Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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VIII

Lisa krank

Auf Pawel Pawlowitsch wartend, der versprochen hatte, rechtzeitig zu kommen, um mit zu Pogorelzews zu fahren, ging Weltschaninow am andern Morgen im Zimmer auf und ab, schlürfte seinen Kaffee, rauchte eine Zigarre dazu und war sich dabei fortdauernd bewußt, daß er die größte Ähnlichkeit mit jemand habe, der am Morgen aufwacht und nun immerzu daran denken muß, daß er am Abend vorher eine Ohrfeige erhalten hat. »Hm! . . . er weiß ganz genau, wie die Sache steht, und wird sich durch Lisa an mir rächen!« dachte er voll Bangigkeit.

Das liebliche Bild des armen, traurigen Kindes stand ihm deutlich vor Augen. Sein Herz begann stärker zu pochen bei dem Gedanken, daß er heute, sehr bald, in zwei Stunden »seine« Lisa wiedersehen werde. »Ach, was ist da noch viel zu reden!« sagte er zu sich selbst in warmer Empfindung; »jetzt ist das der Inhalt und das Ziel meines ganzen Lebens! Was haben da alle Ohrfeigen und alle Erinnerungen zu bedeuten! . . . Wozu habe ich bis jetzt gelebt? Alles war nur Unordnung und Trübsal . . . aber jetzt ist alles anders geworden, alles wird einen andern Gang gehen!«

Aber trotz seiner Begeisterung wurde er immer nachdenklicher.

»Er wird mich durch Lisa martern, das ist klar! Und er wird Lisa martern. Das ist die Art, wie er mich für alles bestrafen wird! Hm! . . . zweifellos darf ich mir von ihm nicht wieder solche Dreistigkeiten wie gestern gefallen lassen«, dachte er mit plötzlichem Erröten, »und . . . und da kommt er nun nicht, und es ist doch schon zwölf Uhr!«

Er wartete noch eine ganze Weile, bis halb eins, und seine Verstimmung wurde immer ärger. Pawel Pawlowitsch erschien nicht. Schon lange war ihm ab und zu der Gedanke durch den Kopf gehuscht, dieser komme absichtlich nicht, nur um noch wieder eine Unart gegen ihn zu begehen wie gestern, und dieser Gedanke machte ihn zuletzt ganz 89 wütend: »Er weiß, daß ich von ihm abhänge, und was wird jetzt aus Lisa werden? Und wie kann ich ohne ihn vor ihr erscheinen?«

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fuhr um ein Uhr schnell selbst nach der Kirche zu Mariä Fürbitte. Von dem Dienstmädchen der Zimmervermieterin erhielt er die Auskunft, Pawel Pawlowitsch habe die Nacht gar nicht zu Hause zugebracht, sondern sei erst am Morgen zwischen acht und neun gekommen, nur eine Viertelstunde dageblieben und dann wieder fortgegangen. Weltschaninow stand an der Tür von Pawel Pawlowitschs Zimmer, hörte die Mitteilungen des Mädchens an und hantierte mechanisch an der Klinke der verschlossenen Tür, indem er sie hin und her bewegte. Schließlich sammelte er seine Gedanken, spie aus, ließ die Klinke los und bat das Mädchen, ihn zu Marja Syssojewna zu führen. Aber diese kam, als sie von seiner Anwesenheit hörte, bereitwillig selbst zu ihm heraus.

Sie war eine brave Frau, »eine Frau von Herz und Gemüt«, wie sich Weltschaninow über sie ausdrückte, als er nachher über sein Gespräch mit ihr seiner Freundin Klawdija Petrowna Bericht erstattete. Nachdem sie sich kurz danach erkundigt hatte, wie es am vorhergehenden Tage mit dem Transport der »Kleinen« gegangen sei, ging sie sofort dazu über, allerlei über Pawel Pawlowitsch zu erzählen. Nach ihren Worten hätte sie ihn schon längst herausgeworfen, wenn nicht das Kind gewesen wäre. Auch aus dem Gasthause sei er herausgeworfen worden, weil er gar zu liederlich gelebt habe. »Na, ist das nicht eine Sünde: Bringt er sich in der Nacht ein Frauenzimmer mit, wo doch das Kindchen dabei ist, das auch schon sein Verständnis hat! Er schrie: ›Die hier wird deine Mutter werden, wenn ich das will!‹ Sollten Sie es glauben: Selbst dem Frauenzimmer war es zu arg, und sie spuckte ihm ins Gesicht. Er aber schrie dem Kinde zu: ›Du bist nicht meine Tochter; du bist ein Bastard!‹«

»Was sagen Sie da!« rief Weltschaninow erschrocken.

»Ich habe es selbst gehört. Wenn er auch betrunken war, sinnlos betrunken, aber in Gegenwart des Kindes paßt sich 90 das doch nicht; wenn sie auch noch jung ist, sie hat doch schon ihren Verstand. Die Kleine weinte; ich sah, daß sie sich ganz zergrämte. Und neulich, da ist hier im Hause eine Sünde geschehen: Ein Kassierer oder so etwas, wie die Leute sagten, ließ sich am Abend im Gasthause ein Zimmer geben, und am Morgen hatte er sich aufgehängt. Sie sagten, er hätte Geld unterschlagen und durchgebracht. Es lief eine Menge Volk zusammen; Pawel Pawlowitsch selbst war nicht zu Hause, und das Kindchen ging ohne Aufsicht umher; da sah ich, wie sie dort auf dem Korridor unter dem Volke stand und hinter den andern hervorschaute; so ganz verstört blickte sie nach dem Erhängten hin. Ich führte sie schleunigst von da weg. Aber was meinen Sie: Sie zitterte am ganzen Leibe, wurde ganz schwarz, und kaum hatte ich sie hierher gebracht, da fiel sie auf den Boden. Sie zuckte und schlug um sich; ich hatte meine liebe Not, daß ich sie wieder zur Besinnung brachte. Es waren Krämpfe oder so etwas, und seitdem kränkelt sie nun. Als er nach Hause kam und es erfuhr, da kniff er sie am ganzen Leibe (denn er pflegt sie nicht zu schlagen, sondern kneift sie immer), und als er dann das nächste Mal betrunken nach Hause kam, da machte er ihr Angst: ›Ich werde mich auch aufhängen‹, sagte er; ›um deinetwillen werde ich mich aufhängen; hier mit dieser Schnur, mit der Rouleauschnur werde ich mich aufhängen!‹ und er machte vor ihren Augen eine Schlinge zurecht. Und die geriet ganz außer sich, fing an zu schreien, umschlang ihn mit den Ärmchen und rief: ›Ich werde es nicht wieder tun; ich werde es nie wieder tun!‹ Es ist ein Jammer!«

Weltschaninow war zwar auf recht sonderbare Dinge gefaßt gewesen, aber diese Mitteilungen überraschten ihn doch so, daß er sie kaum glauben mochte. Marja Syssojewna erzählte ihm noch sonst vieles; so zum Beispiel war es einmal vorgekommen, daß, wenn sie, Marja Syssojewna, nicht dazwischen getreten wäre, Lisa sich vielleicht aus dem Fenster herausgestürzt hätte. Als Weltschaninow von der Wirtin wieder fortging, war er selbst wie betrunken: »Ich werde ihn wie einen Hund totschlagen, mit dem Stock 91 auf den Kopf!« blitzte es in ihm auf. Und das sprach er lange immer wieder vor sich hin.

Er nahm sich einen Wagen, um zu Pogorelzews zu fahren. Er war noch nicht aus der Stadt herausgekommen, als der Wagen gezwungen war, bei einer Straßenkreuzung zu halten, an einem Kanalbrückchen, über das sich ein großer Leichenzug herüberzwängte. An beiden Enden der Brücke drängten sich mehrere wartende Equipagen; auch viel Volk war stehen geblieben. Es war ein prunkvolles Begräbnis und die Reihe der Trauerkutschen sehr lang, und da war es Weltschaninow auf einmal, als ob er durch das Fenster einer dieser Trauerkutschen das Gesicht Pawel Pawlowitschs erblickte. Er würde seinen Augen nicht getraut haben, wenn nicht Pawel Pawlowitsch selbst den Kopf aus dem Fenster herausgestreckt und ihm lächelnd zugenickt hätte. Er schien sich sehr darüber zu freuen, daß er Weltschaninow erkannt hatte, und warf ihm sogar von der Kutsche aus Kußhände zu. Weltschaninow sprang aus seinem Wagen und lief trotz des Gedränges, trotz der Polizisten, und trotzdem Pawel Pawlowitschs Kutsche schon auf die Brücke hinauffuhr, dicht an das Kutschfenster heran. Pawel Pawlowitsch saß allein in der Kutsche.

»Was soll denn das vorstellen?« schrie Weltschaninow. »Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Wie kommen Sie hierher?«

»Ich erfülle eine heilige Pflicht; schreien Sie nicht so, schreien Sie nicht so!« erwiderte Pawel Pawlowitsch kichernd und kniff vergnügt die Augen zusammen. »Ich gebe den irdischen Überresten meines aufrichtigen Freundes Stepan Michailowitsch das Geleit.«

»Ist das ein Blödsinn, Sie betrunkener, verrückter Mensch!« schrie Weltschaninow, nachdem er einen Augenblick lang ganz verdutzt gewesen war, noch lauter als vorher. »Steigen Sie sofort aus, und fahren Sie mit mir; sofort!«

»Das kann ich nicht; eine heilige Pflicht . . .«

»Ich werde Sie mit Gewalt herausziehen!« brüllte Weltschaninow.

»Dann werde ich schreien! Dann werde ich schreien!« 92 versetzte Pawel Pawlowitsch, immer noch mit demselben vergnügten Kichern, gerade wie wenn man mit ihm Scherz triebe; indes zog er sich in die hinterste Ecke der Kutsche zurück . . .

»Passen Sie auf, passen Sie auf, daß Sie nicht überfahren werden!« rief ein Polizist.

In der Tat hatte am Ende der Brücke eine fremde Equipage den Leichenzug durchbrochen und Verwirrung angerichtet. Weltschaninow sah sich gezwungen zurückzuspringen; andere Equipagen sowie die Volksmenge drängten ihn sofort weiter weg. Er spuckte aus und arbeitete sich zu seinem Wagen durch.

»Na, es schadet nichts; in dem Zustande, in dem er sich befindet, hätte ich ihn sowieso nicht mitnehmen können!« dachte er, während seine Verwunderung und Unruhe fortdauerten.

Als er der guten Klawdija Petrowna Marja Syssojewnas Erzählung vortrug und ihr über die sonderbare Begegnung bei dem Leichenbegängnisse berichtete, da wurde diese sehr nachdenklich.

»Ich bin um Sie in rechter Sorge«, sagte sie zu ihm. »Sie müssen alle Beziehungen zu ihm abbrechen, und zwar je eher um so besser.«

»Er ist ein betrunkener Narr und weiter nichts!« rief Weltschaninow jähzornig. »Ich fürchte mich nicht vor ihm! Und wie soll ich die Beziehungen zu ihm abbrechen? Das geht um Lisas willen nicht. Denken Sie an Lisa!«

Lisa lag jedoch krank; sie hatte am Abend vorher zu fiebern angefangen, und man wartete jetzt auf einen renommierten Arzt aus der Stadt, nachdem bei Tagesgrauen ein expresser Bote geschickt worden war. Alles dies zusammen hatte die Wirkung, Weltschaninow völlig aus der Fassung zu bringen.

Klawdija Petrowna führte ihn zu der Kranken.

»Ich habe sie gestern aufmerksam beobachtet«, sagte sie, indem sie vor dem Krankenzimmer stehen blieb. »Es ist ein stolzes, düsteres Kind; sie schämt sich, daß sie bei uns ist und ihr Vater sich so ohne weiteres von ihr losgesagt hat; das ist meiner Ansicht nach ihre ganze Krankheit.« 93

»Sich losgesagt hat? Warum glauben Sie, daß er sich von ihr losgesagt hat?«

»Schon allein, daß er ihre Übersiedelung hierher zugelassen hat, in ein ganz fremdes Haus und mit einem Menschen, der ihm ebenfalls beinah unbekannt ist oder in solchen Beziehungen zu ihm steht . . .«

»Aber ich, ich selbst habe sie ihm ja weggenommen, mit Gewalt weggenommen; ich kann nicht finden . . .«

»Ach, mein Gott, aber Lisa, das Kind, findet es! Meiner Ansicht nach wird er überhaupt niemals herkommen.«

Lisa war durchaus nicht erstaunt, als sie Weltschaninow allein eintreten sah: Sie lächelte nur traurig und wandte ihr fieberheißes Köpfchen nach der Wand hin. Sie antwortete nicht auf Weltschaninows schüchterne Trostworte und auf sein wiederholtes eifriges Versprechen, morgen ganz bestimmt ihren Vater mitzubringen. Als er von ihr herauskam, brach er plötzlich in Tränen aus.

Der Arzt kam erst gegen Abend. Nachdem er die Kranke untersucht hatte, erschreckte er alle gleich beim ersten Worte durch die Bemerkung, sie hätten sehr unrecht getan, ihn nicht früher zu rufen. Als ihm geantwortet wurde, die Patientin sei erst gestern abend erkrankt, wolle er das zuerst nicht glauben. »Alles hängt davon ab, wie diese Nacht sein wird«, sagte er schließlich, ordnete an, was ihm nötig schien, und fuhr weg mit dem Versprechen, am nächsten Tage so früh wie möglich wiederzukommen. Weltschaninow wollte unter allen Umständen die Nacht über dableiben; aber Klawdija Petrowna selbst redete ihm zu, er möchte noch einmal den Versuch machen, »diesen Unmenschen herzubringen«.

»Ja, das will ich!« rief Weltschaninow außer sich. »Jetzt werde ich ihn binden und ihn auf meinen Armen hertragen!«

Der Gedanke, Pawel Pawlowitsch zu binden und auf den Armen herzutragen, versetzte ihn in eine hochgradige, ungeduldige Erregung. »In keiner Weise, in keiner Weise fühle ich mich jetzt ihm gegenüber schuldig!« sagte er zu Klawdija Petrowna, als er sich von ihr verabschiedete. »Ich 94 nehme all die unwürdigen, weinerlichen Äußerungen zurück, die ich gestern hier getan habe«, fügte er voller Entrüstung hinzu.

Lisa lag mit geschlossenen Augen da und schien zu schlafen; es ging ihr anscheinend besser. Als Weltschaninow sich vorsichtig zu ihrem Köpfchen hinabbeugte, um zum Abschiede wenigstens den Saum ihres Kleides zu küssen, schlug sie plötzlich die Augen auf, als ob sie ihn erwartet hätte, und flüsterte:

»Bringen Sie mich von hier fort!«

Das war eine stille, traurige Bitte, ohne jede Spur der gestrigen Gereiztheit; aber gleichzeitig konnte man es ihrem Tone anhören, daß sie selbst völlig davon überzeugt war, daß ihre Bitte unter keinen Umständen werde erfüllt werden. Und sowie der ganz verzweifelte Weltschaninow anfing ihr auseinanderzusetzen, daß das nicht möglich sei, schloß sie schweigend die Augen und sagte kein Wort mehr, wie wenn sie ihn weder hörte noch sähe.

Als er in die Stadt kam, ließ er sich direkt nach den möblierten Zimmern bei der Kirche zu Mariä Fürbitte fahren. Es war schon zehn Uhr; Pawel Pawlowitsch war nicht zu Hause. Weltschaninow wartete eine reichliche halbe Stunde auf ihn, indem er in krankhafter Ungeduld auf dem Flur auf und ab ging. Schließlich schenkte er der Versicherung Marja Syssojewnas Glauben, daß Pawel Pawlowitsch frühestens am anderen Morgen bei Tagesanbruch heimkehren werde. »Na, dann werde auch ich bei Tagesanbruch wieder herkommen«, nahm sich Weltschaninow vor und begab sich in größter Aufregung nach Hause.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er, noch ehe er seine Wohnung betreten hatte, von Mawra erfuhr, daß der gestrige Gast schon zwischen neun und zehn gekommen sei und auf ihn warte.

»Auch Tee hat er bei uns getrunken«, meldete Mawra weiter, »und er hat mich wieder nach Wein geschickt, nach derselben Sorte, und mir einen Fünfrubelschein gegeben.« 95

 


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