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Es war der dritte Juli. Die Schwüle und die Hitze waren unerträglich. Dieser Tag war für Weltschaninow vollständig mit Geschäften ausgefüllt: Den ganzen Vormittag über hatte er in der Stadt herumlaufen und herumfahren müssen, und für den Abend stand ihm noch als unumgänglich notwendig in Aussicht, einen Besuch bei einem für ihn sehr wichtigen Herrn zu machen, bei einem Staatsrate, einem tüchtigen 19 Juristen; dieser wohnte zur Zeit in der Sommerfrische irgendwo am Schwarzen Bache, und Weltschaninow beabsichtigte, ihn unerwartet zu Hause zu überfallen. Zwischen fünf und sechs Uhr trat Weltschaninow endlich in ein Restaurant (es war zwar von etwas zweifelhaftem Charakter, aber französisch) am Newski-Prospekte bei der Polizejski-Brücke, setzte sich in seine gewöhnliche Ecke an sein Tischchen und bestellte sich sein gewöhnliches Mittagessen.
Er speiste täglich für einen Rubel zu Mittag (Wein extra), was er als ein Opfer betrachtete, das er verständigerweise seinen derangierten Verhältnissen brachte. Obwohl er sich jedesmal darüber wunderte, wie man so schlechte Kost überhaupt nur genießen könne, vertilgte er doch immer alles bis auf den letzten Bissen, und jedesmal mit einem solchen Appetit, als ob er vorher drei Tage lang nichts gegessen hätte. »Das ist etwas Krankhaftes«, murmelte er vor sich hin, wenn er manchmal seines Appetites inne wurde. Aber diesmal ließ er sich an seinem Tischchen in sehr übler Laune nieder, schleuderte seinen Hut ärgerlich irgendwohin beiseite, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und versank in Gedanken. Hätte jetzt ein anderer in seiner Nähe speisender Mittagsgast sich irgendwie bemerklich gemacht oder hätte der ihn bedienende Kellner einen Auftrag nicht gleich beim erstenmal richtig verstanden, so hätte er, der es doch so gut verstand, höflich zu sein und nötigenfalls eine hochmütige, unbewegliche Miene zu machen, sicherlich einen Lärm gemacht wie ein Fähnrich und womöglich einen Skandal herbeigeführt.
Es wurde ihm die Suppe gebracht, und er nahm den Löffel in die Hand; aber bevor er ihn gefüllt hatte, warf er ihn plötzlich wieder auf den Tisch und sprang beinah vom Stuhle auf. Ein überraschender Gedanke war auf einmal in seinem Kopfe aufgeblitzt: In diesem Augenblicke war ihm (Gott weiß durch welche Ideenassoziation) plötzlich die Ursache seiner Verstimmung vollkommen klar geworden, dieser besonderen eigentümlichen Verstimmung, die ihn schon mehrere Tage hintereinander, die ganze letzte Zeit 20 über gequält hatte, ihn Gott weiß wie angeflogen war und Gott weiß warum nicht wieder hatte von ihm weichen wollen; jetzt aber durchschaute er auf einmal alles und begriff die Sache vollständig.
»Das ist einzig und allein dieser Hut!« murmelte er, als wenn ihn eine Inspiration überkommen hätte. »Nur er, nur dieser verdammte Zylinderhut mit dem abscheulichen Trauerflor, ist an allem schuld!«
Er fing an nachzudenken, und je länger er nachdachte, um so ingrimmiger wurde er, und um so wunderbarer erschien ihm »diese ganze Begebenheit«.
»Aber . . . aber was liegt denn hier überhaupt für eine Begebenheit vor?« wollte er opponieren, da er sich selbst mißtraute. »Hat denn hier etwas stattgefunden, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Begebenheit hätte?«
Die ganze Sache verhielt sich folgendermaßen. Es mochte schon fast vierzehn Tage her sein (genau erinnerte er sich eigentlich nicht; aber so lange, meinte er, war es her), da war er zum erstenmal auf der Straße, an der Ecke der Podjatscheskaja- und der Meschtschanskaja-Straße, einem Herrn mit einem Trauerflor am Hute begegnet. Der Herr sah so aus wie alle Leute, hatte nichts Besonderes an sich, ging schnell vorbei, sah aber Weltschaninow sehr scharf an und zog dadurch sofort dessen Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich. Wenigstens war ihm das Gesicht des Herrn bekannt vorgekommen. Er mußte ihm offenbar schon irgendwann und irgendwo begegnet sein. »Aber wieviel tausend Gesichter habe ich in meinem Leben zu sehen bekommen; die kann ich unmöglich alle behalten!« sagte er sich. Als er zwanzig Schritte weitergegangen war, hatte er die Begegnung anscheinend bereits vergessen, trotz des starken Eindrucks, den sie zuerst auf ihn gemacht hatte. Aber doch hielt sich der Eindruck den ganzen Tag über, und zwar war es ein recht eigenartiger Eindruck, in Gestalt eines besonderen, grundlosen Ärgers. Er erinnerte sich jetzt, vierzehn Tage nachher, deutlich an alles dies; er erinnerte sich auch, daß er damals durchaus nicht begriffen hatte, woher dieser sein Ärger stammte, es so wenig begriffen hatte, daß er die 21 Verstimmung, in der er sich jenen ganzen Abend über befand, keinen Augenblick mit der Begegnung am Vormittag in Zusammenhang gebracht hatte. Aber der Herr beeilte sich selbst, sich wieder in Erinnerung zu bringen: Er traf am andern Tage wieder mit Weltschaninow auf dem Newski-Prospekte zusammen und sah ihn wieder in einer sonderbaren Weise an. Weltschaninow spuckte aus; aber nachdem er das getan hatte, wunderte er sich sofort selbst über sein Verhalten. Es gibt allerdings Gesichter, die gleich von vornherein einen starken Widerwillen erregen, ohne daß man einen Grund dafür anzugeben vermöchte. »Ja, ich bin ihm tatsächlich schon irgendwo begegnet«, murmelte er nachdenklich, als seit der Begegnung bereits eine halbe Stunde vergangen war. Dann verbrachte er wieder den ganzen Abend in der verdrießlichen Stimmung; er hatte in der Nacht sogar einen häßlichen Traum, und dennoch kam ihm der Gedanke nicht in den Kopf, daß die ganze Ursache dieser seiner neuen, eigenartigen Hypochondrie nur der soeben wiedergesehene Herr mit dem Trauerflor war, obgleich er sich an diesem Abende mehrmals an ihn erinnert hatte. Er ärgerte sich sogar flüchtig darüber, daß »so ein Quark« sich unterstand, so lange in seinem Gedächtnisse zu haften; aber seine ganze Aufregung auf ihn zurückzuführen, das hätte er sicherlich geradezu für unwürdig gehalten, wenn ihm ein solcher Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen wäre. Zwei Tage darauf begegneten sie einander wieder, im Gedränge beim Aussteigen aus einem Newadampfer. Bei diesem dritten Male hätte Weltschaninow darauf schwören mögen, daß der Herr mit dem Trauerflor ihn erkannt hatte und zu ihm hinstrebte, aber durch die Menge davongetragen und fortgedrängt wurde; anscheinend »erdreistete« er sich sogar ihm die Hand entgegenzustrecken; vielleicht schrie er sogar auf und rief ihn beim Namen. Letzteres hörte Weltschaninow übrigens nicht deutlich; aber »wer ist denn eigentlich diese Kanaille, und warum kommt er nicht zu mir heran, wenn er mich wirklich erkennt und ihm soviel daran liegt, mit mir in Beziehung zu treten?« dachte er ärgerlich, als er sich in eine Droschke 22 setzte und nach dem Smolny-Kloster fuhr. Eine halbe Stunde darauf war er bereits in lautem Streit mit seinem Rechtsanwalt begriffen; aber am Abend und in der Nacht quälte er sich wieder mit ganz abscheulichen und phantastischen hypochondrischen Gedanken herum. »Ob am Ende ein starker Gallenerguß stattfindet?« fragte er sich argwöhnisch, indem er in den Spiegel blickte.
Das war die dritte Begegnung. Darauf begegnete ihm fünf Tage hintereinander absolut »niemand«, und von der »Kanaille« war nichts zu sehen und zu hören. Aber trotzdem mußte er ab und zu an den Herrn mit dem Trauerflor denken. Mit einem gewissen Erstaunen ertappte sich Weltschaninow auf diesem Gedanken. »Was ist mir denn nur?« fragte er sich. »Sehne ich mich etwa nach ihm? Hm! . . . Er muß wohl auch viele Geschäfte in Petersburg haben, . . . und um wen trägt er nur den Flor? Offenbar hat er mich erkannt, während ich ihn nicht erkenne. Warum diese Menschen nur einen Trauerflor anlegen? Das steht ihnen gar nicht gut . . . Ich glaube, wenn ich ihn näher ansähe, würde ich ihn erkennen . . .«
Und da begann sich etwas in seinem Gedächtnisse zu regen, wie wenn man ein Wort, das man recht wohl kennt, auf einmal vergessen hat und sich nun aus aller Kraft bemüht, sich daran zu erinnern; man kennt es sehr gut und weiß, daß man es kennt; man weiß, was es bedeutet, und geht nun immer drum herum; aber das Wort will einem absolut nicht einfallen, und wenn man sich auch noch so sehr mit ihm abquält!
»Das war . . . Das war vor langer Zeit . . . und es war irgendwo . . . da war es . . . da war es . . . na, hol es der Teufel, was das war und nicht war! . . .« rief er auf einmal ärgerlich. »Lohnt es sich wohl, daß ich mich um diese Kanaille so abquäle und erniedrige? . . .«
Er war furchtbar aufgebracht; als ihm aber am Abend auf einmal einfiel, daß er kurz vorher aufgebracht gewesen sei, »furchtbar« aufgebracht, da war ihm das doch höchst unangenehm; es war ihm, als hätte ihn jemand bei etwas ertappt. Er wurde verlegen und wunderte sich: »Es muß also 23 doch ein Grund vorhanden sein, weshalb ich mich um nichts und wieder nichts so ärgere . . . bei der bloßen Erinnerung . . .« Er beendete den Satz in Gedanken nicht.
Aber am andern Tage ärgerte er sich noch mehr; diesmal jedoch glaubte er allen Grund dazu zu haben und vollkommen im Rechte zu sein; »es war eine unerhörte Dreistigkeit«: Die Sache war nämlich die, daß eine vierte Begegnung stattgefunden hatte. Der Herr mit dem Trauerflor war wieder erschienen, wie wenn er aus der Erde aufgestiegen wäre. Eben hatte Weltschaninow auf der Straße jenen für ihn so wichtigen Staatsrat erwischt, auf den er auch jetzt Jagd machte, indem er ihn wenigstens in der Sommerfrische unversehens zu überfallen gedachte (denn dieser Beamte, der mit Weltschaninow kaum bekannt war, aber auf den Gang des Prozesses großen Einfluß hatte, ließ sich auch damals, ebenso wie jetzt, nicht so leicht attrappieren und hielt sich offenbar, so gut er nur konnte, versteckt, da er seinerseits eine Begegnung mit Weltschaninow zu vermeiden wünschte); erfreut darüber, daß er endlich mit ihm zusammengetroffen war, ging Weltschaninow eilig neben ihm her, sah ihm in die Augen und machte die größten Anstrengungen, um den grauhaarigen Schlaukopf auf ein bestimmtes Gesprächsthema hinzuleiten, in der Hoffnung, dieser werde sich dabei vielleicht verplappern und ein Wörtchen fallen lassen, auf das er, Weltschaninow, schon lange sehnsüchtig wartete; aber der grauhaarige Schlaukopf war ebenfalls auf seiner Hut und zog sich durch Lachen und Schweigen aus der Schlinge, – und gerade in diesem Augenblick angestrengter Bemühung traf Weltschaninows Blick plötzlich auf dem gegenüberliegenden Trottoir den Herrn mit dem Trauerflor. Er stand da und schaute unverwandt von dort nach ihnen herüber; er beobachtete sie, das war offenbar; und es schien sogar, daß er spöttisch lachte.
»Hol ihn der Teufel!« erboste sich Weltschaninow, der, als er es endlich aufgegeben hatte, den Beamten länger zu begleiten, seinen ganzen Mißerfolg bei ihm auf das plötzliche Erscheinen dieses »Unverschämten« zurückführte. »Hol ihn der Teufel! Er spioniert mir ja nach! Er verfolgt mich 24 offenbar! Er scheint von jemand dazu angestellt zu sein, und . . . und . . . und, weiß Gott, der Kerl hat spöttisch gelacht! So wahr ich lebe, ich werde ihn durchprügeln . . . Nur schade, daß ich keinen Stock bei mir habe! Ich werde mir einen Stock kaufen! Das lasse ich mir nicht gefallen! Wer ist es denn? Ich will unbedingt wissen, wer er ist!«
Endlich, drei Tage nach dieser (vierten) Begegnung, finden wir Weltschaninow in seinem Restaurant, so wie wir ihn geschildert haben: bereits ganz ernstlich aufgeregt und sogar einigermaßen verstört. Das mußte er sich trotz all seines Stolzes selbst eingestehen. Und wenn er schließlich alle Umstände zusammenhielt, so sah er sich zu der Vermutung genötigt, daß an seiner ganzen Hypochondrie, an diesem seinem ganzen besonderen Kummer und an seiner ganzen nun schon zwei Wochen dauernden Aufregung kein andrer schuld war als eben dieser Herr mit dem Trauerflor, »trotz all seiner Wertlosigkeit«.
»Mag ich auch ein Hypochonder sein«, dachte Weltschaninow, »und infolgedessen dazu neigen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, aber wird mir etwa deswegen leichter zumute, weil das alles vielleicht nur Einbildung von mir ist? Wenn jeder derartige Racker imstande ist, einen Menschen vollständig aus dem Gleichgewichte zu bringen, dann ist das ja . . . dann ist das ja . . .«
In der Tat hatte sich bei dieser heutigen (fünften) Begegnung, durch die Weltschaninow in eine solche Aufregung versetzt worden war, der Elefant fast ganz als eine Mücke herausgestellt; jener Herr war wie früher vorbeigehuscht, hatte aber diesmal Weltschaninow nicht einmal angesehen und nicht wie früher merken lassen, daß er ihn erkenne; er hatte vielmehr die Augen niedergeschlagen und anscheinend selbst lebhaft gewünscht, nicht bemerkt zu werden. Weltschaninow hatte sich umgedreht und ihm aus voller Kehle zugerufen:
»He! Sie mit dem Trauerflor! Warum verstecken Sie sich jetzt? Bleiben Sie mal stehen: Wer sind Sie?«
Die Frage (und der ganze Anruf) war recht sinnlos gewesen. Aber Weltschaninow war zu dieser Einsicht erst gekommen, 25 als er bereits gerufen hatte. Auf diesen Ruf hatte sich der Herr umgedreht, war einen Augenblick stehen geblieben, verlegen geworden, hatte gelächelt, etwas sagen und tun wollen, war ein Weilchen offenbar in peinlicher Unentschlossenheit befangen gewesen, hatte aber dann auf einmal kehrtgemacht und war, ohne sich wieder umzudrehen, davongelaufen. Weltschaninow hatte ihm erstaunt nachgeblickt.
»Was stellt das vor?« hatte er gedacht. »Wie, wenn in Wirklichkeit nicht er hinter mir her ist, sondern ich hinter ihm und darin der ganze Spuk besteht?«
Nachdem er gespeist hatte, begab er sich so schnell wie möglich zu dem Beamten nach dem Landhause. Er traf ihn nicht an, und es wurde ihm mitgeteilt, der Herr sei, seit er am Vormittage weggegangen sei, nicht zurückgekehrt und werde heute kaum vor drei oder vier Uhr nachts zurückkehren, da er in der Stadt an der Feier eines Namenstages teilnehme. Das war für Weltschaninow so »beleidigend«, daß er in der ersten Wut beschloß, sich selbst zu dieser Feier zu begeben, und sogar tatsächlich eine Droschke nahm; aber während der Fahrt sagte er sich, daß das doch etwas zu weit gehe, lohnte den Kutscher auf dem halben Wege ab und schleppte sich zu Fuß nach seiner Wohnung beim Großen Theater. Er fühlte das Bedürfnis, sich Bewegung zu machen. Um seine aufgeregten Nerven zu beruhigen, mußte er, trotz seiner jetzigen Neigung zur Schlaflosigkeit, unter allen Umständen eine Nacht ordentlich durchschlafen; und um das zu können, mußte er sich wenigstens müde machen. Auf diese Weise gelangte er erst um halb elf zu sich nach Hause; denn der Weg war recht weit, – und er war tatsächlich müde geworden.
Die Wohnung, die er im März gemietet hatte, und über die er mit einer Art von Schadenfreude räsonierte und schimpfte, wobei er sich vor sich selbst damit entschuldigte, daß sie nur ein zeitweiliger Notbehelf sei, da er unversehens durch diesen »verdammten Prozeß« in Petersburg festgehalten werde – diese Wohnung war überhaupt nicht so schlecht und unanständig, wie er selbst es von ihr sagte. Der Zugang 26 vom Tore her war allerdings etwas dunkel und unsauber; aber die im zweiten Stock gelegene Wohnung selbst bestand aus zwei großen, hellen, hohen Zimmern, die voneinander durch ein dunkles Vorzimmer getrennt waren, und von denen in dieser Weise das eine nach der Straße und das andere nach dem Hofe zu lag. Neben demjenigen, dessen Fenster nach dem Hofe hinausgingen, befand sich ein kleines Kabinett, das eigentlich als Schlafzimmer bestimmt war; aber bei Weltschaninow lagen darin eine Menge Bücher und Papiere unordentlich aufgehäuft; deshalb schlief er in einem der großen Zimmer, und zwar in dem, dessen Fenster nach der Straße zu lagen. Das Bett wurde ihm auf dem Sofa zurechtgemacht. Seine Möbel waren anständig, wiewohl etwas abgenutzt, und es befanden sich sogar einige wertvolle Stücke darunter, Reste früheren Wohlstandes: kleine Porzellan- und Bronzegegenstände und große, echte Teppiche aus Buchara; sogar zwei gute Ölgemälde hatten sich erhalten; aber alles war in sichtlicher Unordnung und sogar verstaubt, seit sein Dienstmädchen Pelageja nach Nowgorod gefahren war, um ihre Angehörigen zu besuchen, und ihn allein gelassen hatte. Dieser sonderbare Zustand, daß ein unverheirateter Mann aus der besseren Gesellschaft, der immer noch Anspruch darauf erhob, ein Gentleman zu sein, sich nur eine einzige weibliche Person zur Bedienung hielt, dieser Umstand brachte Weltschaninow fast zum Erröten, obgleich er mit dieser Pelageja sehr zufrieden war. Sie war von einer mit ihm bekannten Familie, die ins Ausland gereist war, zu ihm in Dienst gekommen, als er diese Wohnung im Frühjahr gemietet hatte, und hatte bei ihm alles in guter Ordnung gehalten. Nach ihrer Abreise hatte er kein anderes Dienstmädchen mieten mögen; einen Diener aber anzunehmen lohnte nicht für die kurze Zeit, und er konnte auch Diener überhaupt nicht recht leiden. So hatte er denn die Einrichtung getroffen, daß die Schwester des Hausknechts, Mawra, jeden Morgen kam, um die Zimmer aufzuräumen, und ihr übergab er auch den Schlüssel, wenn er ausging; aber sie tat so gut wie nichts, nahm ihr Geld hin und bestahl ihn auch noch, wie es schien. Aber ihm 27 war das alles gleichgültig geworden, und er war sogar ganz zufrieden damit, daß er jetzt in seiner Wohnung völlig allein war. Aber es hatte doch alles seine bestimmte Grenze, und seine Nerven weigerten sich manchmal, in Zeiten besonderer Mißstimmung, auf das entschiedenste, diese ganze »Schmutzerei« zu ertragen, und wenn er zu sich nach Hause zurückkehrte, betrat er seine Zimmer fast jedesmal mit einem Gefühle des Ekels.
Aber diesmal ließ er sich kaum Zeit, sich ganz auszuziehen, warf sich auf das Bett und nahm sich in gereizter Stimmung vor, an nichts zu denken und unter allen Umständen »sofort« einzuschlafen. Und sonderbar: Er schlief wirklich ein, sowie nur sein Kopf das Kissen berührt hatte; das war bei ihm fast seit einem Monat nicht vorgekommen.
Er schlief etwa vier Stunden lang, aber unruhig, und hatte dabei seltsame Träume, wie sie sonst bei Fieberkranken vorkommen. Es handelte sich dabei um ein Verbrechen, das er angeblich begangen hatte und nun zu verbergen suchte; dieses Verbrechens beschuldigten ihn einstimmig viele Menschen, die ununterbrochen von irgendwoher zu ihm hereinkamen. Es hatte sich schon eine furchtbar große Menge gesammelt; aber immer noch mehr Menschen strömten herein, so daß die Tür nicht mehr zuging, sondern sperrangelweit offen stand. Aber das ganze Interesse konzentrierte sich schließlich auf einen sonderbaren Menschen, der früher einmal ein sehr guter Bekannter von ihm gewesen, aber bereits gestorben und jetzt aus irgendwelchem Grunde plötzlich ebenfalls zu ihm hereingekommen war. Am meisten quälte es Weltschaninow, daß er nicht wußte, was das für ein Mensch war, daß er seinen Namen vergessen hatte und sich schlechterdings nicht darauf besinnen konnte; er wußte nur, daß er ihn einstmals sehr gern gehabt hatte. Von diesem Menschen schienen alle übrigen Leute, die hereingekommen waren, das entscheidende Wort zu erwarten, das heißt Weltschaninows Verurteilung oder Freisprechung, und alle bekundeten eine starke Ungeduld. Aber er saß ohne sich zu rühren am Tische, schwieg und wollte nicht reden. Der Lärm verstummte nicht, die Erregung wuchs, 28 und auf einmal versetzte Weltschaninow in seiner Wut diesem Menschen einen Schlag dafür, daß er nicht reden wollte, und empfand davon einen seltsamen Genuß. Das Herz erstarrte ihm vor Schrecken und Schmerz über seine Tat; aber gerade in diesem Erstarren lag ein Genuß. Geradezu rasend geworden schlug er ihn ein zweites und ein drittes Mal, und in einer Art von Wut- und Angstrausche, der an Wahnsinn streifte, aber zugleich einen unendlichen Genuß in sich schloß, zählte er seine Schläge nicht mehr, sondern schlug ohne Aufhören weiter. Er wollte alles, »alles dies« vernichten. Auf einmal geschah etwas: Alle schrien furchtbar auf und wandten sich erwartungsvoll nach der Tür hin, und in diesem Augenblicke erscholl die Türklingel dreimal mit hellem Tone; es wurde aber mit solcher Kraft daran gezogen, als ob sie jemand von der Tür abreißen wolle. Weltschaninow erwachte, kam in einem Augenblicke zur Besinnung, sprang Hals über Kopf vom Bette und stürzte zur Tür hin; er war fest davon überzeugt, daß das Klingeln kein Traum gewesen sei, und daß wirklich jemand in diesem Augenblicke bei ihm geschellt habe. »Es wäre doch zu unnatürlich«, dachte er, »wenn mir so helle, wirkliche, ordentlich greifbare Töne nur geträumt haben sollten.«
Aber zu seinem Erstaunen stellte sich auch der Schall der Türklingel nur als Traum heraus. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus; er blickte sogar auf die Treppe – es war kein Mensch da. Die Glocke hing da, ohne sich zu rühren. Verwundert, aber erfreut kehrte er in das Zimmer zurück. Während er eine Kerze anzündete, fiel ihm ein, daß er die Tür nur zugeklinkt, aber nicht zugeschlossen und zugehakt hatte. Auch früher hatte er oft, wenn er nach Hause zurückkehrte, vergessen, die Tür zur Nacht zuzuschließen, da er der Sache keine besondere Bedeutung beimaß. Pelageja hatte ihm einige Male deswegen Vorhaltungen gemacht. Er kehrte in das Vorzimmer zurück, um die Tür zuzuschließen, öffnete sie noch einmal und blickte auf den Flur hinaus und legte von innen nur den Haken vor; aber den Schlüssel in der Tür umzudrehen, war er doch zu träge. Die Uhr schlug halb drei; er hatte vier Stunden geschlafen. 29
Der Traum hatte ihn dermaßen aufgeregt, daß er sich nicht sogleich wieder hinlegen mochte und eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab zu gehen beschloß: Bis er eine Zigarre würde zu Ende geraucht haben. Nachdem er sich eilig angekleidet hatte, trat er an das Fenster, zog die dicke Stoffgardine zur Seite und dahinter das weiße Rouleau in die Höhe. Auf der Straße war es schon ganz hell geworden. Die hellen Petersburger Sommernächte hatten immer die Wirkung gehabt, seine Nerven zu reizen, und hatten in der letzten Zeit seine Schlaflosigkeit nur noch gesteigert, so daß er vor etwa vierzehn Tagen an seinen Fenstern expreß diese dicken Stoffgardinen hatte anbringen lassen, die kein Licht hereinließen, wenn er sie ganz zuzog. Nachdem er so Licht hereingelassen hatte, wobei er die auf dem Tische brennende Kerze auszulöschen vergaß, fing er an, immer noch von einer peinlichen, krankhaften Empfindung beherrscht, hin und her zu gehen. Der Eindruck des Traumes wirkte noch nach. Das ernsthafte Bedauern darüber, daß er sich hatte dazu hinreißen lassen, die Hand gegen diesen Menschen zu erheben, dauerte fort.
»Aber dieser Mensch existiert ja gar nicht und hat nie existiert; es ist ja alles nur ein Traum; warum gräme ich mich denn?«
Ingrimmig, und als ob alle seine Sorgen sich in diesem einen Punkte konzentrierten, begann er daran zu denken, daß er entschieden krank werde, »ein kranker Mensch« werde.
Das Bewußtsein, daß er altere oder kränkele, hatte von jeher für ihn etwas Bedrückendes gehabt, und mit einer Art von Bosheit übertrieb er in bösen Augenblicken sowohl das eine wie das andere absichtlich, um sich selbst zu reizen.
»Das ist das Alter! Ich werde ganz alt«, murmelte er beim Auf- und Abgehen; »ich verliere das Gedächtnis, habe Visionen und Träume, höre die Türklingel läuten . . . Hol's der Teufel! Ich weiß aus Erfahrung, daß solche Träume immer bedeuten, daß ein Fieber in mir steckt . . . Ich bin überzeugt, daß auch diese ganze Geschichte mit dem Trauerflor ebenfalls vielleicht nur ein Traum ist. Was ich gestern dachte, war entschieden richtig: Ich bin hinter ihm her, 30 nicht er hinter mir. Ich habe eine Märchengestalt aus ihm gemacht und bin selbst vor Angst unter den Tisch gekrochen. Und warum nenne ich ihn eine Kanaille? Er ist vielleicht ein ganz ordentlicher Mensch. Sein Gesicht hat allerdings etwas Unangenehmes, wiewohl nichts daran besonders unschön ist; gekleidet ist er wie alle Menschen. Nur sein Blick ist so eigentümlich . . . Da bin ich wieder auf mein gewohntes Thema gekommen! Wieder beschäftige ich mich mit ihm!! Was, zum Teufel, geht mich sein Blick an? Kann ich denn wirklich nicht leben ohne diesen . . . Taugenichts?«
Unter anderen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, war auch einer, der ihn ebenfalls schmerzlich verwundete: Er gelangte auf einmal zu der Überzeugung, daß dieser Herr mit dem Trauerflor früher einmal mit ihm befreundet gewesen sei und jetzt bei den Begegnungen mit ihm sich über ihn lustig mache, weil er irgendein wichtiges Geheimnis aus seiner Vergangenheit wisse und ihn jetzt in so unwürdiger Lage sehe. Mechanisch trat er an das Fenster, um es zu öffnen und die Nachtluft einzuatmen, und . . . und zuckte plötzlich mit dem ganzen Leibe zusammen: Es schien ihm, daß da vor ihm plötzlich etwas ganz Absonderliches, Unerhörtes geschehe.
Er hatte das Fenster noch nicht geöffnet, schlüpfte jetzt so schnell wie möglich hinter die Mauer neben dem Fenster und versteckte sich dort: Auf dem leeren gegenüberliegenden Trottoir erblickte er plötzlich gerade vor dem Hause den Herrn mit dem Trauerflor. Dieser stand auf dem Trottoir mit dem Gesicht nach seinen Fenstern zu, offenbar aber ohne ihn zu bemerken, und betrachtete das Haus prüfend, wie wenn er etwas überlegte. Dann schien er zu einem Entschlusse zu kommen: Er hob die Hand in die Höhe und hielt den Zeigefinger an die Stirn. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt: Er warf einen eiligen Blick um sich herum und überschritt, auf den Zehen schleichend, schnell die Straße. Richtig: Er ging in das Tor des Hauses hinein, in welchem Weltschaninow wohnte, durch das Pförtchen, das im Sommer manchmal bis drei Uhr nicht zugeriegelt wurde. 31 »Er kommt zu mir!« fuhr es Weltschaninow schnell durch den Kopf, und plötzlich lief er eilig ebenfalls auf den Zehen in das Vorzimmer zur Tür hin und blieb still an ihr stehen. Starr vor Erwartung, die zitternde rechte Hand auf dem Haken, den er kurz vorher vorgelegt hatte, horchte er angestrengt auf das Geräusch der erwarteten Schritte auf der Treppe.
Sein Herz schlug so heftig, daß er fürchtete, es zu überhören, wenn der Unbekannte auf den Zehen heraufkäme. Er begriff das Geschehende nicht; aber er nahm alles mit einer verzehnfachten Schärfe der Sinne wahr. Der Traum von vorhin schien mit der Wirklichkeit zusammenzufließen. Weltschaninow war von Natur mutig. Er liebte es manchmal, seine Furchtlosigkeit vor der Gefahr bis zur Prahlerei zu steigern, selbst wenn ihn niemand beobachtete, lediglich in einer Art von Selbstbewunderung. Aber jetzt kam noch etwas anderes hinzu. Der Hypochonder und ängstliche Patient von vorhin hatte sich vollständig verwandelt; es war jetzt gar nicht mehr derselbe Mensch. Ein nervöses, unhörbares Lachen brach aus seiner Brust hervor. Hinter der geschlossenen Tür erriet er jede Bewegung des Unbekannten.
»Ah! Da kommt er herauf; er ist oben; er sieht sich um; er horcht die Treppe hinunter; er atmet kaum; er schleicht umher . . . ah! Er hat die Klinke gefaßt; er drückt darauf und probiert, ob die Tür aufgeht! Er hat darauf gerechnet, daß bei mir nicht zugeschlossen sein würde! Also hat er gewußt, daß ich manchmal vergesse zuzuschließen! Er drückt wieder auf die Klinke; na, denkt er denn, daß der Haken aufspringen wird? Es tut ihm leid, so wieder abzuziehen; er möchte nicht gern unverrichteter Sache davongehen!«
Und in der Tat trug sich alles zweifellos so zu, wie er sich das vorstellte: Es stand tatsächlich jemand vor der Tür, probierte leise und unhörbar am Schlosse herum, drückte sachte auf die Klinke und »hatte selbstverständlich dabei seine Absicht«. Aber Weltschaninow war bereits entschlossen, das Rätsel zu lösen; er wartete mit einer gewissen Begeisterung 32 auf den richtigen Augenblick, machte sich fertig und stellte sich in Positur; es war seine feste Absicht, auf einmal den Haken aufzumachen, die Tür sperrangelweit zu öffnen und so der Schreckgestalt Auge in Auge gegenüberzustehen. »Nun, mein Herr«, wollte er sagen, »was tun Sie hier?«
So geschah es denn auch: Er paßte einen Augenblick ab, den er für geeignet hielt, machte plötzlich den Haken auf und stieß fast mit der Brust gegen den Herrn mit dem Trauerflor.