Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bei den unsrigen
Wirginskij wohnte in einem eigenen Hause, das heißt in dem Hause seiner Frau, in der Murawjinaja. Es war ein einstöckiges, hölzernes Einfamilienhaus. Unter dem Vorwand, den Namenstag des Hausherrn zu feiern, hatten sich etwa fünfzig Gäste zusammengefunden. Aber diese Abendgesellschaft hatte mit den sonst an Namenstagen in der Provinz üblichen gar keine Ähnlichkeit. Schon beim Beginn ihres Zusammenlebens hatten sich die Eheleute Wirginskij ein für allemal darüber geeinigt, daß es ganz dumm sei, an Namenstagen Gäste einzuladen, und daß überhaupt an diesen Tagen »kein Anlaß zur Freude vorliege«. In einigen wenigen Jahren hatten sie es fertig gebracht, daß sie nunmehr ganz abseits von jeder Gesellschaft standen. Er, dessen Fähigkeiten man nicht verkannte, und der durchaus nicht »irgendein armer Tropf« war, galt dennoch allen aus irgendeinem Grunde als ein wunderlicher Kauz, der die Einsamkeit liebgewonnen hatte. Überdies warf man ihm vor, daß er »hochmütig« sprach. Madame Wirginskaja selbst aber, die den Hebammenberuf ausübte, stand schon allein dieser Beschäftigung zufolge auf der gesellschaftlichen Leiter besonders tief, sogar tiefer als die Frau des Popen, wenngleich ihr Mann auch Offiziersrang hatte. Aber von einer ihrem Berufe entsprechenden Demut ließ sich nichts an ihr wahrnehmen. Und nach jenem dummen und unverzeihlich offenkundigen Verhältnis, das sie um ihrer Grundsätze willen mit einem Lumpen, mit dem Hauptmann Lebiadkin, gehabt hatte, hielten es sogar unsere nachsichtigsten Damen für unbedingt notwendig, sich mit außerordentlicher Verachtung von ihr zurückzuziehen. Aber Mme. Wirginskaja nahm das alles so hin, wie wenn sie nur das gewünscht hätte. Bemerkenswert war es indessen, daß sich gerade jene gestrengen Damen, wenn sie froher Hoffnung waren, mit Umgehung der drei Hebammen unserer Stadt nach Möglichkeit Arina Prochorowna, wie Frau Wirginskaja mit den Vornamen hieß, beriefen. Sogar zu den Gutsbesitzern im Kreise wurde sie gerufen, so großes Vertrauen hatte man bei uns zu ihren Kenntnissen, zu ihrem Glück und zu ihrer Geschicklichkeit in kritischen Fällen. Das führte dahin, daß sie schließlich nur in den allerreichsten Häusern ihre Praxis auszuüben begann; das Geld aber liebte sie geradezu gierig. Nachdem sie sich einmal ihrer Macht bewußt war, legte sie sich schließlich in ihrem Benehmen keinerlei Zwang mehr auf. Wenn sie sich bei Ausübung ihres Berufes in den vornehmsten Häusern befand, erschreckte sie die nervenschwachen Gebärerinnen durch irgendeine unerhörte Vernachlässigung der Anstandsregeln oder durch Spöttereien über »alles Heilige«, und zwar gerade dann, wenn dieses »Heilige« hätte eigentlich nützen können. Vielleicht tat sie das sogar absichtlich. Unser Stabsarzt Rosanow, der ebenfalls Geburtshelfer war, bezeugte mit aller Bestimmtheit, daß einmal, als die Gebärerin in ihren Qualen schrie und den allmächtigen Namen Gottes anrief, gerade eine solche plötzliche, freidenkerische Äußerung Arina Prochorownas die Kranke »wie ein Schuß aus einem Gewehr« erschreckt und dadurch sehr viel zur raschen Geburt beigetragen habe. Aber ungeachtet dessen, daß sie eine Nihilistin war, hielt Arina Petrowna nicht nur an den in der vornehmen Welt üblichen, sondern sogar an ganz veralteten und aberwitzigen Gebräuchen fest, wenn diese ihr nur von Nutzen sein konnten. Nie hätte sie zum Beispiel die Taufe eines von ihr zur Welt beförderten Kindes versäumt. Sie erschien dabei stets in einem grünseidenen Schleppenkleide und frisierte sich ihren Chignon in Locken und Löckchen, während sie zu jeder anderen Zeit sehr schlampig war und darin sogar einen Genuß fand. Und obwohl sie selbst während der Vollziehung des Sakraments der Taufe stets »eine ganz unverschämte Miene« aufsetzte, so daß sie damit sogar die Vollzieher in Verlegenheit brachte, so reichte sie doch nach Vollendung der heiligen Handlung immer selbst den Champagner herum (was überhaupt der eigentliche Grund ihres Kommens und Sichputzens war), und da hätte jemand nur versuchen sollen, ein Glas zu nehmen, ohne ihr ein »Trinkgeld« hinzulegen!
Die Gäste, die diesmal zu Wirginskij gekommen waren – zum größten Teil Männer – hatten alle ein besonderes, feierliches Aussehen. Es gab keinen Imbiß, und es wurde auch nicht gespielt. Mitten im großen, mit blauen, aber alten Tapeten schön tapezierten Salon standen zwei zusammengerückte Tische. Sie waren mit einem großen, allerdings nicht mehr ganz sauberen Tischtuch gedeckt und auf ihnen siedeten zwei Samoware. Ein ungeheures Präsentierbrett mit fünfundzwanzig Gläsern und ein Korb mit einfachem Weißbrot, das in eine Menge Scheiben geschnitten war, wie das gewöhnlich in vornehmen Knaben- und Mädchenpensionaten zu geschehen pflegt, nahm das eine Ende des Tisches ein. Den Tee schenkte die Schwester der Hausfrau ein. Es war eine dreißigjährige alte Jungfer, ohne Brauen, mit hellblonden Wimpern, ein schweigsames und boshaftes Wesen, das aber die neuen Ansichten teilte und im häuslichen Leben sogar dem Hausherrn selbst eine furchtbare Angst einflößte. Im ganzen waren drei Damen im Zimmer: die Hausfrau selbst, ihre eben beschriebene Schwester und dann noch eine Schwester Wirginskijs, ein Fräulein Wirginskaja, die soeben aus Petersburg angekommen war. Arina Prochorowna, eine stattliche Dame von etwa siebenundzwanzig Jahren, die ganz hübsch, aber etwas zerzaust aussah, saß in einem wollenen Alltagskleide von grünlicher Farbe am Tische, sah alle Gäste ein wenig dreist an und schien mit ihren Blicken sagen zu wollen: »Seht mal, wie ich mich vor nichts fürchte.« Die neuangekommene Schwester Wirginskijs, ebenfalls eine hübsche Person, eine Studentin und Nihilistin, gut genährt und rund wie eine Kugel, kleingewachsen und mit roten Bäckchen, hatte neben Arina Prochorowna Platz genommen. Sie befand sich noch beinah im Reiseanzug, hatte irgendeine Papierrolle in der Hand und betrachtete die Gäste mit ungeduldig umherhüpfenden Blicken. Wirginskij selbst fühlte sich an diesem Abend nicht ganz wohl, trotzdem aber war er in den Salon gekommen und saß nun in einem Lehnsessel am Teetisch. Auch die Gäste hatten bereits Platz genommen, und an dieser Verteilung der Anwesenden auf Stühlen um den Tisch herum ließ sich gleich im voraus ahnen, daß irgendeine Sitzung stattfinden würde. Offenbar warteten noch alle auf etwas und führten inzwischen zwar laute, aber nebensächliche Gespräche. Als Stawrogin und Werchowenskij erschienen, wurde alles auf einmal still.
Aber ich erlaube mir hier, der Klarheit wegen, einige Erläuterungen einzuflechten.
Ich bin der Ansicht, daß alle diese Herren sich damals tatsächlich in der angenehmen Hoffnung versammelt hatten, etwas sehr Interessantes mitanzuhören, und ich glaube, daß ihnen etwas Derartiges schon im voraus angekündigt war. Was da um den Tisch saß, war die Blüte des knallrotesten Liberalismus unserer uralten Stadt, und ein jeder der Anwesenden war von Wirginskij für die »Sitzung« sorgfältig ausgesucht worden. Ich bemerke noch, daß einige von ihnen, übrigens nur sehr wenige, ihn überhaupt noch nie vorher besucht hatten. Bestimmt war sich die Mehrzahl der Gäste nicht ganz im klaren darüber, zu welchem Zweck man sie zusammengerufen hatte. Allerdings hielten sie alle damals Piotr Stepanowitsch für einen aus dem Ausland gekommenen und mit weitgehendsten Vollmachten ausgestatteten Emissär; diese Vorstellung hatte bei ihnen sofort feste Wurzeln gefaßt und schmeichelte natürlich ihrem eigenen Selbstbewußtsein. Indessen fanden sich unter diesem Häufchen von Bürgern, die sich hier zur angeblichen Feier des Namenstags versammelt hatten, auch schon einige, denen bestimmte Vorschläge gemacht worden waren. Piotr Werchowenskij hatte bei uns bereits ein »Fünferkomitee« gebildet, nach Muster desjenigen, das er bereits in Moskau und, wie sich jetzt herausstellte, auch in unserem Kreis unter den Offizieren eingesetzt hatte. Man sagt auch, daß er im Gouvernement Ch. ebenfalls ein solches Komitee ins Leben gerufen hatte. Diese fünf Auserwählten saßen jetzt mit am gemeinsamen Tisch und verstanden es sehr geschickt, sich den Anschein ganz gewöhnlicher Menschen zu geben, so daß sie niemand erkannt hätte. Jetzt ist das Ganze kein Geheimnis mehr, und man weiß bereits, wer diese »fünf« gewesen sind. Das waren: erstens Liputin, dann Wirginskij selbst, drittens der langohrige Schigaliow, ein Bruder der Frau Wirginskaja, viertens Liamschin und schließlich noch ein gewisser Tolkatschenko. Dieser war eine ganz sonderbare Persönlichkeit, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, der durch seine gewaltige Kenntnis des einfachen Volkes, namentlich aber der Spitzbuben und der Räuber berühmt war, absichtlich, übrigens aber nicht nur zum Studium des Volkes, in die Schenken ging und bei uns in der Stadt mit schlechter Kleidung, Schmierstiefeln, schlau zusammengekniffenen Augen und ganz verzwickten volkstümlichen Redensarten Staat machte. Liamschin hatte ihn früher auch ein- oder zweimal zu Stepan Trofimowitschs Abendgesellschaften mitgebracht, aber da gelang es Tolkatschenko nicht, einen besonderen Eindruck zu machen. In der Stadt erschien er nur von Zeit zu Zeit, in der Hauptsache eigentlich nur dann, wenn er keine Stellung hatte; sonst tat er Dienst bei der Eisenbahn. Alle diese fünf Politiker bildeten ihren kleinen Kreis in dem festen Glauben, daß ihr Komitee nur eins unter hunderten und tausenden von ebensolchen über ganz Rußland ausgebreiteten sei, und daß sie alle von einer mächtigen, aber geheimen Zentrale abhingen, die ihrerseits organisch mit der in Europa keimenden Weltrevolution verbunden sei. Leider muß ich aber gestehen, daß unter ihnen selbst zu jener Zeit schon Mißhelligkeiten hervortraten. Die Sache war nämlich die: sie alle hatten schon seit dem Frühjahr Piotr Werchowenskij erwartet, der ihnen zuerst durch Tolkatschenko und dann durch den angekommenen Schigaliow angekündigt war. Und obwohl sie von ihm allerlei Wunderdinge erhofft hatten und sogleich ohne die geringste Kritik seinem ersten Ruf gefolgt und zu einem Fünferkomitee zusammengetreten waren, fühlten sie sich gleich danach gewissermaßen beleidigt, und zwar entsprang diese Empfindung, wie ich annehme, einem bestimmten wurmenden Gefühl, das sich nunmehr infolge ihrer gar zu schnellen Einwilligung in ihnen regte. Eingewilligt hatten sie natürlich auf Grund einer hochherzigen Scham, damit man nicht nachher sage, sie hätten sich gefürchtet; aber Piotr Werchowenskij hätte ihrer Ansicht nach doch immerhin ihre edle Heldentat würdigen und ihnen irgendein großartiges Geschichtchen erzählen müssen. Indessen kümmerte sich Piotr Stepanowitsch ganz und gar nicht um ihre rechtmäßige Neugier und erzählte ihnen nichts Überflüssiges. Er behandelte sie überhaupt mit außerordentlicher Strenge und sogar mit Geringschätzung. Das reizte sie entschieden und das Mitglied Schigaliow hetzte bereits die anderen dazu auf, »Rechenschaft zu fordern«, aber natürlich nicht jetzt bei Wirginskij, wo sich so viele Außenseiter versammelt hatten.
Was nun diese Außenseiter anbetrifft, so habe ich auch da eine bestimmte Vermutung. Ich bin nämlich der Ansicht, daß die Mitglieder des ersten Fünferkomitees an diesem Abend geneigt waren, unter den Gästen Wirginskijs noch Mitglieder anderer, ihnen vorläufig noch unbekannter Gruppen zu vermuten, die ebenfalls in der Stadt nach derselben Organisation und von demselben Werchowenskij geschaffen sein konnten. So kam es, daß schließlich alle Versammelten einander verdächtigten, und daß ein jeder vor den anderen irgendeine besondere, gekünstelte Rolle spielte, was der ganzen Versammlung ein ziemlich verworrenes und sogar zum Teil romanhaftes Aussehen verlieh. Aber es waren auch Menschen dabei, die außerhalb jedes Verdachtes standen. So zum Beispiel ein noch nicht aus dem Dienst entlassener Major, ein naher Verwandter Wirginskijs, ein vollkommen unschuldiger Mensch, der, nebenbei gesagt, gar nicht eingeladen, sondern ganz von selbst hierhergekommen war, um seinem Verwandten zum Namenstage zu gratulieren, so daß schlechterdings keine Möglichkeit bestanden hatte, ihn abzuweisen. Aber Wirginskij war trotzdem ganz ruhig, denn der Major »würde keineswegs denunzieren«. Der Hausherr wußte nämlich, daß sein Verwandter trotz seiner großen Dummheit sich sein ganzes Leben lang mit Vorliebe an solchen Orten herumgetrieben hatte, wo sich Liberale der extremsten Richtungen zusammenfanden; er sympathisierte zwar nicht mit ihnen, hörte aber ihren Gesprächen sehr gerne zu, und überdies war er sogar kompromittiert. Es traf sich nämlich früher einmal, daß in seiner Jugend ganze Pakete der von Herzen im Ausland herausgegebenen revolutionären Zeitschrift »Die Glocke« und Flugblätter durch seine Hände gegangen waren, und obgleich er sich fürchtete, sie auch nur aufzuschlagen, so hätte er doch die Weigerung, sie zu verbreiten, für eine niederträchtige Gemeinheit gehalten. Solche Menschen gibt es in Rußland noch bis auf den heutigen Tag. Die übrigen Gäste repräsentierten entweder den Typus der Leute mit einem edlen, aber infolge von Unterdrückungen geradezu krankhaft gewordenen Ehrgeiz oder den Typus des ersten edlen Ausbruchs feurigen Jugenddrangs. Da waren zwei oder drei Lehrer, von denen der eine, ein lahmer Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, am Gymnasium angestellt und als ein sehr giftiger und auffallend eitler Mensch bekannt war, und zwei oder drei Offiziere. Von diesen letzteren war der eine ein sehr junger Artillerist, der eben erst die Kriegsschule verlassen hatte und gerade dieser Tage hierhergekommen war, ein schweigsamer, junger Mann, der noch keine Bekanntschaften gemacht und sich jetzt plötzlich mit einem Bleistift in der Hand bei Wirginskij eingefunden hatte, alle Augenblicke etwas in sein Notizbuch eintrug, an dem allgemeinen Gespräch aber gar keinen Anteil nahm. Alle sahen recht deutlich, daß er sich Aufzeichnungen machte, taten aber aus irgendeinem Grunde so, als ob sie es nicht bemerkten. Ferner war hier noch derselbe stellenlose Seminarist, der seinerzeit mit Liamschin zusammen der Bücherverkäuferin schmutzige Photographien in den Sack gesteckt hatte, ein stämmiger Bursche mit ungeniertem, gleichzeitig aber unsicherem Benehmen, mit einem stets gleichsam streitsüchtigen Lächeln, zugleich aber mit einer Miene triumphierender Vollkommenheit, die er in sich selbst verspürte. Außerdem befand sich unter den Gästen, ich weiß nicht, weshalb, der Sohn unseres Bürgermeisters, eben jener widerwärtige, vorzeitig verlebte junge Mensch, den ich bereits erwähnt habe, als ich den Vorfall mit der kleinen Leutnantsfrau schilderte. Dieser sagte während des ganzen Abends kein einziges Wort. Und schließlich war auch noch ein Gymnasiast da, ein sehr temperamentvoller und zerzauster Knabe von etwa achtzehn Jahren, der mit der finsteren Miene eines in seiner Würde sehr gekränkten Jünglings dasaß und allem Anschein nach unter seinen achtzehn Jahren litt. Dieses Jüngelchen war schon Vorsitzender einer selbständigen Verschwörergruppe, die sich in der obersten Klasse des Gymnasiums gebildet hatte. Aber das stellte sich zum allgemeinen Erstaunen erst in der Folge heraus.
Nun muß ich auch noch Schatow erwähnen. Er hatte an einer der hinteren Ecken des Tisches Platz genommen und seinen Stuhl dabei ein wenig aus der Reihe hinausgerückt; er blickte zu Boden, schwieg finster, lehnte den angebotenen Tee und das Brot ab und legte die ganze Zeit über die Mütze nicht aus der Hand, wie wenn er dadurch bekunden wollte, daß er nicht als Gast, sondern nur zur Erledigung einer geschäftlichen Angelegenheit gekommen sei und, sobald es ihm passen würde, aufstehen und weggehen könnte. Nicht weit von ihm hatte sich auch Kirillow niedergesetzt. Auch er war sehr schweigsam, hatte aber die Augen nicht zu Boden gesenkt, sondern betrachtete im Gegenteil jeden der Sprecher starr und unverwandt mit seinem unbeweglichen, glanzlosen Blick und hörte alles an, ohne die geringste Erregung oder Verwunderung zu bekunden. Einige der Gäste, die ihn vorher noch nie gesehen hatten, musterten ihn verstohlen und nachdenklich. Es läßt sich nicht sagen, ob Mme. Wirginskaja etwas von dem Dasein des Fünferkomitees wußte. Ich nehme aber an, daß ihr alles bekannt war, und zwar von ihrem Mann. Die Studentin beteiligte sich natürlich an nichts; aber es plagten sie ihre eigenen Sorgen: sie hatte die Absicht, nur einen oder zwei Tage bei ihrem Bruder zu bleiben und sich dann weiter und weiter nach allen Universitätsstädten zu begeben, um »an den Leiden der armen Studenten teilzunehmen und sie zum Protest aufzurufen«. Sie führte einige hundert Exemplare eines lithographierten Aufrufs mit sich, den sie, soviel ich weiß, sogar selbst verfaßt hatte. Es war merkwürdig, daß der Gymnasiast sie beinah vom ersten Blick an tödlich zu hassen begann, obwohl er sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie schien seine Gefühle mit ähnlichen zu erwidern. Der Major war ihr leiblicher Onkel und sah sie heute zum erstenmal seit zehn Jahren. Als Stawrogin und Werchowenskij eintraten, waren die Backen dieser jungen Dame so rot wie Moosbeeren; sie hatte sich nämlich soeben mit ihrem Onkel heftig gezankt, und zwar wegen ihrer verschiedenen Anschauungen in der Frauenfrage.
Werchowenskij flegelte sich mit geradezu bemerkenswerter Ungeniertheit auf einen Stuhl am oberen Ende des Tisches hin. Er hatte fast keinen Menschen gegrüßt. Seine Miene war geringschätzig und sogar hochmütig. Stawrogin grüßte die Versammelten höflich, aber, obwohl alle nur auf ihn und Werchowenskij gewartet hatten, taten sie doch wie auf Befehl so, als ob sie die beiden Neuankommenden gar nicht bemerkten. Sobald Stawrogin Platz genommen hatte, wandte sich die Hausfrau in strengem Ton an ihn:
»Stawrogin, wollen Sie Tee?«
»Bitte«, erwiderte er.
»Für Stawrogin Tee!« befahl sie ihrer Schwester, die das Einschenken besorgte. »Und Sie? Wollen Sie auch Tee?« wandte sie sich an Werchowenskij.
»Aber natürlich, wer fragt denn einen Gast erst danach? Aber geben Sie auch Sahne dazu. Bei Ihnen bekommt man unter der Bezeichnung ›Tee‹ stets ein ganz miserables Zeug zu trinken. Und dabei wird hier sogar ein Namenstag gefeiert.«
»Wie? Auch Sie erkennen das Feiern von Namenstagen an?« rief die Studentin lachend. »Wir haben soeben darüber gesprochen.«
»Ist schon veraltet«, brummte der Gymnasiast vom andern Ende des Tisches her.
»Was ist veraltet? Das Ablegen von Vorurteilen, und wenn es sich auch um die allerunschuldigsten handelt, ist durchaus nicht veraltet, sondern, im Gegenteil, zur allgemeinen Schande auch heute noch etwas ganz Neues«, entgegnete die Studentin sofort und sprang dabei beinah vom Stuhl auf. »Außerdem gibt es gar keine unschuldigen Vorurteile«, fügte sie wütend hinzu.
»Ich wollte nur sagen,« erwiderte der Gymnasiast in starker Aufregung, »daß Vorurteile zwar veraltet sind und ausgerottet werden müssen, daß aber gerade alles das, was Namenstage anbetrifft, allen bereits längst bekannt ist. Alle wissen nur zu gut, daß es eine Dummheit und zwar eine veraltete Dummheit ist, als daß sie ihre kostbare Zeit damit verlieren sollten, von der sowieso schon die ganze Welt viel zu viel verloren hat, so daß man seinen Scharfsinn auf wichtigere und notwendigere Dinge verwenden könnte ...«
»Sie ziehen das zu sehr in die Länge, es ist ja nichts zu verstehen«, rief die Studentin.
»Es scheint mir, daß ein jeder genau so viel Recht hat, seine Meinung zu äußern, wie ein anderer, und wenn ich, so wie jeder andere, meiner Meinung Ausdruck zu geben wünsche, dann ...«
»Niemand macht Ihnen Ihr Recht streitig«, unterbrach ihn hier in ziemlich scharfem Tone die Hausfrau selbst. »Man fordert Sie nur auf, nicht alles so in die Länge zu ziehen, weil sonst niemand Sie verstehen kann.«
»Aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß Sie mich gar nicht respektieren. Wenn ich meinen Gedanken nicht zu Ende äußern konnte, so geschah das nicht deshalb, weil ich keine Gedanken gehabt habe, sondern eher infolge der Überfülle ...« murmelte der Gymnasiast fast verzweifelt und geriet nun vollends aus der Fassung.
»Wenn Sie nicht zu reden verstehen, dann schweigen Sie lieber«, platzte die Studentin heraus.
Der Gymnasiast fühlte sich so gekränkt, daß er sogar von seinem Stuhl aufsprang.
»Ich wollte lediglich erklären,« rief er, indem er vor Scham und Kränkung förmlich zitterte und sich dabei fürchtete, die Anwesenden anzusehen, »daß Sie nur deshalb Ihren Verstand leuchten ließen, weil Herr Stawrogin gekommen ist. Das ist die Sache!«
»Was Sie da sagen, ist schmutzig und unmoralisch und zeigt deutlich, auf wie tiefer Entwicklungsstufe Sie noch stehen. Ich ersuche Sie, nicht mehr mit mir zu sprechen«, ratterte die Studentin.
»Stawrogin,« begann die Wirtin, »ehe Sie kamen, stritt man sich hier über die Familienrechte, – besonders dieser Offizier«, fügte sie hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Verwandten, den Major, hin. »Nun, ich wäre natürlich die letzte, die Sie mit diesem längst veralteten Unsinn, mit diesen längst entschiedenen Fragen behelligen würde. Aber sagen Sie mir doch, wie haben denn die Rechte und Pflichten der Familie, so wie Sie jetzt im Lichte des bestehenden Vorurteils aufgefaßt werden, entstehen können? Das ist die Frage. Wie denken Sie darüber?«
»Wie meinen Sie denn das?« fragte Stawrogin seinerseits.
»Nun, wir wissen zum Beispiel, daß das Vorurteil von der Existenz Gottes seine Entstehung dem Blitz und dem Donner verdankt«, platzte wieder die Studentin heraus, wobei sie Stawrogin so ansah, wie wenn sie ihm mit den Augen auf den Kopf springen wollte. »Es ist zum Beispiel mehr als zur Genüge bekannt, daß der primitive Mensch, durch den Blitz und den Donner erschreckt, den unsichtbaren Feind zum Gotte erhoben hat, da er sich seiner Schwäche vor diesen Erscheinungen vollkommen bewußt war. Wie entstand aber das Vorurteil von der Familie? Wie hat die Familie selbst entstehen können?«
»Nun, das ist nicht ganz dasselbe ...« versuchte die Wirtin dem Redefluß der jungen Dame ein Ende zu machen.
»Ich glaube, daß die Antwort auf diese Frage ein wenig unanständig klingen würde«, erwiderte Stawrogin.
»Wieso denn das?« fragte die Studentin mit einer hastigen Bewegung nach vorne.
Aber in der Lehrergruppe ließ sich ein Kichern vernehmen, das sogleich am anderen Ende von Liamschin und dem Gymnasiasten erwidert wurde, worauf auch der Major in ein heiseres Gelächter ausbrach.
»Sie müßten Lustspiele verfassen«, sagte die Wirtin zu Stawrogin.
»Das macht Ihnen gar zu wenig Ehre, Sie ... ich weiß nicht, wie Sie heißen«, rief die Studentin in starker Entrüstung.
»Und du brauchst nicht vorwitzig zu sein!« stieß der Major hervor. »Du bist ein Fräulein, du müßtest dich bescheiden benehmen, aber du tust ja so, als ob du auf Nadeln säßest.«
»Belieben Sie zu schweigen und erdreisten Sie sich nicht, sich mit diesen garstigen Vergleichen in so familiärer Weise an mich zu wenden. Ich sehe Sie zum erstenmal und will von einer Verwandtschaft mit Ihnen nichts wissen.«
»Aber ich bin doch dein Onkel! Ich habe dich ja noch als Säugling auf meinen Armen umhergetragen!«
»Was geht mich das an, was Sie alles umhergeschleppt haben? Ich habe Sie doch damals nicht darum gebeten, also muß es Ihnen wohl selbst ein Vergnügen bereitet haben, Sie unhöflicher Herr Offizier. Und gestatten Sie mir noch die Bemerkung, daß Sie kein Recht haben, mich zu duzen, außer wenn Sie sich an mich als an eine Mitbürgerin wenden! Ich verbiete Ihnen das ein für allemal.«
»So sind sie alle durch die Bank!« rief der Major, sich zu den gegenübersitzenden Stawrogin wendend, und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nein, erlauben Sie, ich mag den Liberalismus und das Modernsein sehr gut leiden, und ich höre auch gern kluge Gespräche mit an; vorausgesetzt, daß Männer sie führen! Aber wenn die Weiber reden, diese jetzigen flatterhaften Geschöpfe, – nein, da wird mir ganz übel zumute! Dreh dich doch nicht so viel hin und her!« rief er der Studentin zu, die kaum noch an sich halten konnte. »Nein, jetzt möchte ich auch ums Wort bitten, ich fühle mich gekränkt.«
»Sie sind nur den anderen hinderlich und haben selbst doch nichts zu sagen«, brummte die Hausfrau unwillig.
»Nein, jetzt werde ich mich schon aussprechen«, ereiferte sich der Major, indem er sich wieder an Stawrogin wandte. »Ich rechne auf Sie, Herr Stawrogin, als auf einen neu hinzugekommenen Menschen, obwohl ich nicht die Ehre habe, Sie näher zu kennen. Ohne Männer werden diese Weiber alle zugrunde gehen wie die Fliegen; das ist meine Meinung. Diese ganze Frauenfrage ist nichts weiter als ein Beweis dafür, daß es ihnen an Ursprünglichkeit mangelt. Ich versichere Ihnen, daß diese ganze Frauenfrage die Männer ihnen dummerweise ausgedacht und sich damit selbst eine Rute gebunden haben, – Gott sei Dank, daß ich nicht verheiratet bin! Nichts, wobei es auf Abwechslung ankommt, nicht einmal ein einfaches Stickmuster können sich die Weiber selbst erfinden, sogar das müssen die Männer für sie machen! Hier, bitte, sehen Sie sich dieses Mädchen an, ich habe es als Kind auf den Armen getragen, und als es zehn Jahre alt war, habe ich mit ihr Masurka getanzt; heute ist sie angekommen; ich eile ihr natürlich entgegen, um sie zu umarmen; sie aber erklärt mir gleich beim zweiten Wort, daß es keinen Gott gebe. Wenn sie es wenigstens erst nach dem dritten Wort getan hätte und nicht gleich nach dem zweiten, aber sie hatte es ja gar zu eilig! Na, ich gebe zu, daß auch kluge Leute an Gott nicht glauben, indessen tun sie es doch infolge ihres Verstandes nicht; aber du, sage ich, du Knirps du, was verstehst du denn von Gott? Das hat dir doch nur irgendein Student beigebracht, und hätte er dich statt dessen gelehrt, die Lämpchen vor den Heiligenbildern anzuzünden, dann hättest du das auch getan.«
»Sie lügen immer, Sie sind ein sehr schlechter Mensch, und ich habe Ihnen schon vorhin Ihren ganzen geistigen Bankrott nachgewiesen«, erwiderte die Studentin mit einer so großen Geringschätzung, wie wenn es unter ihrer Würde wäre, sich mit einem solchen Menschen in lange Auseinandersetzungen einzulassen. »Ich habe Ihnen doch schon vorhin gesagt, daß man uns alle nach dem Katechismus gelehrt hat: ›Wenn du deinen Vater und deine Mutter ehren wirst, dann wirst du lange leben und es wird dir ein Reichtum gegeben werden.‹ Das steht in den zehn Geboten. Wenn aber Gott es für nötig gehalten hat, für Liebe eine Belohnung zu bieten, dann ist Ihr Gott unmoralisch. Das sind die Worte, mit denen ich Ihnen vorhin das bewiesen habe und übrigens auch nicht gleich beim zweiten Worte, sondern nur, weil Sie Ihre Rechte geltend machen wollten. Wer kann denn dafür, daß Sie so stumpfsinnig sind und es nicht verstehen? Sie fühlen sich gekränkt und ärgern sich, und das ist der Schlüssel zum Rätsel Ihrer ganzen Generation.«
»Du Närrin!« sagte der Major.
»Und Sie sind ein Narr.«
»Schimpfe du nur!«
»Aber gestatten Sie, Kapiton Maximowitsch, Sie haben doch selbst zu mir gesagt, daß Sie an Gott nicht glauben«, kreischte vom andern Ende des Tisches Liputin.
»Was ist denn dabei! Ich bin doch ganz etwas anderes! Vielleicht glaube ich doch noch, nur nicht mehr so ganz. Aber wenn ich auch nicht vollständig glaube, so werde ich dennoch niemals sagen, daß man Gott füsilieren müsse. Ich habe über Gott viel nachgedacht, sogar schon, als ich bei den Husaren diente. Es ist Brauch und Sitte, daß man in Gedichten darüber schreibt, daß die Husaren viel trinken und überhaupt ein flottes Leben führen; na ja, auch ich habe vielleicht getrunken, aber glauben Sie mir, mitunter sprang ich nachts in bloßen Socken aus dem Bett und habe mich vor dem Heiligenbilde bekreuzt und gebetet, daß Gott mir den Glauben geben möge, weil ich schon damals nicht mehr über die Frage ruhig hinweg konnte, ob es einen Gott gebe oder nicht. Jawohl, so sauer ist mir zu jener Zeit die Sache geworden! Am Morgen hatte man natürlich seine Ablenkung, und der Glaube schwand dann gewissermaßen, wie ich denn überhaupt die Beobachtung gemacht habe, daß bei Tage der Glaube immer etwas abnimmt.«
»Wird denn bei Ihnen kein Kartenspiel gemacht?« fragte Werchowenskij die Hausfrau und gähnte dabei mit weit offenem Munde und unverhohlen.
»Ich kann Ihre Frage sehr gut nachempfinden!« rief die Studentin, die vor Entrüstung über die Worte des Majors ganz rot geworden war.
»Man verliert nur die kostbare Zeit, wenn man hier dumme Reden mit anhört«, schnitt die Wirtin dem Major das Wort ab und sah dabei ihren Mann vorwurfsvoll an.
Die Studentin nahm sich zusammen und begann auf einmal:
»Ich wollte der Versammlung von den Leiden und von dem Protest der Studenten Bericht erstatten, da aber die Zeit mit unmoralischen Gesprächen vergeudet wird ...«
»Auf der Welt gibt es weder etwas Moralisches noch etwas Unmoralisches!« rief der Gymnasiast, der, sobald die Studentin zu sprechen begonnen hatte, sich einfach nicht mehr beherrschen konnte.
»Das habe ich schon viel früher gewußt, als man es Ihnen beigebracht hat, Herr Gymnasiast.«
»Und ich behaupte,« entgegnete dieser wütend, »daß Sie ein aus Petersburg hergekommenes Kind sind, das uns hier über Dinge aufklären will, die wir alle bereits kennen. Von dem Gebot: ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren‹, das Sie nicht richtig aufsagen konnten und davon, daß es kein moralisches Gebot ist, sind seit Belinskij alle Menschen in Rußland längst unterrichtet.«
»Wird denn das nicht endlich bald ein Ende nehmen?« fragte Mme. Wirginskaja ihren Mann in energischem Ton. Als Wirtin schämte sie sich der Nichtigkeit der Gespräche, besonders da sie bei einigen zum erstenmal geladenen Gästen eine gewisse Verwunderung und ein leises Lächeln bemerkt hatte.
»Meine Herren,« rief auf einmal Wirginskij mit erhobener Stimme, »wenn jemand wünschen sollte, über etwas zu sprechen, was mehr zur Sache gehört, oder wenn jemand eine Mitteilung zu machen hat, so schlage ich vor, sofort damit zu beginnen, ohne noch mehr Zeit zu verlieren.«
»Ich bin so frei, eine Frage zu stellen,« sagte sanft der lahme Lehrer, der bis dahin ganz geschwiegen und in besonders wohlgesitteter Haltung dagesessen hatte, »ich würde gerne wissen, ob wir jetzt hier eine Sitzung haben oder einfach eine Versammlung von gewöhnlichen Sterblichen bilden, die zu Besuch gekommen sind? Ich frage das mehr der Ordnung halber und um meiner Ungewißheit ein Ende zu machen.«
Die »schlaue« Frage hatte Eindruck gemacht; alle sahen einander an, wie wenn ein jeder vom anderen eine Antwort erwartete und plötzlich richteten sich alle Blicke wie auf Kommando auf Werchowenskij und Stawrogin.
»Ich schlage einfach vor, über die Frage: ›Haben wir eine Sitzung oder nicht?‹ abzustimmen«, sagte Mme. Wirginskaja.
»Ich schließe mich diesem Vorschlag durchaus an,« meinte Liputin, »obwohl er etwas unbestimmt formuliert ist.«
»Auch ich schließe mich an! Auch ich!« ließen sich mehrere Stimmen vernehmen.
»Auch mir scheint es, daß dann tatsächlich mehr Ordnung sein wird«, bekräftigte Wirginskij.
»Also zur Abstimmung!« erklärte die Wirtin. »Liamschin, setzen Sie sich bitte ans Klavier, Sie können auch von dort aus Ihre Stimme abgeben, wenn die Abstimmung begonnen hat.«
»Schon wieder!« rief Liamschin. »Ich habe bereits genug geklimpert.«
»Ich bitte Sie dringend, sich hinzusetzen und zu spielen! Wollen Sie denn nicht der Sache nützlich sein?«
»Aber ich versichere Ihnen, Arina Prochorowna, daß niemand horcht. Das ist ja nur Ihre Einbildung. Außerdem sind ja auch die Fenster ziemlich hoch, und wer kann da etwas verstehen, selbst wenn er horchte.«
»Wir verstehen ja selbst nicht einmal, um was es sich handelt«, brummte eine Stimme.
»Und ich sage Ihnen, daß Vorsicht stets am Platze ist. Ich bestehe ja darauf nur für den Fall, daß wir Spione in der Stadt haben«, wandte sie sich erklärend an Werchowenskij. »Da sollen sie von der Straße aus hören, daß wir hier Namenstag feiern und musizieren.«
»Teufel auch!« schimpfte Liamschin, setzte sich aber ans Klavier und begann nachlässig einen Walzer herunterzupauken, wobei er fast mit den Fäusten auf die Tasten schlug.
»Diejenigen, die wünschen, daß eine Sitzung stattfindet, bitte ich die rechte Hand zu erheben«, schlug Mme. Wirginskaja vor.
Einige hoben die Hand in die Höhe, andere nicht. Es gab auch solche, die zuerst ihre Hand erhoben hatten, und dann gleich wieder sinken ließen – und sie gleich darauf wieder in die Höhe hoben.
»Pfui, Teufel! Daraus werde ich nicht klug«, rief ein Offizier.
»Ich auch nicht!« rief ein anderer.
»Doch, ich verstehe es!« ließ sich der dritte vernehmen, »wenn ›ja‹, dann muß die Hand erhoben werden.«
»Aber was bedeutet denn ›ja‹?«
»Das bedeutet, daß eine Sitzung stattfinden soll.«
»Nein, eben nicht!«
»Ich habe für Sitzung gestimmt«, rief der Gymnasiast, indem er sich an Mme. Wirginskaja wandte.
»Warum haben Sie denn die Hand nicht in die Höhe gehoben?«
»Ich habe immer nach Ihnen gesehen; Sie taten es nicht, und so habe ich es auch nicht getan.«
»Wie dumm! Ich habe mich ja nur deshalb der Stimme enthalten, weil doch die Abstimmung auf meinen Vorschlag hin vorgenommen wurde. Meine Herren, ich schlage noch einmal dasselbe vor, aber diesmal umgekehrt: wer für die Sitzung ist, der möge ruhig sitzenbleiben, und wer dagegen ist, hebt die rechte Hand in die Höhe.«
»Wer sie also nicht will?« fragte der Gymnasiast noch einmal.
»Tun Sie das mit Absicht, wie?« rief Mme. Wirginskaja in hellem Zorn.
»Nein, gestatten Sie, das muß doch ganz genau festgestellt werden. Wer hebt denn die Hand in die Höhe, derjenige, der die Sitzung will oder wer sie nicht will?« erschollen zwei, drei Stimmen.
»Wer nicht will, wer nicht will!«
»Nun schön. Was aber soll man tun, wenn man nicht will? Soll man da die Hand in die Höhe heben oder nicht?« rief ein Offizier.
»Ach, an eine Konstitution sind wir noch nicht gewöhnt!« bemerkte der Major.
»Herr Liamschin, tun Sie uns den Gefallen, spielen Sie etwas leiser! Sie pauken ja so darauf los, daß niemand etwas verstehen kann«, bemerkte der lahme Lehrer.
»Es horcht ja kein Mensch, Arina Prochorowna, bei Gott!« rief Liamschin aufspringend. »Und ich will nicht mehr spielen. Ich bin als Gast zu Ihnen gekommen und nicht als Klavierpauker!«
»Meine Herren,« schlug Wirginskij vor, »antworten Sie mündlich: haben wir eine Sitzung oder nicht?«
»Eine Sitzung, eine Sitzung!« ertönte es von allen Seiten.
»Nun, wenn dem so ist, dann brauchen wir auch nicht abzustimmen. Genug. Sind Sie damit zufrieden, meine Herren, oder soll noch abgestimmt werden?«
»Ist nicht nötig! nicht nötig! Ist ja alles ohnehin klar.«
»Vielleicht ist jemand gegen die Sitzung?«
»Nein, nein, wir sind alle dafür!«
»Aber was ist denn eigentlich eine Sitzung?« rief eine Stimme. Der Fragende blieb ohne Antwort.
»Es muß ein Vorsitzender gewählt werden!« erscholl es von verschiedenen Seiten.
»Wir wählen den Hausherrn, selbstverständlich den Hausherrn!«
»Meine Herren, wenn dem so ist,« begann der gewählte Wirginskij, »so wiederhole ich das von mir vorhin bereits Gesagte: falls jemand wünschen sollte, über etwas zu reden, was mehr zur Sache gehört, oder falls jemand eine Mitteilung zu machen hat, so bitte ich den Betreffenden sich zum Wort zu melden, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Es folgte ein Schweigen. Die Blicke aller wandten sich von neuem nach Stawrogin und Werchowenskij hin.
»Werchowenskij, haben Sie keine Erklärung abzugeben?« fragte ihn die Hausfrau direkt.
»Nein, durchaus nicht!« erwiderte er gähnend und reckte sich auf seinem Stuhl. »Ich würde übrigens ganz gerne ein Glas Kognak trinken.«
»Stawrogin, wollen Sie nicht?«
»Ich danke, ich trinke nicht.«
»Ich meine, ob Sie reden wollen oder nicht; vom Kognak spreche ich gar nicht.«
»Reden? Worüber denn? Nein, ich habe keine Lust.«
»Man wird Ihnen gleich einen Kognak bringen«, antwortete Mme. Wirginskaja, indem sie sich wieder an Werchowenskij wandte.
Nun erhob sich die Studentin. Sie war schon die ganze Zeit auf dem Sprunge gewesen.
»Ich bin hierher gekommen, um hier von den Leiden der unglücklichen Studenten Mitteilung zu machen, sowie davon, daß sie allerorts zum Protest aufgerufen werden sollen ...«
Aber sie kam in Verwirrung und brach ab. Am anderen Ende des Tisches war bereits ein Konkurrent erschienen, und alle Blicke wandten sich zu ihm hin. Der langohrige Schigaliow erhob sich mit finsterer, mürrischer Miene langsam von seinem Platz und legte ein dickes, mit außerordentlich kleiner Schrift beschriebenes Heft auf den Tisch. Er blieb stehen und schwieg. Viele Gäste blickten mit Bestürzung auf das Heft, aber Liputin, Wirginskij und der lahme Lehrer waren offenbar mit etwas sehr zufrieden.
»Ich bitte ums Wort«, sagte Schigaliow mürrisch, aber fest.
»Bitte«, erwiderte Wirginskij.
Der Redner setzte sich, schwieg etwa eine halbe Minute lang und begann dann ernst und wichtig:
»Meine Herren! ...«
»Da ist der Kognak!« unterbrach ihn in diesem Augenblick verächtlich die Schwester der Hausfrau, die bis dahin Tee eingegossen hatte und jetzt fortgegangen war, um den Kognak zu holen. Nun kam sie zurück und stellte sowohl die Flasche als auch ein Gläschen, das sie ohne Untersatz oder Teller gebracht hatte, vor Werchowenskij hin.
Der unterbrochene Redner hielt würdevoll inne.
»Lassen Sie sich nicht stören, fahren Sie fort; ich höre doch nicht zu«, rief Werchowenskij und goß sich ein Gläschen ein.
»Meine Herren, indem ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitte,« begann Schigaliow von neuem, »und Sie, wie Sie später sehen werden, um Ihre Hilfe in einem Punkte von allererster Wichtigkeit ersuche, muß ich eine einleitende Bemerkung machen.«
»Arina Prochorowna, haben Sie vielleicht eine Schere?« fragte plötzlich Piotr Stepanowitsch.
»Wozu brauchen Sie eine Schere?« rief die Gefragte verwundert und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an.
»Ich habe vergessen, mir die Nägel zu beschneiden; seit drei Tagen nehme ich es mir schon vor«, erwiderte er und betrachtete seelenruhig seine langen und unsauberen Nägel.
»Arina Prochorowna wurde ganz rot, aber dem Fräulein Wirginskaja schien an dem Auftreten Werchowenskijs etwas zu gefallen.
»Ich glaube, ich habe sie vorhin am Fensterbrett gesehen«, sagte sie, erhob sich, ging hin und kam sofort mit der Schere zurück. Piotr Stepanowitsch blickte das Fräulein nicht einmal an, nahm die Schere und begann sofort, seine Nägel zu bearbeiten. Arina Prochorowna sagte sich, daß dies wohl ein realistisches Benehmen sein müsse und schämte sich ihrer Empfindlichkeit. Die Versammelten wechselten nur schweigend Blicke miteinander. Der lahme Lehrer betrachtete Werchowenskij voll Neid und Zorn. Schigaliow fuhr fort:
»Ich habe meine Energie dem Studium der Fragen über die Beschaffenheit der künftigen Gesellschaftsordnung gewidmet, die einmal die jetzige abzulösen haben wird, und bin allmählich zu der Überzeugung gekommen, daß alle Schöpfer sozialistischer Systeme von den ältesten Zeiten bis zu unserem Jahre 187... nichts weiter als Träumer, Märchenerzähler und Dummköpfe gewesen sind, die sich fortwährend in Widersprüche verwickelten und sowohl von den Naturwissenschaften als auch von jenem seltsamen Tiere, das als Mensch bezeichnet wird, rein gar nichts verstanden haben. Plato, Rousseau, Fourier sind Säulen aus Aluminium, und alles, was sie erdacht, taugt vielleicht für die Spatzen, aber nicht für die menschliche Gesellschaft. Da aber ein klares Bild von der zukünftigen Gesellschaftsordnung gerade jetzt, da wir uns endlich zum Handeln anschicken, unumgänglich notwendig ist, damit wir später nicht mehr darüber nachzudenken brauchen, so schlage ich hiermit mein eigenes System der Welteinrichtung vor. Hier ist es!« rief er und schlug mit der Hand auf das Heft. »Ich wollte der Versammlung mein Buch in möglichst abgekürzter Form darlegen; aber ich sehe, daß ich doch noch eine ganze Menge von mündlichen Erläuterungen werde hinzufügen müssen, und daher wird die ganze Darstellung meines Systems mindestens zehn Abende in Anspruch nehmen, nach der Zahl der Kapitel meines Buches.«
»Außerdem erkläre ich im voraus, daß mein System noch nicht vollendet ist«, fuhr Schigaliow fort und löste bei den Zuhörern wieder eine Lachsalve aus. »Ich habe mich in meinen eigenen Beweisstücken verirrt, und mein Schlußergebnis ist der ursprünglichen Idee, die meinen Ausgangspunkt bildet, diametral entgegengesetzt. Indem ich von unbeschränkter Freiheit ausgehe, schließe ich mit einem ebenso unbeschränkten Despotismus. Ich möchte hier noch hinzufügen, daß es außer dieser meiner Lösung des ganzen Problems der Gesellschaftseinrichtung keine andere geben kann.«
Das Lachen wuchs immer mehr und mehr an, aber es lachten vorwiegend die jungen und noch wenig eingeweihten Gäste. Auf den Gesichtern der Hausfrau, Liputins und des lahmen Lehrers malte sich deutlich ein gewisser Ärger.
»Wenn Sie selbst es nicht verstanden haben, Ihr System zusammenzukleben, und darüber in Verzweiflung geraten sind, was sollen wir denn damit anfangen?« bemerkte vorsichtig ein Offizier.
»Sie haben recht, Herr aktiver Offizier,« wandte sich Schigaliow in scharfem Ton an ihn, »und besonders darin, daß Sie das Wort ›Verzweiflung‹ gebraucht haben. Ja, ich bin in Verzweiflung geraten; nichtsdesoweniger ist alles, was ich in meinem Buche dargelegt habe, unersetzlich, und einen anderen Ausweg gibt es nicht; es wird niemand einen anderen ersinnen können. Und deshalb beeile ich mich ohne Zeitverlust, alle Versammelten aufzufordern, nach Anhören meines Buches, was zehn Abende dauern wird, ihre Meinung zu äußern. Wenn aber die Mitglieder mich nicht anhören wollen, dann gehen wir lieber gleich von vornherein auseinander: die Männer, um im Staatsdienste tätig zu sein, und die Frauen, um ihre Arbeit in den Küchen fortzusetzen; denn nach Ablehnung meines Buches werden Sie doch alle zusammen keinen anderen Ausweg finden. Garrr kei–nen! Da Sie aber dabei auch noch Zeit verlieren werden, so dürften Sie sich selbst damit schaden, da Sie schließlich doch unvermeidlich werden auf meine Vorschläge zurückkommen müssen.«
Es entstand eine Bewegung: »Was ist das? Ist er etwa verrückt?« erschollen Ausrufe.
»Also handelt es sich in der Hauptsache um Schigaliows Verzweiflung«, bemerkte Liamschin abschließend. »Der Kern der Frage ist jetzt also, ob er verzweifelt sein soll oder nicht?«
»Daß Schigaliow der Verzweiflung nahe ist, scheint mir eine rein persönliche Frage zu sein«, bemerkte der Gymnasiast.
»Ich schlage vor, daß wir darüber abstimmen, inwieweit Schigaliows Verzweiflung die allgemeine Sache berührt, und inwieweit es sich daher lohnt, ihn anzuhören«, schlug der Offizier heiter vor.
»Hier handelt es sich doch um etwas anderes«, mischte sich endlich der lahme Lehrer ein. Er sprach im allgemeinen mit einem etwas spöttischen Lächeln, so daß man sich nie recht klar darüber sein konnte, ob er im Ernst redete oder nur scherzte. »Es handelt sich hier, wie gesagt, um etwas anderes, meine Herrschaften! Herr Schigaliow ist seiner Aufgabe viel zu ernst ergeben und dabei viel zu bescheiden. Ich kenne sein Buch. Er schlägt da zur endgültigen Lösung all dieser Fragen die Zerlegung der Menschheit in zwei ungleiche Teile vor. Ein Zehntel der Lebenden erhält die persönliche Freiheit und die unbeschränkte Macht über die anderen neun Zehntel. Diese aber müssen ihre Persönlichkeit aufgeben und bei unbegrenztem Gehorsam durch eine Reihe von Wandlungen die ursprüngliche Unschuld wiedererlangen. Also etwas wie das verlorengegangene Paradies, obwohl sie im übrigen auch zu arbeiten haben werden. Die Maßnahmen, die der Verfasser vorschlägt, um neun Zehnteln der Menschheit den Willen zu nehmen und sie durch umbildende Erziehung ganzer Generationen in eine Herde zu verwandeln, sind sehr interessant, auf naturwissenschaftliche Tatsachen gegründet und außerordentlich logisch. Gegen einige Schlußfolgerungen des Verfassers läßt sich streiten; aber an seiner Klugheit und seinen Kenntnissen zu zweifeln ist wirklich sehr schwer. Schade, daß seine Forderung von zehn Abenden mit den gegebenen Umständen völlig unvereinbar ist, sonst könnten wir zweifelsohne sehr viel Interessantes zu hören bekommen.«
»Meinen Sie das wirklich im Ernst?« wandte sich Mme. Wirginskaja, die sogar in Erregung geriet, an den Lahmen. »Wirklich? Trotzdem dieser Mensch, nur weil er nicht weiß, wo er mit den Menschen bleiben soll, neun Zehntel von ihnen zu Sklaven machen will? Ich habe ihn schon längst im Verdacht gehabt.«
»Sprechen Sie von Ihrem Bruder?« fragte der Lahme.
»Sie spielen auf meine Verwandtschaft an? Was soll die dabei? Wollen Sie sich über mich lustig machen?«
»Und außerdem ist es gemein, für Aristokraten zu arbeiten und Ihnen wie Göttern zu gehorchen!« rief die Studentin beinah rasend.
»Was ich vorschlage, ist nicht eine Gemeinheit, sondern ein Paradies, ein irdisches Paradies, und ein anderes ist hienieden nicht möglich«, schloß Schigaliow gebieterisch.
»Ich aber würde, statt dieses Paradies einzurichten,« rief Liamschin, »diese allem Anschein nach überflüssigen neun Zehntel der Menschheit einfach nehmen und in die Luft sprengen, so daß nur ein Häufchen von gebildeten Leuten übrig bliebe, das dann ein anständiges, auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebautes Leben beginnen würde.«
»So kann nur ein Hanswurst sprechen!« ereiferte sich die Studentin und bekam wieder einen roten Kopf.
»Ein Hanswurst ist er, aber er ist nützlich«, flüsterte ihr Mme. Wirginskaja zu.
»Und vielleicht wäre das die beste Lösung der Aufgabe! wandte sich Schigaliow eifrig an Liamschin. »Sie ahnen natürlich gar nicht, was für einen tiefen Gedanken auszusprechen Ihnen gelungen ist, Sie Herr lustiger Mensch. Da aber Ihre Idee beinah undurchführbar ist, so muß man sich eben auf das irdische Paradies beschränken, wenn wir es nun einmal so genannt haben.«
»Das ist aber ein ordentlicher Unsinn!« entfuhr es gleichsam Werchowenskij. Übrigens war er immer noch, ohne irgendwelche Teilnahme zu bekunden und ohne seine Augen in die Höhe zu heben, mit seinen Nägeln beschäftigt.
»Weshalb ist es denn ein Unsinn?« fiel der Lahme sofort ein, wie wenn er nur auf das erste Wort von Werchowenskij gewartet hätte, um gleich anzubinden. »Warum denn eigentlich Unsinn? Herr Schigaliow ist teilweise ein Fanatiker der Menschenliebe; aber erinnern Sie sich bitte daran, daß sich auch bei Fourier, bei Cabet und sogar bei Proudhon eine ganze Menge außerordentlich despotischer und überaus phantastischer Lösungsversuche für diese Frage finden läßt. Herr Schigaliow geht an die ganze Sache vielleicht noch viel nüchterner heran, als es jene Männer getan haben. Ich versichere Ihnen, beim Lesen seines Buches ist es bei einigen Punkten mitunter beinah unmöglich, anderer Meinung zu sein. Er hat sich vielleicht weniger als alle anderen vom Boden des Realismus entfernt und sein ›irdisches Paradies‹ ist fast das wirkliche, wenn es nur überhaupt einmal existiert hat, das heißt eben jenes, über dessen Verlust die Menschheit seufzt.«
»Na, das habe ich mir gleich gedacht, daß ich übel anrennen werde«, murmelte wieder Werchowenskij.
»Aber gestatten Sie,« ereiferte sich der Lahme immer mehr und mehr, »das Nachdenken sowie auch das Besprechen der künftigen sozialen Einrichtungen ist doch für alle denkenden Menschen heutzutage geradezu ein Ding der Notwendigkeit. Herzen hat sich sein Leben lang ausschließlich damit beschäftigt. Belinskij hat, wie mir mit Bestimmtheit bekannt ist, ganze Abende in diesbezüglichen Debatten mit seinen Freunden verbracht und stritt sich mit ihnen über die unbedeutendsten Details, indem er für die zukünftige Gesellschaftsordnung sozusagen sogar die Einzelheiten der Küchenfrage im voraus festzulegen versuchte.«
»Einige werden dabei sogar verrückt«, bemerkte plötzlich der Major.
»Man könnte doch wenigstens zu irgendeinem Ergebnis gelangen, statt so wie ein Diktator dazusitzen und zu schweigen«, zischte Liputin, wie wenn er endlich Mut gefaßt hätte, den Angriff zu beginnen.
»Als ich ›Unsinn‹ sagte, hatte ich nicht Schigaliow gemeint«, murmelte Werchowenskij. »Sehen Sie, meine Herren,« fuhr er fort und hob für einen Moment die Augen in die Höhe, »meiner Meinung nach sind alle diese Bücher von Fourier, von Cabet und dieses ganze ›Recht auf Arbeit‹ und dieser Schigaliowismus nichts anderes als eine Art von Romanen, von denen man hunderttausend schreiben könnte. Ein ästhetischer Zeitvertreib. Ich verstehe es, daß Sie sich hier in dieser elenden Stadt langweilen und sich deshalb auf beschriebenes Papier stürzen.«
»Aber erlauben Sie«, erwiderte der Lahme, auf seinem Stuhl hin und her rutschend. »Wenn wir auch Provinzler und selbstverständlich dadurch allein schon bedauernswerte Menschen sind, so wissen wir dennoch, daß auf der Welt einstweilen noch nichts Neues geschehen ist von einer Art, daß wir weinen müßten, es verpaßt zu haben. Es wird uns da durch allerlei heimlich verbreitete Blättchen ausländischer Herstellung vorgeschlagen, wir möchten uns zusammenschließen und Gruppen bilden, mit dem einzigen Ziel einer allgemeinen Zerstörung. Und begründet wird diese Forderung damit, daß man die Welt, wie man auch an ihr herumkuriert, doch nie ganz gesund werde machen können. Würde man dagegen durch ein radikales Verfahren hundert Millionen Köpfe abschneiden und sich dadurch eine Erleichterung schaffen, so könnte man leichter und sicherer über den Graben springen. Das ist ohne Zweifel ein sehr schöner Gedanke, indessen ist er mit der Wirklichkeit mindestens ebenso unvereinbar, wie der ›Schigaliowismus‹ über den Sie sich ebenso verächtlich geäußert haben.«
»Nun ja, ich bin nicht deshalb aus dem Ausland hierhergekommen, um Betrachtungen anzustellen«, platzte Werchowenskij plötzlich mit einem vielbedeutenden Satz heraus. Aber er tat so, als ob er den von ihm geschossenen Bock gar nicht bemerkte und rückte sich eine Kerze näher heran, um mehr Licht zu haben.
»Schade, sehr schade, daß Sie nicht um Betrachtungen anzustellen hergekommen sind, und sehr schade, daß Sie jetzt mit Ihrer Toilette beschäftigt sind.«
»Stört Sie denn meine Toilette?«
»Hundert Millionen Köpfe abzuschlagen ist eine ebenso schwierige Aufgabe wie die Umgestaltung der Welt durch Propaganda. Ja, vielleicht ist es noch schwerer, besonders wenn es in Rußland geschehen soll«, wagte sich Liputin wieder mit einer Bemerkung hervor.
»Gerade auf Rußland hoffen jetzt alle«, erklärte ein Offizier.
»Auch das ist uns bekannt«, fiel ihm der Lahme ins Wort. »Es ist uns bekannt, daß ein geheimnisvoller Index auf unser schönes Vaterland hinweist, als auf das Land, das zur Ausführung der großen Aufgabe am befähigtesten sei. Aber eins möchte ich hervorheben: im Falle einer allmählichen Lösung der Aufgabe durch Propaganda kann auch ich persönlich wenigstens einen kleinen Gewinn davontragen: ich kann zum mindesten angenehm darüber plaudern und werde von den Führern für meine Verdienste um die Sache des Sozialismus einen Rang und Titel erhalten. Im zweiten Falle aber, bei einer raschen Lösung der Angelegenheit mittels des Abschlagens von hundert Millionen Köpfen, sehe ich wirklich nicht ein, welche Belohnung mir eigentlich dabei zuteil werden kann! Würde ich dafür Propaganda machen, so könnte ich es womöglich noch so weit bringen, daß man mir kurzerhand die Zunge ausschneidet.«
»Ihnen wird man sie unbedingt ausschneiden«, erwiderte Werchowenskij.
»Sehen Sie wohl! Da man aber selbst bei Voraussetzung der günstigsten Umstände und Bedingungen mit einer solchen schrecklichen Metzelei nicht früher als in fünfzig oder meinetwegen auch in dreißig Jahren fertig werden wird, – denn die anderen sind doch auch keine Hammel und werden sich vielleicht nicht so ohne weiteres abschlachten lassen – wäre es da nicht besser, seine sieben Sachen zusammenzupacken und irgendwohin über stille Meere nach stillen Inseln auszuwandern, um dort in Ruhe und Frieden die Augen zu schließen? Glauben Sie mir,« fügte er hinzu und klopfte bedeutsam mit dem Finger auf den Tisch, »Sie werden durch eine solche Propaganda nur eine Auswanderung hervorrufen und weiter nichts!«
Als er schloß, nahm sein Gesicht einen triumphierenden Ausdruck an. Er war einer der stärksten Köpfe im Gouvernement. Liputin lächelte heimtückisch, Wirginskij hörte fast gelangweilt zu. Alle anderen folgten dem Streite mit der größten Aufmerksamkeit, besonders die Damen und die Offiziere. Alle sahen deutlich, daß der Agent für das Abschlagen von hundert Millionen Köpfen an die Wand gedrückt sei und warteten gespannt auf die Weiterentwicklung der Sache.
»Das haben Sie übrigens sehr gut gesagt«, murmelte Werchowenskij noch gleichgültiger als zuvor und sogar wie gelangweilt. »Auszuwandern ist ein vortrefflicher Gedanke. Aber wenn trotz aller offensichtlichen Nachteile, die Sie vorausahnen, sich von Tag zu Tag immer neue Kämpfer für die gemeinsame Sache anfinden, dann werden wir auch ohne Sie auskommen. Hier ist eine neue Religion im Anzuge, Väterchen, die an die Stelle der alten treten wird! Deshalb finden sich auch so viele Kämpfer zusammen. Es ist eine große Sache. Sie aber dürfen ruhig auswandern! Und wissen Sie, ich möchte Ihnen raten, nicht nach den stillen Inseln zu gehen, sondern nach Dresden. Erstens hat diese Stadt noch nie eine Epidemie durchgemacht, und da Sie ein geistig hochstehender Mensch sind, so fürchten Sie sich gewiß vor dem Tode; zweitens liegt sie gar nicht so weit von der russischen Grenze, so daß man in der Lage ist, seine Einkünfte aus dem lieben Vaterlande ziemlich schnell zu beziehen; drittens hat Dresden alle möglichen sogenannten Kunstschätze, und Sie sind doch ein ästhetischer Mensch, ein früherer Lehrer der Literatur, wenn ich mich nicht irre; na und endlich hat Dresden sogar eine eigene Schweiz im Taschenformat, – was schon von Wert ist für die poetische Begeisterung, denn Sie machen doch gewiß auch Gedichte. Kurz, Sie werden da einfach sozusagen einen verborgenen Schatz in einer Schnupftabaksdose finden.«
Es entstand eine Bewegung; besonders die Offiziere wurden unruhig. Noch ein Augenblick, und alle hätten zugleich losgeredet. Aber der Lahme schnappte gereizt nach dem Köder:
»Ach nein, ich werde mich doch wohl nicht von der gemeinsamen Sache zurückziehen! Man muß diese Dinge verstehen ...«
»Wie? Würden Sie denn auch in ein Fünferkomitee eintreten, wenn ich Sie dazu auffordere?« platzte Werchowenskij plötzlich heraus und legte die Schere auf den Tisch.
Alle fuhren zusammen. Der rätselhafte Mensch hatte sich gar zu plötzlich entschleiert. Sogar von dem Fünferkomitee hatte er unumwunden gesprochen.
»Ein jeder fühlt sich als ein Ehrenmann und wird sich von der gemeinsamen Sache nicht drücken«, erwiderte der Lahme und verzog sein Gesicht. »Aber ...«
»Nein, hier gilt kein Aber mehr«, unterbrach ihn Werchowenskij herrisch und schroff. »Ich erkläre, meine Herren, daß ich eine unzweideutige, offene Antwort haben muß. Ich verstehe nur zu gut, daß ich, nachdem ich hierhergekommen bin und Sie alle zusammengerufen habe, Ihnen Aufklärung schulde,« fuhr er fort, indem er wieder eine unerwartete Offenherzigkeit an den Tag legte, »aber ich kann Ihnen gar keine Aufklärung geben, ehe ich nicht Ihre Gesinnung kennengelernt habe. Wir wollen doch nicht wieder dreißig Jahre lang schwatzen, wie man bisher dreißig Jahre lang geschwatzt hat! Deshalb lasse ich das viele Reden beiseite und frage Sie unumwunden: was ist Ihnen lieber, der langsame Weg oder der schnelle? Der langsame besteht darin, daß man soziale Romane schreibt und die Schicksale der Menschheit für tausend Jahre im voraus in kanzleimäßiger Art auf dem Papier zu bestimmen sucht, während unterdessen der Despotismus die besten Bissen verschluckt, die Ihnen von selbst in den Mund fliegen, die Sie jedoch an Ihrem Munde vorbeifliegen lassen. Die schnelle Entscheidung aber, bestehe sie, worin sie wolle, wird Ihnen jedenfalls die Hände frei machen und der Menschheit die Möglichkeit geben, ungehemmt ihre Gesellschaftsordnung selbst einzurichten, und zwar nicht mehr bloß auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit. Wofür entscheiden Sie sich denn? Man schreit: ›Hundert Millionen Köpfe!‹ aber das ist ja vielleicht nur eine Metapher; und selbst wörtlich genommen ist doch dabei nichts Fürchterliches, wenn man bedenkt, daß bei den langsamen, papierenen Träumereien der Despotismus in hundert Jahren nicht hundert, sondern fünfhundert Millionen Köpfe vernichten wird! Bedenken Sie auch noch, daß ein unheilbarer Kranker doch nicht geheilt werden kann, mag man ihm auch noch so schöne papierene Rezepte verschreiben. Es besteht sogar im Gegenteil eine Gefahr, daß, wenn man sein Absterben in die Länge zieht, er allmählich dermaßen in Fäulnis übergehen kann, daß er auch uns anstecken und alle frischen Kräfte verderben wird, auf die man jetzt noch rechnen könnte. Diese Verzögerungen werden nur dazu führen, daß wir schließlich alle zugrunde gehen. Ich gebe gern zu, daß es sehr angenehm ist, schöne und liberale Reden zu schwingen, während das Handeln dagegen etwas kitzlig ist ... Nun ja, ich verstehe mich übrigens nicht darauf, Reden zu halten; ich bin mit einigen Mitteilungen hierhergekommen und bitte deshalb die ganze verehrte Gesellschaft nicht etwa abzustimmen, sondern schlicht und einfach zu erklären, wozu Sie mehr Neigung verspüren: zum Schildkrötengekrabbel im Sumpf oder zu einer flotten Fahrt mit Volldampf durch den Sumpf hindurch?«
»Ich bin entschieden für die Fahrt mit Volldampf!« rief der Gymnasiast entzückt.
»Ich auch!« ließ sich Liamschin vernehmen.
»Es besteht natürlich gar kein Zweifel daran, was dabei zu wählen ist«, murmelte einer der Offiziere, nach ihm ein anderer, nach diesen noch jemand. Besonders überraschend kam es allen, daß Werchowenskij »Mitteilungen« machen wollte und soeben versprochen hatte, sofort zu reden.
»Meine Herren, ich sehe, daß fast alle sich im Sinne der Flugblätter entscheiden«, erklärte er, indem er seine Augen über die Anwesenden hinschweifen ließ.
»Alle, alle!« rief die Mehrzahl.
»Offengestanden neige ich mehr zu einer humanen Lösung,« sagte der Major, »da aber alle der anderen Ansicht sind, so schließe auch ich mich der Gesamtheit an.«
»Demnach erheben auch Sie keinen Widerspruch?« wandte sich Werchowenskij an den Lahmen.
»Nicht eigentlich, daß ich ...« erwiderte dieser, ein wenig errötend. »Aber wenn ich mich jetzt auch der Meinung aller anschließe, so tue ich es lediglich, um nicht störend zu wirken ...«
»Sehen Sie wohl, so sind Sie alle! Jeder von Ihnen ist bereit, ein halbes Jahr lang nur um der schönen Worte willen zu debattieren und stimmt dann schließlich doch mit ab, genau so wie alle anderen! Meine Herren, überlegen Sie es sich indessen: stimmt es, daß Sie alle bereit sind?«
(Wozu bereit? Die Frage war unbestimmt, aber gar zu verlockend.)
»Natürlich alle ...« erscholl es von allen Seiten. Übrigens sahen alle einander etwas mißtrauisch an.
»Vielleicht werden Sie sich aber nachher gekränkt fühlen, weil Sie sich so schnell einverstanden erklärt haben? So geht es ja bei Ihnen fast immer.«
Der Anwesenden bemächtigte sich eine starke Erregung. Natürlich hatte sie einen jeden aus einem ganz besonderen, ihm eigenen Grunde ergriffen. Der Lahme eilte auf Werchowenskij zu:
»Gestatten Sie mir aber doch die Bemerkung, daß die Antworten auf derartige Fragen nur bedingungsweise gegeben werden können ... Wenn wir auch unser Einverständnis erklärt haben, so bedenken Sie doch bitte, daß Ihre Frage, die in so sonderbarerer Weise gestellt wurde ...«
»Inwiefern denn in einer sonderbaren Weise?«
»Weil derartige Fragen nicht so gestellt werden.«
»Dann belehren Sie mich bitte! Aber wissen Sie, ich war doch von vornherein davon überzeugt, daß Sie sich als erster gekränkt fühlen werden.«
»Sie haben uns eine Bereitschaftserklärung zu sofortigem Handeln entlockt, aber welches Recht hatten Sie eigentlich zu solchem Vorgehen? Welche Vollmacht, um derartige Fragen zu stellen?«
»Darüber hätten Sie doch schon vorher nachdenken und sich befragen sollen! Weshalb haben Sie denn geantwortet? Erst erklären Sie sich bereit, und dann fangen Sie erst an zu denken.«
»Meine Ansicht aber geht infolge der allzu großen Leichtfertigkeit Ihrer Hauptfrage dahin, daß Sie überhaupt weder irgendwelche Vollmachten noch ein Recht besitzen, sondern nur aus persönlicher Neugier so gefragt haben!«
»Aber wovon reden Sie denn? Ich frage Sie, wovon Sie reden?« rief Werchowenskij, wie wenn er anfinge, in Unruhe zu geraten.
»Ich rede davon, daß die Anwerbung, welcher Art sie auch sein mag, wenigstens unter vier Augen erfolgen muß und nicht in einer unbekannten Gesellschaft von zwanzig Personen!« platzte der Lahme heraus. Jetzt hatte er sich völlig ausgesprochen, war aber gar zu sehr gereizt. Werchowenskij wandte sich mit vorzüglich erkünstelt-beunruhigter Miene an die Gesellschaft:
»Meine Herrschaften, ich halte es für meine Pflicht, Ihnen allen zu erklären, daß dies alles nur dummes Zeug ist und unser Gespräch zu weit geführt hat. Ich habe noch keinen Menschen hier in irgendeinen Bund aufgenommen, und niemand hat das Recht, von mir zu sagen, daß ich es getan habe. Wir tauschten hier lediglich unsere Meinungen aus. Stimmt das? Aber wie dem auch sei,« wandte er sich wieder an den Lahmen, »Sie versetzen mich in große Unruhe. Ich habe nie gedacht, daß es hier erforderlich sei, selbst über solche beinah unschuldigen Dinge unter vier Augen zu reden. Oder befürchten Sie etwa eine Denunziation? Könnte es denn überhaupt möglich sein, daß sich jetzt ein Denunziant unter uns befände?«
Alle waren außerordentlich aufgeregt; alle fingen an zu reden ...
»Meine Herren, wenn dem wirklich so ist,« fuhr Werchowenskij fort, »so bin ich derjenige, der sich am meisten kompromittiert hat und deshalb schlage ich vor, daß Sie mir nunmehr auf eine Frage antworten. Natürlich nur, wenn Sie wollen! Sie haben vollständig Ihren freien Willen.«
»Was für eine Frage? Was für eine Frage?« lärmten alle durcheinander.
»Eine solche Frage, nach deren Beantwortung es uns sofort klar werden wird, ob wir zusammenbleiben können, oder ob es besser ist, daß wir schweigend unsere Mützen nehmen und auseinandergehen, ein jeder seines Weges.«
»Die Frage! Die Frage!«
»Wenn ein jeder von uns von einem beabsichtigten politischen Morde wüßte, würde er dann, obwohl er alle Folgen seines Schrittes vorauszusehen imstande wäre, hingehen und denunzieren, oder würde er zu Hause bleiben und die Ereignisse abwarten? Hier kann man ganz verschiedener Ansicht sein. Die Antwort auf diese Frage wird uns deutlich vor die Augen führen, ob wir auseinandergehen müssen oder zusammenbleiben können, und zwar nicht nur für diesen einen Abend. Gestatten Sie, daß ich mich zuerst an Sie wende«, sagte er mit einem Blick auf den Lahmen.
»Warum denn zuerst an mich?«
»Nun, weil Sie die ganze Sache angefangen haben. Tun Sie mir den Gefallen und weichen Sie der Frage nicht aus. Hier werden Ihnen keine noch so geschickten Ausflüchte helfen. Aber wenn Sie nicht antworten wollen, dann brauchen Sie es natürlich nicht zu tun. Sie haben Ihren freien Willen.«
»Verzeihen Sie, aber eine derartige Frage ist geradezu beleidigend.«
»Nein, antworten Sie bitte deutlicher.«
»Ich bin noch nie ein Agent der Geheimpolizei gewesen«, erwiderte der Lahme mit einer noch saureren Miene.
»Tun Sie mir den Gefallen und antworten Sie klarer, eindeutiger, halten Sie mich nicht auf.«
Der Lahme war bereits so wütend, daß er überhaupt nicht mehr antwortete. Ohne ein Wort zu sagen, sah er starr und mit einem zornigen Blick durch seine Brille auf den Peiniger.
»Ja oder nein? Würden Sie denunzieren oder nicht?« rief Werchowenskij.
»Selbstverständlich würde ich nicht denunzieren!« rief der Lahme doppelt so laut.
»Und niemand wird es tun! Selbstverständlich nicht!« erscholl es wieder von allen Seiten.
»Gestatten Sie, daß ich mich jetzt an Sie wende, Herr Major. Würden Sie denunzieren oder nicht?« fuhr Werchowenskij fort. »Und beachten Sie bitte, daß ich mich absichtlich an Sie wende.«
»Ich würde nicht denunzieren, mein Herr.«
»Nun, wenn Sie aber wüßten, daß jemand einen anderen, gewöhnlichen Sterblichen umbringen und berauben will, dann würden Sie doch bestimmt denunzieren und den Betreffenden warnen?«
»Aber natürlich! Indessen ist das ja ein Fall aus dem bürgerlichen Leben, und vorher sprachen wir von einer politischen Denunziation. Ich bin noch nie ein Agent der Geheimpolizei gewesen.«
»Und niemand hier ist es gewesen!« erschollen wieder mehrere Stimmen. »Das ist eine überflüssige Frage! Alle haben dafür dieselbe Antwort. Hier sind keine Denunzianten!«
»Warum steht denn dieser Herr auf?« schrie die Studentin.
»Das ist Schatow. Warum sind Sie aufgestanden, Schatow?« rief die Wirtin.
Schatow hatte sich tatsächlich erhoben. Er hielt seine Mütze in der Hand und sah auf Werchowenskij. Offenbar wollte er etwas sagen, aber er schwankte. Sein Gesicht war blaß und zornig; aber er beherrschte sich, sprach kein Wort und ging schweigend zur Tür.
»Schatow, das ist doch für Sie selbst nicht vorteilhaft!« rief ihm Werchowenskij rätselhaft nach.
»Dafür aber um so vorteilhafter für dich, weil du ein Spion und ein Schurke bist!« schrie ihm von der Tür aus Schatow zu und ging nun vollends hinaus.
Wieder entstand ein Lärm.
»Da seht ihr, wie gut die Probe war!« rief jemand.
»Die hat sich bewährt!« rief ein anderer.
»Ist die nicht etwas zu spät gekommen?« bemerkte ein Dritter.
»Wer hat ihn eingeladen? – Wer hat ihn aufgenommen? – Was ist das für einer? – Wer ist Schatow? – Wird er denunzieren oder nicht?« schwirrte es von allen Seiten.
»Wenn er ein Denunziant wäre, dann hätte er sich verstellt; er aber hat auf das Ganze von oben herabgespuckt und ist fortgegangen«, bemerkte jemand.
»Da steht auch Stawrogin auf, Stawrogin hat ebenfalls noch nicht auf die Frage geantwortet«, rief die Studentin.
Stawrogin war in der Tat aufgestanden, und mit ihm zugleich hatte sich am anderen Ende des Tisches auch Kirillow erhoben.
»Gestatten Sie, Herr Stawrogin,« wandte sich die Hausfrau schroff an ihn, »wir alle haben hier auf die Frage geantwortet, während Sie schweigend fortgehen wollen.«
»Ich sehe keine Notwendigkeit für mich, auf die Sie so interessierende Frage zu antworten«, murmelte Stawrogin.
»Aber wir haben uns kompromittiert, und Sie nicht!« schrien einige Stimmen.
»Was geht denn mich das an, daß Sie sich kompromittiert haben?« versetzte Stawrogin lachend. Aber seine Augen funkelten.
»Wie meint er das, daß es ihn nichts angeht? Wieso denn das?« erschollen Ausrufe. Viele sprangen von ihren Stühlen auf.
»Gestatten Sie, meine Herren, gestatten Sie,« schrie der Lahme dazwischen, »Herr Werchowenskij hat ja seine Frage ebenfalls noch nicht beantwortet, er hat sie nur gestellt!«
Diese Bemerkung rief eine überraschende Wirkung hervor. Alle sahen sich gegenseitig an. Stawrogin lachte dem Lahmen laut ins Gesicht und ging hinaus; Kirillow folgte ihm. Werchowenskij lief ihnen ins Vorzimmer nach.
»Was machen Sie nur mit mir?« murmelte er, indem er Stawrogin bei der Hand ergriff und sie aus aller Kraft in der seinigen drückte. Dieser riß seine Hand schweigend los.
»Gehen Sie jetzt zu Kirillow, ich komme gleich nach ... Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen, unbedingt!«
»Aber ich verspüre keine Notwendigkeit!« schnitt ihm Stawrogin das Wort ab.
»Stawrogin wird da sein«, entschied Kirillow. »Es ist eine Notwendigkeit vorhanden, Stawrogin. Ich werde es Ihnen dort beweisen.«
Sie gingen hinaus.