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Schluss
Alle begangenen Ungebührlichkeiten und Verbrechen fanden mit außerordentlicher Schnelligkeit ihre Aufklärung, weit schneller, als es Piotr Stepanowitsch vermutet hatte. Es begann damit, daß die unglückliche Maria Ignatjewna in der Nacht der Ermordung ihres Mannes kurz vor Tagesgrauen aufwachte, ihn vermißte und, als sie ihn nicht neben sich bemerkte, in unbeschreibliche Aufregung geriet. Es übernachtete mit ihr zusammen damals die von Arina Prochorowna gemietete Wärterin. Diese konnte sie gar nicht beruhigen und lief fort, sobald es hell wurde, um Arina Prochorowna selbst zu holen, nachdem sie der Kranken versichert hatte, daß diese bestimmt wisse, wo ihr Mann sei und wann er zurückkehren werde. Indessen befand sich Arina Prochorowna ebenfalls in Sorge. Sie wußte schon von ihrem Mann von der nächtlichen Heldentat in Skworeschniki. Es war schon gegen elf Uhr, als er nach Hause zurückkehrte. Er befand sich in einem ganz schrecklichen Zustande und sah auch ganz unbeschreiblich aus. Händeringend warf er sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und sagte, von krampfhaftem Schluchzen erschüttert immer wieder und wieder: »Nein, das war ja grundfalsch, das war ja grundfalsch.« Natürlich endete die Sache damit, daß er Arina Prochorowna, die ihm nun mit Fragen zuzusetzen begann, alles gestand (übrigens nur ihr und sonst keinem Menschen im ganzen Hause). Sie ließ ihn allein im Bett liegen und schärfte ihm ein, daß er, »wenn er plärren wolle, das Gesicht in das Kissen drücken solle, damit es die andern nicht zu hören bekämen, und daß er ein Narr sei, wenn er sich morgen etwas anmerken lassen würde«. Sie selbst aber wurde trotzdem sehr nachdenklich und begann im Hause für jeden Fall alles bereitzumachen. Sie vernichtete oder versteckte sehr gut alle überflüssigen und anstößigen Papiere und Bücher und vielleicht sogar Flugblätter. Während sie das tat, kam sie allmählich zu der Ansicht, daß ihr, ihrer Schwester, ihrer Tante sowohl als auch der Studentin und vielleicht auch ihrem Brüderchen eigentlich gar keine Gefahr drohe. Und als die Wärterin am Morgen zu ihr gelaufen kam, um sie zu holen, da begab sie sich, ohne sich lange zu besinnen, zu Maria Ignatjewna. Sie wollte übrigens auch sobald wie möglich feststellen, ob es wirklich wahr sei, was ihr gestern ihr Mann, sinnlos vor Angst und beinah fieberhaft phantasierend über Piotr Stepanowitschs im Interesse der gemeinsamen Sache auf Kirillow aufgebaute Spekulation erzählt hatte.
Aber sie kam zu Maria Ignatjewna bereits zu spät: nachdem diese die Wärterin fortgeschickt hatte und allein geblieben war, hatte sie es im Bett nicht mehr aushalten können, sich etwas von den Kleidungsstücken, nämlich das, was ihr gerade unter die Hand kam, angezogen (soviel ich weiß, etwas sehr Leichtes und für die Jahreszeit nicht Passendes) und war nun selbst in das Nebenhaus zu Kirillow gegangen, in der Ansicht, daß er vielleicht ihr am ehesten noch etwas über ihren Mann mitteilen könnte. Man kann sich leicht vorstellen, wie das, was sie dort erblickte, auf die Wöchnerin wirkte. Merkwürdig ist indessen, daß sie den von Kirillow kurz vor seinem Tode geschriebenen letzten Brief nicht gelesen hatte, denn er war ihr, obwohl er offen auf dem Tisch lag, in ihrem Schrecken natürlich überhaupt nicht aufgefallen. Sie lief in ihr Zimmer zurück, ergriff ihr Kind und eilte mit ihm aus dem Hause auf die Straße hinaus. Es war ein feuchter und nebliger Morgen. In einer solchen öden Straße traf sie selbstredend keinen Menschen. Atemlos lief sie durch den kalten, morastigen Schmutz immer weiter und weiter und begann schließlich an die Türen der Häuser zu klopfen. In einem Hause wurde ihr nicht aufgemacht; auch beim zweiten dauerte es ihr zu lange, so daß sie weiterlief und schließlich an einem dritten Hause zu pochen begann. Dort wohnte unser Kaufmann Titow. Hier rief sie einen großen Wirrwarr hervor, regte alle auf und jammerte und versicherte in unzusammenhängenden Worten, daß man »ihren Mann ermordet« habe. Die Titows kannten Schatow und auch einen Teil seiner Lebensgeschichte. Sie waren bestürzt und erschrocken, daß die Frau, die nach ihrer eigenen Angabe erst tags zuvor niedergekommen war, in solchem Anzuge und bei solcher Kälte auf den Straßen umherlief, mit dem kaum eingehüllten Neugeborenen auf dem Arme. Sie dachten anfangs, Maria Ignatjewna rede im Fieber irre, um so mehr, da sie schlechterdings nicht herausbekommen konnten, wer eigentlich ermordet sei: Kirillow oder ihr Mann. Als sie merkte, daß man ihr nicht glaubte, wollte sie schon weiterlaufen. Aber es gelang Titow, sie mit Gewalt festzuhalten, wobei sie, wie man später erzählte, schrecklich geschrien und sich gewehrt haben soll. Man begab sich nach dem Filippowschen Hause, und zwei Stunden später waren sowohl Kirillows Selbstmord als auch der Brief, den er hinterlassen hatte, bereits der ganzen Stadt bekannt. Die Polizei verhörte sofort die Wöchnerin, die noch bei Besinnung war; hier stellte es sich heraus, daß sie Kirillows letzten Brief nicht gelesen hatte. Woraus sie aber eigentlich schließen wollte, daß auch ihr Mann ermordet sei, das konnte man von ihr nicht herausbekommen. Sie schrie nur in einem fort: »Wenn der ermordet ist, so ist auch mein Mann ermordet; die beiden waren zusammengewesen.« Gegen Mittag verfiel sie in Bewußtlosigkeit, aus der sie nicht wieder zu sich kam und in der sie nach drei Tagen verschied. Das erkältete Kind starb noch vor ihr.
Als Arina Prochorowna Maria Ignatjewna und das Neugeborene nicht im Zimmer vorfand, sagte sie sich sofort, daß etwas Schlimmes vorgefallen sein müßte. Sie wollte sofort nach Hause zurücklaufen, blieb aber doch noch am Tore stehen und schickte die Wärterin ins Nebengebäude, um den Herrn dort zu fragen, »ob Maria Ignatjewna nicht bei ihm sei und ob er nicht etwas von ihr wisse?« Als die Abgesandte zurückkehrte, schrie sie entsetzt wie eine Besessene, so daß es in der ganzen Straße zu hören war. Arina Prochorowna redete ihr zu, sie solle nicht schreien und keinem Menschen etwas sagen, wobei sie die berühmte Begründung: »Du wirst vors Gericht müssen und wirst verurteilt werden« ins Treffen führte. Daraufhin schlich sie selbst von dem Hause fort.
Selbstverständlich wurde sie, als die Hebamme der Wöchnerin, noch am selben Vormittag von der Polizei vernommen. Aber viel vermochte die Behörde nicht zu erfahren: Arina Prochorowna erzählte sehr verständig und kaltblütig alles, was sie selbst bei Schatow gehört und gesehen hatte; von der Begebenheit selbst aber erklärte sie nichts zu wissen und nichts zu verstehen.
Man kann sich denken, welche Aufregung sich der ganzen Stadt bemächtigte. Schon wieder war eine neue »Geschichte« passiert, schon wieder ein Mord begangen worden! Aber hier kam noch etwas anderes hinzu: es wurde allmählich klar, daß in der Stadt tatsächlich ein geheimer Bund von Mördern, revolutionären Brandstiftern und Aufrührern existierte. Der furchtbare Tod Lisas, die Ermordung der Frau Stawrogins, Stawrogin selbst, die Brandstiftung, der Ball zum Besten der Erzieherinnen, die Zügellosigkeit, die in der Umgebung Julia Michajlownas geherrscht hatte ... sogar in Stepan Trofimowitschs Verschwinden wollte man unbedingt ein Rätsel sehen. Sehr, sehr viel wurde von Nikolaj Wsewolodowitsch getuschelt. Gegen Abend erfuhr man auch, daß Piotr Stepanowitsch nicht mehr in der Stadt sei, merkwürdigerweise redete man jedoch gerade über ihn am allerwenigsten. Am Filippowschen Hause stand fast den ganzen Vormittag über ein großer Haufe von Menschen. Die Behörde wurde durch Kirillows hinterlassenen Brief tatsächlich irregeführt. Man glaubte sowohl an die Ermordung Schatows durch Kirillow als auch an den Selbstmord des »Mörders«. Übrigens war die Obrigkeit nicht allzusehr verwirrt. Das Wort »Park« zum Beispiel, das in Kirillows Abschiedsschreiben so unbestimmt gebraucht worden war, vermochte niemand hinters Licht zu führen, wie dies Piotr Stepanowitsch erwartet hatte. Die Polizei eilte sofort nach Skworeschniki und nicht allein deshalb, weil nur dort ein Park war, während es bei uns sonst an keinem anderen Orte einen solchen gab, sondern auch von einer Art Instinkt geleitet, da doch die ganzen Schrecken der letzten Tage direkt oder indirekt mit Skworeschniki verbunden waren. Das ist wenigstens meine Vermutung. (Ich bemerke hier gleichzeitig, daß Warwara Petrowna, ohne etwas zu wissen, schon am frühen Morgen weggefahren war, um Stepan Trofimowitsch einzuholen.) Einige hinterlassene Spuren ermöglichten die Auffindung des Leichnams noch am selben Abend; an der Stelle des Mordes selbst entdeckte man zum Beispiel Schatows Mütze, die die Mörder dort mit erstaunlichem Leichtsinn vergessen hatten. Die Besichtigung und die medizinische Untersuchung des Leichnams, sowie einige Anhaltspunkte führten sofort zu dem Verdacht, daß Kirillow unmöglich die Tat allein begangen haben konnte. Somit ergab sich die Existenz einer geheimen Schatow-Kirillowschen Gesellschaft, die auch mit den verbreiteten Flugblättern in Verbindung gebracht wurde. Wer aber waren die Mitschuldigen? An die »Unsrigen« wurde an dem Tage noch gar nicht gedacht. Man erfuhr, daß Kirillow als Einsiedler gelebt habe, und zwar so zurückgezogen, daß sogar, wie aus seinem Schreiben hervorging, Fedka, derselbe Fedka, den man überall so eifrig gesucht hatte, bei ihm so viele Tage habe unbemerkt logieren können ... In der Hauptsache empfanden es aber alle als peinlich, daß sich aus diesem ganzen, nunmehr vorliegenden Wirrwarr absolut nichts Verallgemeinerndes und Verbindendes entnehmen ließ. Man kann sich schwer vorstellen, zu welchen Schlußfolgerungen und zu welcher Verwirrung der Gedanken schließlich unsere in panischen Schrecken geratene Gesellschaft gelangt wäre, wenn sich nicht plötzlich alles gleich am nächsten Tage aufgeklärt hätte, und zwar durch Liamschin.
Er versagte. Es geschah mit ihm das, was schon auch Piotr Stepanowitsch zuletzt geahnt hatte. Der Obhut Tolkatschenkos und dann der des Fähnrichs Erkel anvertraut, hatte er den ganzen folgenden Tag anscheinend ganz ruhig mit dem Gesicht nach der Wand im Bette gelegen, kein Wort gesprochen und kaum geantwortet, wenn man ihn anredete. Aber Tolkatschenko, der von den Vorgängen in der Stadt ganz genaue Kenntnisse erhalten hatte, war abends plötzlich auf den Gedanken gekommen, die ihm von Piotr Stepanowitsch übertragene Rolle des Hüters von Liamschin aufzugeben und für einige Zeit aus der Stadt in den Kreis zu fahren, das heißt, sich einfach aus dem Staube zu machen. Sie hatten in der Tat alle den Verstand verloren, wie das Erkel bereits prophezeit hatte. Bei dieser Gelegenheit sei gleich erwähnt, daß auch Liputin an diesem selben Tage aus der Stadt verschwand, und zwar noch am Vormittag. Aber was diesen anbetrifft, so erhielt die Behörde von seinem Verschwinden eigentümlicherweise erst am Abend des folgenden Tages Kenntnis, erst dann, als man zum Verhör seiner Familie schritt, die über seine Abwesenheit sehr erschrocken war, aber gerade aus Furcht geschwiegen hatte. Aber kehren wir zu Liamschin zurück. Kaum war er allein geblieben (Erkel hatte sich im Vertrauen auf Tolkatschenko noch früher entfernt), als er sofort aus dem Hause lief und natürlich sehr bald den wirklichen Stand der Dinge in Erfahrung brachte. Da wollte er, ohne erst wieder nach seiner Wohnung zu gehen, ebenfalls blindlings davonlaufen. Aber die Nacht war so dunkel und das Unternehmen so schrecklich mühevoll, daß er schon, nachdem er zwei oder drei Straßen durcheilt hatte, nach Hause zurückkehrte, sich einschloß und dort die ganze Nacht verbrachte. Gegen Morgen ging er, glaube ich, hinaus und machte sogar einen Selbstmordversuch, der indessen mißlang. Dann saß er wieder eingeschlossen bis zum Mittag und – stellte sich nun plötzlich der Behörde. Man erzählt, er sei dort auf den Knien herumgerutscht, habe geschluchzt, gewinselt, den Fußboden geküßt und geschrien, er sei nicht würdig, auch nur die Stiefel der vor ihm stehenden hohen Würdenträger zu küssen. Man beruhigte ihn und war sogar freundlich ihm gegenüber. Das Verhör dauerte, wie erzählt wird, drei volle Stunden. Er hatte alles, alles erklärt, alle Einzelheiten geschildert und alles, was er wußte, erzählt; er griff vor, beeilte sich, alles zu bekennen und teilte sogar Unnötiges mit, und zwar ganz ungefragt. Es stellte sich heraus, daß er genügend wußte und die Sache auch recht anschaulich darzustellen verstand. Die Tragödie mit Schatow und Kirillow, die Feuersbrunst, der Tod der Lebiadkins und so weiter, – dieses trat dabei in die zweite Linie zurück. Im Vordergrund sah man jetzt Piotr Stepanowitsch, den geheimen Bund, die Organisation, das Netz. Auf die Frage, wozu denn so viele Mordtaten, Skandalgeschichten und Schändlichkeiten begangen seien, antwortete er eilig und eifrig, daß es geschehen sei »zum Zwecke einer systematischen Erschütterung der Fundamente, einer ebenso planmäßigen Zersetzung der Gesellschaft und sämtlicher Prinzipien, um alle zu entmutigen und aus allem einen Mischmasch zu machen.« Und dann, wenn die Gesellschaft auf diese Weise ins Wanken gebracht, krank und matt, zynisch und ungläubig geworden wäre, sich aber mit einer unbändigen Gier nach irgendeinem leitenden Gedanken und nach Selbsterhaltung sehnen würde – alles auf einmal selbst in die Hand zu nehmen und die Fahne der Empörung zu hissen. Man wollte sich dabei auf ein ganzes Netz von Fünferkomitees stützen, die inzwischen gewirkt und geworben hatten, praktische Kunstgriffe ausprobierten und nach schwachen Stellen suchten, die man in Angriff nehmen konnte. Liamschin schloß damit, daß hier in unserer Stadt von Piotr Stepanowitsch nur der erste Versuch einer solchen systematischen Unordnung, und damit sozusagen ein Programm für das weitere Vorgehen aller anderen Fünferkomitees aufgestellt worden sei, daß aber dies sein (Liamschins) eigener Gedanke und seine eigene Vermutung sei. Er bat auch noch, man möge ihm das »jedenfalls anrechnen und ja in Betracht ziehen, in welcher offenherzigen und anständigen Weise« er die »ganze Sache klarlege«, und bedenken, daß er »somit sogar auch künftig der Behörde sehr gut zunutzen kommen« könnte. Auf die direkte Frage, ob es viele Fünferkomitees gebe, antwortete er, daß eine unendliche Menge solcher Gruppen existiere, daß ganz Rußland mit ihrem Netz überzogen sei. Und obgleich er keine Beweise dafür beibrachte, so glaube ich doch, daß er durchaus seiner Überzeugung gemäß aussagte. An Dokumenten konnte er der Behörde lediglich ein im Auslande gedrucktes Programm des geheimen Bundes vorlegen und einen zwar nur ins Unreine, aber von Piotr Stepanowitschs eigener Hand geschriebenen Entwurf des Systems, nach dem das weitere Vorgehen des Bundes sich zu richten hatte. Es stellte sich heraus, daß alles, was Liamschin über die »Erschütterung der Fundamente« gesagt hatte, buchstäblich aus diesem Zettel zitiert war, sogar mit sämtlichen Punkten und Kommas, obwohl er auch versicherte, daß dies nur seine eigene Auffassung sei. Über Julia Michajlowna äußerte er sich ungefragt und vorgreifend in einer spöttischen Weise dahin, daß sie »ganz unschuldig« sei und daß man sie »nur zum Besten gehalten« habe. Am merkwürdigsten aber war, daß er jede Beteiligung Nikolaj Stawrogins an dem geheimen Bund sowohl, als auch jedes Einverständnis Nikolaj Wsewolodowitschs mit Piotr Stepanowitsch als völlig ausgeschlossen hinstellte. (Von den großartigen, verheißungsvollen und ziemlich lächerlichen Hoffnungen, die Piotr Stepanowitsch in bezug auf Stawrogin hegte, hatte Liamschin nicht die geringste Ahnung.) Der Tod der Lebiadkins war seiner Aussage zufolge ohne jede Beteiligung Nikolaj Wsewolodowitschs, nur von Piotr Stepanowitsch allein bewerkstelligt worden, und zwar in der schlauen Absicht, diesen in ein Verbrechen hineinzuziehen und dadurch folglich auch in eine Abhängigkeit von ihm, das heißt eben von Piotr Stepanowitsch, zu bringen. Aber, erzählte Liamschin, statt der Dankbarkeit, auf die Piotr Stepanowitsch so zuversichtlich und so leichtsinnig zugleich gerechnet habe, soll er bei dem »edeldenkenden« Nikolaj Wsewolodowitsch durch diese Tat nur die höchste Entrüstung und sogar Verzweiflung hervorgerufen haben. Er schloß seine Aussagen über Stawrogin ebenfalls eilig und unbefragt, mit der offenbar absichtlichen Bemerkung, Nikolaj Wsewolodowitsch sei beinah etwas wie eine sehr wichtige Persönlichkeit, daß aber darüber ein Geheimnis gebreitet liege; bei uns habe er sozusagen inkognito gelebt und soll gewisse Aufträge gehabt haben. Es sei durchaus möglich, sagte Liamschin, der aus irgendeinem Grunde fest davon überzeugt war, daß Stawrogin nach Petersburg abgereist sei, daß Nikolaj Wsewolodowitsch sehr bald von dort zu uns zurückkehren würde, aber dann bereits in einer ganz anderen Gestalt, in anderer Umgebung und in Begleitung solcher Persönlichkeiten, von denen man auch bei uns bald zu hören bekommen werde. All das wollte er von Piotr Stepanowitsch selbst erfahren haben, den er als den »geheimen Feind Nikolaj Wsewolodowitschs« bezeichnete.
Hier setze ich ein Notabene. Zwei Monate darauf gestand Liamschin, daß er bei diesem Verhör Stawrogin absichtlich auf jede Weise reinzuwaschen versucht hatte, da er auf dessen Protektion gerechnet und damals gehofft habe, daß Nikolaj Wsewolodowitsch ihm in Petersburg eine Milderung der Strafe um zwei Grade auswirken und ihn für die Verbannung mit Geld und Empfehlungsbriefen ausstatten würde. Aus diesem Geständnis geht deutlich hervor, daß er tatsächlich eine übertrieben hohe Meinung von der Bedeutung Nikolaj Stawrogins gehabt hatte.
Am selben Tage verhaftete man natürlich auch Wirginskij, und zwar in der Eile samt allen seinen Angehörigen. (Arina Prochorowna, ihre Schwester, die Tante und sogar die Studentin sind jetzt schon längst wieder in Freiheit gesetzt; es wird sogar behauptet, daß auch Schigaliow wohl demnächst entlassen werden soll, da er in keine Kategorie der Angeklagten hineinpasse; übrigens ist es vorläufig nur ein Gerede.) Wirginskij war sofort und in allen Punkten geständig. Als man ihn zu verhaften kam, war er gerade krank und lag im Fieber. Man erzählt, er habe sich beinah gefreut und soll sogar gesagt haben: »Jetzt ist mir eine Last vom Herzen genommen.« Es verlautet über ihn, er mache seine Aussagen offenherzig und geradezu mit einer gewissen Würde, gebe aber keine einzige seiner »leuchtenden Hoffnungen« auf, wobei er jedoch gleichzeitig den politischen Weg verflucht (im Gegensatz zum sozialen), auf den er sich so unversehens und leichtsinnig »durch den Wirbelsturm der ineinandergreifenden Umstände« habe treiben lassen. Sein Verhalten bei der Ausführung des Mordes ist in einem für ihn günstigen Sinne beurteilt worden, und es scheint, daß auch er selbst auf eine gewisse Linderung seines Schicksals rechnen kann. So wird wenigstens bei uns behauptet.
Kaum möglich wird es indessen sein, Erkels Los zu erleichtern. Gleich von Anfang seiner Verhaftung an legte er sich aufs Schweigen und mitunter versuchte er nach Möglichkeit, die Wahrheit zu verdrehen. Man konnte bis jetzt noch kein Wort der Reue von ihm erlangen. Dabei hat er aber selbst bei den strengsten Richtern eine gewisse Sympathie für sich erweckt, und zwar durch seine Jugend, durch seine Schutzlosigkeit, durch die klarliegende Tatsache, daß er nur ein fanatisches Opfer eines politischen Verführers ist, vor allen Dingen aber und mehr als durch alles andere durch sein bekanntgewordenes Betragen gegen seine Mutter, der er jeden Monat fast die Hälfte seines unbedeutenden Gehalts übersandt hatte. Die Mutter ist jetzt bei uns in der Stadt; sie ist eine schwache und kränkliche Frau, die über ihre Jahre hinaus gealtert ist. Sie weint sehr viel und wälzt sich buchstäblich vor den Füßen der Richter umher, indem sie die Herren zu erweichen versucht und für ihren Sohn Fürbitte einlegt. Was auch immer werden mag, aber Erkel wird bei uns von sehr vielen bedauert.
Liputin wurde erst in Petersburg festgenommen, wo er bereits ganze zwei Wochen gelebt hatte. Mit ihm war etwas fast Unglaubliches geschehen, etwas, was sich überhaupt kaum erklären läßt. Man sagt, er habe einen Paß auf einen fremden Namen und somit die vollständige Möglichkeit, ins Ausland zu entrinnen gehabt und auch sehr bedeutende Geldmittel mit sich geführt, sei aber trotzdem in Petersburg geblieben und nirgendwohin gereist. Eine Zeitlang soll er auf der Suche nach Stawrogin und nach Piotr Stepanowitsch gewesen sein, dann aber habe er sich der Trunksucht und einem maßlos liederlichen Lebenswandel ergeben, wie ein Mensch, der allen gesunden Verstand und überhaupt jedes Verständnis für seine Lage vollständig verloren hat. Sogar seine Verhaftung in Petersburg erfolgte in irgendeinem Freudenhause, wo man ihn im betrunkenen Zustande festgenommen hatte. Es besteht ein Gerücht, daß er auch jetzt durchaus nicht den Mut sinken lasse, bei seinen Aussagen lüge und sich auf die bevorstehende Gerichtsverhandlung mit einer gewissen Feierlichkeit und sogar einer Hoffnung (?) vorbereite. Er soll sogar die Absicht haben, vor Gericht eine Rede zu halten.
Tolkatschenko, der irgendwo in dem Kreis zehn Tage nach seiner Flucht verhaftet wurde, benimmt sich unvergleichlich höflicher, lügt nicht, sucht sich nicht herauszureden, sagt alles, was er weiß, beschönigt nichts, gibt seine Schuld mit aller Bescheidenheit zu, bekundet aber ebenfalls die Neigung zum Schönreden. Er spricht sehr viel und gern, wenn die Rede auf die Kenntnis des Volkes und seiner revolutionären (?) Elemente kommt und wirft sich dabei sogar in Positur, wie wenn er tatsächlich Eindruck machen wollte. Auch er beabsichtigt, wie man hört, vor Gericht eine Rede zu halten. Überhaupt sind diese beiden, Tolkatschenko und Liputin, keineswegs sehr erschrocken, und das ist sogar sonderbar.
Ich wiederhole: der Prozeß ist noch nicht zu Ende. Jetzt, drei Monate nach all den geschilderten Geschehnissen, hat unsere Gesellschaft sich wieder erholt, neue Kräfte gesammelt und sich eine eigene Meinung gebildet, die sogar so weit geht, daß einige Piotr Stepanowitsch selbst beinah für ein Genie halten, mindestens aber für einen Menschen »mit genialen Fähigkeiten«. »Organisation, meine Herren!« sagt man im Klub und hebt dabei den Zeigefinger in die Höhe. Übrigens ist das alles recht unschuldig, und es sind auch nicht viele, die diese Meinung vertreten. Andere sprechen ihm zwar seine hervorragenden Fähigkeiten nicht ab, finden aber bei ihm eine vollkommene Unkenntnis der Wirklichkeit, eine schreckliche Abstraktheit, eine ungeheuerliche und stumpfsinnige Entwicklung nach einer Seite hin und eine daraus resultierende außerordentliche Leichtsinnigkeit. Was indessen seine moralischen Qualitäten anbetrifft, so sind darüber alle ein und derselben Meinung. Sobald die Rede darauf kommt, ist schon kein Streit mehr möglich.
Ich weiß wirklich nicht, wen ich noch erwähnen muß, um nicht jemand zu vergessen. Mawrikij Nikolajewitsch ist irgendwohin für immer weggereist. Die alte Drosdowa ist ganz kindisch geworden ... Übrigens bleibt mir noch eine sehr düstere Geschichte zu erzählen. Ich will mich dabei nur auf Tatsachen beschränken.
Warwara Petrowna war nach ihrer Rückkehr in ihrem Stadthause abgestiegen. Alle Nachrichten, die sich inzwischen angesammelt hatten, stürmten nun auf sie mit einem Male ein und erschütterten sie ganz furchtbar. Sie schloß sich allein ein. Es war Abend; alle waren furchtbar müde und legten sich früh schlafen.
Gegen Morgen überreichte die Zofe mit geheimnisvoller Miene Darja Pawlowna einen Brief. Dieses Schreiben war ihrer Aussage zufolge noch gestern angekommen, aber erst sehr spät, als alle bereits schliefen, so daß sie nicht gewagt hatte, das Fräulein zu wecken. Es sei nicht mit der Post gekommen, sondern in Skworeschniki von einem unbekannten Menschen Alexej Jegorowitsch übergeben worden. Und Alexej Jegorowitsch habe nun den Brief selbst noch am vorhergehenden Abend, sofort also, hierhergebracht und ihr eingehändigt. Gleich darauf sei er aber wieder nach Skworeschniki zurückgefahren.
Darja Pawlowna betrachtete den Brief lange und mit Herzklopfen; sie wagte ihn nicht aufzumachen. Sie wußte, von wem er war: Nikolaj Stawrogin hatte ihn geschrieben. Sie las die Anschrift auf dem Umschlag: »An Alexej Jegorytsch, zur Übergabe an Darja Pawlowna, geheim.«
Hier ist dieser Brief, Wort für Wort, ohne die geringste Korrektur des Stils dieses jungen russischen Edelmannes, der trotz aller seiner europäischen Bildung die eigene Sprache nicht vollständig beherrschte:
»Liebe Darja Pawlowna,
Einmal wollten Sie zu mir als Krankenwärterin gehen und nahmen mir das Versprechen ab, Sie zu rufen, sobald es nötig sein werde. In zwei Tagen reise ich nun fort und kehre nie wieder zurück. Wollen Sie mit?
Im vorigen Jahre habe ich mich wie Herzen zum Bürger des Kantons Uri einschreiben lassen, und niemand weiß das. Dort habe ich schon ein kleines Haus gekauft. Ich besitze noch zwölftausend Rubel. Wir wollen hinfahren und werden dort den Rest unseres Lebens verbringen. Ich will von dort niemals und nirgendhin wegreisen.
Der Ort ist sehr langweilig: eine Schlucht. Die Berge beschränken den Gesichtskreis und drücken auf die Gedanken. Ein sehr düsterer Ort. Ich habe ihn gewählt, weil dort gerade ein Haus zu haben war. Wenn es Ihnen nicht gefallen sollte, werde ich es wieder verkaufen und ein anderes anderswo erwerben.
Ich bin krank, aber ich hoffe mich mit der dortigen Luft von meinen Halluzinationen zu heilen. Das ist physisch; mein Innenleben kennen Sie; ob aber auch vollständig?
Ich habe Ihnen vieles aus meinem Leben erzählt. Aber nicht alles. Selbst Ihnen nicht alles! Übrigens bestätige ich hiermit, daß ich vor meinem Gewissen an dem Tode meiner Frau schuld bin. Ich habe Sie seitdem nicht gesehen und schreibe Ihnen das deshalb. Auch Lisaweta Nikolajewna gegenüber habe ich eine Schuld auf mich geladen; aber hier ist Ihnen alles bekannt; das haben Sie fast alles vorausgesagt.
Kommen Sie lieber nicht. Daß ich Sie jetzt zu mir rufe, ist eine furchtbare Gemeinheit. Und weshalb sollten Sie auch Ihr Leben an meiner Seite begraben? Sie sind mir lieb und es tat mir wohl, wenn ich Kummer hatte, neben Ihnen zu sein; nur zu Ihnen konnte ich laut von mir selbst sprechen. Aber daraus folgt noch nichts. Sie haben sich selbst zur ›Krankenwärterin‹ bestimmt – das ist Ihr eigener Ausdruck; wozu wollen Sie soviel opfern? Bedenken Sie auch, daß ich Sie nicht bedauere, wenn ich Sie rufe und daß ich Sie nicht achte, da ich auf Sie warte. Und dennoch rufe ich Sie und warte auf Sie. Jedenfalls benötige ich Ihre Antwort, weil ich sehr schnell fortreisen muß. In diesem Falle werde ich allein fahren.
Ich erhoffe nichts von Uri; ich reise einfach hin. Ich habe nicht absichtlich einen so düsteren Ort ausgesucht. An Rußland bin ich durch nichts gebunden, hier ist mir alles ebenso fremd wie überall. Allerdings habe ich in der Heimat noch weniger gern gelebt als anderwärts; aber selbst hier habe ich nichts zu hassen vermocht!
Ich habe überall meine Kraft auf die Probe gestellt. Sie rieten mir dazu, damit ich ›mich selbst kennenlerne‹. Bei den Proben, die ich teils für mich selbst und teils zur Schau angestellt hatte, erwies sich diese meine Kraft ebenso wie auch in meinem ganzen früheren Leben als unermeßlich. Vor Ihren Augen habe ich die Ohrfeige Ihres Bruders ertragen; ich habe meine Ehe öffentlich bekannt gegeben. Aber wozu ich diese Kraft verwenden soll, das habe ich nie eingesehen, und das ist mir jetzt noch nicht klar, trotz Ihrer Ermutigungen in der Schweiz, denen ich Glauben geschenkt habe. Ich kann jetzt genau so wie auch früher immer den Wunsch empfinden, eine gute Tat zu begehen, und das macht mir Vergnügen; aber daneben wünsche ich auch Schlechtes zu tun und habe davon einen gleich großen Genuß. Doch sowohl das eine wie das andere Gefühl ist noch, genau so wie früher, immer nur sehr schwach und regt sich niemals sehr in mir. Meine Wünsche sind viel zu kraftlos; sie können mich nicht leiten. Auf einem Balken kann man über den Fluß schwimmen, aber auf einem Span geht das nicht. Das schreibe ich, damit Sie nicht etwa denken, daß ich nach Uri mit irgendwelchen Hoffnungen gehe.
Ich beschuldige nach wie vor keinen Menschen. Ich habe es mit sehr großen Ausschweifungen versucht und darin meine Kräfte erschöpft: aber ich bin kein Freund von Ausschweifungen und wollte sie selbst nie. Sie haben mich in der letzten Zeit beobachtet. Wissen Sie wohl, daß ich sogar auf unsere Verneiner mit Haß blickte, da ich sie um ihre Hoffnungen beneidete? Aber Ihre diesbezüglichen Befürchtungen waren grundlos; ich konnte kein Genosse dieser Menschen sein, weil ich keine einzige ihrer Ansichten teilte. Und bloß aus Spottlust mitmachen, nur aus Bosheit, das konnte ich auch nicht, und nicht etwa, weil ich mich vor der Lächerlichkeit gefürchtet hätte, – davor kann ich keine Furcht empfinden, – sondern weil ich immerhin die Gewohnheiten eines anständigen Menschen habe, und weil mich dieses Treiben anekelte. Wenn ich aber diese Leute stärker gehaßt und beneidet hätte, dann wäre ich vielleicht doch mit ihnen zusammengegangen. Urteilen Sie selbst, wie leicht mir alles war und wie sehr ich mich hin und hergeworfen habe!
Liebe Freundin, sanftes und hochherziges Geschöpf, das ich ganz erkannt habe! Vielleicht glauben Sie, mir soviel Liebe geben zu können und soviel Schönes aus Ihrer schönen Seele auf mich auszugießen, daß Sie daraus die Hoffnung schöpfen, mir eben dadurch endlich ein Ziel zu weisen? Nein, seien Sie lieber vorsichtiger; meine Liebe wird ebenso kleinlich sein, wie ich es selbst bin, und Sie werden sich unglücklich fühlen. Ihr Bruder sagte mir, daß demjenigen, der die näheren Beziehungen zu seinem Heimatsboden verliere, auch seine Götter verloren gehen, das heißt eben alle sein Ziele. Über alles kann man endlos streiten, aber aus mir kam nichts weiter als nur Verneinung, und zwar ohne alle Hochherzigkeit und ohne alle Kraft. Selbst die Verneinung hatte keine Form bekommen. Alles war stets kleinlich und matt. Der hochherzige Kirillow vermochte seine Idee nicht zu ertragen und – erschoß sich; aber ich sehe doch ein, daß er nur deshalb so hochherzig war, weil er seinen klaren Verstand nicht mehr hatte. Ich kann nie den Verstand verlieren und kann nie an eine Idee so stark glauben wie er. Selbst mich mit einer Idee so stark zu beschäftigen, wie er es tat, ist mir unmöglich. Niemals, niemals werde ich mich erschießen können!
Ich weiß, daß ich mich töten, mich von der Erde wegfegen müßte wie ein gemeines Insekt; aber ich fürchte mich vor einem Selbstmord, weil ich mich fürchte, Hochherzigkeit zu bekunden. Ich weiß, daß es noch ein Betrug sein würde, der letzte Betrug in einer endlosen Reihe ebensolcher. Was hätte es denn für einen Zweck, sich selbst zu täuschen, nur um die Rolle des Hochherzigen zu spielen? Entrüstung und Schamgefühl kann es in mir niemals geben, folglich auch keine Verzweiflung.
Verzeihen Sie, daß ich soviel schreibe. Ich bin jetzt zur Besinnung gekommen. Es war unversehens geschehen. Wenn man so schreibt, sind hundert Seiten zu wenig und zehn Zeilen genug. Es genügen zehn Zeilen des Rufes, zu mir als ›Krankenpflegerin‹ zu kommen.
Seitdem ich aus der Stadt weggereist bin, wohne ich auf der sechsten Station beim Bahnhofsvorsteher. Ich habe ihn vor etwa fünf Jahren in Petersburg bei einem Gelage kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Daß ich hier wohne, weiß kein Mensch. Antworten Sie mir an seine Anschrift. Ich lege sie hier bei.
Nikolaj Stawrogin«
Darja Pawlowna ging mit diesem Briefe sofort zu Warwara Petrowna, um ihn ihr zu zeigen. Diese las ihn und bat dann Dascha, hinauszugehen, um ihn noch einmal allein zu lesen; aber sie rief sie irgendwie gar zu bald wieder zurück.
»Wirst du mit ihm reisen?« fragte sie beinah schüchtern.
»Ja«, antwortete Dascha.
»Mach dich fertig! Wir fahren zusammen!«
Dascha sah sie mit einem fragenden Blick an.
»Was soll ich denn hier noch tun? Ist nicht alles ganz gleichgültig? Ich werde ebenfalls in Uri das Bürgerrecht erwerben und meine Tage in der Schlucht zu Ende leben ... Sei unbesorgt, ich werde euch nicht stören.«
Sie begannen schnell zu packen, um noch den Mittagszug zu erreichen. Aber es verging keine halbe Stunde, als Alexej Jegorytsch wieder aus Skworeschniki eintraf. Er meldete, Nikolaj Wsewolodowitsch sei »plötzlich« am Morgen mit dem Frühzuge gekommen und sei jetzt in Skworeschniki, aber »in einer solchen Verfassung, daß er auf Fragen nicht antwortet; er ist durch alle Zimmer gegangen und hat sich dann in seinen Räumen eingeschlossen ...«
»Ich habe es, ohne den Befehl des Herrn abzuwarten, für richtig gehalten, hierherzukommen und Meldung zu erstatten«, fügte Alexej Jegorytsch mit einer sehr merkwürdigen Miene hinzu.
Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an und fragte ihn dann nicht weiter. Im Nu war der Wagen da. Sie fuhr mit Dascha zusammen. Während der Fahrt soll sie sich, wie erzählt wird, sehr häufig bekreuzt haben.
In der von Nikolaj Wsewolodowitsch allein bewohnten »Haushälfte« waren alle Türen offen, aber Nikolaj Wsewolodowitsch selbst war nirgends aufzufinden.
»Wenn der Herr nicht etwa im Halbgeschoß ist?« sagte vorsichtig Fomuschka.
Merkwürdig ist die Tatsache, daß zusammen mit Warwara Petrowna in die Räume Nikolaj Wsewolodowitschs auch einige Diener eingedrungen waren; alle übrigen aber warteten im Saal. Nie hätten sie es früher gewagt, sich eine solche Verletzung der Etikette zu erlauben. Warwara Petrowna bemerkte es, sagte aber nichts.
Sie stiegen auch nach dem Halbgeschoß hinauf. Dort waren drei Zimmer, aber in keinem von ihnen fanden sie ihn.
»Ob der Herr nicht vielleicht dahingegangen ist?« sagte jemand und zeigte auf eine Tür, die nach einem Giebelzimmer führte. In der Tat stand jetzt diese sonst stets verschlossen gehaltene Tür weit offen. Man mußte auf einer langen, sehr engen und furchtbar steilen Treppe bis fast unter das Dach hinaufsteigen. Dort war ebenfalls noch ein Zimmerchen.
»Ich gehe da nicht hin. Aus welchem Grunde soll er da hinaufgeklettert sein?« sagte Warwara Petrowna, die furchtbar blaß geworden war und sah sich nach den Dienern um. Diese starrten sie an und schwiegen. Dascha zitterte.
Warwara Petrowna eilte die Treppe hinauf, Dascha lief ihr nach. Aber kaum war sie in die Giebelstube getreten, als sie aufschrie und bewußtlos zu Boden sank.
Der Bürger des Kantons Uri hing dort gleich hinter der Tür. Auf einem Tischchen lag ein Fetzen Papier, auf dem mit Bleistift hingeschrieben war: »Beschuldigt keinen, ich habe es selbst getan.« Eben dort, auf dem Tischchen lag auch ein Hammer, ein Stück Seife und ein großer Nagel, der anscheinend für alle Fälle bereitgehalten war. Die starke seidene Schnur, die Nikolaj Wsewolodowitsch offenbar schon vorher nach sorgsamer Wahl beschafft und mit der er sich jetzt aufgehängt hatte, war sehr fett mit Seife eingerieben worden. Alles deutete auf eine wohlüberlegte Absicht und volles Bewußtsein bis zum letzten Augenblick.
Unsere Ärzte haben nach der Sektion der Leiche das Vorhandensein von irgendeiner Geistesstörung vollständig und mit aller Entschiedenheit in Abrede gestellt.
1871-1872