, ist ja richtig; will mir aber hierbei absolut noch nicht einleuchten.«

Göhring schlug ihm lachend auf die Schultern. »Mensch, sind Sie verrückt?« Er drehte sich zu den andern um, wollte die auf Rudis Bemerkungen aufmerksam machen. Doch der fiel ihm abwehrend in den Arm. »Um Gottes willen! Hetzen Sie nicht die ganze Gesellschaft auf mich! Ich will lieber gar nichts gesagt haben.«

Er wollte gehen, doch Göhring hielt ihn fest. »Nun mal im Ernst, Kollege! Haben Sie tatsächlich irgendwelche Bedenken hier?« Göhring wußte wohl, daß Rudi trotz seines oft jungenhaften Benehmens ein ganz schlauer Kopf war mit einem guten Sinn fürs Praktische. Er fragte weiter: »Was meinten Sie denn?«

»Tja, mein Lieber, ich dachte so in meinem dummen Laienverstand: Die Übertragung der Vorgänge in dem zweiten Tank auf das Zehnfache – oder, sagen wir, auch auf das Hundertfache – dürfte bei der Art, wie es Moran hier macht, ein ganz anderes Produkt ergeben als in dieser Laboratoriumsapparatur.«

Göhring sah ihn mißtrauisch an. »Die Vorgänge im zweiten Tank? Sie meinen, daß die Polymerisierung des Isoprens im Stadium des zweiten Tanks im Großverfahren anders verlaufen müsse? Wie kommen Sie zu der Annahme?«

»Na – ich hatte vor einiger Zeit mit derartigen Versuchen zu tun . . . Aber ich werde mich hüten, aus der Schule zu plaudern . . . Friedrich August . . . macht euern Dreck alleene! Incertus quando bei euch –, sag' ich. Adschüß!«

Göhring sah ihm mit nachdenklichem Gesicht nach. Er machte ein paar Schritte auf Moran zu. Besann sich, wandte sich zu seinem Arbeitstisch. – –

»Fräulein Doktor Gerland, möchten Sie vielleicht ein paar Blöcke prima Para-Kautschuk frisch aus der Retorte sehn?«

Tilly sah Rudi mißtrauisch an. Was für einen Unsinn würde der nun wieder verzapfen?

»Ja, mein teures Fräulein, dann bemühen Sie sich doch selber mal in das Labor unseres Kollegen Moran! Da können Sie sehen, wie die Kautschukblöcke fallen . . . wie die Äpfel vom Pferd – Pardon: Baum!«

»Wo waren Sie denn gestern abend, junger Mann?« erwiderte Tilly mit einem verächtlichen Blick.

»Gestern abend? Keine Ahnung! Hab' ich längst vergessen. Wahrscheinlich in schlechter Gesellschaft. Bei Ihnen ist ja alles schlechte Gesellschaft, was mit mir verkehrt.«

»Rudi! Mein Gott, werden Sie denn nie vernünftig werden? Wollen Sie ewig dieser . . .« Sie suchte vergeblich nach einem passenden Wort.

». . . dumme Junge bleiben?« vollendete Rudi grinsend. »Sprechen Sie's ruhig aus, teure Labormama!«

»Frech wie – Schwefelkohlenstoff!« sagte Tilly lachend. »Aber jetzt mal los, Rudi! Sie waren wohl drüben, haben die neue Fabrikation mitangesehn? Ich hab' gestern davon gehört. Heute sollte es losgehn. Also die Kautschukblöcke, die fallen da wie . . . Schloßen? Hoffentlich ist Ihnen keiner auf den Kopf gefallen? Wär' schade um den Block!«

Rudi griff sich an die Stirn. »Ach, Sie meinen wohl die kleine Beule hier? Gestern abend beim Nachhausekommen stieß ein Weltsystem meines Kopfes mit einem Weltsystem meines Kleiderschranks zusammen.«

»Rudi! Mißbrauchen Sie nicht die sowieso noch recht wacklige Elektronentheorie der Materie für die Beschönigung Ihrer alkoholischen Exzesse! Reden Sie vernünftig!«

»Ich war ja im besten Fahrwasser. Da fielen Sie mir ins Wort mit Ihren Kautschukblöcken. Nun aber wirklich im Ernst: das klappt da drüben wie im Pantinenkeller. Die lieben Kollegen schreien Hurra und bravo. Allgemeine Feststimmung . . . Ich würde an Morans Stelle ein Fäßchen auflegen.«

»Ach! Dann wird ja bald das Bauen losgehn. Der schöne freie Platz vor unserm Haus wird wohl dran glauben müssen!«

»Hm!« machte Rudi. »Ich denke – will sagen: hoffe –, daß das noch eine Zeitlang dauert. Gewiß, einmal muß der Platz dran glauben. Aber ich meine, dann wird für uns gebaut!«

Tilly wollte Rudi wieder zum Ernste mahnen. Da sah sie in sein Gesicht und unterdrückte die Rüge. Rudis Jungengesicht konnte manchmal ausnahmsweise recht ernst aussehen, und dann, wußte sie, war es der Ausdruck schärfster kritischster Überlegung.

Er fuhr zunächst mit ein paar »Hm!« weiter fort, sagte dann, wie beiläufig: »Eine Polymerisierung von Isopren dürfte sich doch wohl nicht nach dem Rezept ›Einmal zehn gleich zehn‹, wie die da drüben annehmen, ins Große übertragen lassen?«

Tilly sprach kein Wort, sah Rudi nur unverwandt an. Der, wie von plötzlichem Eifer ergriffen, rückte sich einen Stuhl an Tillys Seite und begann im Nu einen großen Bogen Papier mit Zahlen und chemischen Zustandsgleichungen zu bedecken. Kaum, daß Tilly seiner Feder folgen konnte. Zuletzt zog er einen dicken Strich unter das Geschriebene, daß die Tinte spritzte. »Ergebnis? – Vacat, meine teure Tilly! Großer Irrtum, daß einmal zehn gleich zehn ist. Stimmt absolut nicht, die Geschichte! Oder meinen Sie etwa was andres? Dann erlaube ich Ihnen, zu Doktor Göhring zu gehn. Dem hab' ich nämlich, als er mich anflachste, auch so'n bißchen den Star gestochen. Ja – dann gehn Sie ruhig 'rüber und sagen Sie, der Doktor Rudolf Wendt wäre ein Idiot!«

»Das werde ich, glaub' ich, nicht tun, mein lieber Rudi. Aber bei der Fixigkeit, mit der Sie Ihre Formeln hier hingehaun haben, kann schließlich doch ein Irrtum untergelaufen sein, den ich nicht sofort feststellen kann. Doch Geduld!« Sie schob ihre Arbeiten beiseite. »Ich werde mich gleich daranmachen. Und wenn's stimmt, Rudi, dann . . .«

Rudi formte die Lippen zu dem Wort ›Kuß‹. Da hob Tilly drohend den Finger. ». . . erhalten Sie morgen 'ne Einladung zu Ihrem Leibessen – puh, mir graut's! – Schlesisches Himmelreich.«

»Prima, prima, Tilly!« rief Rudi strahlend. »Werde von jetzt ab fasten. Denn stimmen tut's, das kann ich Ihnen sagen! Ihre Portion esse ich jedenfalls mit! – Haben Sie sich übrigens mal den Fall überlegt, wie Sie sich stellen würden, wenn Ihr zukünftiger Gatte ausgerechnet ein Liebhaber dieses köstlichen Gerichts wäre? Ich würde mich unbedingt scheiden lassen, wenn etwa meine Zukünftige es mir nicht jede Woche wenigstens einmal auf den Tisch setzte!«

»Gut, daß Sie das sagen, Rudi! Ich werde mich danach richten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, Rudi, daß Sie – abgesehen von einigen wenigen löblichen Momenten – ein großer Frechdachs sind!«

Die Mittagsglocke schrillte. Rudi wollte fortgehen, doch Tilly hielt ihn zurück und gab ihm den beschriebenen Bogen. »Es stimmt tatsächlich! Möchten Sie mir 'nen Gefallen tun, Rudi?«

»Aber selbstverständlich, Tilly! Was soll ich denn?«

»Bringen Sie doch das alles noch mal mit erläuternden Ausführungen in anständiger Form zu Papier! Wissen Sie: so, wie Sie's etwa als Examensarbeit machen würden.«

Rudi machte ein saures Gesicht. »Na – meinetwegen! Wann wollen Sie es denn haben?«

»So bald als möglich!«

»Na, schön! Auf Wiedersehn!« – –

Am nächsten Morgen übergab Rudi Tilly ein ziemlich umfangreiches Schriftstück. Die nahm es, durchblätterte es. »Menschenskind! Wann haben Sie denn das gemacht? Das sind ja weit über zwanzig Seiten!«

»Na, wann soll ich's gemacht haben? Heute nacht. Fünf Stunden meiner unentbehrlichen Nachtruhe hab' ich geopfert.«

Tilly reichte ihm die Hand. »Danke Ihnen herzlich, Rudi! Sie sind doch ein Prachtkerl!«

»Werde Sie gelegentlich daran erinnern, Tilly!«

Rudi ging an seinen Platz und schob seine Apparate zurecht. »Verfluchter Kram!« murmelte er brummend vor sich hin. »Siebzehn Versuche mit den Kohlenwasserstoffen vom Pentan bis zum Oktan hab' ich schon hinter mir . . . Resultat: null Komma null! – Weitere siebzehn blühen mir sicher noch . . . Der Teufel soll den langweiligen Kram holen!«

Er ging zu Tillys Tisch zurück und sagte: »Sie haben sich ja auch schon mit den negativen Versuchen der Methanreihe beschäftigt. Was denken Sie davon, wenn man mal ungesättigte Kohlenwasserstoffe in gewissen Prozenten zugibt?«

»Rudi! Sind Sie des Teufels? Lassen Sie das ja sein!«

»Ach, Sie meinen: wegen der Explosionsgefahr? Das kann man ja mit der nötigen Vorsicht machen. Aber könnten Sie sich nicht vorstellen, daß man auf die Manier die Reaktion vielleicht durch spontane Hydrierung erzwingt?«

Tilly schüttelte den Kopf. »Mit den Homologen der Äthylenreihe wäre die Sache schon mehr als riskant . . . aber etwa gar mit der Azetylenreihe? Da sagen Sie's lieber vorher! Da geh' ich lieber weg! Möchte so allerhand passieren.«

Rudi ging ruhig zu seinem Platz zurück. »Äthylen?« brummte er vor sich hin. »Gibt wieder wenigstens vierzig Versuche.«

Er setzte sich und warf ein paar Formeln aufs Papier und überlegte. Mit der Azetylenreihe müßte es gehen. Aber sollte er's riskieren? Bei vorsichtigster Dosierung konnte schließlich nicht allzuviel passieren . . . ein paar Glassplitter allenfalls. Mehr nicht.

Die anderen außer Tilly, die, Rudis Ausarbeitung vor sich, an ihrem Platz festgeschmiedet schien, machten ihre Frühstückspause. Rudi saß mit rotem Kopf. Seine Augen hingen an dem Glaszylinder, auf dessen Inhalt die elektrische Hochfrequenz wirkte . . .

Der Büfettier Meyer war gerade in das Laboratorium gekommen, fragte die anderen nach ihren Wünschen, rief Rudi von weitem zu: »Was belieben Sie, Herr Dr. Wendt?«

Das war Rudis Glück. Er richtete sich auf, wandte sich zu Meyer um, wollte sagen: ›Eine Tasse Bouillon‹ . . . da tat es einen lauten Knall.

Rudi sah plötzlich den gefüllten Korb Meyers am Boden liegen. Nach allen Seiten hin verstreute sich dessen Inhalt. Er staunte. Was war das? Kam der Knall daher? Da fühlte er eine warme Feuchtigkeit an seinem Hinterkopf herunterrieseln.

Gleichzeitig war Tilly aufgesprungen, eilte zu ihm. »Rudi! Unglücksmensch! Was haben Sie angestellt?«

Doch der hatte schon begriffen und sich zu seinem Tisch gewandt. Starrte, aufs höchste interessiert, in den heil gebliebenen Boden des Glases. Was war das? Was sah er da? . . . Ah! Triumphierend hielt er Tilly das Bodenstück hin. »Etwas Hexadien gefällig, Tilly?«

»Ach, lassen Sie die Dummheiten! Merken Sie denn nicht, daß Sie bluten?«

»Ach was, Tilly! Die paar Kratzer fallen neben meinen Terzen und Quarten nicht weiter auf. Hier, meine Teure! Hier haben wir das Zeug! Glauben Sie, daß Doktor Fortuyn zufrieden sein wird? Ich sollte denken, mit diesem kleinen Kladderadatsch hätte ich ihm ein paar Wochen gespart!«

Tilly drückte jetzt Rudi auf seinen Stuhl nieder und wusch ihm mit einem nassen Schwamm den Kopf. »Müßte Ihnen ganz anders den Kopf waschen, Sie leichtsinniger Bruder! Ist wahrhaftig, Gott sei Dank, noch verhältnismäßig gut gegangen. Auf die paar Schrammen werde ich Ihnen nachher ein Heftpflaster kleben.«

»Aber da!« Rudi lachte laut. »Gucken Sie doch mal, Tilly! Unser geschätzter Mitbürger Meyer, wie der sich seine Würstchen und Semmeln zusammenklaubt!«

Meyer hatte die Scherben in den Korb gesammelt. Las jetzt die verstreuten Lebensmittel auf. Er warf Rudi einen ärgerlichen Blick zu, der den aber nicht im geringsten genierte.

»Schlechte Nerven, Herr Meyer! Wie kommt das? Sie trinken wahrscheinlich zuwenig Bier – oder fahren zuviel nach Berlin. Ja, ja, Herr Meyer!« sprach Rudi unbekümmert um die wütenden Blicke, die der andere ihm zuwarf, weiter. »Von nix kommt nix, Herr Meyer! Von nix kommt auch kein Hexadien, teure Tilly! Wenn Sie sich doch mal endlich überzeugen möchten!«

Tilly wischte ihm noch einmal mit dem feuchten Schwamm über den Kopf, band ein weißes Tuch turbanartig darum. Lachend hielt ihm ein anderer Kollege einen Spiegel vor. Rudi warf einen Blick hinein. Machte dann ein zeremoniöses Gesicht, sagte auf sich deutend und dann auf Tilly: »Der Maharadscha und seine Lieblingsfrau!«

Ein ziemlich derber Klaps von Tillys Hand schloß ihm den Mund. Alles drängte um Rudis Tisch und schaute interessiert auf die Glasscherben. »Wirklich Hexadien, Rudi?« schrie es durcheinander.

»Das werden wir gleich haben«, sagte Tilly und bereitete ein Reagens vor.

Während sie eifrig arbeitete, verzehrte Rudi vergnügt sein Frühstück. »Na, Sie ungläubiger Thomas«, sagte er, den letzten Bissen in den Mund schiebend, »stimmt's immer noch nicht?«

Tilly richtete sich auf. »Scheint wahrhaftig Hexadien zu sein. Sie haben recht. Fortuyn wird zufrieden sein. Wenn ich Ihnen raten darf, setzen Sie sich a tempo auf die Hosen und suchen Sie einen Weg, daß die Reaktion weniger stürmisch verläuft! Denn die Methode an sich ist unbedingt richtig.«

In diesem Augenblick trat Fortuyn in das Laboratorium. Rudis Turban leuchtete ihm schon von weitem entgegen. Mit schnellen Schritten ging er auf den zu, fragte besorgt: »Etwas passiert, Herr Kollege?«

Rudi zögerte einen Augenblick unsicher, da nahm ihm Tilly das Wort ab. »Herr Doktor Wendt hat auf seine Weise die Bildung von Hexadien erreicht. Der gute Herr hat in . . . seinem Eifer« – Tilly warf Rudi einen ironischen Blick zu – »mit Homologen der Azetylenreihe operiert.«

»Ah, Herr Kollege, das war allerdings ein Husarenstückchen, das Sie sich da geleistet haben! Wußten Sie denn nichts von der Explosionsneigung dieser Reihe?«

»O gewiß, Herr Doktor!« sagte Rudi mit rotem Kopf. »Aber nach der Theorie war dabei die Bildung von Hexadien zu erwarten, und ich schlug den Weg ein, um, offen gesagt, meine Arbeit abzukürzen. Immerhin gab ich die Dosierung so vorsichtig, daß kein großer Schaden passieren konnte. Die Sache da« – er deutete auf seinen Kopf – »ist durchaus unbedenklich. Ein paar Kratzer, die Fräulein Gerland zu tragisch nimmt. Mit etwas Heftpflaster ist der Schaden kuriert.«

»Das wäre ja sehr erfreulich. Aber, bitte, kommen Sie mit in mein Büro! Wir wollen dort den Fall gründlich durchsprechen.«

Als Fortuyn an Tillys Tisch vorbeiging, überreichte ihm diese die Arbeit Rudis. »Noch ein Stückchen unseres tüchtigen Kollegen Wendt, Herr Doktor! Vielleicht interessiert Sie das auch.«

Als Rudi nach einiger Zeit aus Fortuyns Zimmer zurückkam, war sein ohnehin stets vergnügtes Gesicht noch um einige Grade vergnügter. Der Büfettier Meyer, der inzwischen mit neuem Frühstücksmaterial erschienen war, erhielt ein Trinkgeld, das in Anbetracht des zu Ende gehenden Monats königlich genannt werden konnte. Meyers Laune war merklich gehoben, als er in die Kantine zurückkehrte.

»Hier, Franzi« sagte eine Schankmamsell. »Liebesbrief aus Berlin!« Und lachte laut dabei.

Auch der Büfettier Meyer lachte über den Scherz. War es doch nur eine offene Drucksache. Wie schon auf dem Kuvert ersichtlich, die Anpreisung eines Abzahlungsgeschäftes. Er wollte es eben in die Ecke werfen, da wurden seine Augen plötzlich auf einen Tintenklecks hinter seinem Namen aufmerksam. Er steckte den Brief sorgfältig in die Brusttasche. Viel sorgfältiger, als man gewöhnlich mit derartigen Drucksachen umzugehen pflegt.

Als die Kantine sich etwas geleert hatte, ging er hinaus zur Toilette. Der Gelegenheiten waren hier viele. Die Augen des Büfettiers fanden alsbald eine unbesetzte heraus, die von zwei anderen unbesetzten flankiert wurde. Aber wer weiß, daß der Mechanismus dieser »Besetzt«-Schildchen öfters mangelhaft funktioniert, und wer auf nahe Nachbarschaft keinen Wert legt, sollte sich besser durch Probieren vergewissern.

Meyer dachte nicht daran . . . Und derjenige, der gerade die linke Gelegenheit okkupiert hatte, verhielt sich, in Nachdenken versunken, zufälligerweise so still, daß Meyer in seiner Täuschung verharrte.

Der unfreiwillige Nachbar war gerade aus seinem Nachdenken erwacht, da fiel ihm auf, daß in Meyers Abteil öfters Streichhölzer angerissen wurden. Der verbrennt wohl hier etwas? dachte er sich im stillen. Doch der durchdringende Geruch verbrannten Papieres blieb aus. Noch mehrmals hörte er das Anreißen von Streichhölzern. Dann wurde die Spülung gezogen; Meyer entfernte sich, nicht ohne daß der unfreiwillige Lauscher durch den Türspalt ihn von hinten erkannt hätte.

Ein paar Minuten später trat Wittebold – das war der zufällige Nachbar gewesen – aus seinem Gelaß in jenes andere. Er hätte es auch trotz des unverständlichen Anzündens so vieler Streichhölzer kaum getan, wenn er nicht schon seit einiger Zeit aus anderen Ursachen ein Auge auf diesen Büfettier gehabt hätte.

Auch hier war von verbranntem Papier nichts zu merken. Auf der Erde lagen mehrere stark abgebrannte Streichhölzer und der Umschlag eines Briefes. Wittebold hatte das Rauschen der Spülung gut gehört. Trotzdem trat er mit einem schwachen Hoffnungsschimmer an die Toilette heran. War's, wie das Kuvert anzeigte, eine umfangreiche Drucksache gewesen, so mochte vielleicht die Kraft des Wassers nicht ausgereicht haben, sie in die Tiefe zu bringen.

Er hatte richtig vermutet. Die Drucksache, flüchtig zusammengeknüllt, steckte noch im Wasserknie. Mit zwei Fingerspitzen nahm Wittebold sie heraus. Nur der unterste Teil des Papiers war durchweicht. Er legte es draußen auf den Heizkörper, ging dann zurück und nahm auch den Briefumschlag an sich. Um sein Warten nicht auffällig zu machen, wusch er sich am Waschbecken wieder und immer wieder die Hände, bis die sonderbare Beute auf der Heizung so weit trocken geworden war, daß er sie in ein Zeitungsblatt legen und einstecken konnte. – –

Als am Abend dieses Tages bei Schappmann alles schlief, saß Wittebold an seinem Tisch und hatte jene harmlose Drucksache vor sich, die er unter so wunderlichen Umständen in seinen Besitz gebracht hatte. Wohl die meisten dieser umfangreichen Offerten von Abzahlungsgeschäften verschwinden in ähnlicher Weise auf Nimmerwiedersehn. Dieser hier, die auch der Büfettier Meyer schon mit besonderer Sorgfalt behandelt hatte, schien ein interessanteres Schicksal bevorzustehen. Für alle Fälle standen wieder die verschiedenen Gläschen mit allerlei Mixturen auf dem Tisch.

»Nun«, murmelte Wittebold vor sich hin, »ich denke, die Kerze wird das Geheimnis enthüllen, wenn hier wirklich eins verborgen ist!«

Die umfangreiche Offerte zeigte neben den Abbildungen, Namen und Preisen, wie üblich, viele weiße unbedruckte Stellen größerer und kleinerer Art. Wittebold begann jetzt Blatt für Blatt mit den weißen Stellen an die Kerzenflamme zu bringen. War nach einer Weile das Papier heiß geworden, heftete sich sein Auge scharf auf diese Stelle.

Die ersten beiden Seiten verrieten nichts. Auf der dritten Seite, wo eine Korbmöbelgruppe abgebildet war, zeigten sich beim Halten über die Flamme nach der Erwärmung auf den unbedruckten Stellen blaue Schriftzüge.

Ehe sich Wittebold daranmachte, die Schrift zu entziffern, legte er sich, befriedigt über seinen vorläufigen Erfolg, in seinen Stuhl zurück und zündete sich die Pfeife an. Dachte dabei im stillen: Der Absender hat mit Kobaltchlorür geschrieben . . . Es war doch dumm von Meyer, so viele Streichhölzer anzuzünden. Hätte er sich eine Kerze besorgt, würde ich nicht auf ihn aufmerksam geworden sein. Aber zwei Dutzend Streichhölzer hintereinander – wenn das nicht auffällt, an solchem Orte?

Schmunzelnd betrachtete er den Umschlag. »Wieder ein Fehler«, brummte er, »der nicht hätte passieren dürfen! Der Poststempel zeigt Berlin W; die Firma wohnt NO. Es ist doch kaum anzunehmen, daß sie ihre Drucksachen erst nach Berlin W befördert und da der Post übergibt . . .«

Seine Hand fuhr prüfend über die Adresse. Diese war nicht direkt auf den Umschlag geschrieben, sondern, wie es große Firmen wohl häufig machen, auf einen weißen Klebezettel. Er nahm einen feuchten Schwamm, legte ihn über die aufgeklebte Adresse und schob das Kuvert beiseite.

Dann nahm er die Offerte wieder zur Hand. Die blauen Schriftzeichen waren spurlos verschwunden; doch sobald er das Papier über der Kerzenflamme erwärmte, kamen sie wieder zum Vorschein. Mit der Linken hielt er jetzt die Stelle mit den Korbmöbelbildern an die Flamme; mit der Rechten schrieb er die Buchstaben, wie sie nacheinander wieder sichtbar wurden, auf ein Blatt Papier. Zeichen reihte sich an Zeichen, bis endlich das erste Wort gefunden schien. »Die« hieß es.

Eine weitere Erwärmung dieser Stellen ergab nichts. Langsam ließ er die nächsten weißen Partien an der Flamme vorübergleiten. Am unteren Rand, zwischen den Beinen eines Tischchens, erschienen wieder blaue Flecken, doch sehr undeutlich. Hier war das Wasser hingekommen. Die Schriftzüge waren teilweise stark verwischt. Das Wort fing jedenfalls mit »Sac« an, und da war es nicht allzu schwer, sich den Rest zu ergänzen. »Die Sac« mußte aller Wahrscheinlichkeit nach »Die Sache« heißen.

Die nächste Seite zeigte schon am oberen Rand Schriftzüge. Deutlich war zu lesen »wird«. Etwas weiter darunter ergab eine weiße Stelle »sofort«. Der untere Rand lieferte nur blaue, kaum noch entzifferbare Flecken, da hier das Wasser gewirkt hatte. Aber nach dem Sinn des Ganzen und den ungefähren Schriftzügen mußte es »gemacht« heißen. Der Rest des Papieres lieferte keine Zeichen mehr, enthielt auch keine Spur vom Absender.

»Schade!« brummte Wittebold. »Vielleicht gibt der Briefumschlag einen Fingerzeig.«

Er nahm den Schwamm von dem Kuvert. Die aufgeklebte Adresse »Herrn Büfettier Franz Meyer, Rieba-Werke« war so weit erweicht, daß sie sich unschwer abziehen ließ.

»Ah!« – Wittebolds Blick stürzte sich auf die Stelle, wo die Adresse geklebt hatte. »Wieder flüchtig gearbeitet, der Herr! Der alte Zettel, der hier klebte, ging ihm nicht schnell genug ab. Statt einen Schwamm zu nehmen, hat er versucht, die Adresse mit dem Messer abzukratzen, aber nur mit halbem Erfolg.«

Er nahm eine Lupe vors Auge, las »Bo . . . in . . . lin W . . . Kurf . . .«

»Hm, hm – ich will mich hängen lassen, wenn das nicht Herr Boffin vom Kurfürstendamm in Berlin ist! Na, um ganz sicher zu gehen, kann ich ja noch die beiden Dreipfennigmarken ablösen, die statt einer Fünfpfennigmarke aufgeklebt sind. Die eine sollte ja wohl sicherlich den Poststempel auf dem Umschlagpapier verdecken.«

Mit Hilfe des Schwammes gelang auch das, und da war denn alles klar. Unter der einen der abgelösten Marken befand sich eine Fünfpfennigmarke, die richtig mit »Berlin NO« abgestempelt war. Die beiden Dreipfennigmarken waren nur übergeklebt, um den Rest des Poststempels zu verdecken.

Immer wieder überflog Wittebold die fünf Worte, die er sich notiert hatte. Was sollten sie besagen? Irgend etwas Gleichgültiges, Unwichtiges kam ganz bestimmt nicht in Frage. Zu solcher Mitteilung hätte schließlich eine gewöhnliche Postkarte genügt. Der an sich unverfängliche Text mußte eine Mitteilung von schwerwiegender Bedeutung bergen. Es hieß jedenfalls, ein scharfes Auge auf den Büfettier zu haben.

Wittebold überlegte lange bei sich, ob er Fortuyn Mitteilung machen sollte. Er kam zu keinem Entschluß. Während er sich eine neue Pfeife anbrannte, gingen seine Gedanken zu dem Auftrag Kampendonks an Fortuyn. Den zu finden, der den deutschen Agenten in Detroit von hier aus verpfiffen hatte!

Es war Wittebold klar, daß die Person dieses Menschen und desjenigen, der die Materiallieferungen besorgte oder besorgen ließ, die gleiche sei. Fand er den einen, hatte er den anderen auch. Aber ihn finden, den einen! Was hatte er nicht schon alles versucht! Keiner von den Leuten, die irgendwie mit den Fortuynschen Arbeiten verbunden waren, kam in Frage.

Der Büfettier Meyer –? Wittebold schüttelte den Kopf. Gewiß, das war ein ganz gerissener Bursche. Aber zu solcher raffinierten Spionentätigkeit reichte seine Intelligenz nicht aus. Möglich allerdings, daß er die Kreatur irgendeines Höhergestellten war.

Höhergestellten –? Ja, da rannte er immer wieder gegen eine unübersteigliche Mauer. Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen, daß der Verräter unter den höheren Angestellten des Werkes zu suchen war. Aber wäre das, woran er bei nüchterner Überlegung nicht glauben konnte, wirklich wahr, dann war er ja ohnmächtig. Solchen Leuten nachzuspüren, hatte er weder Zeit noch Gelegenheit. Er konnte vorläufig nichts anderes tun, als Meyers Tätigkeit aufs schärfste zu beobachten. Vielleicht kam er dann zu seinem Ziel.

Als er am nächsten Morgen Fortuyn im Werk begegnete, kam ihm der Gedanke wieder in den Sinn, dem die Sache mit Meyer zu erzählen. Aber im letzten Augenblick unterließ er es doch. Wahrscheinlich würde Fortuyn darauf dringen, daß alles das Dr. Wolff mitgeteilt würde. Und das wollte Wittebold auf keinen Fall. Hatte er bis jetzt stets ohne fremde Hilfe gearbeitet, wollte er es auch in Zukunft tun. – –

Fortuyn kam von der Villa Terlinden, wo er seine Karte abgegeben hatte. Eigentlich hatte er die Absicht gehabt, am Bahnhof von Clemens und Johanna Abschied zu nehmen. Doch er hatte den Gedanken wieder fallen lassen, und das war in gewisser Beziehung gut so. Er wäre da nämlich mit dem Direktor Düsterloh zusammengetroffen, was ihm keineswegs angenehm gewesen wäre.

Düsterloh erschien, mit zwei gewaltigen Blumensträußen bewaffnet, auf dem Bahnsteig. Da der Zug ziemliche Verspätung hatte, fand er zum Leidwesen Johannas reichlich Zeit, in seiner gewohnten polternd-lauten Art auf sie einzuschwatzen.

Dem Kranken stellte er beste Genesung in Aussicht. Für Johannas Vetternreise zeigte er das größte Interesse. Er selbst habe auch einige Wochen Urlaub genommen . . . sie hatten ja wohl auch von diesen unangenehmen Dingen gehört? Alles sei maßlos übertrieben – wenn nicht gar direkt unwahr. Bei näherer Untersuchung würde sich die Harmlosigkeit aller dieser Dinge herausstellen . . . Wahrscheinlich würde er in der nächsten Zeit auch an den Rhein fahren. Vielleicht, daß er Johanna dann träfe.

Johanna suchte verzweifelt nach immer neuen Ausflüchten Unterbrach bisweilen brüsk das Gespräch; tat, als ob der Zug in Sicht käme. Sie atmete auf, als sie endlich mit Clemens im Abteil saß. – –

Wie Johanna befürchtet, kam Clemens in sehr schlechter Verfassung im Sanatorium an. Ehe sie am Abend weiterfuhr, hatte sie mit Dr. Vocke eine lange Aussprache unter vier Augen.

Der Arzt sagte ihr offen, daß von einer Genesung des Patienten keine Rede sein könne. Gewiß würde er ihn mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stünden, eine kurze Spanne länger am Leben erhalten können. Doch auch so sei unbedingt mit einem baldigen Ende zu rechnen. Er sagte weiter: »An sich, gnädige Frau, würde es sich empfehlen, den Kranken wieder nach Hause zu schaffen. Doch Sie werden mir wohl beipflichten, wenn ich davon abrate. Ihr Gatte würde daraus entnehmen, daß keine Rettung mehr möglich ist. Die Folgen –? Ich glaube, wir könnten das beide nicht verantworten.«

Johanna nahm einen langen Abschied von Clemens. Ihr ahnte, daß sie ihn nicht lebend wiedersehn würde. Viele Gedanken bewegten sie. Clemens war an sich ein durchaus ehrenwerter, anständiger Charakter. Dabei in seinen gesunden Tagen liebenswürdig, heiter. Gewiß, sie hatte ihn nicht aus reiner Liebe geheiratet . . . Aber wäre er gesund geblieben, hätten sie Kinder bekommen – wahrscheinlich würde ihre Ehe mit ihm ganz harmonisch verlaufen sein. Jener Unglückstag hatte ihre Ehe an der Wurzel zerstört . . .

Sie beugte sich noch einmal zum Abschied über ihn, küßte ihn auf die heiße Stirn. Er drückte ihre Hand, sah sie mit dankbaren, hoffnungsfrohen Augen an.

»Wirst du bald wiederkommen?« fragte er. »Vergiß nicht, oft zu schreiben, Johanna! Ich werde dir auch immer schreiben, wie's mir geht. Es muß ja . . . muß ja jetzt besser werden! Der Wärter erzählte mir vorhin von einem Fall, der noch viel schlimmer war als meiner; und der ist auch gesund geworden!«

Die Tür des Sanatoriums war hinter Johanna ins Schloß gefallen. Mit starken Schritten ging sie den Hang hinunter, der zu der kleinen Bahnstation führte.

Frei jetzt! Innerlich war sie ja schon längst von ihm geschieden. Nur Mitleid hatte sie noch an seiner Seite festgehalten. Frei jetzt! Ha, wie wohl das tat, als freier Mensch ein neues Leben beginnen zu können! Clemens konnte sie nicht mehr helfen, nichts mehr nützen. Wenn ein übles Geschick sie diese Tragödie erleben ließ, so stand doch keinem das Recht zu, ihr jetzt noch die Freiheit des Handelns zu verwehren.

Sie hatte mehr ertragen, als alle, außer Fortuyn, wußten, ahnten. Hatte nach dem Maß ihrer Kräfte alles getan, um dem Manne, an den sie gefesselt, das Leben tragen zu helfen. Jetzt hatte der Spruch des Arztes den Abschluß gebracht. Was hinter ihr lag, durfte, mußte begraben sein. Ein neuer Abschnitt ihres Lebens lag vor ihr. Eines Lebens, das sie mit eigener Hand formen wollte. –

Ihr erstes Reiseziel war Ludwigshafen, wo das Stammhaus ihrer Familie stand. In einem Brief an Fortuyn teilte sie dem offen mit, was Dr. Vocke ihr gesagt. Fortuyn saß lange nachdenklich, die Zeilen Johannas in der Hand. Eine sonderbare Art, wie das Schicksal hier seine Fäden gewoben! Jener Unglücksfall – sein Rettungswerk . . . was war daraus alles entstanden!

So saß er noch, als später Dr. Wolff zu ihm kam.

»Die Sache ist klar«, sagte der. »Ist so, wie ich's gedacht habe, Herr Doktor Fortuyn. Ich war persönlich bei Professor Bauer und kam sofort ins Bild, als er mir die Geschichte von seinem vertauschten Koffer berichtete.«

In kurzen Worten erzählte Wolff das Manöver der Spionin, die sich auf so raffinierte Art in den Besitz des Fortuynschen Materials gesetzt hatte. »Muß ein gerissenes Frauenzimmer sein, die schöne junge Dame! Bauer sprach – seine Gattin war gerade nicht im Zimmer – in Tönen höchster Bewunderung von seiner entzückenden Reisegenossin. Leider genügte seine Aussage nicht, um die Polizei auf diese Person aufmerksam machen zu können.«

*


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