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1
Nikolaj Wsewolodowitsch hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Er saß auf dem Sofa und richtete oft den starren Blick auf einen Punkt in der Ecke neben der Kommode. Die ganze Nacht über brannte bei ihm die Lampe. Etwa gegen sieben Uhr morgens schlief er im Sitzen ein, und als Alexej Jegorowitsch, einem ein für allemal eingeführtem Brauch zufolge, Punkt halb zehn in sein Zimmer trat, ihm den Morgenkaffee brachte und ihn durch sein Erscheinen aus dem Schlafe weckte, da war er, sobald er die Augen auftat, offenbar unangenehm überrascht. Er ärgerte sich darüber, daß er hatte so lange schlafen können und daß es bereits so spät geworden war. Er trank hastig den Kaffee, zog sich eilig an und ging schnellen Schrittes aus dem Hause. Auf die vorsichtige Frage Alexej Jegorowitschs, ob es »keine Befehle geben wird«, gab er keine Antwort. Während er die Straße dahinging, blickte er zu Boden, war tief in Gedanken versunken und hob nur mitunter für kurze Augenblicke seinen Kopf in die Höhe, wobei sich dann in seinem Blick und in seinen Bewegungen irgendeine unbestimmte, aber starke Unruhe kundgab. An einer Straßenkreuzung, noch gar nicht weit von seinem Hause entfernt, versperrte ihm eine Schar vorbeigehender Bauern, die vielleicht fünfzig Mann oder noch mehr zählte, den Weg; die Leute gingen wohlanständig, fast schweigend und in einer gewollten Ordnung. Am Kaufmannsladen, wo er ungefähr eine Minute lang warten mußte, sagte jemand, es seien »Schpigulinsche Arbeiter«. Er achtete kaum auf sie. Endlich, als es schon beinah halb elf war, erreichte er die Tore unseres Spaso-Jefimjewskij Bogorodskij Klosters, das sich am Ende der Stadt, dicht am Flusse befand. Erst hier schien er sich an etwas erinnert zu haben, was in ihm Sorge und Unruhe erweckte. Er blieb stehen, betastete etwas in seiner Seitentasche, und – sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Nachdem er hinter die Mauer des Klosters gelangt war, fragte er den ersten Klosterknecht, der ihm in den Weg lief, wie man zu dem hier im Ruhestand wohnenden Bischof Tichon gelangen könnte. Der Klosterdiener begann vor ihm tiefe Verbeugungen zu machen, und erbot sich sofort, ihn zu führen. An einer Freitreppe, die sich am Ende des langen, zweistöckigen, abgeteilt stehenden Klostergebäudes befand, begegnete er einem dicken, grauhaarigen Mönch. Dieser übernahm ihn rasch und gebieterisch vom Klosterdiener und führte ihn dann selbst durch einen langen und engen Gang. Dabei machte auch er fortwährend Verbeugungen (obwohl er seiner Fülle zufolge nicht imstande war, sich eigentlich zu verneigen, sondern nur sehr oft und kurz mit dem Kopfe nickte) und lud Nikolaj Wsewolodowitsch ein, ihm zu folgen, obwohl Stawrogin es auch ohnehin schon tat. Der Mönch stellte ihm auch irgendwelche Fragen und sprach vom Archimandriten; da er aber keine Antwort erhielt, wurde sein Benehmen immer respektvoller und respektvoller. Stawrogin bemerkte, daß man ihn hier kannte, obwohl er, soviel er sich erinnern konnte, schon seit seiner Kindheit nicht mehr im Kloster gewesen war. Als die Tür am äußersten Ende des Ganges erreicht wurde, riß der Mönch sie mit einer etwas gebieterischen Gebärde auf, fragte den herbeigelaufenen Diener des Bischofs, ob man eintreten dürfe, und machte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, die Türe ganz auf; nun verneigte er sich nochmals und ließ dem »teuern« Besucher den Vortritt; sobald er aber den Dank erhalten hatte, entfernte er sich so schnell, wie wenn er davongelaufen wäre. Nikolaj Wsewolodowitsch trat in ein nicht besonders großes Zimmer ein und fast im gleichen Augenblick erschien in der Tür des Nachbarraums ein hoher, hagerer Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, in einem einfachen Leibrock, wie ihn Priester unter dem Meßgewand tragen. Seinem Aussehen zufolge mußte er etwas krank sein. Er hatte ein unbestimmbares Lächeln und einen sonderbaren, gleichsam schüchternen Blick. Das war eben jener Tichon, von dem Nikolaj Wsewolodowitsch zum erstenmal von Schatow gehört hatte, und über den es ihm gelang, beiläufig auch noch mehr Erkundigungen zu sammeln.
Die Auskünfte waren sehr mannigfaltig im Charakter und widersprachen sich sogar mitunter. Indessen hatten sie alle etwas Gemeinsames, und zwar schienen sowohl diejenigen, die Tichon gern hatten, als auch diejenigen, die ihn nicht leiden mochten (und es gab auch solche), alle etwas über ihn zu verschweigen, – die ihn nicht mochten, wahrscheinlich aus Geringschätzung, seine Anhänger aber und sogar die eifrigen unter ihnen aus irgendeiner Bescheidenheit heraus, wie wenn sie etwas verbergen wollten, irgendeine Schwachheit, oder sogar die Tatsache, daß er ein Narr in Christo war. Nikolaj Wsewolodowitsch erfuhr, daß Tichon schon sechs Jahre lang im Kloster wohnte und daß zu ihm sowohl Leute aus dem gewöhnlichsten Volke als auch die vornehmsten Persönlichkeiten kamen; daß er selbst in dem weit entfernten Petersburg eifrige Verehrer und namentlich Verehrerinnen hatte. Dafür aber bekam Stawrogin von einem der würdevollsten »Alterchen« aus dem Klub (der wohlbemerkt ein Betbruder war) auch eine andere Auskunft zu hören, die dahin lautete, daß »dieser Tichon beinah verrückt ist und sicherlich auch übermäßig trinkt«. Vorgreifend will ich hier von mir selbst aus bemerken, daß dieser letzte Zusatz ein entschiedener Unsinn war, die ganze Krankheit Tichons ist lediglich ein hartnäckiger Rheumatismus in den Beinen und außerdem hatte er mitunter nervöse Zuckungen. Außerdem gelang es Nikolaj Wsewolodowitsch noch zu erfahren, daß der in den Ruhestand versetzte und im Kloster wohnende Bischof es nicht verstanden hat, sich im Kloster selbst die nötige Achtung zu erwerben, und zwar entweder der Schwäche seines Charakters zufolge, oder aber auf Grund einer »unverzeihlichen und in seinem Range ungewöhnlichen Zerstreutheit«. Man erzählte sich, daß der Archimandrit, ein harter und in bezug auf seine Priorspflichten sehr strenger Mann, der überdies durch seine Gelehrsamkeit berühmt war, Tichon gegenüber sogar etwas wie ein feindseliges Gefühl empfand und ihn (nicht gerade offen in die Augen, sondern nur indirekt) eines nachlässigen Lebens und beinah der Ketzerei beschuldigte. Die Klosterbrüderschaft aber behandelte den kranken Bischof nicht etwa geradezu geringschätzig, sondern sozusagen familiär. Die zwei Zimmer, die die Zelle Tichons ausmachten, waren recht sonderbar ausgestattet. Neben klobigen, altertümlichen Möbelstücken aus Eichenholz mit abgenutztem Leder standen drei oder vier sehr zierliche Sachen: ein sehr prunkhafter Ruhesessel, ein großer Schreibtisch sorgfältigster Arbeit, ein sehr fein geschnitzter Bücherschrank und außerdem noch kleine Tischchen und Wandbretter, die er natürlich alle als Geschenk erhalten hatte. Er besaß einen teuren Bucharateppich, aber gleich neben ihm lagen auch Bastmatten. An den Wänden hingen Stiche »weltlichen« Inhalts und solche, die mythologische Darstellungen aufwiesen, gleich daneben aber in der Ecke befand sich ein großer Heiligenschrein mit Heiligenbildern, die von Silber und Gold strahlten und von denen das eine sogar sehr alten Ursprungs und mit einer Reliquie versehen war. Selbst seine Bibliothek war, wie man sagte, schon gar zu vielseitig und widerspruchsvoll zusammengesetzt: neben Werken hervorragender Priester und Eiferer des Christentums befanden sich auch Bücher »theatralischen Inhalts, Romane und vielleicht sogar noch viel schlimmere Schmöker.«
Nach den ersten Begrüßungen, die von dem Gast sowohl als auch von dem Bischof selbst aus irgendeinem Grunde mit unverhohlener Unbeholfenheit hastig und sogar unverständlich gewechselt wurden, führte Tichon Nikolaj Wsewolodowitsch in sein Arbeitszimmer, wo er ihn, immer noch irgendwie hastend, auf dem Sofa am Tisch Platz zu nehmen bat und sich selbst in einen Rohrsessel daneben setzte. Hier geriet Nikolaj Wsewolodowitsch merkwürdigerweise vollends in Verwirrung. Es schien, als versuche er sich mit der größten Mühe zu etwas Außerordentlichem, Unanfechtbarem und zu gleicher Zeit für ihn fast Undurchführbarem zu entschließen. Etwa eine Minute lang sah er sich im Arbeitszimmer um, wobei er offenbar doch nichts bemerkte, dann versank er in Gedanken, wußte aber vielleicht gar nicht, worüber er eigentlich nachdachte. Die Stille weckte ihn auf, und es schien ihm plötzlich, als lasse Tichon auf einmal schamhaft die Augen sinken und als lächle er dabei irgendein ganz unnötiges, unpassendes Lächeln. Aber plötzlich schlug er die Augen auf und sah Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem dermaßen festen und von Gedanken überfüllten Blick, zugleich aber mit einem so unerwarteten und rätselhaften Gesichtsausdruck an, daß Stawrogin beinah zusammenfuhr. Und da hatte er mit einemmal einen ganz anderen Eindruck: es kam ihm so vor, als wisse Tichon bereits, weshalb er zu ihm gekommen sei, als wäre er bereits im voraus benachrichtigt worden (obwohl kein Mensch in der ganzen Welt die Gründe, die Stawrogin hergebracht hatten, wissen konnte) und es schien ihm, daß der Bischof, der ihn nicht als erster ansprach, nur deshalb schwieg, weil er ihn schonen wollte und weil er vor der Möglichkeit seiner Erniedrigung erschrak.
»Sie kennen mich?« fragte Stawrogin plötzlich abgebrochen. »Habe ich mich Ihnen vorgestellt, als ich hereinkam oder nicht? Entschuldigen Sie, ich bin so zerstreut ...«
»Sie haben sich nicht vorgestellt, aber ich hatte das Vergnügen, Sie vor vier Jahren einmal hier im Kloster zu sehen ... zufällig ...«
Tichon sprach sehr langsam und gleichmäßig, mit einer weichen Stimme, und brachte jedes Wort klar und deutlich hervor.
»Vor vier Jahren bin ich im hiesigen Kloster gar nicht gewesen«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einer unnötigen Schroffheit. »Ich habe dieses Kloster nur als Kind besucht, als Sie hier überhaupt noch nicht waren.«
»Vielleicht haben Sie es vergessen?« fragte Tichon vorsichtig und ohne Beharrlichkeit.
»Nein, ich habe es nicht vergessen; es wäre auch lächerlich, wenn ich mich nicht einmal daran erinnern könnte,« erwiderte Stawrogin, der seinerseits etwas gar zu nachdrücklich sprach, »Sie haben vielleicht etwas über mich gehört und sich auf Grund dessen irgendeine Meinung gebildet, so daß es Ihnen jetzt vorkommt, als hätten Sie mich selbst gesehen.«
Tichon schwieg nachsichtsvoll. Hier bemerkte Nikolaj Wsewolodowitsch, daß über das Gesicht des Bischofs von Zeit zu Zeit ein krampfhaftes Zucken lief – ein Zeichen einer schon seit langem bestehenden Nervenschwäche.
»Ich sehe nur, daß Sie heute nicht ganz gesund sind,« sagte er, »und es scheint mir, daß es besser wäre, wenn ich fortginge.«
Und er wollte sich sogar schon von seinem Platz erheben.
»Ja, ich habe schon seit gestern sehr große Schmerzen in den Beinen und habe in der Nacht wenig geschlafen ...«
Tichon hielt inne. Sein Gast versank plötzlich in eine gegenstandslose Versonnenheit. Das Schweigen dauerte eine ganze Zeit, wohl an die zwei Minuten.
»Sie haben mich beobachtet?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch plötzlich beunruhigt und mißtrauisch.
»Ich habe Sie betrachtet und mich an die Gesichtszüge Ihrer Frau Mutter erinnert. Bei einer äußeren Unähnlichkeit stimmen Sie doch in manchem, was innerlich und geistig ist, überein.«
»Gar keine Ähnlichkeit ist zwischen uns beiden, insbesondere was den Geist anbetrifft. Da ist sogar absolut keine Ähnlichkeit!« rief Nikolaj Wsewolodowitsch wieder in grundloser Unruhe, indem er von neuem eine übermäßige Beharrlichkeit an den Tag legte, ohne selbst zu wissen, warum er es tat. »Das sagen Sie nur ... weil meine Lage in Ihnen Mitleid erweckt«, platzte er plötzlich heraus. »Bah! Besucht Sie denn meine Mutter?«
»Das tut sie.«
»Habe ich gar nicht gewußt. Habe es nie von ihr gehört. Oft?«
»Fast jeden Monat, und noch öfter.«
»Habe es nie, nie gehört. – Habe es nicht gehört«, rief er, wie wenn ihn diese Tatsache in furchtbare Unruhe versetzt hätte. »Und sie hat Ihnen natürlich gesagt, daß ich verrückt bin«, platzte er wieder heraus.
»Nein, das eigentlich nicht. Übrigens habe ich auch über diese Vermutung gehört, aber von anderer Seite.«
»Sie müssen wohl ein sehr gutes Gedächtnis haben, wenn Sie sich an solche Lappalien erinnern können. Haben Sie auch von der Ohrfeige etwas gehört?«
»Ja, einiges.«
»Das heißt alles. Sie scheinen sehr viel Zeit zum Zuhören zu haben. Auch von dem Zweikampf wissen Sie wohl etwas?«
»Ja.«
»Hier ist wahrlich ein Ort, wo man keine Zeitungen braucht. Hat Sie Schatow über meinen Besuch im voraus benachrichtigt?«
»Nein. Ich kenne übrigens den Herrn Schatow, habe ihn aber schon seit langem nicht gesehen.«
»Hm ... Was haben Sie da für eine Landkarte? Sieh einer an, das ist ja die Karte vom letzten Krieg! Wozu brauchen Sie denn so etwas?«
»Ich habe den Text mit der Karte verglichen. Eine außerordentlich interessante Beschreibung.«
»Zeigen Sie mal her; ja, die Schilderung ist ganz gut. Immerhin ein sehr sonderbarer Lesestoff für Sie.«
Er zog das Buch näher an sich heran und blickte flüchtig hinein. Es war eine sehr umfangreiche und sehr talentvoll gehaltene Schilderung der Umstände des letzten Krieges, deren Qualitäten übrigens mehr rein literarischer als militärischer Art waren. Nachdem er den Band eine Weile betrachtet hatte, warf er ihn ungeduldig von sich.
»Ich weiß absolut nicht, weshalb ich hierher gekommen bin«, sagte er wie mit Widerwillen und sah dabei Tichon gerade in die Augen, wie wenn er von ihm eine Antwort erwartete.
»Sie scheinen auch nicht ganz wohl zu sein.«
»Ja, vielleicht.«
Und er erzählte ihm plötzlich, allerdings ganz kurz und abgebrochen, so daß manches überhaupt nur sehr schwer zu verstehen war, daß er besonders zur Nachtzeit unter einer Art von Halluzinationen zu leiden hätte. Er fühlte dann neben sich und sähe mitunter auch irgendein boshaftes, spöttisches und »vernünftiges« Wesen, »immer in einer anderen Gestalt, immer mit anderen Zügen und doch stets ein und dieselbe! Und ich werde dann immer sehr ärgerlich! ...«
Ganz sonderbar und verworren waren diese Eröffnungen und schienen wirklich von einem Wahnsinnigen herzurühren. Bei alledem aber sprach Nikolaj Wsewolodowitsch mit einer seltsamen Offenherzigkeit, wie man sie bei ihm noch nie vorher wahrgenommen hatte und mit einer solchen Treuherzigkeit, wie sie ihm gar nicht eigen war, so daß es wirklich den Eindruck machte, als ob der frühere Mensch in ihm auf einmal und unwillkürlich vollkommen verschwunden wäre. Er schämte sich durchaus nicht der Angst, mit der er über das ihm erscheinende Gespenst gesprochen hatte. Aber das alles währte nur einen Augenblick und verschwand ebenso plötzlich, wie es gekommen war.
»Das ist lauter Unsinn«, rief er hastig und ärgerlich, als er sich wieder besann. »Ich werde einen Arzt aufsuchen.«
»Tun Sie es unbedingt«, stimmte ihm Tichon bei.
»Sie sprechen so bekräftigend ... Haben Sie denn schon solche Menschen wie ich, mit Visionen, gesehen?«
»Doch, aber nur sehr selten. Ich erinnere mich, nur einem einzigen in meinem Leben begegnet zu sein. Er war Offizier, und das geschah mit ihm, nachdem er seine Frau, die für ihn unersetzliche Lebensgefährtin, verloren hatte. Von einem andern habe ich nur gehört. Beide haben nachher im Auslande eine Kur durchgemacht ... Haben Sie schon lange darunter zu leiden?«
»Fast ein Jahr, aber das ist alles dummes Zeug. Ich werde einen Arzt aufsuchen. Indessen ist es eben lauter Unsinn, schrecklicher Unsinn. Das Gespenst, das bin ich selbst in verschiedenen Gestalten und nichts weiter. Da ich jetzt soeben diesen ... Satz hinzugefügt habe, so nehmen Sie wohl bestimmt an, daß ich immer noch zweifle und immer noch nicht fest davon überzeugt bin, daß ich es selbst bin und nicht tatsächlich der Teufel.«
Tichon sah ihn fragend an.
»Und ... Sie sehen ihn wirklich?« fragte er und beseitigte dadurch natürlich jeden Zweifel darüber, daß es sich nur um irreführende und krankhafte Halluzinationen handle. »Sehen Sie denn wirklich irgendeine Gestalt?«
»Es ist sonderbar, daß Sie diese Frage so nachdrücklich stellen, da ich Ihnen doch deutlich erklärte, daß ich tatsächlich Gesichter habe«, erwiderte Stawrogin, der mit jedem Wort wieder reizbarer zu werden schien. »Natürlich sehe ich das Gespenst, ich sehe es genau so, wie ich jetzt Sie sehe ... und mitunter sehe ich es und zweifle daran, daß ich es sehe, obwohl ich es sehe ... und zuweilen weiß ich nicht, wer wirklich existiert: ich oder dieses Gespenst ... Es ist lauter Unsinn. Können Sie denn wirklich nicht annehmen, daß es tatsächlich der Teufel ist?« fügte er hinzu, lachte auf und änderte seinen Ton gar zu schroff zu einem spöttischen. »Das würde doch weit besser mit Ihrem Beruf übereinstimmen.«
»Am allerwahrscheinlichsten ist es eine Krankheit, obwohl ...«
»Obwohl was?«
»Die Teufel existieren unzweifelhaft, aber man kann sie sehr verschieden auffassen.«
»Sie haben jetzt nur deshalb wieder die Augen gesenkt,« fiel ihm Stawrogin mit einem gereizten Lächeln ins Wort, »weil Sie sich für mich schämen, und zwar angesichts der Tatsache, daß ich an den Teufel glaube und unter der Maske des Nichtglaubens Ihnen listig die Frage vorlegte, ob er wirklich existiert oder nicht?«
Tichons Lippen verzogen sich zu einem unbestimmbaren Lächeln.
»Nun, dann erfahren Sie denn, daß ich mich gar nicht schäme,« rief Stawrogin, »und ich sage Ihnen jetzt, um Ihnen Ihre Grobheit zu vergelten, ernst und dreist: ich glaube an den Teufel, ich glaube an ihn, wie es die Kirche vorschreibt, ich glaube an einen leibhaftigen Teufel und nicht nur an eine Allegorie, und ich brauche nach nichts zu fragen! So, nun wissen Sie es.«
Und er brach in ein nervöses, unnatürliches Lachen aus. Tichon betrachtete ihn neugierig, aber mit einem etwas schüchternen, wenn auch weichen Blick.
»Glauben Sie an Gott?« platzte plötzlich Nikolaj Wsewolodowitsch heraus.
»Es steht doch geschrieben, daß, wenn man glaubt und dem Berge befiehlt, sich wegzuheben, dann wird es der Berg tun ... Übrigens, entschuldigen Sie diesen Unsinn. Indessen interessiert es mich doch: sind Sie imstande, einen Berg wegzuheben oder nicht?«
»Wenn Gott es befiehlt, dann wird es mir gelingen«, erwiderte Tichon leise und zurückhaltend, wobei er wieder den Blick niederzuschlagen begann.
»Nun, das wäre ja genau soviel, wie wenn es Gott selbst getan hätte. Nein, ich möchte wissen, ob Sie dazu imstande wären, Sie selbst, ganz allein, zum Lohn für Ihren Glauben?«
»Vielleicht auch nicht.«
»So? ›Vielleicht‹? Nun, auch das ist nicht übel. Und übrigens: zweifeln Sie wohl immer noch?«
»Der Unvollkommenheit meines Glaubens zufolge zweifle ich.«
»Wie? Auch Sie glauben unvollkommen?«
»Ja ... Vielleicht. Vielleicht fehlt auch meinem Glauben die Vollkommenheit«, erwiderte Tichon.
»Das hätte ich bei Ihrem Anblick wahrlich nicht angenommen«, rief Nikolaj Wsewolodowitsch und sah ihn dabei mit einer gewissen Verwunderung an, die so offenherzig war, daß sie durchaus nicht zu dem spöttischen Ton der vorangegangenen Fragen paßte.
»Aber Sie glauben doch wenigstens, daß Sie mit Gottes Hilfe imstande sein würden, den Berg wegzuheben, und auch das ist schon nicht wenig. Sie wollen wenigstens glauben. Und Sie fassen den Berg wörtlich auf. Es ist ein guter Grundsatz. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß die führenden Männer unter unseren Leviten sehr stark zum Luthertum neigen. Was Sie vorbringen, ist immerhin weit mehr als das très peu eines anderen Erzbischofs, – allerdings unter dem Säbel. Sie sind natürlich auch ein Christ?«
Stawrogin sprach sehr schnell, und die Worte rieselten ihm bald ernst, bald spöttisch aus dem Munde.
»Deines Kreuzes, o Herr, soll ich mich nicht schämen«, sagte Tichon leise, beinah flüsternd in einem fast leidenschaftlichen Ton und neigte seinen Kopf noch tiefer.
»Wie ist es denn: kann man an den Teufel glauben, ohne zugleich auch an Gott zu glauben?« fragte Stawrogin lachend.
»Oh, sehr gut sogar. Es geschieht ja auch auf Schritt und Tritt«, erwiderte Tichon, indem er wieder aufblickte und lächelte.
»Und ich bin überzeugt, daß Sie einen solchen Glauben immerhin für anständiger halten als einen vollständigen Unglauben ...« rief Stawrogin und brach in ein lautes Lachen aus.
»Im Gegenteil, ein vollkommener Atheismus ist bedeutend achtbarer als die weltliche Gleichgültigkeit«, erwiderte Tichon anscheinend heiter und treuherzig.
»Oho, so einer sind Sie!«
»Ein vollkommener Atheist steht auf der vorletzten Stufe zum vollkommenen Glauben (ob er sie nun überschreiten wird oder nicht, ist dabei nebensächlich), der Gleichgültige aber hat schon gar keinen Glauben und empfindet nur eine häßliche Angst; und auch das nur, wenn er ein gefühlvoller Mensch ist.«
»Hm ... Haben Sie die Offenbarung St. Johannis gelesen?«
»Ja, das habe ich.«
»Erinnern Sie sich an die Stelle: ›Und dem Engel der Gemeinde zu Laodicea schreibe ...‹?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wo haben Sie das Buch«, rief Stawrogin, der mit einemmal sonderbar zu hasten begann, unruhig wurde und auf dem Tisch mit den Augen nach einem Buche suchte. »Ich möchte es Ihnen vorlesen ... Haben Sie eine russische Übersetzung?«
»Ich kenne die Stelle, ich erinnere mich«, sagte Tichon.
»Sie kennen sie auswendig? Sagen Sie sie auf ...«
Er senkte hastig den Blick, stützte beide Handflächen auf die Knie und machte sich zum Zuhören bereit. Tichon sagte die Stelle auf, sie Wort für Wort sich ins Gedächtnis zurückrufend:
»Und dem Engel der Gemeinde zu Laodicea schreibe: Das saget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes: Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf nichts; und weiß nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß ...«
»Genug«, unterbrach ihn Stawrogin. »Wissen Sie, ich habe Sie sehr gern.«
»Und ich Sie auch«, erwiderte Tichon halblaut.
Stawrogin verstummte und verfiel plötzlich in die frühere Nachdenklichkeit. Das kam über ihn schon zum drittenmal und machte den Eindruck von Anfällen. Auch zu Tichon hatte er »ich habe Sie sehr gern« beinah in einem Anfall gesagt. Jedenfalls war es für ihn selbst überraschend gewesen. Es verstrich wieder mehr als eine Minute.
»Seien Sie nicht böse«, flüsterte Tichon und berührte mit seinen Fingern ganz leise und wie schüchtern Stawrogins Ellbogen.
Nikolaj Wsewolodowitsch zuckte auf und zog die Brauen zornig zusammen.
»Woher wissen Sie denn, daß ich ärgerlich geworden war«, fragte er hastig. Tichon wollte ihm etwas erwidern, aber in einer unerklärlichen Unruhe ließ er ihn gar nicht zu Wort kommen:
»Weshalb haben Sie gerade angenommen, daß ich ärgerlich geworden sein müßte. Ja, Sie haben recht, ich war in der Tat wütend, und zwar, weil ich zu Ihnen ›ich habe Sie sehr gern‹ gesagt habe. Sie haben recht, aber Sie sind ein roher Zyniker, und was Sie von der menschlichen Natur denken, ist erniedrigend. Wenn ein anderer an meiner Stelle wäre, so würde vielleicht gar kein Ärger aufkommen ... Übrigens handelt es sich nicht um den Menschen, sondern um mich ... Immerhin sind Sie ein Sonderling und ein Gottesnarr ...«
Er geriet immer mehr und mehr in Zorn und legte sich seltsamerweise in seinen Ausdrücken gar keinen Zwang mehr auf.
»Hören Sie, ich mag Spione und Psychologen nicht leiden, wenigstens solche nicht, die mir in meine Seele hineinkriechen wollen. Ich rufe keinen Menschen in meine Seele, ich brauche niemand, ich kann ganz allein auskommen. Sie denken vielleicht, daß ich mich vor Ihnen fürchte?« rief er mit einemmal lauter und hob sein Gesicht herausfordernd in die Höhe. »Sie sind vollkommen davon überzeugt, daß ich zu Ihnen gekommen bin, um Ihnen ein ›schreckliches‹ Geheimnis zu enthüllen und warten nun darauf mit all der kleinlichen, geheimen Neugier, zu der sie fähig sind. Nun, erfahren Sie denn, daß ich Ihnen nichts enthüllen werde, gar kein Geheimnis! Denn ich kann sehr gut auch ohne Sie auskommen ...«
Tichon sah ihn mit einem festen Blick an:
»Es überraschte Sie, daß dem Lamm der Kalte lieber ist als ein nur Lauer,« sagte er, »und Sie wollen nicht nur lau sein. Ich ahne, daß Sie mit einem außerordentlichen, vielleicht fürchterlichen Vorhaben kämpfen. Ich flehe Sie an, quälen Sie sich nicht, und sagen Sie alles.«
»Haben Sie denn bestimmt gewußt, daß ich mit irgendeinem Vorhaben hierhergekommen bin?«
»Ich ... habe es erraten«, flüsterte Tichon und senkte den Blick zu Boden.
Nikolaj Wsewolodowitsch war etwas blaß, und seine Hände zitterten ein wenig. Einige Sekunden blickte er schweigend und starr vor sich hin, wie wenn er sich nicht entschließen könnte. Endlich holte er aus der Seitentasche seines Rocks einige gedruckte Blätter hervor und legte sie auf den Tisch.
»Hier sind die Blätter, die zur Verbreitung bestimmt sind«, sagte er stockend. »Sie müssen wissen, daß, wenn sie auch nur ein einziger Mensch lesen wird, ich sie nicht mehr verbergen werde. So ist es beschlossen. Ich brauche Sie ganz und gar nicht, weil ich alles bereits fest und endgültig entschieden habe. Aber lesen Sie die Blätter nur durch ... Während des Lesens bitte ich Sie nicht zu sprechen, nachdem Sie es aber durchgelesen haben werden, dann sagen Sie mir alles ...«
»Soll ich es wirklich lesen?« fragte Tichon unschlüssig.
»Lesen Sie. Ich bin vollkommen ruhig.«
»Nein, ohne Brille geht es nicht: der Druck ist so fein, ist wohl ausländischen Ursprungs.«
»Hier ist die Brille«, sagte Stawrogin, indem er sie ihm vom Tisch reichte, und lehnte sich dann auf dem Sofa zurück. Tichon vertiefte sich ins Lesen.
2
Sie waren wirklich im Auslande gedruckt worden, diese drei broschürten Blättchen gewöhnlichen Briefpapiers von kleinem Format. Wahrscheinlich waren sie geheim in irgendeiner ausländischen russischen Druckerei abgezogen worden und glichen auf den ersten Blick sehr den revolutionären Flugblättern. Als Überschrift hatten sie die Worte: »Von Stawrogin.«
Ich schalte dieses Dokument in meine Chronik wörtlich ein. Ich habe mir nur erlaubt, die orthographischen Fehler zu verbessern, die ziemlich häufig vorkamen und die mich sogar gewissermaßen in Erstaunen versetzt haben, da doch der Verfasser immerhin ein gebildeter und belesener Mensch war (natürlich nur relativ). Im Stil aber habe ich trotz der offenkundigen Fehlerhaftigkeit desselben keine Veränderungen vorgenommen. Es ist jedenfalls klar, daß der Verfasser vor allen Dingen kein Schriftsteller war.
Ich erlaube mir, noch eine Bemerkung einzuflechten, obwohl ich dadurch einiges vorwegnehme. Dieses Dokument ist meiner Meinung nach das Ergebnis einer Krankheit und das Werk des Teufels, der sich dieses Herrn bemächtigt hatte. Man gewann beim Lesen den Eindruck, daß ein unter heftigen Schmerzen Leidender sich unruhig im Bette hin- und herwälzt in dem Bestreben, eine bessere Lage zu finden, um, wenn auch nur für einen Augenblick, die Qual zu lindern. Und auch nicht einmal zu lindern, sondern um nur, wenn auch für eine ganz kurze Weile, an die Stelle des ursprünglichen Schmerzes einen andern treten zu lassen. Und da kümmert man sich natürlich nicht mehr um die Schönheit oder Zweckmäßigkeit der Lage. Der Grundgedanke des Dokuments ist ein furchtbares, ungekünsteltes Bedürfnis nach einer Sühne, nach einem Kreuz, nach einer Strafe vor den Augen der ganzen Welt. Indessen war dieses Bedürfnis nach einem Kreuz immerhin in einem Menschen entstanden, der an das Kreuz nicht glaubte, und schon das allein bildete eine »Idee«, wie sich einmal Stepan Trofimowitsch, wenn auch bei einer anderen Gelegenheit, ausgedrückt hatte. Andererseits aber stellt das ganze Dokument etwas Ungestümes und Verwegenes dar, obwohl es offenbar in einer ganz anderen Absicht verfaßt wurde. Der Verfasser erklärt, daß er außerstande war, das Niederschreiben zu unterlassen, daß er »einen Zwang in sich gefühlt« habe, und das ist ziemlich wahrscheinlich: er wäre ganz gern bereit gewesen, diesen Kelch an sich vorbeigehen zu lassen, aber wahrscheinlich war er wirklich außerstande, sich zu widersetzen, und griff nur nach einer passenden Gelegenheit, um eine neue verwegene Tollheit zu begehen. Ja, der Kranke drehte und wendete sich im Bette und versuchte einen Schmerz durch einen andern zu ersetzen, und nun erschien ihm der Kampf mit der Gesellschaft der leichteste Ersatz zu sein, und so warf er ihr eine Herausforderung ins Gesicht.
In der Tat ließ sich schon allein in der Tatsache des Vorhandenseins eines solchen Dokuments eine neue, unerwartete und unverzeihliche Herausforderung der Gesellschaft herausfühlen. Es schien Stawrogin offenbar nur daran gelegen zu sein, sobald wie möglich mit irgendeinem Gegner zusammenzustoßen ...
Wer weiß aber, ob dies alles, das heißt diese Blättchen, die zur Veröffentlichung bestimmt waren, nicht genau so aufzufassen sind, wie jener Biß in das Ohr des Gouverneurs, der diesmal nur in einer anderen Form vorgenommen wurde? Warum mir das jetzt, da schon so vieles seine Aufklärung gefunden hat, immer noch in den Sinn kommt, vermag ich selbst nicht zu begreifen. Ich führe auch keine Beweise an und behaupte auch keineswegs, daß dieses Dokument verfälscht, mit andern Worten also vollkommen erdichtet und aus der Luft gegriffen war. Das Wahrscheinlichste ist, daß man die Wahrheit irgendwo in der Mitte suchen muß. Übrigens bin ich aber schon gar zu sehr vorausgeeilt; weit richtiger ist es, wenn wir uns jetzt wieder dem Dokument selbst zuwenden. Tichon las folgendes:
»Von Stawrogin.
Ich, Nikolaj Stawrogin, ein verabschiedeter Offizier, lebte im Jahre 186... in Petersburg, liederlich und ausschweifend, ohne daß mir dies ein Vergnügen machte. Eine gewisse Zeit lang hatte ich damals drei Wohnungen. In der einen wohnte ich selbst. Es war eine Pension, wo ich auch meinen Diener hatte und beköstigt wurde. Daselbst lebte damals auch Maria Lebiadkina, die jetzt meine legitime Ehefrau ist. Die beiden anderen Wohnungen mietete ich aber nur monatsweise, und zwar zum Zwecke von galanten Abenteuern: in der einen empfing ich eine Dame, die mich liebte, und in der andern ihre Zofe und trug mich eine Zeitlang sehr ernst mit dem Gedanken herum, die beiden so zusammenzubringen, daß die Herrin und die Magd sich bei mir treffen. Da ich die Charaktere der beiden kannte, glaubte ich, daß dieser Scherz mir viel Vergnügen bereiten würde.
Bei der allmählichen Vorbereitung dieser Begegnung mußte ich eine dieser beiden Wohnungen, die sich in einem großen Hause in der Gorochowaja befand, etwas öfter aufsuchen, da ich mich dort mit jener Zofe traf. Hier hatte ich nur ein einziges Zimmer, das ich im vierten Stock von einem russischen Kleinbürger mietete. Die Vermieter selbst wohnten in einem anliegenden Zimmer, das so eng war, daß die Tür, die ihren Wohnraum von dem meinen trennte, stets offen gehalten werden mußte, was gerade meinen Wünschen entsprach. Der Mann war in irgendeinem Bureau beschäftigt und den ganzen Tag bis in die Nacht hinein nicht zu Hause. Die Frau, die etwa vierzig Jahre alt sein mochte, trennte etwas auseinander und nähte dann aus alten Sachen neue zusammen. Auch sie mußte sich oft aus dem Hause entfernen, um die fertige Arbeit wegzubringen. Dann blieb ich ganz allein mit der Tochter der Wirtsleute. Sie hieß Matrioscha und war dem Aussehen nach noch ganz ein Kind. Die Mutter liebte sie, schlug sie aber sehr oft und schrie sie aus Gewohnheit schrecklich an, wie das so Frauenart ist. Dieses kleine Mädchen bediente mich und räumte bei mir hinter dem Wandschirm auf. Ich erkläre, daß ich die Nummer des Hauses vergessen habe. Ich habe mich vor kurzem danach erkundigt und weiß, daß das alte Haus heruntergerissen ist und an Stelle der früher dort gewesenen zwei oder drei Häuser sich ein sehr großes, neues Gebäude befindet. Auch den Familiennamen meiner Wirtsleute habe ich vergessen. (Und habe ihn vielleicht auch damals nicht gekannt.) Ich erinnere mich nur, daß die Kleinbürgerin Stepanida und mit dem Vatersnamen, glaube ich, Michajlowna hieß. Den Namen des Wirtes habe ich vergessen. Ich nehme jedoch an, daß, wenn man suchen und die nötigen Erkundigungen bei der Petersburger Polizei anstellen würde, man sehr wohl die Spuren dieser Menschen finden könnte. Die Wohnung befand sich im Hinterhaus, in einer Ecke des Hofs. Alles geschah im Juni. Das Haus war hellblau angestrichen.
Einmal war mir vom Tisch ein Taschenmesser verschwunden, das ich eigentlich gar nicht brauchte und das nur so umherlag. Ich teilte es der Wirtin mit und dachte dabei wirklich gar nicht daran, daß sie ihre Tochter deshalb mit Ruten züchtigen würde. Aber diese hatte das Mädchen gerade wegen des Verlustes irgendeines Fetzens Stoff angeschrien. Sie wird wohl angenommen haben, daß der Stoff ihr von der Tochter entwendet wurde und hatte sie deshalb sogar an den Haaren gerissen. Als man nun diesen Fetzen Stoff unter der Tischdecke wiederfand, wollte das Mädchen kein einziges Wort zum Vorwurf sagen und sah nur schweigend vor sich hin. Ich habe das bemerkt und hier zum erstenmal das Gesicht der Kleinen richtig in Augenschein genommen. Bis dahin war es an meinen Blicken stets nur vorbeigehuscht. Sie war blond und sommersprossig, hatte ein gewöhnliches Gesicht, in dem aber sehr viel Kindliches und Stilles, außerordentlich Stilles lag. Der Mutter hatte es nicht gefallen, daß die Tochter ihr wegen der unverdienten Schläge keinen Vorwurf machte, und so holte sie gegen sie mit der Faust aus. Aber sie versetzte ihr keinen Schlag. Und gerade hier kam ich mit meiner Messergeschichte. Außer uns dreien war tatsächlich niemand in der Wohnung gewesen, und zu mir hinter den Wandschirm kam nur das Mädchen hin. Die Frau wurde rasend, da sie die Tochter zum erstenmal unverdienterweise geschlagen hatte, holte hastig einen Besen, riß aus ihm Ruten heraus und peitschte damit das Mädchen vor meinen Augen durch, obwohl es schon über elf Jahre alt war. Matrioscha schrie nicht unter den Rutenhieben, wahrscheinlich, weil ich dabei war. Aber bei jedem Schlag schluchzte sie irgendwie sehr sonderbar auf. Und noch eine volle Stunde nach der Strafe hörte ich sie so seltsam schluchzen.
Aber noch vorher geschah folgendes. Im selben Augenblick, wo die Wirtin zum Besen hinlief, um sich einige Ruten herauszureißen, fand ich mein Messer wieder, und zwar auf dem Bett, wohin es irgendwie vom Tisch heruntergefallen war. Sofort kam mir der Gedanke, nichts davon zu sagen, damit man das Mädchen auspeitsche. Diesen Entschluß faßte ich im Nu; in solchen Augenblicken stockt bei mir immer der Atem. Aber ich habe die Absicht, alles in festeren Worten zu erzählen, auf daß nichts mehr verborgen bleibt.
Jede außerordentlich schmähliche, über alle Maßen erniedrigende, gemeine und vor allen Dingen lächerliche Lage, in der ich mich in meinem Leben befunden habe, erregte in mir stets zu gleicher Zeit Zorn und ein unbeschreibliches Wonnegefühl. Genau dieselbe Empfindung hatte ich in den Augenblicken, wo ich ein Verbrechen beging oder wo mein Leben in Gefahr war. Hätte ich etwas gestohlen, so würde ich bei der Ausübung des Diebstahls von dem Bewußtsein der ganzen Tiefe meiner Gemeinheit geradezu berauscht sein. Nicht die Gemeinheit habe ich geliebt (hier war mein Verstand vollkommen unverrenkt), aber mir gefiel der Rausch, den das quälende Bewußtsein der Gemeinheit hervorrief. Genau so überkam mich jedesmal, wenn ich vor der Barriere stehend den Schuß meines Gegners abwartete, dasselbe rasende und schimpfliche Gefühl, und einmal sogar außerordentlich stark. Ich gestehe, daß ich selbst dieser Empfindung nachgejagt bin, weil sie für mich viel stärker ist als alle andern in dieser Art. Wenn ich eine Ohrfeige erhielt (und ich wurde in meinem Leben zweimal geohrfeigt), so hatte ich auch dabei, trotz des furchtbaren Zornes, dieselbe Empfindung. Ist man aber imstande, den Zorn dabei zu unterdrücken, so übersteigt das Wonnegefühl alles, was man sich nur vorstellen kann. Ich habe nie und zu keinem Menschen darüber gesprochen und nicht einmal eine diesbezügliche Andeutung gemacht, sondern das alles stets wie eine Schmach und eine Schande verborgen gehalten. Aber als man mich einmal in einer Kneipe in Petersburg schmerzhaft geschlagen und an den Haaren gerissen hatte, merkte ich nichts von diesem beschriebenen Gefühl und empfand nur einen unbeschreiblichen Zorn. Ich war nicht berauscht, und schlug nur um mich. Hätte mich aber statt jener Leute der französische Vicomte an den Haaren gepackt und niedergebeugt, derselbe Vicomte der mich geohrfeigt hatte und dem ich dafür das Unterkinn abgeschossen habe, so wäre ich wahrscheinlich ganz berückt gewesen und hätte vielleicht gar keinen Zorn empfunden. So schien es mir damals.
Ich sage das alles nur, damit ein jeder verstehe, daß dieses Gefühl mich niemals vollkommen beherrschte und daß mir immer das vollste Bewußtsein blieb (auf diesem Bewußtsein gründete sich ja auch alles). Und wenn dieses Gefühl mich auch zu Sinnlosigkeiten hinriß oder sozusagen zu einer Halsstarrigkeit, so brachte es mich doch niemals zu einer Selbstvergessenheit. Es erreichte in mir seinen Siedepunkt, aber zu gleicher Zeit war ich imstande, es vollkommen zu unterdrücken, und zwar sogar auf dem Höhepunkt; ich wollte es nur selbst nie. Ich bin überzeugt, daß ich mein ganzes Leben wie ein Mönch würde verbringen können, trotz der tierischen Wollust, mit der ich ausgestattet bin und die ich stets herausforderte. Ich bin immer Herr meiner selbst, wenn ich es will. Es sei also bekannt, daß ich weder durch das Milieu noch durch Krankheiten eine Entlastung und einen Freispruch für meine Verbrechen zu erreichen suche.
Nachdem die Exekution an dem kleinen Mädchen vorüber war, steckte ich das Messer in meine Westentasche, sagte kein Wort, ging auf die Straße hinaus und warf es möglichst weit vom Hause entfernt fort, damit niemand es je erfahre. Dann wartete ich zwei Tage ab. Das Mädchen hatte viel geweint und wurde noch schweigsamer; ich bin aber überzeugt, daß sie gegen mich keinen Groll hatte. Übrigens wird sie wohl einige Scham empfunden haben, da man sie doch in meiner Gegenwart so schmählich bestraft hatte. Aber selbst an dieser Scham hielt sie wahrscheinlich als Kind nur sich allein für schuldig.
Nun, gerade in diesen beiden Tagen habe ich mir einmal die Frage vorgelegt, ob ich imstande sei, ein einmal gefaßtes Vorhaben von mir zu werfen und es gänzlich aufzugeben. Und sofort empfand ich, daß ich es sehr wohl könnte, und zwar in jedem gegebenen Augenblick. Um diese Zeit herum wollte ich, weil ich an Langeweile krankte, Selbstmord begehen; übrigens ist mir der eigentliche Grund dafür bereits entfallen. In diesen zwei oder drei Tagen aber, die ich unbedingt abwarten mußte, damit das Mädchen alles vergesse, habe ich, wahrscheinlich um mich von den fortwährenden Grübeleien abzulenken oder auch nur spaßeshalber, in der Pension einen Diebstahl begangen. Das ist das einzige Eigentumsverbrechen in meinem Leben.
In dieser Pension hatten sich eine ganze Menge Menschen eingenistet. Unter anderem wohnte dort auch in zwei möblierten Zimmern mit seiner Familie ein Beamter, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte, anständig aussah, nicht ganz dumm, aber arm war. Ich kam mit ihm nicht zusammen, und vor der Gesellschaft, die mich dort umgab, empfand er Furcht. Er hatte in diesen Tagen gerade sein Gehalt im Betrage von fünfunddreißig Rubeln bekommen. Den Hauptanstoß gab mir wohl die Tatsache, daß ich in jenem Augenblick gerade wirklich Geld brauchte (obwohl ich vier Tage darauf meinen Wechsel mit der Post erhielt), so daß ich gleichsam aus Not stahl und nicht nur spaßeshalber. Die Tat beging ich dreist und offenkundig; ich ging einfach in sein Zimmer hinein, als er mit seiner Frau und den Kindern im anschließenden Zimmerchen Mittag aß. Hier auf dem Stuhl, dicht an der Tür lag sein zusammengelegter Uniformrock. Der Gedanke tauchte in mir auf, als ich noch im Korridor war. Ich steckte die Hand in die Tasche des Rocks und holte das Portemonnaie hervor. Aber der Beamte vernahm ein Geräusch und kam heraus. Er schien sogar, etwas wenigstens, bemerkt zu haben. Da er aber nicht alles gesehen hatte, so glaubte er seinen eigenen Augen nicht. Ich sagte ihm, daß ich beim Vorbeigehen durch den Gang nur hereingekommen wäre, um nachzusehen, wie spät es auf seiner Wanduhr sei. ›Die steht, mein Herr‹, erwiderte er, und ich ging hinaus.
An dem Tage trank ich sehr viel und hatte in meinen Zimmern eine ganze Horde versammelt. Unter den Gästen befand sich auch Lebiadkin. Das Portemonnaie habe ich mit dem Kleingeld weggeworfen und nur die Banknoten behalten. Es waren zweiunddreißig Rubel, drei rote und zwei gelbe Scheine. Ich ließ sofort einen roten wechseln und sandte nach Champagner. Dann ging auch der zweite rote Schein darauf und schließlich auch der dritte. Nach etwa vier Stunden, schon am Abend, stellte mich im Korridor der Beamte, der mich anscheinend erwartet hatte.
›Haben Sie, Nikolaj Wsewolodowitsch, als Sie vorhin in meinem Zimmer waren vielleicht zufällig meinen Uniformrock vom Stuhl heruntergestoßen? ... Er lag an der Tür?‹
›Nein, ich besinne mich nicht. Lag denn da bei Ihnen ein Uniformrock?‹
›Ja, er lag da.‹
›Auf dem Fußboden?‹
›Anfangs auf dem Stuhl und dann auf dem Fußboden.‹
›Haben Sie ihn denn aufgehoben?‹
›Ja, das habe ich.‹
›Nun, wenn dem so ist, was wollen Sie denn noch mehr?‹
›Ja, wenn dem so ist, dann will ich auch gar nichts ...‹
Er hatte nicht gewagt, zu Ende zu reden und brachte es auch nicht über sich, irgend jemand in der Pension von seinem Verlust Mitteilung zu machen, so sehr schüchtern sind mitunter diese Art Menschen. Übrigens empfanden alle in der Pension schreckliche Furcht vor mir und achteten mich auch sehr. Ich hatte es später gern, im Korridor seinem Blicke zu begegnen. Das geschah ungefähr zweimal. Aber auch das wurde mir bald langweilig.
Nach drei Tagen begab ich mich in die Gorochowaja. Die Mutter war gerade im Begriff, irgendwohin mit einem Bündel fortzugehen; der Kleinbürger selbst war natürlich nicht zu Hause, so blieb ich denn mit Matrioschka allein in der Wohnung. Die Fenster waren geöffnet. Im ganzen Haus wohnten lauter Handwerker, und den ganzen Tag über hörte man entweder Hammerschläge oder Lieder. Schon fast eine Stunde hatten wir zusammen verbracht. Matrioscha saß in ihrem Kämmerlein auf einer kleinen Bank, hatte mir den Rücken zugekehrt und stocherte an irgendeiner Arbeit mit ihrer Nadel herum. Endlich begann sie plötzlich leise, sehr leise zu singen, wie sie das mitunter zu tun pflegte. Ich zog die Uhr hervor und sah nach der Zeit; es war gerade zwei Uhr. Das Herz in meiner Brust fing an heftiger zu pochen, ich stand auf und begann, mich an das Mädchen heranzuschleichen. Diese Leute hatten auf dem Fenster Geranien, und die Sonne leuchtete furchtbar grell. Ich ließ mich leise neben der Kleinen auf den Boden nieder. Sie zuckte zusammen, bekam anfangs einen unbeschreiblichen Schreck und sprang sogar auf. Ich nahm ihre Hand und küßte sie leise; dann zog ich sie wieder auf die Bank herunter und begann ihr in die Augen zu sehen. Über den Handkuß mußte sie wie ein Kind lachen, aber nur für eine Sekunde; gleich darauf sprang sie wieder auf und war diesmal so heftig erschrocken, daß ihr sogar krampfhafte Zuckungen über das Gesicht liefen. Sie sah mich mit einem erschreckend starren Blick an, ihre Lippen bebten, wie wenn sie gleich losschluchzen wollte, aber dennoch schrie sie nicht auf. Ich küßte ihr wieder die Hand und nahm sie dann zu mir auf die Knie. Da versuchte sie sich von mir loszureißen und lächelte ein gleichsam schamvolles, aber irgendwie ganz verzerrtes Lächeln. Eine dichte Welle der Schamröte überzog ihr Gesicht. Ich flüsterte ihr Verschiedenes wie trunken zu. Und da geschah etwas dermaßen Seltsames, daß ich es nie vergessen werde, etwas, worüber ich auch damals gestaunt habe: das Mädchen umfaßte plötzlich mit ihrem Ärmchen meinen Hals und begann mich wie toll zu küssen. Ihr Gesicht drückte eine vollkommene Verzücktheit aus. Ich wäre beinah aufgestanden und fortgegangen, – so sehr war mir das alles in diesem kleinen Geschöpf unangenehm und zwar infolge des Mitleids, das ich auf einmal zu empfinden begann.
Als alles zu Ende war, schien sie sehr verlegen zu sein. Ich versuchte sie nicht zu trösten und ihr zuzureden und liebkoste sie auch nicht mehr. Sie lächelte schüchtern und sah mich an. Ihre Züge erschienen mir plötzlich sehr dumm. Ich wurde selbst mit jedem Augenblick verlegener und verlegener. Schließlich bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen, stellte sich in einen Winkel des Zimmers, drehte mir den Rücken zu und stand da vollkommen bewegungslos. Ich befürchtete, daß sie wieder wie vorhin erschrecken würde und ging schweigend aus dem Hause.
Ich nehme an, daß das Geschehene ihr als ein endgültiger Abschluß erscheinen mußte, als eine maßlose Unanständigkeit und Garstigkeit, die tödlichen Schrecken ausatmete. Trotz der kräftigen russischen Schimpfworte und allerlei seltsamen Gespräche, die sie wohl noch von der Windelzeit her hatte anhören müssen, verstand sie meiner festen Überzeugung nach überhaupt noch nichts. Sicherlich kam es ihr letzten Endes so vor, als habe sie ein unglaubliches Verbrechen begangen, an dem sie außerordentlich schuld sei, und als hätte sie ›Gott getötet‹.
In dieser Nacht machte ich jene Prügelei durch, die ich bereits flüchtig erwähnt habe. Aber am nächsten Morgen erwachte ich in meinem Pensionszimmer, wohin mich Lebiadkin gebracht hatte. Mein erster Gedanke nach dem Erwachen war: hat sie es erzählt, oder nicht. Das war ein Augenblick einer echten Furcht, die allerdings noch nicht sehr heftig war. An diesem Morgen war ich außerordentlich heiter, behandelte alle sehr gut, und die ganze Horde war mit mir sehr zufrieden. Aber ich ließ sie alle sitzen und begab mich nach der Gorochowaja. Ich begegnete Matrioscha schon unten im Flur. Sie kam gerade vom Kaufmann, zu dem sie geschickt worden war, um Zichorien zu holen. Kaum hatte sie mich erblickt, als sie einen furchtbaren Schreck bekam und wie ein Pfeil die Treppe hinaufschoß. Als ich in die Wohnung eintrat, hatte ihr die Mutter bereits einen Hieb versetzt dafür, daß sie so ›Hals über Kopf‹ hineingelaufen war, was auch den wirklichen Grund ihres Erschreckens nicht an den Tag kommen ließ. Also war vorläufig alles ruhig. Sie hatte sich irgendwohin verkrochen und ließ sich während der ganzen Zeit, die ich dort war, nicht sehen. Ich verbrachte in der Wohnung eine Stunde und ging fort.
Zum Abend empfand ich wieder Furcht, aber diesmal schon unvergleichlich heftiger. Natürlich konnte ich alles ableugnen, aber es war auch möglich, daß man mich überführen würde. Vor meinen geistigen Blicken flimmerte schon das Zuchthaus und die Zwangsarbeit. Nie in meinem Leben habe ich Furcht empfunden als nur in diesem einen Falle. Weder vor diesem Geschehnis noch nachher habe ich mich je vor irgend etwas gefürchtet. Besonders wenig bangte mich vor Sibirien, obwohl ich wiederholt Dinge beging, für die ich sehr wohl hätte verschickt werden können. Aber diesmal war ich wirklich erschrocken und empfand, ich weiß nicht warum, zum erstenmal in meinem Leben wirkliche Angst, – eine sehr peinliche Empfindung. Außerdem begann ich Matrioscha abends, als ich in meiner Pension war, so sehr zu hassen, daß ich beschloß, sie umzubringen. Der stärkste Haß entsprang meiner Erinnerung an ihr Lächeln. Es wuchs in mir eine Verachtung, gepaart mit einem maßlosen Ekel gegen sie deshalb, weil sie, nachdem alles zu Ende war, sich in dem Winkel verkrochen und sich das Gesicht mit beiden Händen bedeckt hatte; eine unbeschreibliche Raserei bemächtigte sich meiner, dann folgte ein Schüttelfrost. Als ich aber gegen Morgen zu fiebern begann, übermannte mich wieder eine Furcht, die aber diesmal so heftig war, daß ich in meinem Leben keine stärkere Qual durchgemacht habe. Aber ich haßte das Mädchen bereits nicht mehr; wenigstens steigerte sich dieses Gefühl nicht mehr zu einem solchen rasenden Anfall wie gestern. Ich machte die Beobachtung, daß eine heftige Angst sowohl den Haß als auch die Rachsucht vollkommen verdrängt.
Ich erwachte gegen Mittag, ganz gesund und wunderte mich sogar über die Stärke meiner gestrigen Empfindungen. – Indessen war ich immer noch in schlechter Stimmung und fühlte mich trotz des Widerwillens wieder genötigt, in die Gorochowaja zu gehen. Ich erinnere mich, daß ich damals den heftigen Wunsch gehabt habe, unterwegs mit irgend jemand, ganz gleich mit wem, in einen Streit zu geraten, aber nur in einen ernsten. Als ich jedoch in das Haus in der Gorochowaja kam, fand ich bei mir im Zimmer Nina Saweljewna, eben jene Zofe, die mich bereits seit einer Stunde erwartete. Ich habe dieses Mädchen gar nicht geliebt, so daß sie selbst ein bißchen Angst hatte, ob ich ihr wegen des ungebetenen Besuchs nicht böse sein würde. Aber bei ihrem Anblick empfand ich Freude. Sie war ganz niedlich, bescheiden und hatte Manieren, wie sie bei den Leuten aus dem Kleinbürgerstande beliebt sind, so daß meine Wirtin sich mir gegenüber in Lobreden über diese Nina erging. Ich fand sie beide beim Kaffeetrinken, und meine Wirtin war außerordentlich vergnügt, da sie nun eine angenehme Unterhaltung hatte. In einer Ecke des Zimmerchens bemerkte ich Matrioscha. Als ich eintrat, versteckte sie sich nicht wie gestern und ging auch nicht fort. Ich hatte nur den Eindruck, als ob sie magerer geworden sei und Fieber habe. Ich war nett zu Nina, liebkoste sie und schloß sogar die Tür zum Zimmer der Wirtsleute, was ich schon seit langem nicht getan hatte, so daß Nina in denkbar bester Stimmung von mir fortging. Ich begleitete sie selbst aus dem Hause und kehrte zwei Tage lang nicht in die Gorochowaja zurück. Ich war des Ganzen bereits überdrüssig geworden. Ich beschloß, allem ein Ende zu machen, das Zimmer aufzugeben und Petersburg überhaupt zu verlassen.
Als ich aber kam, um das Zimmer zu kündigen, fand ich die Wirtin in großer Angst und Unruhe vor: Matrioscha war schon den dritten Tag krank, hatte jede Nacht hohe Temperatur und redete dann im Fieber. Ich fragte sie natürlich sofort, was denn Matrioscha eigentlich dabei sage (wir sprachen in meinem Zimmer im Flüsterton), und die Wirtin flüsterte mir zu, daß die Kleine ›ganz schreckliches Zeug‹ zusammenphantasiere und behaupte, sie hätte ›Gott getötet‹. Ich schlug ihr vor, auf meine Kosten einen Arzt holen zu lassen, aber sie wollte es nicht. ›Mit Gottes Hilfe wird alles auch so vorübergehen,‹ sagte sie, ›sie liegt ja nicht immer, am Tage geht sie ja aus, sie ist soeben auch beim Kaufmann gewesen.‹ Ich beschloß, mit Matrioscha unter vier Augen zusammenzukommen, und da mir die Wirtin im Laufe des Gespräches zufällig mitgeteilt hatte, daß sie gegen fünf Uhr einen Gang nach der Petersburger Seite besorgen müßte, so nahm ich mir vor, abends zurückzukommen.
Zu Mittag aß ich in einem Restaurant. Punkt ein Viertel nach fünf war ich wieder in der Gorochowaja. Ich öffnete die Wohnung stets mit meinem eigenen Schlüssel. Außer Matrioscha war kein Mensch da. Sie lag in dem kleinen Zimmerchen hinter dem Wandschirm auf dem Bette ihrer Mutter und ich sah, wie sie bei meinem Eintritt herausguckte; aber ich tat so, als ob ich nichts bemerkt hätte. Alle Fenster waren geöffnet. Die Luft war warm, und es herrschte sogar Schwüle. Eine Weile ging ich im Zimmer auf und ab und setzte mich dann auf das Sofa. Ich erinnere mich an alles, vom Anfang an bis zum letzten Augenblick. Es machte mir entschieden Vergnügen, Matrioscha nicht anzusprechen und sie auf diese Weise zu peinigen. Ich weiß selbst nicht, wie dieses Gefühl in mir entstand. So wartete ich eine ganze Stunde, und plötzlich sprang sie selbst hinter dem Wandschirm hervor. Ich hörte, wie ihre beiden Füße auf den Boden anstießen, als sie vom Bett herunterglitt, dann vernahm ich ziemlich hastige Schritte und schon war sie an der Schwelle meines Zimmers. Sie stand da und sah mich schweigend an. Ich war so gemein, daß mir das Herz vor Freude zusammenzuckte, vor Freude darüber, daß ich so fest geblieben war und abgewartet hatte, bis sie als erste zu mir kam. In diesen Tagen, in deren Verlauf ich sie seit jener Zeit nie in der Nähe gesehen hatte, war sie wirklich entsetzlich abgemagert. Ihr Gesicht sah förmlich ausgetrocknet aus, und ihr Kopf mußte wohl bestimmt sehr heiß gewesen sein.
Ihre Augen waren groß geworden. Sie richtete sie starr auf mich und, wie mir anfangs schien, mit einer stumpfen Neugier. Ich saß da, sah sie an und rührte mich nicht. Und da empfand ich mit einmal wieder den früheren Haß. Aber sehr bald fiel mir auf, daß sie sich vor mir gar nicht fürchtete, sondern wahrscheinlich im Fieberwahn war. Aber auch das stimmte nicht. Mit einemmal fing sie an, hastig mit dem Kopf zu nicken, wie es naive Menschen, die keine Manieren haben, tun, wenn sie einen Vorwurf machen wollen. Und dann hob sie plötzlich ihre kleine Faust in die Höhe und begann mir damit von der Schwelle aus zu drohen. Im ersten Augenblick erschien mir diese Bewegung lächerlich, aber bald konnte ich es nicht mehr ertragen. Auf ihrem Gesicht malte sich eine solche Verzweiflung, daß man sie in ihren kindlichen Zügen nicht mitanzusehen vermochte. Sie drohte mir immer noch mit ihrem Fäustchen und nickte vorwurfsvoll mit dem Kopf. Ich stand auf, näherte mich ihr erschrocken, versuchte ihr vorsichtig, leise und möglichst freundlich zuzureden, sah aber bald ein, daß sie mich gar nicht verstehen würde. Dann bedeckte sie, wie damals, hastig mit beiden Händen ihr Gesichtchen, drehte mir den Rücken zu, ging zum Fenster und blieb dort stehen. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und setzte mich ebenfalls an das Fenster. Ich kann durchaus nicht verstehen, warum ich damals nicht fortgegangen, sondern geblieben war, wie wenn ich etwas abwarten wollte. Bald darauf vernahm ich wieder ihre eiligen Schritte; sie ging auf die aus Holz aufgebaute Galerie hinaus, von der aus die Treppe nach unten führte. Ich lief sofort zu meiner Tür, öffnete sie ein wenig und sah noch gerade, wie Matrioscha in eine winzige Rumpelkammer hineineilte, die etwas wie ein Hühnerstall war und sich dicht neben einem andern Ort befand. Ein ganz merkwürdiger Gedanke blitzte in meinem Kopf auf. Bis auf den heutigen Tag kann ich nicht begreifen, warum gerade dieser Gedanke mir als erster gekommen war; wahrscheinlich drängte das Ganze dahin. Ich machte die Tür wieder zu und setzte mich von neuem ans Fenster. Natürlich konnte ich der aufgetauchten Vermutung noch keinen Glauben schenken, – ›indessen aber ...‹ (Ich erinnere mich an alles und weiß noch, daß mein Herz sehr heftig schlug.)
Einen Augenblick später sah ich nach der Uhr und merkte mir möglichst genau die Zeit. Wozu ich sie so genau wissen wollte, vermag ich nicht zu sagen, aber ich war imstande, es zu tun und wollte in jenem Augenblick überhaupt nichts unbemerkt lassen, so daß ich mich an alles, was ich damals wahrgenommen habe, sehr gut erinnere und jede Einzelheit deutlich vor meinen inneren Augen sehe. Es war gegen Abend. Über mir summte eine Fliege und versuchte, sich immer wieder und wieder auf mein Gesicht zu setzen. Ich fing sie, hielt sie eine Weile in meinen Fingern und ließ sie durch das Fenster hinaus. Mit großem Gepolter fuhr unten in den Hof ein Wagen hinein. Sehr laut und seit langem schon sang in einer Ecke des Hofs am Fenster ein Handwerker. Es war ein Schneider. Er arbeitete gerade, und ich konnte ihn sehr gut sehen. Es kam mir in den Sinn, daß es wohl angesichts der Tatsache, daß mich, als ich hierher kam, durch den Torweg ging und die Treppe hinaufstieg, kein Mensch gesehen hatte, wohl besser wäre, wenn ich auch jetzt beim Fortgehen niemand begegnen würde, und ich rückte meinen Stuhl vorsichtig vom Fenster ab, damit mich keiner der Mieter bemerke. Dann nahm ich ein Buch, warf es aber wieder von mir und begann, eine winzige rote Spinne auf einem Geranienblatt zu betrachten. Dabei versank ich in Selbstvergessenheit. Ich erinnere mich an alles bis zum letzten Augenblick.
Plötzlich holte ich wieder die Uhr hervor. Seitdem Matrioscha fortgegangen war, waren bereits zwanzig Minuten vergangen. Die Vermutung nahm Formen der Wahrscheinlichkeit an. Aber ich beschloß, noch genau eine Viertelstunde lang zu warten. Mir kam auch der Gedanke in den Kopf, daß sie vielleicht schon längst zurückgekehrt sei und ich es nur überhört habe. Aber das konnte wohl kaum möglich gewesen sein: es herrschte eine Totenstille, und ich war imstande, das Summen jeder kleinsten Fliege zu hören. Plötzlich begann mein Herz wieder heftig zu klopfen. Ich holte von neuem die Uhr hervor. Es fehlten noch drei Minuten, ich hielt sie aber aus, obwohl mein Herz so schwer schlug, daß es mir Schmerzen verursachte. Dann stand ich auf, setzte meinen Hut auf, knöpfte den Mantel zu und sah mich im Zimmer um, um festzustellen, ob nicht Spuren meiner Anwesenheit hier geblieben waren. Den Stuhl stellte ich wieder näher an das Fenster heran und brachte ihn in dieselbe Lage wie vorhin. Dann machte ich schließlich leise die Tür auf, schloß sie wieder mit meinem Schlüssel und ging zu der Rumpelkammer hin. Ich fand dort die Tür angelehnt, aber nicht zugeschlossen vor; ich wußte, daß man sie niemals zuschloß, wollte sie aber nicht aufmachen, hob mich statt dessen auf die Fußspitzen und begann durch eine kleine Spalte hineinzugucken. In diesem Augenblick, als ich mich gerade auf die Zehen stellte, besann ich mich darauf, daß ich, als ich noch am Fenster saß und in die Betrachtung der kleinen, roten Spinne versank, daran gedacht habe, wie ich mich auf die Fußspitzen erheben und so mit den Augen die Spalte erreichen würde. Ich schalte diese Details nur deshalb ein, weil ich unbedingt beweisen will, in wie vollem Maße ich meine geistigen Fähigkeiten beherrscht habe, und wie sehr ich für alles verantwortlich bin. Lange blickte ich durch den Spalt, denn in der Rumpelkammer war es ziemlich dunkel, jedoch nicht allzusehr, so daß ich schließlich sehen konnte, was ich erblicken wollte ...
Und dann entschloß ich mich endlich fortzugehen. Auf der Treppe begegnete ich keinem Menschen. Etwa drei Stunden später tranken wir alle in Hemdsärmeln Tee in der Pension und spielten mit alten Karten, Lebiadkin aber las uns Verse vor. Es wurde sehr viel erzählt, und alles klang diesmal, wie wenn eine besondere Absicht des Schicksals dahinter verborgen wäre, geistreich und gelungen, während es sonst bei uns immer sehr dumm zuging. Auch Kirillow war damals dabei. Keiner trank, obwohl auf dem Tisch eine Flasche mit Rum stand, und nur Lebiadkin nahm von Zeit zu Zeit ein Schlückchen.
Prochor Malow sagte: ›Wenn Nikolaj Wsewolodowitsch vergnügt ist und nicht Trübsinn bläst, dann sind alle Unsrigen ebenfalls heiter und reden ganz klug.‹ Ich habe mir diesen Ausspruch damals gemerkt und mußte wohl an jenem Abend heiter, vergnügt und durchaus nicht trübsinnig gewesen sein. Aber das war ich nur äußerlich. Ich erinnere mich indessen, sehr wohl gewußt zu haben, daß ich ein gemeiner und niederträchtiger Feigling sei, da ich mich so zu meiner Befreiung freute und fühlte, daß ich nie wieder edel sein werde, weder hier, noch nach dem Tode, niemals. Und noch eins: an mir bewahrheitete sich in jenem Augenblick das jüdische Sprichwort: ›Das Eigene ist wohl schlecht, aber es schlägt nicht in die Nase‹. Denn obwohl ich sehr gut wußte, daß ich ein Lump sei, schämte ich mich dessen durchaus nicht und machte überhaupt keine nennenswerte Qual durch. Damals, als ich mit ihnen beim Teetrinken saß und über irgend etwas plauderte, formulierte ich für mich zum erstenmal im Leben streng, daß ich weder Gut noch Böse erkenne und es gar nicht empfinde und daß ich nicht nur dieser Empfindung verlustig gegangen sei, sondern daß es überhaupt kein Gut und Böse gebe und alles nur ein Vorurteil sei (was mir sehr angenehm war). Ich stellte für mich klar und deutlich fest, daß ich mich sehr wohl von jedem Vorurteil freimachen könnte, daß ich aber nach der Erlangung dieser Freiheit unfehlbar verloren sein würde. Es war zum erstenmal, da ich das alles so klar erkannte und in eine Formel zusammenfaßte, und es geschah gerade damals beim Teetrinken, als ich mit meinen Kumpanen plauderte und über etwas, ich weiß selbst nicht mehr worüber, lachte. Dagegen erinnere ich mich an alle Vorgänge in mir sehr gut. Alte, allen längst bekannte Gedanken erscheinen einem mitunter plötzlich wie ganz neu, sogar nachdem man sie eigentlich schon seit fünfzig Jahren kennt.
Dafür aber war ich auch die ganze Zeit über wie in Erwartung irgendeines Ereignisses. Dieses Gefühl hatte mich nicht getäuscht: als es schon beinah elf Uhr abends wurde, kam zu mir das kleine Töchterchen des Pförtners aus dem Hause in der Gorochowaja gelaufen und brachte mir die Mitteilung meiner dortigen Wirtin, daß Matrioscha sich aufgehängt hatte. Ich begab mich mit dem Mädchen dahin und sah bald ein, daß die Wirtin selbst nicht wußte, weshalb sie nach mir gesandt hatte; sie jammerte, heulte und rang mit sich. Es waren da sehr viele Menschen und auch Polizisten. Ich hielt mich dort nicht lange auf und ging bald wieder fort.
Man belästigte mich die ganze Zeit über fast gar nicht, hatte aber übrigens die notwendigen Fragen auch mir vorgelegt. Aber ich beschränkte meine Aussagen nur darauf, daß das Mädchen krank gewesen sei und oft im Fieber phantasiert habe, so daß ich der Wirtin sogar den Vorschlag gemacht hatte, einen Arzt auf meine Kosten zu holen. Man fragte mich auch etwas über mein Taschenmesser, und ich erzählte, daß die Wirtin ihre Tochter deswegen mit Ruten gezüchtigt hätte, aber daß es gar nicht so schlimm gewesen sei. Aber kein Mensch wußte, daß ich abends in der Wohnung gewesen war.
Etwa eine Woche lang betrat ich dieses Haus nicht mehr. Dann kam ich hin, als Matrioscha schon längst begraben war, um mein Zimmer aufzugeben. Die Wirtin weinte immer noch, obwohl sie sich schon nach früherer Art mit ihren Stofffetzen und ihrem Genähe beschäftigte. ›Ich habe ihr damals Ihres Messers wegen ein Unrecht angetan‹, sagte sie mir, aber ohne den geringsten Vorwurf. Ich rechnete mit ihr ab und löste das Mietsverhältnis unter dem Vorwand, daß ich doch keineswegs mehr hierbleiben und in einer solchen Wohnung Nina Saweljewna empfangen könnte. Zum Abschied erging sie sich noch einmal in Lobreden über diese Nina Saweljewna. Beim Fortgehen legte ich ihr zu der Summe, die ich ihr für die Wohnung schuldig war, noch fünf Rubel als Geschenk hinzu.
Vor allen Dingen langweilte mich das Leben so sehr, daß ich fast närrisch wurde. Ich würde diese Begebenheit in der Gorochowajastraße, nachdem nun die Gefahr einmal geschwunden war, wahrscheinlich gänzlich vergessen haben, wie alles, was mit jener Periode meines Lebens zusammenhing, wenn ich mich nicht eine Zeitlang mit Wut daran erinnert hätte, wie ich dabei in Angst geriet.
Ich ließ meinen Zorn und meine Wut an jedem aus, an dem ich sie auslassen konnte. Und zu jener Zeit kam mir, aber durchaus nicht durch irgend etwas begründet, der Gedanke, mein Leben irgendwie zu verstümmeln, aber nur in einer möglichst widerlichen Weise. Schon ein Jahr vorher dachte ich daran, mich zu erschießen; nun bot sich plötzlich etwas Besseres.
Einmal, als ich mir die lahme Maria Timofejewna Lebiadkina ansah, die in der Pension zum Teil auch Aufwartedienste verrichtete und damals noch nicht wahnsinnig, sondern einfach eine exaltierte und schwärmerische Idiotin und insgeheim sinnlos in mich verliebt war (was die Unsrigen in Erfahrung gebracht hatten), bei ihrem Anblick beschloß ich plötzlich, sie zu heiraten. Der Gedanke an die eheliche Verbindung Stawrogins mit einem so unermeßlich tiefstehenden Geschöpf kitzelte meine Nerven. Etwas Sinnloseres und Garstigeres ließ sich gar nicht vorstellen. Aber jedenfalls heiratete ich sie nicht nur wegen ›einer Weinwette nach einem Essen, bei dem viel getrunken wurde‹. Die Trauzeugen waren Kirillow und Piotr Werchowenskij, der sich damals gerade zufälligerweise in Petersburg aufhielt, und außer diesen beiden endlich noch Lebiadkin selbst und Prochor Malow, der jetzt schon tot ist. Sonst hatte niemand etwas davon erfahren, die genannten vier Männer aber gaben ihr Wort, zu schweigen. Dieses Schweigen faßte ich stets als etwas Ekelhaftes auf, aber bisher hat es noch kein Mensch gebrochen, obwohl ich schon den Wunsch hatte, alles öffentlich bekanntzugeben; jetzt tue ich es, ohne selbst dabei zu sein.
Nach der Trauung begab ich mich damals in die Provinz zu meiner Mutter. Ich machte die Reise, um mich zu zerstreuen. In unserer Stadt hinterließ ich die Ansicht, daß ich ein Verrückter sei, eine Ansicht, die bis jetzt noch nicht verschwunden und für mich ohne Zweifel von Schaden ist, was ich noch im folgenden erklären werde. Dann reiste ich ins Ausland und verbrachte dort vier Jahre.
Ich war im Orient, habe auf dem Berg Athos acht Stunden lang währenden Abendmessen ohne Unterbrechung stehend beigewohnt, war in Ägypten, lebte in der Schweiz und habe sogar Island aufgesucht; außerdem habe ich ein ganzes Jahr lang in Göttingen Universitätsvorlesungen gehört. Im letzten Jahr meines Aufenthalts im Ausland befreundete ich mich mit einer vornehmen russischen Familie, die in Paris lebte, und außerdem noch mit zwei russischen jungen Damen in der Schweiz. Vor etwa zwei Jahren bemerkte ich, als ich einmal in Frankfurt an einer Papierwarenhandlung vorbeiging, im Schaufenster unter den feilgehaltenen Photographien das Bildnis eines kleinen Mädchens, das sehr elegant gekleidet war und eine außerordentlich starke Ähnlichkeit mit Matrioscha aufwies. Sofort kaufte ich mir das Bildchen und legte es, als ich ins Hotel kam, auf den Kamin. Hier lag es so eine Woche lang unberührt; ich habe es nicht ein einziges Mal angesehen und bei meiner Abreise aus Frankfurt vergaß ich es mitzunehmen.
Ich zeichne das absichtlich auf, um zu zeigen, in wie hohem Maße ich meine Erinnerungen beherrschen konnte und wie sehr meine Gefühle ihnen gegenüber abgestumpft waren. Ich stieß sie von mir alle zusammen in ihrer Gesamtheit, und ihre ganze Masse verschwand gehorsam jedesmal, wenn ich es wollte. Es war mir immer langweilig, mich an Vergangenes zu erinnern, und niemals war ich imstande, über die Vergangenheit zu sprechen, wie es fast alle tun, um so mehr, als mir diese meine Vergangenheit, wie überhaupt alles, was mit mir zusammenhing, verhaßt war. Was aber Matrioscha anbetrifft, so hatte ich sogar ihr Bildnis am Kamin vergessen. Im Frühling vorigen Jahres reiste ich durch Deutschland, fuhr in meiner Zerstreutheit über die Station hinaus, an der ich hätte umsteigen sollen, und geriet dadurch auf eine ganz andere Bahnstrecke. Man setzte mich an der nächsten Haltestelle aus; es war in der dritten Nachmittagstunde eines klaren Tages. Ich befand mich in einem winzigen deutschen Städtchen. Man zeigte mir ein Gasthaus. Ich mußte warten. Der nächste Zug kam um elf Uhr nachts. Ich war mit dem Abenteuer sogar sehr zufrieden, denn ich hatte es gar nicht eilig. Das Gasthaus war sehr schlecht und klein, lag aber ganz im Grünen und war ringsherum von Blumenbeeten umgeben. Man wies mir ein enges Zimmerchen an. Ich aß sehr gut, und da ich die ganze vorige Nacht im Zuge verbracht hatte, so schlief ich gegen vier Uhr mittags sehr schön und fest ein.
Ich hatte einen Traum, der für mich ganz überraschend war, da ich noch nie zuvor einen ähnlichen gehabt hatte. In der Dresdener Galerie hängt ein Bild von Claude le Lorrain, das dem Katalog zufolge, glaube ich, ›Acis und Galatea‹ heißt, das ich aber stets, ich weiß selbst nicht warum, ›Das goldne Zeitalter‹ nannte. Ich habe dieses Gemälde schon früher gesehen, jetzt aber wieder bemerkt, als ich vor etwa drei Tagen Dresden auf der Durchreise streifte. Ich bin absichtlich in die Galerie gegangen, um mir dieses Kunstwerk anzusehen, und vielleicht bin ich überhaupt nur dessentwegen nach Dresden gekommen. Von diesem Bild träumte ich also nun, aber nicht wie von einem Gemälde, sondern so, wie wenn das alles Wirklichkeit wäre.
Es ist ein Stückchen Land im griechischen Archipel; die blauen, freundlichen Wellen, die Inseln und Felsenklippen, der blühende Küstenstrich, der herrliche sich in der Ferne bietende Rundblick, die untergehende Sonne, – alles das ist mit Worten nicht wiederzugeben. An dieses Fleckchen Welt denkt die europäische Menschheit als an ihre Wiege zurück, hier spielten sich die ersten Szenen aus der Mythologie ab, hier war das irdische Paradies Europas ... Hier lebten herrliche Menschen. Glücklich und unschuldig waren sie beim Erwachen sowie beim Einschlafen; ihre Haine waren von frohen Liedern erfüllt und der große Überfluß unangebrochener Kräfte ging in Liebe über und in naive Freude. Die Sonne überstrahlte mit ihrem Licht diese Inseln und das Meer und freute sich über ihre herrlichen Kinder. Ein wunderbarer Traum, ein erhabener Irrtum! Eine Illusion, unwahrscheinlicher als alle dagewesenen, der die Menschheit indessen seit Anbeginn ihrer Tage alle Kräfte gegeben und alles geopfert hat, ein Wahn, um dessentwillen die Propheten dieser Menschheit an Kreuzen starben und getötet wurden, ein Zukunftsbild, ohne das die Völker keine Lust zum Leben hätten und nicht einmal sterben könnten. In dem Traum, den ich nun hatte, machte ich gleichsam diese ganze Skala der Empfindungen durch; ich weiß nicht, was ich eigentlich geträumt habe, aber die Felsenklippen und das Meer und die untergehende Sonne glaubte ich noch zu sehen, als ich beim Erwachen die Augen auftat, die zum erstenmal in meinem Leben buchstäblich mit Tränen benetzt waren. Ein Gefühl des Glücks, wie es mir noch ganz unbekannt war, durchdrang mein Herz so stark, daß es mich sogar schmerzte. Es war schon voller Abend; durch das Fenster meines kleinen Zimmers und durch das Grün der am Fensterbrett stehenden Blumen drang ein ganzes Bündel greller, schräger Strahlen der untergehenden Sonne hinein und begoß mich mit Licht. Ich schloß hastig wieder die Augen, wie wenn ich den beendeten Traum von neuem zurückrufen wollte, und da erblickte ich mitten im grellen – grellen Licht irgendein ganz winziges Pünktchen. Dieses Pünktchen begann plötzlich Formen anzunehmen und auf einmal war es mir, als sei es jene kleine, rote Spinne. Im Nu erinnerte ich mich an sie, wie sie damals am Blatt des Geraniums saß, als sich wie jetzt die Strahlen der untergehenden Sonne durch das Fenster ergossen. Es war mir, als hätte ich einen Stich ins Herz erhalten, ich richtete mich auf und setzte mich aufs Bett ...
(Hier ist alles, wie es damals vor sich ging!)
Ich erblickte vor mir (oh, nicht in Wirklichkeit! Ja, wenn das eine wirkliche Vision gewesen wäre!), ich erblickte also Matrioscha! Sie war abgemagert und hatte fieberhaft glänzende Augen, wie damals, als sie an meiner Türschwelle stand, mir mit dem Kopf nickte und ihr winziges Fäustchen gegen mich erhob. Und nie kam mir etwas wieder so qualvoll vor! Ich sah die jämmerliche Verzweiflung eines hilflosen Geschöpfes mit einem noch nicht entwickelten Verstand, das mir drohte (womit? O Gott! Was konnte sie mir schon antun?), und doch natürlich nur sich selbst beschuldigte! Noch nie war mit mir etwas Ähnliches geschehen. Unbeweglich saß ich so bis in die Nacht hinein und hatte ganz die Zeit vergessen. Ob gerade das als Gewissensbisse und Reue bezeichnet wird, weiß ich nicht und könnte es auch heute noch nicht sagen. Aber unerträglich war mir allein diese Gestalt, und zwar gerade so, wie sie auf der Schwelle mit ihrem erhobenen und mir drohenden winzigen Fäustchen stand, nur dieses ihr damaliges Aussehen, nur jene Minute, nur dieses Nicken mit dem Kopf. Das war es, was ich nicht zu ertragen vermochte, denn seitdem habe ich diese Vision fast jeden Tag. Nicht von allein kommt sie, sondern ich rufe sie selbst herbei und vermag es nicht zu unterlassen, obwohl ich so nicht weiterleben kann. Oh, wenn ich sie einmal nur wirklich erblicken könnte, wenn auch nur in einer Halluzination!
Aber weshalb erregt sonst keine einzige meiner anderen Erinnerungen in mir etwas Ähnliches, obwohl unter diesen Erinnerungen manch eine ist, die von den Menschen als weit schlimmer befunden worden wäre? Alles Sonstige, worauf ich mich besinne, weckt in mir nur Haß, und auch das ist nur infolge meiner jetzigen Lage möglich geworden, während ich früher alles ganz kaltblütig vergaß und von mir wies.
Nach der ersten Vision irrte ich fast dieses ganze letzte Jahr umher und suchte mich mit irgendeiner Beschäftigung abzugeben. Ich weiß, daß ich Matrioscha auch jetzt ins Nichts zurückstoßen könnte, sobald in mir der Wunsch dazu auftaucht. (Ich beherrsche meinen Willen noch genau so vollkommen wie früher.) Aber das ist es ja eben, daß ich niemals gewollt habe, es jetzt nicht will, und es niemals wollen werde. Und so wird es fortgehen, bis ich einmal wahnsinnig werde.
Zwei Monate darauf hatte ich in der Schweiz einen ähnlichen Ansturm der Leidenschaft erlebt, begleitet von ebenso rasenden Ausbrüchen wie sie nur früher einmal vorkamen. Über mich kam die schreckliche Versuchung, ein neues Verbrechen auf mich zu laden, und zwar das der Doppelehe (denn ich bin schon einmal verheiratet); aber ich flüchtete auf den Rat eines anderen Mädchens hin, dem ich fast alles eröffnet hatte und sogar offen sagte, daß ich das Fräulein, das ich so besitzen wollte, gar nicht liebte und niemals imstande sein würde, sie zu lieben. – Außerdem hätte mich dieses neue Verbrechen keineswegs von Matrioscha befreit.
So beschloß ich denn, diese Blättchen vervielfältigen zu lassen und sie in einer Anzahl von dreihundert Exemplaren nach Rußland mitzubringen; sobald es an der Zeit sein wird, werde ich sie der Polizei und den örtlichen Behörden übermitteln; gleichzeitig will ich sie einer großen Anzahl von Menschen, die mich in Rußland und in Petersburg kennen, zuschicken, und außerdem noch den Redaktionen sämtlicher Zeitungen, und zwar mit der Bitte um Veröffentlichung. Genau so werden sie übersetzt auch im Ausland erscheinen. Ich weiß, daß ich von Seiten der Gerichte vielleicht keine Belästigungen erfahren werde oder jedenfalls keine nennenswerten. Ich selbst zeige mich an und habe keinen Ankläger; außerdem könnte ich keine, oder nur sehr wenige Beweise anführen. Und schließlich werden einerseits die fest eingewurzelte Idee, die mich wahnsinnig spricht, und andererseits die Bemühungen meiner Verwandten, die diese Idee zweifelsohne ins Treffen führen werden, jede für mich gefährlich sein könnende gerichtliche Verfolgung im Keime ersticken. Das erkläre ich hier unter anderem nur, um zu beweisen, daß ich jetzt vollkommen bei Verstande bin und meine Lage klar übersehe. Es werden aber für mich diejenigen bleiben, die alles wissen und mich ansehen werden und vor denen auch ich nicht die Augen senken will. Ich möchte, daß alle ihre Blicke auf mich richten. Ob mir das eine Erleichterung bringen wird, weiß ich nicht. Aber ich greife dazu als zum letzten Mittel.
Noch einmal: wenn man sich Mühe gibt, bei der Petersburger Polizei wirklich gut nachzuforschen, so wird man wohl alles finden. Die Kleinbürger wohnen auch jetzt noch vielleicht in Petersburg. An das Haus wird man sich natürlich erinnern. Es war hellblau angestrichen. Ich aber werde nirgends hin reisen und will mich eine Zeitlang (ein Jahr oder zwei) immer auf dem Gute meiner Mutter, in Skworeschniki, aufhalten und sollte man mich vors Gericht fordern, so bin ich bereit, überall hinzukommen.
Nikolaj Stawrogin.«
3
Das Lesen dauerte fast eine Stunde. Tichon las langsam und sah vielleicht manche Stelle noch einmal durch. Während dieser ganzen Zeit saß Stawrogin still und bewegungslos da. Merkwürdigerweise war der Anflug von Ungeduld, Zerstreutheit und einem Etwas, was an Fieberwahn erinnerte, der an diesem ganzen Morgen in seinen Zügen lag, fast gänzlich verschwunden und wich einem Ausdruck der Ruhe und einer Art Treuherzigkeit, was ihm ein beinah würdevolles Aussehen verlieh. Tichon nahm die Brille ab, wartete ein Weilchen, richtete dann endlich seinen Blick auf den Gast und begann als erster mit einer gewissen Vorsicht:
»Könnte man in diesem Dokument vielleicht einige Veränderungen vornehmen?«
»Wozu? Ich habe alles ganz aufrichtig niedergeschrieben«, erwiderte Stawrogin.
»Ein wenig im Stil ...«
»Ich vergaß, Sie im voraus darauf aufmerksam zu machen,« unterbrach ihn Stawrogin hastig und schroff, indem er sich mit einem Ruck nach vorn beugte, »daß alle Ihre Worte umsonst sein werden; ich würde mein Vorhaben nicht aufschieben; bemühen Sie sich gar nicht, mir davon abzureden. Ich werde es veröffentlichen.«
»Sie haben nicht vergessen, mich schon vorhin vor dem Lesen darauf aufmerksam zu machen.«
»Einerlei«, fiel ihm Stawrogin wieder schroff ins Wort. »Ich wiederhole noch einmal: mag auch die Kraft Ihrer Argumente noch so groß sein, ich werde von meinem Vorhaben dennoch nicht lassen. Und merken Sie sich, daß ich durch diesen ungeschickten oder geschickten Satz (Sie können darüber denken, wie Sie wollen) durchaus nicht darauf dringe, daß Sie mir so schnell wie möglich Ihre Einwendungen vorbringen und mich zu Ihrer Ansicht zu bekehren versuchen.«
»Ihnen zu widersprechen und insbesondere Sie zu bitten, von Ihrem Vorhaben abzusehen, beabsichtige ich keineswegs und könnte es gar nicht. Ihr Gedanke ist ein großer Gedanke, und einen volleren Ausdruck kann die christliche Idee gar nicht finden. Über diese erstaunliche Heldentat hinaus, die Sie vorhaben, kann die Reue und Buße gar nicht gehen, wenn nur ...«
»Wenn nur was?«
»Wenn nur tatsächlich eine Reue vorliegen würde und ein wirklich christlicher Gedanke.«
»Ich habe ganz aufrichtig geschrieben.«
»Es ist, wie wenn Sie sich absichtlich roher darstellen wollten, als es Ihrem eigenen Herzen lieb ist ...« entgegnete Tichon, der immer mutiger und mutiger wurde. Wahrscheinlich hatte »das Dokument« auf ihn einen starken Eindruck gemacht.
»Darstellen? Ich wiederhole Ihnen noch einmal: ich habe nichts ›dargestellt‹ und habe vor allen Dingen keine ›Komödie gespielt‹!«
Tichon senkte hastig die Augen.
»Dieses Dokument entspringt direkt einem Bedürfnis des tödlich verwundeten Herzen, – verstehe ich das richtig?« sagte er mit Nachdruck und mit einem ungewöhnlichen Feuer. »Ja, Sie tun Buße, und natürlich ist es das Bedürfnis danach, das Sie übermannt hat, und Sie haben einen erhabenen Weg betreten, einen Weg von den Unerhörten. Aber es ist, wie wenn Sie jetzt schon alle diejenigen, die diese Blätter lesen werden, im voraus hassen und sie zum Kampf herausfordern. Wenn Sie sich nicht schämen, das Verbrechen einzugestehen, warum schämen Sie sich denn der Reue?«
»Ich schäme mich?«
»Ja, Sie schämen sich und fürchten sich.«
»Ich fürchte mich?«
»Tödlich. ›Mag man mich ansehen‹ sagen Sie; nun und Sie selbst, wie wollen Sie die Leute anblicken? Manche Stellen in diesen Blättern haben Sie durch den Stil hervorgehoben und verstärkt; es ist, wie wenn Sie an Ihrer eigenen Psychologie Wohlgefallen fänden und jede Kleinigkeit anpackten, um nur den Leser durch Gefühlslosigkeit in Erstaunen zu setzen, durch Gefühlslosigkeit, die gar nicht in Ihnen steckt. Was ist es denn sonst als eine stolze Herausforderung des Richters durch den Schuldigen?«
»Wo ist denn da eine Herausforderung? Ich habe doch jede persönliche Betrachtung und Beurteilung ausgeschaltet.«
Tichon schwieg nachsichtig. Auf seine blassen Wangen trat sogar Farbe.
»Lassen wir das«, schloß Stawrogin im festen Ton. »Gestatten Sie nur, daß ich Ihnen meinerseits eine Frage vorlege. Es sind nun schon fünf Minuten, seitdem wir nach diesem hier« (er wies mit einer Kopfbewegung auf die Blätter) »miteinander sprechen, und ich sehe auf Ihrem Gesicht immer noch nicht den leisesten Schimmer, weder von Ekel noch von Scham ... Sie scheinen nicht allzu empfindlich zu sein ...«
Er sprach nicht zu Ende.
»Ich will Ihnen nichts verheimlichen: mich entsetzte die große unverbrauchte Kraft, die vorsätzlich zur Anstellung von Abscheulichkeiten angewandt wurde. Was das Verbrechen selbst anbetrifft, so versündigen sich sehr viele Menschen auf dieselbe Weise und leben dann dennoch in Ruhe und in Frieden mit ihrem Gewissen und halten derartige Vorkommnisse sogar für unvermeidliche Fehltritte der Jugend. Es gibt auch Greise, die dieselbe Sünde begehen, und zwar aus Scherzlust, sogar mit Freude, denn sie gewährt ihnen Erquickung. Die ganze Welt ist voll von diesen Schrecknissen. Sie aber haben die ganze Tiefe empfunden, und dazu noch in einem solchen Maße, wie es nur äußerst selten vorkommt.«
»Sie haben mich nach diesen Blättern anscheinend zu achten begonnen?« fragte Stawrogin mit einem schiefen Lächeln.
»Eine direkte Antwort will ich Ihnen darauf nicht erteilen. Aber ein größeres und fürchterlicheres Verbrechen als das, was Sie an der Jungfrau begangen haben, gibt es natürlich nicht und kann es auch gar nicht geben.«
»Lassen wir das Gegenüberstellen und das Abmessen der Größe. Ich leide vielleicht gar nicht so heftig, wie ich es hier beschrieb und habe vielleicht wirklich manches über mich gelogen«, fügte er unerwarteterweise hinzu.
Zum zweitenmal gab ihm Tichon nachsichtsvoll keine Antwort.
»Und diese junge Dame,« begann dann der Bischof von neuem, »mit der Sie damals in der Schweiz gebrochen haben, wo befindet sie sich jetzt augenblicklich, wenn ich fragen darf?«
»Hier.«
Wieder folgte ein Schweigen.
»Ich habe Ihnen vielleicht sehr viel über mich vorgelogen«, widerholte Stawrogin noch einmal mit starkem Nachdruck. »Was ist denn übrigens dabei, daß ich die Mitmenschen durch die Grobheit meiner Beichte herausfordere, wenn Sie schon eine Herausforderung wahrgenommen haben. Ich werde die Leute nur zu einem größeren Haß gegen mich zwingen und nichts weiter. Das wird ja für mich nur eine Erleichterung sein.«
»Sie meinen, der Haß wird in Ihnen einen Gegenhaß hervorrufen, und es wird Ihnen, wenn Sie hassen, leichter sein, als wenn Sie von den Menschen bedauert werden.«
»Sie haben recht. Wissen Sie,« lachte er plötzlich auf, »man wird mich nach diesem Dokument vielleicht einen Jesuiten und einen betlustigen Frömmler nennen, hahaha! Nicht wahr?«
»Natürlich wird auch diese Meinung über Sie unbedingt auftauchen. Wollen Sie Ihr Vorhaben bald ausführen?«
»Heute, morgen, übermorgen, was weiß ich. Aber sehr bald. Sie haben recht: ich glaube, es wird gerade so kommen, und ich werde alles in einem Moment der Rachsucht und der Bosheit bekanntgeben, in einem Augenblick, wo ich sie alle am meisten hassen werde.«
»Antworten Sie mir auf eine Frage, aber aufrichtig, mir allein, nur mir allein,« sagte Tichon plötzlich mit einer ganz veränderten Stimme, »wenn Ihnen jemand dies da« (Tichon wies auf die Blätter) »verzeihen würde, und nicht etwa jemand, den Sie achten oder fürchten, sondern ein Unbekannter, ein Mensch, den Sie niemals näher kennenlernen werden, wenn so ein Mensch beim Lesen Ihrer schrecklichen Beichte Ihnen stillschweigend in seinem Innern verzeihen würde, wäre Ihnen der Gedanke daran eine Erleichterung oder nicht?«
»Doch,« erwiderte Stawrogin mit gedämpfter Stimme, »wenn Sie mir verziehen hätten, wäre es mir viel leichter«, fügte er hinzu und senkte die Augen zu Boden.
»Auf daß auch Sie mir verzeihen«, sagte Tichon mit einer von Glauben durchdrungenen Stimme.
»Das ist eine üble Demut. Wissen Sie, diese Redensarten der Mönche sind ganz und gar nicht geschmackvoll. Ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen: ich wünsche, daß Sie mir verzeihen. Und mit Ihnen vielleicht noch jemand und noch jemand, aber alle – alle sollen mich lieber hassen. Doch wünsche ich das nur, um es mit Demut zu ertragen ...«
»Und das allgemeine Mitleid, das allgemeine Bedauern konnten Sie wohl nicht mit derselben Demut über sich ergehen lassen?«
»Vielleicht könnte ich es auch nicht. Warum ...«
»Ich fühle, wie sehr offen Sie gegen mich sind. Es ist natürlich ein großer Mangel an mir, daß ich es nicht verstehe, an die Menschen heranzutreten. Ich habe darin immer einen großen Fehler von mir gesehen«, sagte Tichon offen und herzlich, indem er Stawrogin gerade in die Augen blickte. »Ich meinte das nur, weil ich in Angst um Sie bin«, fügte er hinzu. »Vor Ihnen ist ein fast unüberschreitbarer Abgrund.«
»Ich werde es nicht aushalten? Ich werde ihren Haß nicht ertragen können?« fuhr Stawrogin auf.
»Nicht nur allen ihren Haß.«
»Was denn noch?«
»Ihren Spott«, entfuhr es Tichon im Flüsterton, und es war, als hätte es ihm viel Mühe gekostet, diese Worte auszusprechen.
Stawrogin wurde verlegen; Unruhe malte sich in seinen Zügen.
»Ich habe es geahnt,« sagte er, »also komme ich Ihnen nach dem Lesen meines ›Dokuments‹ als eine sehr komische Person vor. Beunruhigen Sie sich nicht, werden Sie nicht verlegen, ich habe es erwartet.«
»Man wird allerorts entsetzt sein, und natürlich mehr zum Schein als in Wirklichkeit. Die Menschen erschrecken eigentlich nur davor, was ihren eigenen, persönlichen Interessen droht. Von den reinen Seelen rede ich nicht: diese werden sich im stillen entsetzen und sich selbst anklagen, aber sie werden unbemerkt bleiben, auch deshalb schon, weil sie schweigen werden. Das Lachen wird aber allgemein sein.«
»Ich wundere mich darüber, wie schlecht und verächtlich Sie über die Menschen denken«, erwiderte Stawrogin mit einiger Erbitterung.
»Können Sie mir wohl glauben, daß ich mehr nach mir als nach den Leuten urteilte!« rief Tichon.
»Tatsächlich? Ja, ist denn in Ihrer Seele nur irgend etwas, was Ihnen mein Unglück zur Freude macht?«
»Wer weiß, vielleicht liegt so etwas in mir? O, ja, das ist sehr leicht möglich!«
»Genug. Sagen Sie mir denn, wodurch ich in meinem Geständnis lächerlich erscheine? Ich selbst weiß es ganz genau und kenne die Stellen, möchte aber, daß Sie mir mit dem Finger darauf weisen. Und sagen Sie es mir möglichst zynisch. Sagen Sie es mir mit der ganzen Offenherzigkeit, zu der Sie fähig sind. Und nochmals wiederhole ich Ihnen, daß Sie ein furchtbarer Sonderling sind.«
»Selbst in der Form dieser großen und erhabenen Buße liegt etwas Lächerliches. Oh, zweifeln Sie nicht daran, daß Sie siegen werden!« rief er plötzlich wie in Ekstase. »Selbst diese Form wird siegen« (und er wies auf die Blätter), »wenn Sie nur aufrichtig das Ohrfeigen und Bespucken über sich ergehen lassen werden. Es ist schon immer so gewesen, daß das schmählichste Kreuz zur höchsten Glorie und zur größten Kraft wurde, wenn die Demut der Tat echt und aufrichtig war. Es ist sogar möglich, daß Sie schon bei Lebzeiten getröstet sein werden! ...«
»Also finden Sie vielleicht nur in der Form Lächerliches?« drängte Stawrogin.
»Auch im Inhalt. Die Häßlichkeit wird tödlich wirken«, flüsterte Tichon, indem er die Augen zu Boden senkte.
»Häßlichkeit! Was für eine Häßlichkeit?«
»Die des Verbrechens. Es gibt Verbrechen, die wahrlich unschön sind. Mag die Untat auch noch so groß sein, aber je mehr Blut vergossen und je mehr Entsetzen verbreitet wurde, um so eindrucksvoller und sozusagen malerischer ist sie; es gibt aber auch schmähliche, schandhafte Verbrechen, die gar nicht Entsetzen erregen und die sozusagen gar zu wenig geschmackvoll sind ...«
Tichon sprach nicht zu Ende.
»Das heißt,« fiel ihm Stawrogin in höchster Erregung ins Wort, »Sie finden mich außerordentlich lächerlich in dem Augenblick, wo ich dem schmutzigen Mädchen die Hände küßte ... Ich verstehe Sie sehr wohl, und Sie verzweifeln ja auch um mich gerade deshalb, weil das alles unschön und widerlich, nein, nicht eigentlich widerlich, sondern schmählich und lächerlich wirkt und Sie annehmen, daß ich gerade dies am wenigsten zu ertragen imstande sein werde.«
Tichon schwieg.
»Ich verstehe jetzt auch, warum Sie wissen wollten, ob jenes Fräulein aus der Schweiz jetzt hier ist.«
»Sie sind nicht vorbereitet, nicht abgehärtet,« flüsterte Tichon schüchtern und senkte wieder die Augen, »Sie sind entwurzelt, Sie glauben nicht.«
»Hören Sie, Vater Tichon: ich will mir selbst verzeihen, und das ist mein Hauptwunsch, mein ganzes Ziel!« sagte plötzlich Stawrogin mit einem düsteren Begeisterungsfeuer in den Augen. »Ich weiß, daß die Vision nur dann verschwinden wird, das ist es, warum ich maßloses Leid suche! Ich suche es selbst. Erschrecken Sie mich also nicht, sonst werde ich im Haß untergehen.«
Diese Offenherzigkeit war so unerwartet, daß Tichon aufstand.
»Wenn Sie glauben, dann können Sie sich selbst verzeihen und auf dieser Welt solche Verzeihung durch Leid erlangen; und wenn Sie sich ein solches Ziel mit Glauben stellen, dann glauben Sie ja schon an alles!« rief Tichon in Ekstase. »Weshalb sagten Sie mir denn, daß Sie an Gott nicht glauben?«
Stawrogin gab keine Antwort.
»Gott wird Ihnen Ihren Unglauben verzeihen, da Sie den Heiligen Geist verehren, ohne ihn zu kennen.«
»Wie ist es übrigens, wird mir auch Christus verzeihen?« fragte Stawrogin, indem er auf einmal den Ton änderte und den Mund zu einem schiefen Lächeln verzog. Es lag in der Frage eine leise Ironie.
»Es steht ja geschrieben: ›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen ...‹ das wissen Sie noch? Dem Evangelium zufolge gibt es kein größeres Verbrechen ...«
»Sie wollen einfach einen Skandal verhüten und stellen mir eine Falle, guter Vater Tichon,« murmelte Stawrogin geringschätzig und ärgerlich, indem er Anstalten machte aufzustehen, »kürzer gesagt, Sie wollen erreichen, daß ich gesetzt werde, mich vielleicht verheirate und mein Leben als Mitglied des hiesigen Klubs beschließe und jeden Sonntag Ihr Kloster besuche. Nun, eine kleine Kirchenbuße! Nicht wahr? Übrigens fühlen Sie als Menschenkenner vielleicht schon im voraus, daß alles genau so ablaufen wird und daß es sich augenblicklich nur darum handelt, mich ein wenig weicher zu machen und des Anstandes halber zu bearbeiten, da ich doch selbst mich nur danach sehne, nicht wahr?«
Und er lächelte ein gekünsteltes, verzerrtes Lächeln.
»Nein, nicht diese Buße meine ich, ich habe für Sie eine andere in Bereitschaft!« fuhr Tichon fort, ohne dem Lachen und der Bemerkung Stawrogins die geringste Beachtung zu schenken. »Ich kenne einen Mönch, der wohnt nicht hier, aber nicht weit von hier, er ist ein Einsiedler und Asket und von solcher christlichen Weisheit erfüllt, wie wir beide ihr gar nicht gewachsen sind. Er wird meine Bitte erhören. Ich werde ihm alles über Sie sagen. Gehen Sie und übernehmen Sie bei ihm zur Buße und aus Demut den Dienst für anfangs fünf oder sieben Jahre oder für solange, wie Sie es später für nötig halten werden. Geben Sie sich ein Gelübde, und dann werden Sie durch dieses große Opfer alles abbüßen, was Sie wollen und selbst das, was Sie gar nicht erwarten, erreichen, denn Sie können es gar nicht ahnen, wie sehr Ihnen das gelohnt werden wird.«
Stawrogin hatte ihn ernst angehört.
»Sie schlagen mir vor, als Mönch in jenes Kloster einzutreten?«
»Sie brauchen gar nicht im Kloster zu leben, Sie brauchen gar nicht Mönch zu werden, seien Sie nur sein Diener aus Demut, heimlich, nicht öffentlich; Sie können es auch so machen, daß Sie sonst ganz in der Welt leben ...«
»Lassen Sie das, Vater Tichon«, unterbrach ihn Stawrogin mit Widerwillen und stand von seinem Stuhl auf. Tichon tat desgleichen.
»Was ist Ihnen?« rief Stawrogin plötzlich und bohrte erschrocken seinen forschenden Blick in Tichons Gesicht. Dieser stand vor ihm, hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet und krankhafte Zuckungen liefen einen Moment über sein Gesicht, wie wenn er einen außerordentlich heftigen Schreck bekommen hätte.
»Was ist Ihnen? Was ist Ihnen?« wiederholte Stawrogin und stürzte zu ihm, um ihn zu stützen. Es schien ihm, daß der Bischof gleich umfallen würde.
»Ich sehe ... ich sehe, so klar und deutlich,« rief Tichon mit einer in die Seele dringenden Stimme, in der eine außerordentlich tiefe Trauer klang, »daß Sie, Sie armer, verlorener, junger Mann noch nie, noch nie so nah vor einem neuen und noch weit schwereren Verbrechen gestanden haben, wie jetzt in diesem Augenblick.«
»Beruhigen Sie sich!« bat Stawrogin, der um ihn in ernster Sorge war. »Ich werde es vielleicht noch aufschieben ... Sie haben recht ...«
»Nein, nicht nach der Bekanntmachung, sondern noch vorher, noch einen Tag, vielleicht noch eine Stunde vor dem großen Schritt werden Sie sich auf ein neues Verbrechen stürzen wie auf einen Ausweg und werden es begehen, einzig und allein, um die Veröffentlichung dieser Blätter zu vermeiden.«
Der Zorn stieg in Stawrogin so stark auf, daß er sogar zu zittern begann. Und vielleicht hatte ihn auch neben dem Zorn noch ein heftiger Schreck übermannt.
»Verfluchter Psychologe!« rief er plötzlich, in seiner Wut das Gespräch abbrechend, und ging, ohne sich umzusehen, aus der Zelle hinaus.